Dragica Rajčić Holzner «Liebe um Liebe», Matthes und Seitz

Ana sucht einen Ausweg aus patriarchischen Strukturen in einem kroatischen Dorf namens Glück. Sie verliebt sich in Igor, flieht aus der steinernen Umklammerung und strandet weit weg über dem Meer an einem eigentlichen Sehnsuchtsort, ernüchtert und desillusioniert in einem Frauenhaus, geschlagen nicht nur von ihrem Mann.

«Liebe um Liebe» ist das romangewordene Pendant zu ihrem vorletzten Buch «Glück», das aus einem Theaterstück entstand und mit dem gleichen Personal die Geschichte einer grossen Enttäuschung erzählt. Die Geschichte von Ana Jagoda, einer jungen Frau, die in sich den grossen Drang verspürt, den Drang zu schreiben, Welten zu erschaffen, die aber eingeschnürt ist und wird, von einer Umgebung, aus deren Fesseln sie sich nicht befreien kann. Ana wächst in einem kleinen Dorf in den kroatischen Bergen auf, einem Dorf namens «Glück». Aber Glück ist nicht ihr Glück. So wie ihr Leben nicht jenes Leben ist und wird, das sie eigentlich mit sich trägt. In einem Dorf, das von absolut patriarchischen Strukturen regiert wird, aber ebenso vom Alkohol, der Armut und der Aussichtslosigkeit, wird die noch junge Ana ungewollt schwanger. Sie verliebt sich in Igor, ihre Rettung. Aber was nach gemeinsamen Leben aussah, nach Perspektive, wird zu dem, was sich im Dorf Glück als Nährboden unweigerlich einstellt: Alles muss seinen vorbestimmten Platz einnehmen. Auch wenn dieser Platz zum Martyrium wird.

Ana treibt das Kind in ihrem Bauch ab. Ana verlässt Glück. Ana heiratet Igor und flieht mit ihm in den Norden der USA. Aber ihr krankhaft eifersüchtiger und aufbrausender Ehemann macht den Sehnsuchtsort zum Kampfgebiet. Ana leidet. Ihr Leben besteht nur aus Reaktion, lässt auch auf der andern Seite des Ozeans nie zu, was sie eigentlich gerne möchte; ihr Glück im Schreiben. Ana flieht weiter in ein Womanirrhaus. Dorthin, wo alle stranden, die nicht Frau über ihr eigenes Leben werden.

Auch wenn es die Autorin gar nicht will, Pauschalverurteilungen oder Pauschalurteile über den «bösen Mann» zu provozieren, ging es mir bei der Lektüre sehr nah, wie sehr Männer- und Frauenwelten auseinanderdriften können. Dragica Rajčić Holzner bewegt sich im vollen Bewusstsein zwischen Verständnis und Widerwillen aller Verurteilung gegenüber.

Dragica Rajčić Holzner «Liebe um Liebe», Matthes & Seitz, 2020, 167 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7518-0000-6

Dragica Rajčić Holzner beschäftigt sich schon seit 35 Jahren mit der Geschichte Anas. Der Stoff sei ihre Rettung gewesen, ihr Schiff, ihre Kontinuität, mit der sich die Autorin über Wasser hielt. So wie es das Dorf Glück mit seinen gemeisselten Strukturen gibt, noch immer gibt, so gibt es Ana, Frauen, Menschen, die ihr Glück nicht finden, obwohl die Sehnsucht und die Liebe sie wegtreibt. Anas Leben ist Realität. Aber noch viel mehr Realität ist die Sprache, die direkt unter die Haut geht, die mich als Leser erschaudern lässt. Eine Sprache, die all die Frauen sprechen lässt, die keine Stimme und keine Kraft mehr besitzen, stumm bleiben, die sich so sehr einschüchtern lassen, dass nichts ihr Leben aufregen lässt. Dragica Rajčić Holzner erzählt nicht ihre Geschichte. Nicht ihr Schicksal, schon gar nicht ihre eigene Biographie, aber das Leben der Vergessenen, all jener Frauen, die mit einem unendlich scheinenden Reservoir an Hoffnung und Liebe scheitern.

Auf die Frage, warum der Roman nicht mehr in der ihr so eigenen Grammatik einer «Exilantin» geschrieben und gedruckt ist, erklärt Dragica Rajčić Holzner; Männern würde man diesen Umstand ihrem künstlerischen Ausdruck zugestehen, als Teil ihres schöpferischen Tuns, ihres Ausdrucks. Frauen hingegen als Ausdruck ihres Unvermögens. Die Bücher zuvor verunsicherten jene, die Orthographie wie die steinernen Strukturen einer patriarchischen Gesellschaft unumstösslich betrachten. «Liebe um Liebe», bei Matthes & Seitz in Berlin erschienen und schon durch den traditionsreichen Verlag geadelt, nun «einwandfrei» orthographisch, schreckt all jene auf, die vermissen, was bisher verunsicherte. Allen Leuten recht getan!

In Dragica Rajčić Holzners Roman spüre ich die unsägliche Kraft der Poesie, die Kraft der Worte, die die Bahnen der Geschichte oft überstrahlen. Wenn die Geschichte durch die Sprache fast in den Hintergrund rückt und sich der Text wie das Echo der Geschichte anhört, die eigentliche Resonanz. Beeindruckend!

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Dragica Rajčić Holzner wurde für ihren Roman «Glück» der Schweizer Literaturpreis 2021 verliehen: «In «Glück» erzählt Dragica Rajčić Holzner von einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Liebe, die weder in der Erinnerung, noch in der räumlichen Entgrenzung Halt findet. Die Autorin zeigt eine Welt voller Zumutungen, die dem Leben ihrer Protagonistin mit jedem Schritt aus dem Heimatort hinaus mehr Möglichkeiten nimmt.
Die Autorin tut das in einer eigenwilligen, drängenden Sprache, die selbst auch Grenzen überschreitet und in der Enge der beschriebenen Lebensläufe unerwartete Freiheitsräume eröffnet.»

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Dragica Rajčić Holzner, 1959 in Split geboren, wuchs in Kroatien auf, bevor sie in die Schweiz zog. 1988 kehrte sie nach Kroatien zurück, arbeitete als Journalistin und gründete die Zeitung «Glas Kaštela». 1991 floh sie während der Jugoslawienkriege mit ihrer Familie in die Schweiz, wo sie sich in der Friedensarbeit engagierte. Zu ihrem Werk zählen auf Kroatisch und Deutsch verfasste Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke. Heute lebt Holzner in Zürich und Innsbruck. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis 1994.

Rezension von «Glück» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Anne Weber «Annette, ein Heldinnenepos», Matthes und Seitz, Gasttext von Alice Grünfelder

Es sind wenig mehr als Gedanken, die ich hier notiere, weil sie mir beim Lesen unentwegt durch den Kopf gesprungen sind. Ich bin angenehm überrascht, dass solch ein ungewöhnliches – im sprachlich-formalen und thematischen Sinne – Buch den deutschen Buchpreis erhalten hat, was mich doch noch an die Vernunft der Vergabepraxis glauben lässt. 

© Mine Dal

Heldinnen früher und heute
Gasttext von Alice Grünfelder, Schriftstellerin, Herausgeberin, Übersetzerin und Literaturvermittlerinvon Alice Grünfelder

Ich ärgerte mich über so manchen Feuilletonisten, der meinte, mit der Form, also eine Biografie in Versform, hätte Anne Weber den Stoff arg tief gehängt. Dabei ist es gerade diese Form, die Ambivalenz eines Heldinnenlebens in wenigen Worten und mit einer stupenden Präzision zu verdichten, um damit gleichsam die Widersprüche dieses Jahrhunderts auf den Punkt zu bringen. Jedes weitere und unnötige Wort würde ihr Ansinnen verwässern.

Doch ich rätselte mitunter, warum dieser Titel – von der Autorin? Vom Verlag? – gewählt wurde, denn ist Anne Beaumanoir wirklich eine Heldin? Eine vermeintliche, eine verblendete? Die Heldin folgt dem Prinzip Gleichheit und Gleichberechtigung, und wegen dieses Prinzips ist sie immer mal wieder auf dem einen Auge oder gleich beiden blind. Was auch nicht weiter verwunderlich ist, wenn Zweifel im «Sand der Gegenwart», dem algerischen wohlgemerkt, vergraben werden. Anne Beaumanoir sieht dieser Wahrheit erst spät ins Gesicht, als sie sich monatelang in einem Keller verstecken muss: «Die Wahrheit ist, dass sie für einen souveränen Staat (den algerischen A.d.R.), der binnen kurzer Zeit zu einem Militärregime mutiert ist, alles eingebüßt hat.» Vor allem unter dem Verlust ihrer drei Kinder leidet die Frau, die sie jahrelang nicht sehen durfte, denn um einer zehnjährigen Haftstrafe in Frankreich zu entgehen, floh sie auf Umwegen nach Tunesien. 

Man mache es sich zu leicht, schreibt Anne Weber, aus der Vergangenheit zurückzublicken und zu kritisieren, man bedenke indes, dass dies ungerecht sei, denn wenn man im Nebel stecke, sehe man die Möglichkeiten nicht unbedingt, die sich erst Jahre später herausschälen. Die Autorin blendet ihre Zweifel nicht aus, gräbt tief, fragt nach, hinterfragt die einstigen Ideale, will diese schillernde Persönlichkeit verstehen, die so viel aufgegeben hat, um am Ende ihres Lebens am Fuss eines Berges zu stehen und einen Stein hinaufrollen zu wollen. Wer nun an Camus‘ Sisyphos denkt, denkt richtig, denn mit ihm schliesst dieses Versepos: «Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu grossen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen.»

mehr über Anne Beaumanoir

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber wurde 1964 in Offenbach geboren und lebt seit 1983 in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u.a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Büchern schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Für ihr Buch «Annette, ein Heldinnenepos» wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Beitragsbild © Thorsten Greve

Éric Vuillard «Der Krieg der Armen», Matthes & Seitz

Heute vor 495 Jahren starb Thomas Müntzer vor den Toren der Stadt Mühlhausen, nachdem man ihn gefoltert und ganz offensichtlich gezwungen hatte, einen Abschiedsbrief zu verfassen, in dem er die Aufständischen zum Verzicht weiteren Blutvergiessens aufrief. Thomas Müntzer, ein zorniger Theologe, der nicht einsehen wollte, dass Armut hier, Reichtum dort gottgegebenes Programm sein sollte.

Wer kennt nicht Martin Luther – oder hat zumindest von ihm gehört oder gelesen. Wer kennt Thomas Müntzer? Wahrscheinlich kennt ihn nicht einmal Éric Vuillard. Denn abgesehen von seinen niedergeschriebenen Texten, den Briefen und Predigten des zornigen Theologen und Reformators weiss man im Gegensatz zu seinem eher sanftmütigen Glaubensbruders Luther nicht viel. Sicher ist, dass er durch seine Schriften und Predigten im 16. Jahrhundert den Zorn, die Wut der Armen und Rechtlosen zu entfachen wusste, dass das Feuer Aufstand und Krieg bedeutete, dass die Obrigkeit, Klerus und Patrizier, Adel und Würdenträger die Macht der Mächtigen gegen die Ohnmacht der Armen ausspielten und Thomas Müntzer am 27. Mai 1525, also vor genau 495 Jahren, Jahrhunderte vor Revolution und Aufklärung, im thüringischen Mühlhausen gefoltert, öffentlich enthauptet und sein Haupt aufgespiesst wurde.

Éric Vuillard «Der Krieg der Armen», Matther & Seitz, 2020, 64 Seiten, CHF 21.50, ISBN 978-3-95757-837-2

Zwischen 1452 und 1454 wurden in der Druckerwerkstatt von Johannes Gutenberg in Mainz die ersten Bibeln gedruckt. Innerhalb von drei Jahren 180 Bibeln, während in Klöstern Mönche in der gleichen Zeit jeweils eine einzige in für das Volk unverständlichem Latein abschrieben. „Bücher vermehrten sich wie Würmer in einem Körper.“ Einem modrigen Körper, der sich mit allerlei Rechtfertigungen und Behauptungen stramm am Leben hielt. Aber Thomas Müntzer genügt die deutsche Bibel nicht. Er predigt auch in deutscher Sprache und seine Kirchen füllen sich. „Warum war der Gott der Armen so merkwürdig auf Seiten der Reichen, immer mit den Reichen? Warum forderte er mit dem Mund derer, die alles genommen hatten, alles zu lassen?“ In jenen unruhigen Zeiten waren solche Gedanken Häresie, Grund genug, wie Jan Hus in Konstanz auf dem Scheiterhaufen zu landen (1415). Und nachdem Thomas Müntzer vor Erbprinzen, Vögten und Bürgermeistern den Satz „Man soll die gottlosen Regenten töten“ ausspricht, ist das Ende des Fürsprechers der Armen besiegelt.

Éric Vuillars Buch ist kein Roman, kein durch Fiktion aufgeblasenes Konstrukt. „Der Krieg der Armen“ hat nie aufgehört, setzt sich in Venezuela, bei den Obdachlosen in Kalifornien, den Flüchtenden an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland fort. Die Kraft dieses Buches liegt in seinem Konzentrat!

Man kann das Buch lesen wie ein historisches Sachbuch. Aber man kann dieses schmale Buch auch lesen wie eine Warnung an die Zukunft. Damals waren es Adel und Klerus, die sich in ihren „gottgewollten“ Privilegien sonnten, die Menschen durch Steuern, Frondienst, Leibeigenschaft und Sklaverei ausnützten. Heute sind es die Oligarchen, Wirtschaftsbosse und Finanzhaie, die sich hinter Argumentationen wie „Der Markt steht allen offen, man muss nur wollen (und können)“ verstecken, die sich vor jenen fürchten, die die scheinbar in Stein gemeisselten Privilegien in Frage stellen. Thomas Müntzer machte die Bibel zum Programm, jenes Buch, das nichts von seiner revolutionären Brisanz eingebüsst hat.

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er große Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründete, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu, dem Franz-Hessel-Preis und dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

Nicola Denis, 1972 in Celle geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray.

Rezension von «14. Juli» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Melania Avanzato

Ivna Žic «Die Nachkommende», Shortlist #SchweizerBuchpreis19/10

Die junge, 1986 in Zagreb geborene und in Zürich aufgewachsene Ivna Žic schrieb mit „Die Nachkommende“ einen Roman, der nicht in erster Linie eine Geschichte erzählen will. Ivna Žic erzählt Bilder, die sie aus Vergangenheit und Gegenwart mit sich trägt, Bilder, die mit dem Lesen zu Geschichten werden. So wie ein Grossvater mit einem Mal zu malen aufhört und nie eine Antwort dafür gibt, warum er den Pinsel weglegte, so taucht Ivna Žic als Prosamalerin auf und malt beeindruckend.

© Lea Frei

Eine junge Frau bewegt sich hin und her, von Zürich nach Zagreb, von Zagreb zurück, nach Paris. Aber nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich. Zurück in Bildern aus ihrer Kindheit, noch weiter in das familiäre Bewusstsein einer ganzen Sippe. An die Seite eines Mannes, den sie liebte, der sie liebt, aber eine Liebe, die von beiden Seiten nicht hielt, was sie versprach. An die Seite ihrer Grossmutter, der sie als Kind das Wasser in Kübeln vom Meer auf die Veranda brachte und die ihre Füsse darin badete, ohne je einmal wieder mit ans Meer zu kommen. An die Seite des Grossvaters, des rauchenden Deda, der einmal malte, sich in die Erinnerung der Erzählten malte, tief ins Bewusstsein und nie enträtselte, warum er zu malen aufhörte.

„Warum hast du aufgehört zu malen? Es gibt anderes, sagte er dann, irgendwann, immer wieder…“

Ivna Žic erzählt vom Unterwegssein, der Unmöglichkeit, wahrhaftig an einem Ort zu sein oder an der sicheren Seite eines Menschen. Alles wandelt sich, nichts bleibt, wie es ist. Wer dort ist, soll da sein. Sie erzählt vom Verlust von Heimat, der Suche nach ihr, den Verpflichtungen und Rufen einer Sippe, dem Wunsch, ein eigenständiges Leben zu führen, ungebunden und doch irgendwo zuhause zu sein, der Sehnsucht all jener, die sich nach inneren Bildern sehnen, die von der Gegenwart vergessen sind. Die Sehnsucht, sich nahe zu kommen und die Ernüchterung darüber, dass zum andern und gar zu sich selbst unüberwindbare Distanz bleibt.

„… Geschichten der letzten Generationen, die an meinem Körper kleben, dranhängen, als wären sie vergessen, und doch pochen sie jeden Tag, wandern sie jeden Tag mit…“

Die Erzählerin sitzt und liegt nachts im Zug und die ganze Sippe setzt sich im Dunkel des ratternden Gefährts an die Seite der jungen Frau, flüstert, ruft und erzählt. Die Erzählerin sitzt im Bus, 12 Stunden zurück in die Schweiz nach Zürich, ganz nah all den andern, die Geschichten und Bilder mit sich herumschleppen. Von einem Ort zum andern, wie Generationen zuvor, als Kriege und Grenzen Reisen von Süden nach Norden zu Fluchten machten. Von einem Land, das in diesem Jahrhundert mehrfach von Kriegen, verschiedensten Regimen gebeutelt wurde, in ein Land der „eingeschlafenen Körper“.

Die Protagonistin reist hin und her, getrieben von ihr selbst, von unbeantworteten Fragen, verschwiegener Geschichte, dem Gefühl nirgendwo zuhause zu sein. Unvereinbare Welten, die sie auseinanderzureissen drohen. Auf der Grossmutterinsel die stete Frage, wann sie wiederkomme und in der Stadt, in der sie wohnt, die dauernde Frage, ob sie von hier sei.

Ivna Žic erzählt und webt ein Netz in die Landschaft, dessen Bänder sich mit jedem Erzählstrang mehr und mehr zu einem grossen, ganzen Bild zusammenfügen. Sie erzählt wie ein Maler malt, nicht von links oben nach rechts unten, sondern Pinselstrich für Pinselstrich auf der Leinwand der Zeit. Zugegeben, Ivna Žics Prosa entschlüsselt sich nicht von selbst. Sie verlangt von Lesenden einiges ab. Aber wer sich auf die Musik in der Sprache der jungen Schriftstellerin einlässt, die Intensität ihrer Sprache, der wird reichlich belohnt.

«Ein Interview»:

In Ivna Žics Roman „Die Nachkommende“ stellt die namenlose Protagonistin ein paar Fragen an den Schalterbeamten Herr Zlatko.
Fragen, die ich der Autorin stellte:

Warum sind Sie gerade hier und nicht anderswo?
Jetzt gerade bin ich hier, in Zürich, und nicht anderswo, weil ich das Stück GEBROCHENES LICHT am Theater probe. Das schöne am Medium Theater ist: Man muss da sein, hier sein und kann nicht anderswo, es geht nicht digital oder per Mail, es geht nur hier und jetzt.

Warten Sie auf etwas?
Momentan nicht wirklich, die Tage sind voll, wir sind mitten in Endproben und die Première rückt von Stunde zu Stunde näher.

Was oder wer fehlt Ihnen?
Etwas Ruhe zum  Schreiben.

Haben Sie Zeit?
Ich nehme sie mir, jeden Tag aufs Neue.

Hassen Sie?
Nein.

© Lea Frei

Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Für ihren Debütroman »Die Nachkommende«  wurde sie 2019 sowohl für den Österreichischen Buchpreis als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. Sie lebt in Zürich und Wien.

Illustrationen © Lea Frei

Die Shortlist ist da! #SchweizerBuchpreis19/3

5 Namen, 5 Bücher. 4 Frauen, 1 Mann. 2 Debütromane, 1 «Zweitling», 2 Werke in langer Reihe. Vom Kleinräumigen ins Grossräumige, von rissiger Idylle bis zur Endzeitstimmung. Die Shortlist des Schweizer Buchpreises 2019 hat es in sich und überrascht. Wie immer. Was sie auch tun soll.

© Lea Frei

Freuen sie sich! Der kleine Strauss an Büchern könnte unterschiedlicher und vielseitiger nicht sein. Wer sie alle liest, wird staunen, wie breit sich Literatur lesen lässt, dass sich sowohl Inhalte wie Erzählweisen diametral voneinander unterscheiden können. Lesen Sie nicht nur die Bücher, sondern nutzen sie die vielen Möglichkeiten, die Autorinnen und den Autor auf ihrer langen Lesereise zu begegnen (z. B. am 25. Oktober im Literaturhaus Zürich oder an der BuchBasel vom 8. – 10. November).

Für den Schweizer Buchpreis 2019 hat die Jury über 70 Titel aus 45 Verlagen geprüft. Der Jurysprecher Manfred Papst sagt zur Wahl: „Die Bandbreite an Themen und Herangehensweisen war gross, und es gab viele interessante junge Stimmen. Die Jury hat sich für fünf eigenwillige und überraschende Texte entschieden:

Jury: In ihrem Roman «GRM.Brainfuck» treibt Sibylle Berg den entfesselten Neoliberalismus auf die Spitze und attackiert eine moralisch verkommene Zwei-Klassen-Gesellschaft mit ihrer eigenen entfesselten Phantasie. Dieser Entwicklungsroman ist eine Mind Bomb von emotionaler Wucht.»

Sibylle Berg ist ein Eckpfeiler in der deutschsprachigen Literatur, Garantin dafür, dass Literatur Leserinnen und Leser an die Grenzen der Wohlfühlzone bringt – zuweilen auch darüber hinaus. Sibylle Berg schreibt keine Literatur fürs Nachttischchen. Wenn man dann doch vor dem Schlaf liest, kann sich das Gelesene durchaus störend in den Schlaf schleichen.

© Lea Frei

«GRM.Brainfuck»
Vier Kinder in einer heruntergekommenen Stadt in Grossbritannien, in einem kaputten Staat, der auf Überwachung setzt. Sibylle Berg (*1962) verlängert in «GRM.Brainfuck» (Kiepenheuer & Witsch, 2019) eine brutale Gegenwart in eine gnadenlose Zukunft.

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Jury: «Im vielschichtigen Roman «Der Sprung» zeigt die Autorin Simone Lappert in einem raffiniert konstruierten Geschichtenmosaik, wie ein einziger dramatischer Moment auf verschiedene Einzelschicksale einwirkt.»

Simone Lappert überzeugte schon 2014 mit ihrem Debütroman «Wurfschatten». Mit «Der Sprung» gelang ihr aber weit mehr Aufmerksamkeit – mit Recht! Und seit dem vergangenen Internationalen Lyrikfestival in Basel im Januar dieses Jahres freue ich mich auch auf Simone Lapperts ersten Lyrikband. Die junge, umtriebige Schriftstellerin ist ein grosses Versprechen für die Zukunft!

© Lea Frei

«Der Sprung»
Eine junge Frau steht auf dem Dach eines Mietshauses und weigert sich herunterzukommen. Das bringt den Alltag verschiedener Menschen aus dem Gleichgewicht. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt Simone Lappert (*1985) in «Der Sprung» (Diogenes, 2019) von Halt und Freiheit.

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Jury: «Der Traum vom Familienidyll auf dem Land erweist sich in Tabea Steiners Debütroman «Balg» als trügerisch. Der Alltag mit Kind ist für Antonia und Chris anstrengender als erwartet, zur Isolation und Überforderung gesellt sich eine zunehmende Entfremdung. Diese Entwicklung zeichnet Tabea Steiner in einer einfachen, lakonischen Sprache mit glasklaren Bildern nach.»

Tabea Steiner, schon lange tätig als Organisatorin verschiedener Literaturfestivals (Literaare in Thun oder Aprillen in Bern), als Moderatorin, Literaturvermittlerin lebt ganz in der Literatur. Dass ihr jetziger Verlag Edition Bücherlese zusammen mit ihr ins Rennen um den Schweizer Buchpreis geschickt wird, freut mich sehr.

© Lea Frei

«Balg»
Timon, ein «Problemkind», steht im Zentrum des Debütromans «Balg» (edition bücherlese, 2019) von Tabea Steiner (*1981). Aus wechselnden Perspektiven erzählt sie von Überforderung und Ausgrenzung in einem Dorf, das nicht zur Idylle taugt.

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Jury: «Alain Claude Sulzer erzählt in seinem Roman «Unhaltbare Zustände» die Geschichte eines gewissenhaften alternden Angestellten. Der Autor schildert in einer Sprache, die sich und uns Zeit lässt, eine so vielschichtige wie anrührende Figur.

Seit Alain Claude Sulzers Roman «Urmein», der vor mehr als 20 Jahren bei Klett-Cotta erschien, bin ich treuer Begleiter des Basler Schriftstellers. Ein Autor, der es versteht, aus der Normalität den Glanz des Speziellen herauszufiltern, der mir das Gefühl gibt, an etwas Besonderem teilzuhaben.

© Lea Frei

«Unhaltbare Zustände»
Die Schaufenster des Dekorateurs Stettler sind legendär, über viele Jahre pilgern die Leute zum Warenhaus, um sie zu sehen. Doch dann kommt Stettlers Leben ins Wanken. Alain Claude Sulzer (*1953) beleuchtet in «Unhaltbare Zustände» (Galiani, 2019) die gesellschaftlichen Umbrüche der 1968er Jahre auf ungewöhnliche Weise.

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Jury: «Ein Zug zwischen Paris und Zagreb, eine junge Frau zwischen den Ländern und Sprachen ihres Lebens: «Die Nachkommende» von Ivna Žic ist ein Debüt von grossem Sprachbewusstsein und sinnlicher Intensität.»

Ivna Žic, eine neue Stimme, «wie aus dem Nichts» schreibt der Tages Anzeiger, eine frische Art des Erzählens. Eine Lesereise, bei der ich als Leser oder Leserin mit einsteige, weg und hin – oder hin und weg. Ihr Erstling «Die Nachkommende», erschien beim renommierten Wallstein Verlag.

© Lea Frei

«Die Nachkommende»
Ivna Žic (*1986) verbindet in ihrem Debütroman «Die Nachkommende» (Matthes & Seitz, 2019) die Geschichte einer jungen Frau, die unterwegs zu ihrer Familie in Kroatien ist, mit einer Liebesgeschichte in Paris. Eine vielschichtige Spurensuche zwischen damals und heute.

Und seien sie weiterhin dabei, wenn litertaturblatt.ch seinen Senf dazu gibt!

Sämtliche Illustrationen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)

Éric Vuillard «14. Juli», Matthes und Seitz

14. Juli: Frankreich feiert seinen Nationalfeiertag mit Paraden, Glanz und Glorie, mit viel Militär, gibt sich macht- und selbstbewusst. Dabei war der 14. Juli 1789 genau das Gegenteil; der Untergang der Aristokratie, jener Kulminationspunkt, der mit dem Sturm auf die Bastille gipfelte und erst im in der Folge das werden liess, was sich heute Französische Revolution nennt.

Am 15. April dieses Jahres brannte Notre Dame in Paris und die ganze Welt schien den Atem anzuhalten. Am 14. Juli vor 240 Jahren brannte die Bastille, ein Bollwerk königlicher Macht. Nicht durch einen unglücklichen Umstand, sondern weil sich ein überschäumender Strom von Menschen durch die Strassen von Paris wälzte, hungrig, zornig, aufgeladen, mit der Absicht, keinen Stein auf dem andern zu lassen, schon gar nicht jene Steine, die die Massen hungern liessen, während der Adel sich hinter Mauern verlustierte. Frankreich war hoffnungslos verschuldet, der Staat drohte, sich mit wehenden Fahnen in den Bankrott zu reiten, während man die Löhne jener Arbeiter kürzte, denen das Geld so schon nicht mehr zum Leben reichte.

Während sich der Hof in Versailles, dieser Moloch aus gepuderten Günstlingen, Zubringern, Dienstboten, Glückssuchern, Profiteuren und Gaunern ganz dem Moment hingab und sich der Monarch in Gottes Gnaden suhlte, kochte und brodelte in der unkontrolliert gewachsenen Grossstadt Paris, damals wahrscheinlich eine der grössten Städte der Welt, das Volk. Versailles, heute strahlende Sehenswürdigkeit, mit seiner ebenso pompösen wie monströsen Infrastruktur war nicht nur riesiges Macht- und Kulturzentrum, sondern ein Abgrund, in dem sich Biographien verloren, Menschen verschwanden, die Dekadenz wilde Feste feierte und Reichtum und Armut Wand an Wand existierten.

Éric Vuillard schildert diesen einen Tag, schrieb mit «14. Juli» ein literarisches Denkmal. Nicht für Frankreich, keine Kulisse für die Paraden auf den Champs-Élysées, nicht für die wieder erstarkte Aristokratie, nicht für Eliten und Prominenz, sondern für all jene, die auch nach diesem Buch, trotz aller Geschichtsschreibung namenlos bleiben, die sich in der Verzweiflung über ein Leben ohne Perspektive mitreissen liessen, die Spiesse, rostige Scheren, Stuhlbeine und Mistgabeln mitnahmen, um ihrem grenzenlosen Unmut Luft zu verschaffen.

Éric Vuillard kann etwas, was ganz eigen ist. Er schreibt Literatur, die Geschichte zum Angelpunkt macht. Obwohl er sich chronologisch an die Geschehnisse jenes Tages hält, ist sein Blick weder wissenschaftlich noch historisch. Er widmet sich jenem Tag, dem Moment, als Tausende starben, unschuldig, im falschen Moment am falschen Ort, als das Chaos die Monarchie zum Sturz brachte, unsägliches Kulturgut ein Raub der blanken Zerstörungswut, die Anarchie der Beginn einer neuen Zeitrechnung wurde. Éric Vuillard beschreibt meisterhaft, mit welch kümmerlicher Arroganz sich die herrschende Elite dem aufgewühlten und euphorischen Mob entgegenstellte und bis zuletzt glaubte, man könne die Revolution mit einem weissen Spitzentaschentuch, Verhandlungen und militärischer Macht aufhalten oder wenigstens in kontrollierbare Bahnen lenken.

Der Autor glorifiziert nichts und niemanden, nicht einmal jene, die aus dem Moment zu «Helden» wurden. Éric Vuillard malt mit starken Farben, kraftvollen Sätzen und einer Eindringlichkeit, die mich als Leser bis ins Mark erschüttert. Was damals geschah, geschieht immer wieder. Weit weg in Venezuela und latent mit gelben Westen ganz nah. «14. Juli» ist perfekter Geschichtsunterricht!

© Melania Avanzato

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er grosse Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründet, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2017 bekam er für «Die Tagesordnung» den renommierten Prix Goncourt.
Nicola Denis, 1972 geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray.

literaturblatt.ch macht ERNST

Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

ERNST 4 / 22

ERNST 3 / 22

ERNST 2 / 2022

ERNST 1 / 2022

ERNST 3+4 / 2021

ERNST 2 / 2021

ERNST 1 / 2021

ERNST 4 / 2020

ERNST 3 / 2020

ERNST 2 / 2020

ERNST 1 / 2020

ERNST 4 / 2019

ERNST 3 / 2019

ERNST 2 / 2019

ERNST 1 / 2019

ERNST 4 / 2018

ERNST 3 / 2018

23. Literaturfestival Leukerbad: «Naturkunden» mit Judith Schalansky, ein Interview

In diesem Frühling feierte die Reihe «Naturkunden» vom Verlag Mattes und Seitz ihren 5. Geburtstag. Ein Jubiläum, das gefeiert werden musste, denn dass die bald 50 Bände aus dieser exklusiven Bände derart erfolgreich, nachhaltig und wegweisen sein würden, wie sie es tun. Judith Schalansky, Herausgeberin und Mitinitiantin dieser Reihe, brachte die Buchreihe mit nach Leukerbad und mit ihr Cord Riechelmann, der mit «Krähen» die Reihe begann und Jutta Person, die mit «Korallen» das halbe Hundert komplett machen wird.

In einem Hotelpark traf ich mich mit Judith Schalansky zu einem Interview:

Sie stellen zusammen mit Autoren die „Naturkunden“ – Reihe aus dem Verlag Matthes & Seitz beim 23. Literaturfestival Leukerbad vor. Etwas, was eigentlich gar nicht nötig ist, denn jeder, der Bücher liebt, kennt die von Ihnen herausgegeben Reihe ›Naturkunden‹. War da jemals die Hoffnung, dass aus einem mannigfaltigen Abenteuer eine „Institution“ werden würde?
Ach, als wir uns die Reihe ausgedacht haben, da haben wir keinen Gedanken an die ferne Zukunft verschwendet, sondern immer nur an das nächste Programm. Damals, vor fünf Jahren, waren Bücher über die Intelligenz der Pflanzen oder das Seelenleben von Bäumen in den Bestsellerlisten unvorstellbar. Was damals langsam anfing, war die Lust am sogenannten ›Landleben‹, die vage Sehnsucht nach Naturerlebnissen. Es ist schön, wenn die Naturkunden ihren Teil dazu beigetragen haben, dass das, was wir ›Natur‹ nennen, nicht mehr als Nischenthema wahrgenommen wird.

Bücher aus ihrer Reihe wie „Krähen“ von Cord Riechelmann oder „Äpfel und Birnen“ von Korbian Aigner besitzen Kultstatus, erreichen ein Publikum, dass sich sowohl für Sachthemen, wie für Kunst und Literatur interessiert. Es sind Bücher, die nicht einfach gelesen in ein Bücherregal verschwinden wollen, aber auch weit davon entfernt, Bestimmungshilfen sein zu wollen. Bücher, die von Innen und Aussen überzeugen. Bücher, denen man die Liebe zum Inhalt genauso ansieht wie die Liebe zum Objekt Buch. Sind das die Gründe für den Erfolg?
Natürlich. Es sind Bücher, in denen wir für den jeweiligen Inhalt eine angemessene Form zu finden versuchen. Wenn das gelingt – und das muss gar keine aufwendige oder sehr teure Gestaltung sein –, dann wird das Buch erst wirklich schön, auf eine ehrliche, zwingende, manchmal sogar ganz hintergründige Weise.

Bald steht mit dem 50. Band über Korallen, den die Journalistin und Kulturwissenschaftlerin Jutta Person, die schon über den Esel ein engagiertes Porträt in den Naturkunden verfasste, erscheinen. Zum 50. Mal erscheint dabei ihr Name als Herausgeberin. Was macht das mit ihnen?
Es versetzt mich in Erstaunen – sind es wirklich schon so viele ? –, vor allem aber löst es Freude in mir aus: die Freude darüber, dass etwas funktioniert hat und und noch funktioniert, Bücher ermöglicht zu haben, die es sonst nicht in dieser Form gegeben hätte, und die Vorfreude auf kommenden Bücher: Zeitgleich mit mit Jutta Persons ›Korallen‹ erscheint zum Beispiel das Portrait der ›Algen‹ der niederländischen Autorin Miek Zwamborn. Das sind zwei absolute Lieblingsprojekte. Wir begegnen der Unterwasserwelt in Fauna und Flora zugleich.

Gibt es unter all den Titeln der „Naturkunden“ solche, die ihnen ganz besonders ans Herz gewachsen sind oder solche, denen sie gerne mehr Aufmerksamkeit im Buchmarkt gegönnt hätten?
Annie Dillards ›Pilger am Tinker Creek‹ von 1974 ist einer meiner Lieblingstexte des Nature Writings geworden. Es geht darin um nichts geringeres als die Schöpfung, und das Ringen um eine Sprache für ihre ungeheuerliche Schönheit. Ein Buch des Lebens, ein Lebensbuch, in dem die Gesetze der Physik und die Fragen der Metaphysik mit den Mitteln der Poesie verhandelt werden. Ich habe nicht aufgehört, darin zu lesen.
Zdenek Burians so fantastische wie empathische Bilderwelten, die meine Vorstellung der sogenannten Urzeit stark geprägt haben, hätte ich mehr Beachtung gewünscht. Wir mussten lernen, dass großformatige, aufwendig hergestellte Bildbände sehr viel schwieriger zu kalkulieren sind als kleinere, textlastige Formate. Heute bespielen wir nur noch unregelmäßig dieses Format.

Ich weiss von einer Lesung in Zürich, als sie aus ihrem letzten bei Suhrkamp erschienen Roman „Der Hals der Giraffe“ lasen, wie sie noch ganz wage von einem kommenden Abenteuer erzählten, von Plänen einer Sachbuchreihe. Schon damals, als sie vom Werdegang ihres eigenen Romans, von den Schwierigkeiten rund um die äussere Erscheinung desselbigen erzählten, wie wichtig ihnen die Form, das Erscheinungsbild eines Buches ist, wie viel ihnen am „schönen Buch“ liegt. Hat die „Naturkunden“ – Reihe nicht ganz offensichtlich den ganzen Buchmarkt beeinflusst?
Es ist ja kein geringeres Kompliment, nachgeahmt zu werden. So lange es dem Buch und dem Thema ›Natur‹ hilft, ist dagegen gar nichts einzuwenden.

Sehr bald wurden Medien aufmerksam auf die „Naturkunden“ – Reihe. Ich erinnere mich an einen Auftritt in „Druckfrisch“ mit dem Literaturpapst Denis Scheck. Eigentlich war die Lancierung zusammen mit ihnen, einer viel beachteten Schriftstellerin, die mit dem Buch „Atlas der abgelegenen Inseln“ einen Bestseller landete der perfekte Coup. Wie viel Zufall, wie viel Kalkül lag in der Zusammenarbeit zwischen Verlagsleiter Andreas Rötzer und ihnen?
Das müssen sie Andreas Rötzer fragen. Mir erschein es als schöner Zufall: Ich traf Andreas Rötzer zum ersten Mal in Taipeh auf der Buchmesse 2012, wo er mir von seinen Plänen zu einer Reihe zum Thema ›Natur‹ erzählte. Aus einem zwanglosen Geplauder an der fesigen Küste Nordtaiwans, ergab sich dann ganz organisch die Zusammenarbeit. Ich war froh, nach Jahren einsamer Schreib- und Gestaltungsarbeit etwas Gemeinsames machen zu können und genoß die Möglichkeit, Programme zu gestalten, Themen zu setzen und Formate auszuprobieren.

Warum liegt ihnen so viel an der Form?
Weil die Form nichts Nachgeordnetes, sondern etwas Gestaltgebendes ist. Ich habe noch nie einen Inhalt ohne Form gesehen. 

Sie sind Herausgeberin, Schriftstellerin und Buchgestalterin. Gibt es eine Reihenfolge in ihrem Herzen?
Die Schriftstellerin und Buchgestalterin gehören untrennbar zusammen. Die Herausgeberin ergibt sich aus beiden. Es ist wunderbar, in Manuskripten Bücher zu entdecken und diese zum Leben zu erwecken.

Im kommenden Herbst erscheint wieder bei Suhrkamp der Erzählband „Verzeichnis einiger Verluste“. Wie viel Kampf zwischen all den Aufgaben und Projekten liegt in diesem neuen Buch?
Es ist ein Ringen verschiedener Daseinszustände. Das eigene Schreiben ähnlich über langen Zeitraum einer ziellosen Tiefenbohrung. Die Herausgeberschaft verlangt eher, das Ziel schon fest im Blick zu haben, die Dinge vom Ende her zu denken. Ich bin Andreas Rötzer und Pauline Altmann, die die Gestaltung der Naturkunden hauptsächlich besorgt, sehr dankbar für ihre Unterstützung, vor allem in den letzten beiden Jahren.

Welche Zukunft geben sie dem Medium Buch?
Ach, eine große! Nennen Sie mir ein Medium, das so sensationell und so tröstlich ist?

Frau Schalansky, vielen, vielen Dank!

Ganz neu ist Judith Schalanskys Roman «Verzeichnis einiger Verluste» bei Suhrkamp. Beim Verlag ist zu lesen: Die Weltgeschichte ist voller Dinge, die verloren sind – mutwillig zerstört oder im Lauf der Zeit abhandengekommen. In ihrem neuen Buch widmet sich Judith Schalansky dem, was das Verlorene hinterlässt: verhallte Echos und verwischte Spuren, Gerüchte und Legenden, Auslassungszeichen und Phantomschmerzen. Ausgehend von verlorengegangenen Natur- und Kunstgegenständen wie den Liedern der Sappho, dem abgerissenen Palast der Republik, einer ausgestorbenen Tigerart oder einer im Pazifik versunkenen Insel, entwirft sie ein naturgemäß unvollständiges Verzeichnis des Verschollenen und Verschwundenen, das seine erzählerische Kraft dort entfaltet, wo die herkömmliche Überlieferung versagt. Die Protagonisten dieser Geschichten sind Figuren im Abseits, die gegen die Vergänglichkeit ankämpfen: ein alter Mann, der das Wissen der Menschheit in seinem Tessiner Garten hortet, ein Ruinenmaler, der die Vergangenheit erschafft, wie sie niemals war, die gealterte Greta Garbo, die durch Manhattan streift und sich fragt, wann genau sie wohl gestorben sein mag, und die Schriftstellerin Schalansky, die in den Leerstellen ihrer eigenen Kindheit die Geschichtslosigkeit der DDR aufspürt.

So handelt dieses Buch gleichermaßen vom Suchen wie vom Finden, vom Verlieren wie vom Gewinnen und zeigt, dass der Unterschied zwischen An- und Abwesenheit womöglich marginal ist, solange es die Erinnerung gibt – und eine Literatur, die erfahrbar macht, wie nah Bewahren und Zerstören, Verlust und Schöpfung beieinanderliegen. (Eine Rezenzension auf literaturblatt.chfolgt!)

Juthith Schalansky gezeichnet von Falk Nordmann

Judith Schalansky, geboren 1980 in Greifswald, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr »Atlas der abgelegenen Inseln« (mare, 2009) als auch ihr Bildungsroman »Der Hals der Giraffe« (Suhrkamp, 2011) wurden von der Stiftung Buchkunst zum »Schönsten deutschen Buch« gekürt. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe Naturkunden heraus.

Das 24. Internationale Literaturfestival in Leukerbad findet vom 28. – 30. Juni statt.