Dragica Rajčić Holzner «Glück», Der gesunde Menschenversand

So wie das Dorf „Glück“ in Dalmatien kaputt und halb verlassen kein Ort ist, an dem man bleiben kann, ohne sich fesseln zu lassen, selbst wenn es der Ort von „Familie“ ist, ist Glück nie Zustand, höchstens Sehnsucht, ein Ort, an dem Ana nie ankommt.

„Wir Kinder hatten kein Wort
sondern dienten als Empfänger der Verheissungen des Vaters.“

Gebunden durch Gewalt in der Familie, von Generation an Generation weitergegeben, tief verankerten Verletzungen und Zerstörungen bis weit in die Vergangenheit, flieht Ana zusammen mit Igor in die USA, wandert aus, um „Glück“ zu verlassen und ihr Glück zu finden, vielleicht sogar gemeinsames Glück. Aber das Unglück, die ewige Zerstörung, klebt wie Harz am Leben der jungen Frau. Als wäre dieses in den Genen eingeschrieben, unauslöschlich, unabwendbar. 

„Ich wollte nicht Mutter werden
ich wollte fliegen
in Luft leben
Gedichte schreiben“

Die Idee einer grossen, glücklichen Liebe mit Igor auf der anderen Seite des Ozeans, in maximaler Distanz zum alten Leben, erweist sich als Irrtum. Was Igor in seiner Familie zurückzulassen versucht, wird durch Einsamkeit und Alkohol in ein Leben gebrannt, dass sich nicht aus den Ketten befreien kann. Ana wacht auf in den Schlägen ihres Mannes, im Blut ihres abgetriebenen Kindes, im Wunsch nach einem endgültigen Schnitt, ob bei ihm oder bei ihr, nur endgültig. 

„Ich glaube
mich wird der Schmerz vernichten
bevor ich es ablege
erzählen ohne Linderung
um erzählend sich zu vergewissern
dass es etwas gibt
wozu erzählen gut ist
es hilft nichts
es gibt keinen ersten Stein zu werfen“

Ana flieht in ein Frauenhaus, in ein Womenirrhaus, ein Haus der verirrten Frauen, am Leben geirrt, in der Liebe verirrt, vom Leben beirrt. In ein Haus, angespült an einen Fels aus Illusionen, geplatzten Hoffnungen und den zerrissenen Glauben an die Liebe, wo Blut geleckt wird, alle das selbe Blut lecken, gezeichnet, ernüchtert, verlassen. Wo man den letzten Rest Mut sammelt, um noch einmal beginnen zu können, um sich noch einmal zurück in die Hölle zu wagen, von der manche glauben, sie hätten einen zweiten Ausgang, einen für sich und einen für die unauslöschliche Idee einer Liebe.

„wie kann einer
sich Glück wachsen lassen
wie die Haare“

Was einst als Theaterstück aufgeführt wurde, ist nun als Text in Buchform zu lesen; kein Theater mehr, auch kein Roman. Die Autorin Dragica Rajčić Holzner bewegt sich zwischen den Sparten. Noch immer ist die Stimme der Protagonistin hörbar. Aber der Autorin geht es längst nicht bloss darum, von einem Menschen zu erzählen, der sich nur mit grösster Kraftanstrengung aus Schienen herausheben kann, von einer Gesellschaft, die von vererbter Gewalt, Stumpfheit und fehlender Empathie gezeichnet ist. Solche Geschichten gibt es zuhauf. Es ist die Art, die Kunst, wie Dragica Rajčić Holzner schreibt, erzählt. 

Gesetzt wie ein langes Gedicht stutzt man bei der Lektüre ob der Brüche, die durch den ein oder anderen „kroatischen“ Spracheinschluss verunsichern. Wortspielereien, die immer wieder zu Kippsätzen werden, die ganz überraschende Mehrdeutigkeiten erzeugen. Eine ganz eigene Textfärbung, die dem Buch nicht bloss Authentizität, sondern Eigenwilligkeit schenken. Dragica Rajčić Holzner vermeidet so, dass der Text sich auf eine emotionale Lesart einprägt. Natürlich geht es um eine junge Frau, die sich in ihrem Leben zu emanzipieren versucht. Natürlich geht es um eine Schriftstellerin, die ihre Stimme sucht, die sich aus einer scheinbar genetisch verankerten Umklammerung lösen will. Um eine junge Frau, die an die Liebe glaubt, um von ihr geschlagen zu werden, die wie viele andere mit selbstzerstörerischer Kraft zurück ins Verderben gezogen wird. Aber der Text, die Art ihres Erzählens funktioniert auch als Sound, als Spur der Verdichtung. Es gibt Sätze, die wie Hammerschläge an Intensität kaum zu überbieten sind, Szenen, die in ganz wenigen Worten maximale Wirkung erzeugen. Dragica Rajčić Holzner spielt mit der Sprache, aber nie mit mir als Leser.

„Glück“ ist literarisches Glück!

Dragica Rajčić Holzner, Geboren 1959 in Split, lebt als Autorin und Dozierende für literarisches Schreiben in Zürich und Innsbruck. Rajčić Holzner schreibt Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke und hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt «Warten auf Brauch» und «Buch von Glück». Sie wurde unter anderem mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und dem Lyrikpreis Meran ausgezeichnet.

Textauszug auf gegenzauber.literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Sandra Kottonau