Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper

Mit ihrer Trilogie „Liebesleben“, „Mann und Frau“ und „Späte Familie“ hat sich die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev tief ins Bewusstsein vieler geschrieben. Nicht nur weil sich die Romane eindringlich lesen, nicht nur weil „Liebesleben“ wie ein Komet einschlug und sieben Jahre später erfolgreich in die Kinos kam, sondern weil die Autorin mit ihren Themen den Nerv der Zeit trifft.

Dass man nun Zeruya Shalevs Erstling, der bereits 1993 unter dem Titel „Dancing, Standing Still“ in Israel erschien und damals im Vergleich zu „Liebesleben“ niemals jene Resonanz erreichte, jetzt auch auf den deutschsprachigen Markt wirft, erscheint zuerst als geschickter Schachzug des Verlags, nach der Lektüre des Buches aber als echtes Geschenk. 

Als Zeruya Shalev diesen Roman in Israel schrieb, kannte man die Autorin in ihrem Heimatland in einem kleinen Kreis als Lyrikerin. Im Vorwort der Autorin erzählt Zeruya Shalev, wie sie in einem Café mit dem Manuskript eines Schriftstellers auf diesen wartete. Und weil er sich verspätete, begann sie auf den Rückseiten der Manuskriptseiten zu schreiben. Was damals im Café begann, war wie ein Dammbruch. Zeruya Shalev war 32, verheiratet und Mutter einer vierjährigen Tochter. Als sie den Roman in einem wilden Rausch nach eineinhalb Jahren zu Ende geschrieben hatte, zerbrach ihre Familie. Und als der Roman 1993 erschien, liess die Presse die Autorin „verwundet und verängstigt zurück“, so sehr dass sie ihren Glauben an sich als Schriftstellerin beinahe verloren hatte.

Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper, 2024, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer,

Zwei Jahrzehnte später, mit dem Erfolg einer ganzen Reihe Bestseller im Rücken, einer getreuen Leserschaft und dem Umstand, dass die Geschichte ihr Land und die Zeit ihre Themen in den Brennpunkt stellt, ist es nicht verwunderlich, dass „Nicht ich“ derart Wellen verursacht, eben darum, weil der Umstand seines Erscheinens viel mehr ist als ein geschickter Schachzug des Verlags. Als Zeruya Shalev den Roman schrieb, war die Autorin ein Niemand. Da waren keine Erwartungen, da war keine Linie, keine Marke „Zeruya Shalev“. Sie schrieb sich in einen Taumel, der aus jeder Seite schreit. Sie reizt aus, gibt sich unbeeindruckt von Konvention und Tradition. „Nicht ich“ ist der buchlange Monolog einer Frau, die sich verloren, ihre kleine Tochter verloren hat, ihren Mann, ihre Familie, ihre Eltern, ihr Zuhause, das Gesicht in ihrem Spiegel. Und mit dem Titel „Nicht ich“ macht sie unmissverständlich klar, dass es nicht ihre Geschichte ist, auch wenn es trotzdem die ihre ist, eine universelle Geschichte von jemandem, der aus der Spur gerissen wird. 

„Wie kann man etwas verlieren, was man nie besessen hat?“

Zeruya Shalev lebt und schreibt in einem Land, das seit seiner Entstehung von Krieg und Terror gebeutelt ist. Am 29. Januar 2004, also vor mehr als 20 Jahren, wurde Zeruya Shalev selbst Opfer eines Selbstmordattentäters und verletzte sich dabei sehr. Eine kollektive Verunsicherung, die im ganzen Roman spürbar ist. So wie ein Land, eine Zivilisation, eine Religion nach Rechtfertigungen sucht, tut es im Roman eine „zerstörte Frau“, der man ihr Kind genommen, die Mann und Familie verloren hat, die sich bewusst ist, vieles in ihrem Leben „falsch“ angegangen zu sein. „Nicht ich“ ist ein lauter Roman aus wilden Träumen und Erinnerungen, aus Bildern, die zwischen Wahn und Realität flirren. Eine Frau voller Schuldgefühle, voller Anklage und Verzweiflung, permanent am Rand ihrer Existenz, von sich selbst und ihrer Wahrnehmung bedroht. Eine Frau, die sich selbst so wenig traut wie ihrer Umgebung. Zu viele unterirdiche Gänge führen zu diesem Kindergarten, da laufen mir zu viele Leute rum. Ich bin mir sicher, ab und zu verschwindet in diesen Gängen unbemerkt ein Kind. Sätze, die wie Messerschnitte die Lektüre zerschneiden.

Alles, was die namenlose Frau hatte, wurde ihr genommen. Selbst die Erinnerung droht in Unsicherheiten zu zerbröseln. Eine Frau, die nicht versteht, was mit ihr geschah und geschieht, die an ihrem Hunger nach Liebe leidet und nicht versteht, wie ihr passieren konnte, was ihr den Boden unter den Füssen wegzieht. Das Erstaunliche an diesem Roman ist die sprachgewordene Verzweiflung und Verunsicherung, der Taumel, die Selbstzerfleischung und der Schmerz. Unglaublich, wie tief Zeruya Shalev in die Wunden blicken lässt. Ich bin mit El Ii Ee Be Ee nicht zurechtgekommen. Für mich war das eine stinkende Verbindung von Schweiss und Sperma, Stechen im Bauch vom Ärger und Kopfschmerzen vom Weinen. Und trotzdem ist „Nicht ich“ eine Liebesgeschichte, wenn auch eine verzweifelte. Da schreibt jemand, der die rosa Brille auf dem Asphalt zertrampelt. „Nicht ich“ ist das literarische Zeugnis einer damals noch unbekannten Autorin und Dichterin, die alles auf eine Karte setzt. Ein Text, der sich in seiner Kraft wie ein Beben liest, der sich auch 30 Jahre nach seinem Entstehen passgenau in eine Zeit fügt, in der alles unter den Bomben der Gegenwart erzittert.

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane «Schmerz» (2015) und «Schicksal» (2021). Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

Anne Birkenhauer, 1961 geboren, studierte Germanistik und Judaistik in Berlin und Jerusalem und lebt seit 1989 in Israel. Sie arbeitete als wissenschaftliche Assistentin an der Universität und übersetzt u.a. Aharon Appelfeld, Chaim Be`er, Daniella Carmi, David Grossman, Dan Pagis und Yaakov Shabtai.

Beitragsbild © Jonathan Bloom

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime – eine Würdigung von Klaus Merz

Anlässlich der Buchtaufe von Markus Bundis neuem Roman «Wilde Tiere» am 10. März dieses Jahres im Gluri-Suter-Haus in Wettingen, bei der Klaus Merz, aktueller Träger des Schweizer Literaturpreises, die Veranstaltung moderierte, verfasste Klaus Merz eine mehr als treffende Einführung zu «Wilde Tiere». Hier wiedergegeben eine leicht angepasste Fassung:

«Das Kaleidoskop sei ein optisches Gerät, das häufig als Kinderspielzeug verwendet werde, so Wikipedia. Es war ursprünglich schon den alten Griechen bekannt, wurde jedoch erst 1817 als Patent angemeldet. Ein Physiker war bei seinen Untersuchungen über die Polarisation doppelbrechender Kristalle darauf gestossen, als er solche in eine spiegelnden Metallröhre schob und betrachtete.

In unserem Fall aber giesst der Schriftsteller Markus Bundi in seinem neuen Buch mit dem Titel «Wilde Tiere» ein knappes Dutzend nicht über jeden Zweifel erhabene menschliche Individuen wie unsereins, ein paar Kunstmuseen von Rang und die dazu gehörenden Kunstwerke samt einer vermuteten Leiche kurzerhand in seine verspiegelte Rollen-Prosa-Röhre.

Bundi lässt in der Folge Kollers Gotthardpost samt erschrecktem Kalb und Dalis Brennende Giraffe plus Schubladenfrau miteinander die Wege kreuzen, hortet ein gestohlenes Bacon-Porträt im düsteren Abstellraum, während Boschs Knabe mit Windrädchen leise den Wänden entlang vorüberzieht. Das Zürcher Kunstmuseum vermischt sich als Ort des Geschehens lichterdings, so übrigens der Titel eines frühen Bundi-Gedichtbandes, mit dem Kunstmuseum in Wien, die neue, lotterige Aarauer Kunsthausterrasse korrespondiert mit dem ältesten öffentlich zugänglichen Kunstmuseum der Welt im reichen Basel. Und das Putzpersonal der gehobenen Anstalt mischt sich äusserst mitteilsam unter die recherchierenden KriminalistInnen vor Ort.

Von Anfang an nicht zu übersehen der ganz und gar hiesige Hausmeister Binz sowie der alte Kunstkenner Assinger, dem Namen nach vermutlich gebürtiger Österreicher – oder ist er gar dem Umfeld von Robert Walsers Aschinger zuzuordnen? – Er trägt einen Topas als Erbstück an seinem Finger und Droste-Hülshoffs Satz «Du hast die Erde, hast den Himmel und deine Geister obendrein» stets in seinem Herzen. – Und ich kann Ihnen versichern, liebe Leserinnen und Leser, weder die Direktorin des Hauses noch Greta Thunberg kommen ungeschoren davon, sogar Frau Merkel wird fast liebenswürdig «verhundst». Und ein Zwillingsschicksal nimmt, als weiterer Nucleus eines möglichen Romans im Roman, einsam seinen Lauf, während Wärter Odradek, das kafkaeske Museumsfaktotum per se, über Olafur Eliassons geflutete Zumthor-Räume in Bregenz nachdenkt und Marco Odermatt im Kunstschnee weiter siegt.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime, 2024, 115 Seiten, CHF ca. 22.90
ISBN 978-3-99120-037-6

Nur, geneigte Leserinnen und Leser, leider weit und breit keine wilden Tiere, sondern im Grunde lauter «Denkzettel». Diese triftige Gedankensammlung Markus Bundis von 2022 findet hier ihre novellistische Fortsetzung. Als wildes Sinnieren.
Soviel als Versuch einer kurzen Einführung oder Entsprechung, will sagen, wilden Leseanleitung zu «Wilde Tiere», diesem sozusagen postmodernen Suchbild in Prosa, worin sich das Nichts und Abernichts auf Schritt und Tritt mit unserer Gegenwart vermischen und der heutige Zeitgeist bei Gelegenheit kurz und gehörig gegeisselt wird. Fast alles wird vom Autor mit einem knirschenden Lachen auf den Stockzähnen in den Prosa-Häcksler geschoben. Auch der Mord als Vorwand und Köder für die neugierige Leserschaft.

Wir sollten in diesem kaleidoskopischen Suchbild also vor allem dem Autor selber auf der Spur bleiben, da er ja – wie immer in literarischen Texten – der eigentliche Täter ist und bleibt. – In unserem Fall lautet sein Leitsatz übrigens: «Ich halte den Realismus für einen Irrtum.» Markus Bundi setzt diese Aussage von Georges Bataille als gestrenges Motto schon vor den Anfang seiner Geschichte. – Viel Vergnügen bei der Lektüre und Lesung von Markus Bundis «Wilden Tieren»!» 

Klaus Merz

Markus Bundi, 1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte, zuletzt  «Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig» und «Des Möglichen gewärtig. Ein Essay zum Werk von Klaus Merz». 2018 veröffemtlichte er sein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk «Wirklichkeit im Nachsitzen» und seit 2011 erscheint unter Bundis Herausgeberschaft die Klaus-Merz-Werkausgabe im Haymon Verlag. Bei Septime erschienen bisher der Kriminalroman «Alte Bande, Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte» und «Die letzte Kolonie».

Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Franjo Seiler

Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger

Es gibt Geschichten und Stoffe, bei denen man sich wundert, dass sie so lange schlummerten, so lange warten mussten, bis jemand Literatur aus ihnen macht. Was Margrit Schriber mit ihrem Meisterstück „Die Stickerin“ gelungen ist, ist verblüffend und weht den Wind grosser Gefühle und grosser Leidenschaften in meine kleine Lesestube.

Sie sei dem Stoff vor vielen Jahren über den Weg gelaufen. Und auch wenn andere Bücher zuerst geschrieben werden mussten, reifte der Stoff, bis er sich nicht mehr zurückhalten liess“, erzählte Margrit Schriber anlässlich ihrer Buchtaufe im proppenvollen Saal beim Hotel Hofweissbad, unweit von jenem Ort, an dem die Protagonistin Maria Antonia Räss 1893 zur Welt kam. Im Appenzell Innerrhodischen, auf einem kleinen Bauerngut auf dem Wellenhügel, einem niederen Gehöft, in dessen Webkeller die kleine Maria Antonia schon fünfjährig als flinke Fädlerin auffiel, reist die auserwählte Sechzehnjährige als Schaustickerin in die europäischen Metropolen, als eigentliches Exportgut eines Bauernkantons, im Schatten der Stickereimetropole St. Gallen und erobert später aus ihrer Broderie in New York die Haute Couture und den Geldadel des 20. Jahrhunderts.

Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger, 2024, 233 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-03762-111-0

Die Gegensätze in Margrit Schribers Roman könnten grösser nicht sein: Hier das beschaulich, niedlich scheinende Appenzellerland, dort die Schluchten New Yorks. Hier die düster feuchten Keller im Hof Grüt, dort die mondäne Broderie im Rockefeller Center. Hier der Geruch nach Ziegen und Kuhmilch, dort der müde Kater auf dem Samtkissen. Margrit Schriber leuchtet das Leben der reichen Tante in Amerika nicht aus. Den reichen Teppich aus Fakten und Fiktion bestickt Margrit Schriber gekonnt zu einem Zeugnis des 20. Jahrhunderts, der Geschichte einer Frau, die sich nicht bestimmen lassen will, ausgewandert aus einem Landstrich, indem das Frauenstimmrecht erst nach dem Tod der Protagonistin 1990 von den Männern gnädigst angenommen wurde, eingetaucht in ein Land der Einwanderer, ein Land, das von Kriegen und Weltwirtschaftskrisen gebeutelt wurde.

„Maria Antonia Räss. Die Stickerin“ ist ein Roman von unbändiger Kraft, auch ein Spiegelbild der Autorin selbst, die ein Leben lang mit den traditionellen Einordungen und Zuschreibungen zu kämpfen hatte. MAR, Maria Antonia Räss regierte zu Lebzeiten unangefochten ein Imperium und verschaffte vielen in ihrem Heimatkanton ein sicheres Einkommen. Sie, die es in Übersee schaffte, aus der Namenlosigkeit Bedeutung zu generieren, eine Vertraute Coco Chanels wurde, eine Muse Walt Disneys, inszenierte ihre Besuche im Appenzellerland stets zu grosszügigen Triumpfzügen, bei denen sie im besten Hotel des Ortes Hof hielt. Die kleine Frau, die die Upperclass der Staaten blendete, gab sich im Heimatkanton als Wohltäterin und heimliche Rächerin an den festgefahrenen Strukturen einer patriarchalischen Welt.

Aber Margrit Schribers Intention war kein Denkmal, kein Geschichtsbuch und keine Tellerwäscherinnenbiographie. Margrit Schriber zeichnet ein Porträt einer ewig suchenden Frau. Sei es die Suche nach Anerkennung, nach Liebe und Geborgenheit, nach Sicherheit und Respekt. Maria Antonia Räss bleibt auch nach der Lektüre des Romans ein Rätsel. Eine stellvertretende Geschichte all jener, die sich auf den mühsamen Weg der Selbstbestimmung machten, die den Kampf nicht scheuten, die sich nie entmutigen liessen. „Die Stickerin“ ist die Lebensgeschichte einer Frau, die sich ihren nie gestillten Sehnsüchten stellte, die aufrecht blieb, sich in keine Schublade drängen liess.

Bühne ihres Romans ist der Rathaussaal im Kantonshauptort Appenzell, in dem sich alle rechtmässigen und ungeladenen Sippenmitglieder zur Erbteilung versammeln. Auf einem Tisch im Saal ist alles zusammengetragen; Gerätschaften, Porzellan, Handtaschen, Fotos, Briefbündel und eine vernagelte Kiste Dom Pérignon, alles, was von dem einstigen Riesenvermögen übrig geblieben ist. Ziemlich wenig angesichts dessen, was sich in den Vorstellungen ihrer Verwandtschaft über die Jahrzehnte als scheinbare Tatsache verfestigte. Erstaunlich wenig für ein Leben, das die Protagonistin in ihren späten Jahren mit viel Pomp inszenierte.

Maria Antonia Räss starb 1980 auf einer ihrer Reisen in ihren Heimatkanton. Begraben wurde sie auf dem Friedhof Eggerstanden, neben der Kirche, die ohne ihr Geld nie so hätte erbaut werden können. Margrit Schriber schreibt sich mit „Die Stickerin“ nicht nur ins Selbstbewusstsein eines kleinen, traditionsreichen Kantons. Margrit Schriber schrieb mit „Die Stickerin“ einen fulminanten Roman über den Kampf einer Frau durch die Zeit.

Vielfach faszinierend!

Interview

Was für ein Roman, was für ein Buch, was für eine Geschichte. Ich war an der Bauchtaufe im Hotel Hofweissbad im Kanton Appenzell Innerrhoden, einem Ort, der wie die Geschichte von Maria Antonia Räss die Geschichte des kleinen Kantons im 20. Jahrhundert repräsentiert, einer Geschichte zwischen Monarchie, Diktatur und Demokratie, eine Geschichte der Industrialisierung, der Moderne, einer Geschichte zwischen Tradition und Aufbruch. War dir von Anfang an bewusst, wie viel Potenzial in diesem Stoff steckt?
Zuerst war da nur diese Maria Antonia Räss und ihre exzentrischen Auftritte als Frau von Welt, die mich beeindruckten. Als ich mich in die Kinderarbeit an einer Stickmaschine vertiefte, begriff ich, dass sehr viele Vorhänge aufgezogen werden müssen. Schliesslich waren 100 ereignisreiche Jahre aufzudecken. Ich musste den Einfluss der Geschichte auf eine Region erforschen, die ich überhaupt nicht kannte. Die Wirkung der Zeit auf Menschen mit einem anderen Lebenshintergrund, einer anderen Kultur, einer anderen Melodie von ihrem Wellenhügel. Aber nicht nur das. Ich musste die Gestaltungskraft dieser Menschen und die Anziehung der Welt auf sie ergründen. Ich durfte mich nicht nur mit Landsgemeinde-Berichten, der wechselnden Wirtschaft und der europäischen Geschichte zufrieden geben. Diese Tochter eines Geissenbauern ist nach New York ausgewandert, hat sich dort auf dem allerbesten Platz positioniert, den Stickenden in der Heimat Arbeit verschafft und sich auch nach China orientiert. Mein Stoff war entsprechend aufregend, anspruchsvoll, vielseitig und spannend.

Du hattest nie die Intention, eine Biographie zu schreiben. Und trotzdem hat die Buchtaufe unweit des Geburtsorts der Protagonistin bewiesen, wie sehr Du den Nerv dieser Existenz, dieser Zeit getroffen hast. Du hast ein Stück Stellvertretergeschichte geschrieben. Du hast genau soviel Fiktion miteingeschrieben, in das sonst nur undeutliche Bild einer starken Frau hineingestickt, dass sämtliche BesucherInnen dieser Veranstaltung das Gefühl hatten, Du hättest ein Denkmal gesetzt. Auch ein Denkmal für all die Frauen, die in der Fremde vergessen gingen.
Tatsächlich habe ich mich ohne Nebengedanken oder Berechnung durch meinen Stoff hindurch gearbeitet. Und dies mit einer Leidenschaft sondergleichen. Ich verliebe mich in meine Figuren. Ich langweile mich rasch. Meine Figur muss also so sein, dass ich den Kopf nach ihr drehe und nicht mehr wegschauen kann. Ich verschaffe ihr eine Präsenz, die mich erfüllt. Ich will nicht wissen, dass sie zwischen zwei Buchdeckeln lebt. Sie ist ein Teil von mir. Ihr Leben ergibt für mich einen Sinn.

Maria Antonia Räss reiste als Schaustickerin mit sechzehn in die europäischen Metropolen und mit siebenundzwanzig mit nichts als einem Traum und einer Sticknadel aus englischem Stahl ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ausgerechnet aus einem Kanton, in dem die Frauen ein sonst unscheinbares Dasein in der Familie und im Web- oder Stickkeller führten, mit einer Schiffspassage ohne jeden Luxus, ohne Rückfahrkarte. Eine Reise weit, weit weg von allem, was ihre Welt bisher ausmachte. Dein Roman beschreibt auch eine verwundete Frau, ohne Psychologisierung. War es die Lust an dieser offenen, unbeschriebenen Weite?
Da müsste ich mich selber fragen. Warum schreibe ich? Weil es mir unbekannte Wege öffnet? Weil jedes Buch ein Tanz mit dem Leben auf Probe ist? Das Leben lässt wenig Wahl. Was passiert, das passiert. Das Leben ist immer der Ernstfall. Und es ist kurz. Viel zu kurz. Ein Roman ist die tausendfältige Möglichkeit. Eine offene, unbekannte Weite der Phantasie. Das macht Lust, die Augen zu schliessen und loszuziehen. Die Stickerin benutzte dazu ihre Nadel. Ihr Freund Walt Disney nutzte den Zeichenstift. Ich die Tastatur meines Computers. 

Maria Antonia Räss im Micki-Mouse-Car, mit ziemlicher Sicherheit mit Walt Disney

Maria Antonia Räss hatte einen Traum, den sie mit allen Mitteln Tatsache werden lassen wollte. In vielem entspricht ihre Geschichte auch Deiner Geschichte. Deine Reise war eine in ein männer-dominiertes Literaturestablishment, eine Reise, bei der Du noch immer nicht sicher angekommen scheinst. Der Literaturbetrieb ist wie der Modebetrieb eine Welt der Halbgottheiten. Warum verfallen wir so leicht dem Zwang der Schubladisierung, der Macht der Vorurteile, dem Schein des welt“männ“ischen Gestus?
Es ist, wie Du sagst. Und ist es so wie Du sagst, weil zu viele den Kopf nicht nutzen? Ist man zu oberflächlich? Ist es einfacher, andere denken zu lassen, und sich diese Idee dann als eigenes Etikett weithin sichtbar aufzukleben. Es ist bequem, denn das Urteil ist ja vorhanden. Man kann sich bedienen. Zudem ist die Meinung der Gesellschaft eine Macht, wenn nicht gar ein Gesetz. Das eigene Urteil könnte womöglich Ausschluss von der Gesellschaft bedeuten?   

Die Craisy Woman war im Alter eine Diva, ihre Inszenierung ein Schutzpanzer. Wir inszenieren uns alle. In deinem Roman schimmert eine verletzliche, suchende, leidenschaftliche Frau durch. Dieses Durchscheinende hat aber nichts melodramatisches, nichts exhibitionistisches. Es ist derart zart, fast fluid, dass ich versucht bin zu glauben, dass es gar nicht in Deinem Interesse stand, ein scharfrandiges Bild zu zeichnen. Wolltest du so die Bilder den Lesenden überlassen?
Letztendlich: Was weiss man vom Anderen? Was versteht und begreift man vom Anderen? Der Mensch ist sich selbst ein Rätsel. Will man sich überhaupt bis ins letzte verstehen? Der Wind weht unsere Geheimnisse in alle Richtungen. Und es ist gut so. Ich fand heraus, dass Maria Antonia Räss ihre grosse Liebe zu beklagen hatte. Er war Jude und verschwand in einem Lager. Liebe, Hoffnung, Sehnsucht sind Kräfte, die den Menschen zu Ausserordentlichem bewegen können. Sie geben uns ein Ziel. Ich gestand meiner Figur solche Kräfte zu. Denn was die Crazy Woman erreichte, war ausserordentlich. Woher nahm sie diese Kraft? Für mich war die Antwort klar. Die Sippe von Maria Antonia Räss musste begreifen, dass sie das Leben von der «Der reichen Tante» nie ergründen wird. Daraus ergab sich für mich als Autorin etwas Wunderbares, denn die Verwandten griffen nach tausend Fantasiefäden und machten eine Geschichte daraus.

Margrit Schriber, 1939 in Luzern geboren, lebt in Zofingen und in der Dordogne. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell, bevor sie Schriftstellerin wurde. Ihr umfangreiches literarisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, zB. 1977 Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung oder 1998 Aargauer Literaturpreis.

Folgende Titel sind auf literaturblatt.ch besprochen: «Das Abenteuer, eine Frau zu sein» (2022), «Die Vielgeliebte meines Mannes» (2020), «Glänzende Aussichten» (2018), «Schwestern wie Tag und Nacht» (2014)

Porträt auf SoundCloud

Webseite der Autorin

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung

Was wünscht sich ein Mädchen, eine junge Frau mit 14? Die Zugehörigkeit in einer Peergroup, Anerkennung, die Sehnsucht nach der grossen Liebe, Träume, Freundschaften. Matthias Gruber hat sich in seinem preisgekrönten Debüt „Die Einsamkeit der ersten Art“ ein Leben ausgesucht, dass von vielem ausgeschlossen ist.

Eigentlich ist sie doch mit ihrem Namen schon gestraft; Arielle. Arielle leidet unter einem Gendefekt. Was heisst; Arielle hat als Mädchen fast keine Haare auf dem Kopf, fast keine Zähne im Mund und kann nicht schwitzen. Nicht nur die heissen Sommer sind ihr ein Graus, jede körperliche Anstrengung, das Leben überhaupt. Ektodermale Dysplasien heisst diese Krankheit, oder noch nichtssagender XLHED. Matthias Gruber nennt den Namen dieser Krankheit in seinem Buch nie. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist auch kein Buch über diese Krankheit. Und doch trägt das Mädchen den Makel mit sich. Ein Makel, der nicht abgelegt werden kann in einer Welt, die sich vor allem an Äusserlichkeiten orientiert. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist auch kein trauriges Buch, sondern mit erstaunlich viel Witz und Humor erzählt. Ein Buch, das mit diesem Makel kein Kapital schlagen will, schon gar kein emotionales.

Arielle geht zur Schule. Während sich ihre Klassenkolleginnen über Social Media ganz über ihre Äusserlichkeiten definieren und die Jungs weit entfernt, wie auf einem unerreichbaren Planeten ihr Ding abziehen, wächst Arielle in einem Zuhause auf, das wenig Zeit hat für die Nöte der Tochter. Der Vater verdient sein Geld mit Entsorgungen und Räumungen und sucht in entsorgten Computern auf Festplatten nach Kryptowährung. Aber weil er, vom Amt zu Räumungen geschickt, mit dem Sammelgut auf illegalen Wegen Bares kassiert, fällt er in Ungnade und ist mehr und mehr auf das Geschick seiner psychisch labilen Ehefrau angewiesen. Aber auch sie ist von sich selbst gefangen, hofft mit Kosmetikartikeln das grosse Geld zu verdienen, über Social-Media-Kanäle zur Influencerin zu avancieren, in der Hirarchie eines Schneeballsystems die grosse Bühne zu besteigen.

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-99027-280-0

Arielles Vater werkelt in seiner Kammer und sucht nach einem Schatz, Arielles Mutter schichtet in ihrem Keller, in ihrer Online-Boutique – und Arielle versucht mit dem Leben mehr oder weniger alleine zurechtzukommen. Am meisten weggetragen fühlt sie sich, wenn sie mit ihrem Vater im Lieferwagen auf Tour ist, oder wenn sie auf der Müllsammelstelle, wo alles landet, was als Spur hinter den Menschen hergezogen wird, im Studio von Aljosha, in einem Container beim Schrottplatz eine Atempause findet, wenn sie sich in die Welt am Rand mischt.

Und doch möchte ausgerechnet sie helfen. Ihrem Vater, ihrer Mutter, ihrer Freundin Yasmine und Aljosha, der von einem Leben in Berlin träumt, von einer Kunstschule, weit weg vom Schmuddeldasein und den Blicken all jener, die ihn in seinem Andersein höchstens tolerieren. Aljosha ist schwul.

Die Situation spitzt sich zu, als Arielle sich ein gebrauchtes Handy unter den Nagel reisst und mit den Fotos eines unbekannten Mädchens nicht nur der Mutter unter die Arme greifen will, sondern damit auch einen Feldzug gegen Jungs führen, bei denen sie als sich selbst nur Unverständnis ernten würde. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist eine bunte Geschichte, von den Rändern her erzählt, ein Stück Menschengeschichte, als wäre diese an ein Ende gestossen, als würde sich das Menschsein in lauter Sinnlosigkeiten bis hin zu Müllhalden und Schrottcontainern ausleeren. 

Wenn Matthias Gruber von den Anstrengungen der Mutter erzählt, im Kosmetikbuisiness Fuss zu fassen, dann sträuben sich die Nackenhaare. Wenn die Krone der Schöpfung nur noch hinter Äusserlichkeiten herhechelt und man den wahren Kern von Leben und Sterben aus dem Blick verloren hat, dann ist „Die Einsamkeit der ersten Art“ nicht tröstlich, aber äussert unterhaltsam, mutig erzählt, frisch von der Leber. Matthias Gruber ist eine unverkrampfte, junge Stimme von der ich mir viel verspreche.

Interview

Zuerst möchte ich Ihnen zum Rauriser Literaturpreis gratulieren! Wer einen Blick auf die Liste aller ehemaligen PreisträgerInnen wirft, ist beeindruckt. Das sind keine Eintagsfliegen. Viele der Namen sind heute Eckpfeiler der deutschsprachigen Literatur. Setzt Sie das nicht etwas unter Druck oder kann man den Preis einfach als Anerkennung für die Qualität eines ersten Romans geniessen?
Zusätzlichen Druck verspüre ich zum Glück noch nicht. In erster Linie freue ich mich einfach, dass der Roman durch den Preis noch etwas zusätzliche Aufmerksamkeit bekommt. Es erscheinen so viele großartige Bücher und das in einer solchen Geschwindigkeit, dass ein einzelner Roman nicht viel Zeit hat, um seine Leser*innen zu finden. Vielleicht kann der Preis diese Zeitspanne ein wenig verlängern.

Obwohl die Pupertät eine Zeit des Suchens und Ausprobierens ist, ist es bei vielen Jugendlichen genau die Zeit, in der man auf keinen Fall aus der Reihe tanzen will, in der man zu erstaunlich viel „Uniformierung“ bereit ist, sich einer Peergruppe anschliesst und alles peinlich findet, was keiner Norm entspricht. Gewisse Menschen scheinen aber gar nie darüber hinauszukommen! Arielle (Was für ein Name!) hat keine Chance, einem Bild zu entsprechen, genetisch bedingt. Während andere, scheinbar ebenso genetisch bedingt, unumstösslich in dieser Norm gefangen sind. Ist Schreiben ein Ausbruchsversuch?
Ich denke, wir alle tragen diese verbesserten Versionen von uns in der Hosentasche herum. Auf unseren Social Media-Profilen spielen wir uns selbst und möchten dabei klüger, schöner und witziger erscheinen, als wir uns im echten Leben fühlen. Mich hat interessiert, wie es einem Menschen geht, dem das nicht möglich ist, weil sein Äußeres nicht einfach durch einen Filter oder eine bestimmte Pose verändert werden kann.

Durch Zufall kann Arielle einen eigentlichen Avatar generieren, mittels eines Telefons, das sie sich bei den Touren mit ihrem Vater unter den Nagel reisst. Ein „Spiel“, in dem die Realität mit einem Mal zurückschlägt. Ist das nicht ein bisschen viel Moralität angesichts dessen, was mittels Social Media alles erreicht werden kann? Frage ich meine SchülerInnen in ähnlichem Alter wie Arielle, so ist „InfluencerIn“ ein vielgenanntes Ziel.
Es ging mir beim Schreiben nicht um ein Verteufeln sozialer Netzwerke. Die Arbeit am Buch war eher ein Versuch, auszuloten, wie umfassend diese Plattformen mittlerweile unser Leben beeinflussen: Unser Selbstbild, unsere Beziehungen, die Art und Weise, wie wir unsere Freizeit gestalten und die Welt betrachten. Das betrifft längst nicht nur Jugendliche, sondern alle. 

In einem Interview erzählen Sie, sie hätten zusammen mit ihrem Kind auf einem Spielplatz ein auffälliges Kind gesehen und danach recherchiert. So sei dieses Kind mit dem Gendefekt Ektodermalen Dysplasie in ein bereits angefangenes Manuskript gekommen. Gab es auch den direkten Kontakt mit Menschen mit dieser „Krankheit“? Ist es nicht abwertend, einen solchen Genunterschied als „Krankheit“ zu bezeichnen?
Über die Vermittlung einer Selbsthilfegruppe konnte ich Kontakt zu Menschen mit Ektodermaler Dysplasie aufnehmen und mit ihnen Interviews führen. Ich bin dafür sehr dankbar, denn ohne diese Einblicke hätte ich den Roman gar nicht schreiben können. Die Frage, ob die Bezeichnung Krankheit per se abwertend ist, kann ich nicht beantworten. Ich vermute aber, es kommt auf den Kontext an. Ein respektvoller Umgang mit Betroffenen sollte jedenfalls selbstverständlich sein. Leider ist das oftmals nicht der Fall, wie auch die Interviews für das Buch gezeigt haben. Nicht wenige Menschen mit Ektodermaler Dysplasie werden wegen ihres Aussehens ausgegrenzt, verspottet und stigmatisiert. Vieles, was ich in Interviews gehört habe, konnte ich kaum glauben. 

Bei einem Museumsbesuch trifft Arielle auf jenes Tier, dass als erstes seiner Art vom Wasser ans Land kam. Arielle, die nicht schwitzen kann und eigentlich ganz gerne im kühlen Wasser bleibt, fühlt die Einsamkeit, weil niemand wirklich nachvollziehen kann, was in ihr und mit ihr geschieht. Erst recht, weil wir in einer Gesellschaft der Äusserlichkeiten existieren und dauernd taxieren, schubladisieren und urteilen. Einsamkeit in einer Gesellschaft, die unter Dichtestress leidet?
Das ist ein wichtiger Punkt. Arielle selbst macht ihren Gendefekt selten zum Thema. Natürlich ist er für sie in mancherlei Hinsicht einschränkend, aber zum Problem wird er nur deshalb, weil ihre „Andersartigkeit“ immer und immer wieder von außen an sie herangetragen wird. Erst diese Schubladisierung isoliert sie und macht sie zur Außenseiterin. Die Szene im Naturkundehaus ist für mich auch deshalb eine Schlüsselszene, weil sich in Arielles Wahrnehmung etwas verschiebt. Wie der Ichthyostega wird auch sie plötzlich nicht durch ein scheinbares Defizit definiert. Sie ist die Erste ihrer Art. 

Arielles Mutter leidet an Ekzemen an der Hand und träumt vom grossen Geschäft mit Kosmetika. Ihr Vater entsorgt Hinterlassenschaften, räumt Wohnungen. Auch er träumt; vom lukrativen Kryptogeldfund in „herrenlosen“ Computern. Arielle, die das Spiel mitmacht, sucht aber eigentlich nach ganz anderem; nach Geborgenheit, Freundschaft, Liebe. Unser Tun hängt sich mehr und mehr an digitale Schein- und Nebenwelten. Ihr Roman moralisiert ganz dezent. Er drückt auch nicht auf die Mitleidsdrüsen. Wollen Sie einfach eine gute Geschichte erzählen oder schwingt nicht immer eine Absicht mit im Schreiben?
Ich wollte von Menschen erzählen, deren Welt in Trümmern liegt. Und von ihren oft vergeblichen Versuchen, damit umzugehen. Die Schicksale der Figuren stehen also klar an erster Stelle. Aber natürlich bewegen sich diese Menschen nicht im luftleeren Raum. Die Dinge, unter denen sie leiden, haben Ursachen. Insofern ist es natürlich ein Roman über gesellschaftliche Ungerechtigkeit und ein zutiefst politisches Buch. Vieles bleibt dabei allerdings in der Andeutung. Vieles läuft über Leerstellen, auch sprachlich. Ich finde, ein Roman braucht diesen Raum. Sonst hätte ich ein Sachbuch oder einen Essay geschrieben. 

Matthias Gruber, 1984 in Wien geboren, in Salzburg aufgewachsen, wo er heute mit seiner Familie lebt. Er hat Theaterwissenschaften studiert und als Rezeptionist, im Onlinemarketing und in einer Notschlafstelle gearbeitet. Er ist Mitgründer der Salzburger Stadt-Magazine fraeuleinflora.at und QWANT. »Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art« ist sein erster Roman, für den er mit dem Rauriser Literaturpreis 2024 ausgezeichnet wurde.

Beitragsbild © Eva Krallinger-Gruber

Sabine Gruber «Die Dauer der Liebe», C. H. Beck

Was geschieht, wenn mit einem Mal kein Stein mehr auf dem andern steht? Wenn der Tod Gewissheiten zerstört. Wenn eine Welt aus den Fugen gerät. Sabine Grubers neuer Roman «Die Dauer der Liebe» beschreibt seismographisch die Erschütterungen eines Bebens.

Es klopft an der Tür. Vor der Wohnung steht ein Polizist. „Darf ich reinkommen? Es ist etwas Schlimmes passiert.“ Renatas Lebenspartner Konrad ist tags zuvor auf einer Autobahnraststätte tot zusammengebrochen. Renatas Leben steht Kopf. Wer rechnet schon mit dem Tod. Selbst dann, wenn wir deutlich in der zweiten Lebenshälfte stehen, blenden wir das Wahrscheinliche geflissentlich aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Leben eines Paares gleichzeitig enden, ist verschwindend klein. Und trotzdem kümmern uns die möglichen Konsequenzen kaum. Selbst dann nicht, wenn wir es von Beispielen aus unserer Umgebung genau wissen sollten.

Renata ist Übersetzerin, Konrad war Architekt. Konrad war die Liebe ihres Lebens. Ein Vierteljahrhundert lang waren sie ein Paar, ein Paar, das sich mit den Gemeinsamkeiten gut eingerichtet hatte, auch wenn Renatas Beziehung zu Konrads Familie, seiner Mutter Henriette, seinem Bruder Marcel stets ein schwieriges war. Aber sie liebte Konrad, liebt ihn noch. Mit einem Mal ist nichts mehr, wie es einmal war, verschiebt sich das Gravitationsfeld ihres Lebens total, bricht ein, was stets Gewissheit und Fundament war.

«Das Misstrauen beschädigt die Erinnerungen.»

Sabine Gruber «Die Dauer der Liebe», C. H. Beck, 2023, 251 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-406-80696-4

Ans Heiraten hatten sie nie gedacht. Nichts hatte sie gedrängt, auch schon deshalb, weil der anfängliche Kinderwunsch keine Erfüllung fand – und weil man sich selbst genug war. Da gab es wohl ein Stück Papier, eine Art Testament, das er unterschrieben hatte. Aber in den Mühlen der Ämter schien dieses Stück Papier keine Gültigkeit zu haben. Was an anständiger Distanz und gebotener Höflichkeit während mehr als zwei Jahrzehnten das filligrane Gefüge der Familie Grasmann zu ihr im scheinbaren Gleichgewicht hielt, stürzt mit der Frage um Erbschaft und Nachlass in Gier und bodenlose Gemeinheiten ab. Während Renata sich mit dem Verlust ihres Liebsten taumelnd von einer Not in die nächste hangelt, stellt man sie vor vollendete Tatsachen, beraubt man sie ihrer Erinnerungen. Als sie Tage nach der Beerdigung Konrads, die in keiner Weise so stattgefunden hatte, wie es sich Konrad vorgestellt hatte, ins gemeinsame Ferienhaus eintritt, muss sie feststellen, dass Bilder, Möbel, Vasen fehlen, selbst Dinge, die nicht einmal sie selbst hätte zuordnen können.

Sabine Grubers Roman „Die Dauer der Liebe“ erzählt vom vielfachen Verlust. Da ist nicht nur der Tod, der Verlust eines Liebsten, das Wegbrechen aller Sicherheit, das Infragestellen aller Gewissheiten. Neben der lähmenden Gewissheit, dem Verlust der grossen Liebe, bricht auch die Sicherheit weg. Konrads Familie bedient sich hemmungslos seiner Hinterlassenschaften und tut, als wären die fünfundzwanzig Jahre mit Renata nicht mehr als eine Affäre. Renata versucht unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte im neuen Leben Tritt zu finden. Es helfen ihr Freundschaften und all jene Erinnerungen, die nicht an Dinge gebunden sind. Und trotzdem. Da sind die Findlinge dessen, was Renata nicht einordnen kann; die beiden Schlüssel mit einem grünen Anhänger, die Renata zuvor nie gesehen hatte oder ein verwaschenes Stück Papier aus einer Hose mit der Notiz Du fehlst mir so sehr. C. Gab es in Konrads Leben Winkel und Facetten, von denen Renata nichts wusste oder nichts wissen sollte? Gab es neben dem Leben davor auch noch ein Leben daneben? 

«Der Schmerz rauscht.»

Sabine Gruber beschreibt eine Frau, die in den Ungewissheiten und dem Wegbrechen aller Sicherheiten den Halt im Leben zu verlieren droht, die mit Verzweiflung nach Gewissheiten sucht, irgendwann sogar in ein Auto steigt, um nach dem nachzuforschen, was sich in ihrem Geist zu Ungeheuerlichkeiten auftürmt. Sie schreibt von einer Frau, die ihr Leben neu kartographieren muss. Ein feinfühliger Roman, der nie in Sentimentalität wegbricht. Ein leidenschaftlicher Roman über die Macht der Liebe, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und den drohenden Verlust aller Gewissheiten.

Interview

Ich las Ihr Buch sehr gerne. Nicht zuletzt, weil es zum eigenen Sinnieren anregt, darüber, wie sehr wir uns in «Sicherheiten» wiegen, wie sehr wir uns der Wahrheit, dem Unausweichlichen verschliessen, wie schnell alles eine vollkommen andere, unplanbare Richtung einnehmen kann. Funktioniert der Mensch nicht eben darum, weil er ausblenden kann?

Vermutlich geht es nicht, ohne zu verdrängen oder auszublenden. Renata, die Hauptfigur, hatte schon zu Lebzeiten Konrads den Gedanken, dass jede Nacht, die sie mit ihrem Liebsten verbringt, eine weniger ist. Dennoch ist sie, ist das Paar, nicht konsequent genug; vielleicht sind die beiden auch zu gutgläubig, können sich nicht vorstellen, wozu Familien in der Lage sind. Beide versäumen es, ein gültiges Testament zu verfassen, sie drucken es nur aus und unterschreiben es. Nach dem Tod Konrads wird von seiner Familie keiner seiner niedergeschriebenen Wünsche erfüllt, seine Mutter Henriette und die beiden Geschwister bestimmen, was mit der Leiche zu passieren hat und verfügen über Konrads Privatgegenstände. Die 25 gemeinsam verbrachten Jahre zählen nicht.

Sie psychologisieren nichts und niemanden. Und doch beschreiben Sie den vielfachen Verlust Renatas ganz genau, ohne Theatralik, aber doch mit viel Empathie und Melancholie. Natürlich ist es die Fähigkeit einer guten Schriftstellerin, sich in ein konstruiertes Ich hineinzuversetzen. Und natürlich kann niemand schreiben, was nicht in ähnlicher Form erlebt ist. Und doch muss beim Formen der ProtagonistInnen jene Ausgewogenheit zwischen Nähe und Distanz gewonnen werden, die es möglich macht, Plastizität nachvollziehbar zu machen. Gibt es Regeln oder Grenzen, die Sie nie überschreiten würden?

Es gibt zahlreiche autobiographische Trauerbücher (z.B. von Connie Palmen, Joan Didion oder Olga Martynova) in denen Klarnamen verwendet werden. „Die Dauer der Liebe“ ist ein Roman, Figuren und Topographie sind daher erfunden. Ich habe – wie in früheren Romanen – Figuren aus anderen Büchern eingearbeitet, um die Fiktionalität zu unterstreichen. Ich leugne nicht, dass ich – übrigens nicht das erste Mal – einen mir sehr nahen Menschen unvorhergesehen verloren habe, dass ich diese existentielle Erfahrung gemacht habe, aber Schreiben ist für mich ein Transplantationsakt, die Einverleibung von Fremdem oder die Verfremdung von Eigenem. 

Ich sehe in der Fiktion mehr Möglichkeiten zur Ambiguität, mehr Freiräume, die das autobiographische Schreiben in dem Versuch, der Wirklichkeit gerecht zu werden und den Figuren beizukommen, verstellt. 

Ich habe einmal versucht, einen Text über Gabriel Grüner zu schreiben, mit dem ich zehn Jahre zusammen war, der einige Jahre nach unserer Trennung als Stern-Reporter im Kosovo erschossen wurde. Ich kriegte die Figur nicht zu fassen, hörte den toten Gabriel lachen, ihn sagen „Das soll ich sein?“.
Aus diesem Mann, der mit 35 das Leben verloren hatte, wurde 17 Jahre später in dem Roman „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks“ eine gänzlich andere Figur, nämlich ein alternder, traumatisierter Kriegsphotograph, den die Bilder einholen. Im neuen Roman, „Die Dauer der Liebe“, wird Daldossi zum wichtigsten Begleiter Renatas.

Als mein Vater starb, sah ich ihn eine Weile überall, von hinten in der Strassenbahn, im Rückspiegel beim Autofahren. Es gibt keine Abstufungen des Erinnerns. Erinnerungen sind unwillkürlich. Wenn ich meinen Bruder treffe, begegne ich meinem Vater in den Händen meines Bruders, bei meiner Schwester in ihren Stirnfalten. Seit ein paar Wochen liegt auf meinem Stehpult ein altes Schulheft meines Vaters. Wohnungen sind voll mit Erinnerungen. Erinnerungen, die uns viel bedeuten. Aber sterbe ich, sterben die Erinnerungen. Täglich werden unsäglich viele Tonnen Erinnerungen entsorgt. Macht ihnen das nicht zuweilen Angst?

Einerseits werden täglich Tonnen Erinnerungen vernichtet, sie zerfallen wie Gesteine durch Verwitterung, werden abtransportiert, andererseits bleiben Sedimente davon erhalten: in der Literatur, in der Dichtung… Der Sand, die Gesteinspartikel oder zum Beispiel der Löss am Wagram, wo sich das Landhäuschen des Paares befindet, verweisen wieder auf das, was vorher war, auf die Berge, das Meer… Die Poesie ist doch am Ende tröstliche Verdichtung!

„Die Dauer der Liebe“ ist auch eine Fragestellung. Was geschieht mit der Liebe, wenn jemand stirbt? Wie bleibt sie? Soll sie bleiben? Kann man Gefangene werden? Was erwartet die Umgebung?

Eine grosse Liebe dauert natürlich an. Novalis spricht sogar von der Pflicht, an die Verstorbenen zu denken, weil es der einzige Weg ist, in Gemeinschaft mit ihnen zu bleiben. Renata hat ihren Konrad über alles geliebt, ihn zu erinnern, empfindet sie gewiss nicht als Pflichterfüllung. Das dem Roman vorangestellte Motto, ein Gedicht von Patrizia Cavalli, beschreibt Renatas Zustand am besten: Penso che forse a forza di pensarti/potrò dimenticarti, amore mio. (Wörtlich: Ich denke, dass ich vielleicht Kraft meiner Gedanken an dich,/ dich werde vergessen können, mein Liebling.) 

Ich diskutiere mit meinen erwachsenen Kindern immer wieder einmal über Sinn und Unsinn der Ehe. Ihr Roman verdeutlicht, dass Liebe, Partnerschaft, Zusammenleben keine Privatsache ist. Bis in die Institution Familie, und dazu zähle ich auch eine Partnerschaft, mischt sich der Staat, das Gesetz. Kein Wunder, muss doch selbst das Halten von Hunden reglementiert werden. Widerspricht nicht alles, was wir mit romantischen Gefühlen beschreiben, der Realität. Schliesst Staat und Gesetz die Romatik in einen Käfig, um sie vor der Gier des Menschen zu schützen?

«Es wäre besser gewesen, ihr hättet geheiratet», sagt Renatas Freundin Elsbeth, eine Anwältin, im Roman. «Er wollte mich immer heiraten, aber die Ehe ist doch unmöglich für eine Frau, die selbstständig ist», antwortet Renata. Es handelt sich hier um ein verkürztes Bachmann-Zitat. Renata gehört als Boomerin jener Post-68er-Frauengeneration an, für die das Private selbstverständlich politisch ist, die den Ehemann als klassischen männlichen Versorger ablehnt. Renatas Leben ändert sich auch nach dem Tod von Konrad nicht, weil sie eine selbstständige, emanzipierte Frau ist und daher keine ökonomischen Probleme zu befürchten hat. Dennoch fordert der Roman dazu auf, persönliche Angelegenheiten und Verfügungen rechtlich einwandfrei zu formulieren. Recht ist nicht immer gerecht. Viele verdrängen den Tod, andere sind naiv oder schlampig wie das Paar im Roman, das ja immerhin alles Wichtige aufgeschrieben hatte.

Ich habe sehr viele Zuschriften von Menschen erhalten, denen Ähnliches widerfahren ist wie Renata. Es sind auch Mails von Leserinnen und Lesern eingetroffen, die nach der Lektüre des Buches geheiratet haben oder zumindest ein Testament bei einer Notarin oder einem Anwalt hinterlegt haben. Da soll noch mal jemand sagen, Literatur bewirke nichts!

Sabine Gruber, geb. 1963 in Meran (Italien). Studium der Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft in Innsbruck und Wien. Lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a.: 2007 Anton-Wildgans-Preis, 2015 Veza-Canetti-Preis, Österreichischer Kunstpreis für Literatur 2016, Preis der Stadt Wien für Literatur 2019.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © privat

Margit Schreiner «Mobilmachung. Über das Private III», Schöffling

Seit 1971 werden die Rauriser Literaturtage ausgerichtet – Thomas Bernhard war damals zu Gast, 1972 Peter Handke, 1973 Adolf Muschg, Uwe Johnson und viele andere; die Liste der prominenten Autorinnen und Autoren lässt sich bis in die Gegenwart fortsetzen – über 450 sind es inzwischen geworden. Heuer ist eine der Grossen Margit Schreiner.

„Mobilmachung“ ist nach „Vater. Mutter Kind. Kriegserklärungen“ (2021) und „Mütter, Väter. Männer“ (2022) der dritte Teil einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, weit über das reine Nacherzählen hinaus. „Margit Schreiner schreibt unerschrocken gegen die Sentimentalität, den Selbstbetrug, die Lebenslüge“, schreibt Karl-Markus Gauß. Und weil die Autorin erst recht bei der eigenen Geschichte den Blick von Innen, der immer ein Blick von Aussen bleibt, braucht, spiegelt „Mobilmachung» die pränatalen und ersten Lebensjahre, jene Zeit, die sonst der Erinnerung verschlossen bleibt.

Meine eigenen Erinnerungen an meine Kindheit reichen nicht sehr weit zurück. Oft kann ich nicht unterscheiden zwischen echten Erinnerungen und jenen die sich aus Fotographien und Erzählungen generieren. Aber eine meiner ersten war mein kleiner Teddy, der vom Hund einer Tante verbissen wurde. Eine Erinnerung, die nicht einmal meine Mutter und schon gar nicht meine Tante zu bestätigen weiss.
Sie kennen Situationen, in denen Erwachsene um die Gunst von Kleinkindern buhlen, indem sie die verrücktesten Gesten produzieren und Laute, von denen Zeugen gar nicht wissen, das jene zu solchen fähig sind. Manchmal denke ich an die kleinen Kinder, was wohl in den Köpfen jener vor sich geht, wenn Buhlende sich im Gluteralen vergreifen.

Margit Schreiner «Mobilmachung. Über das Private III», Schöffling, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978 3 89561 712 6

Margit Schreiner spinnt den Faden noch viel, viel weiter, bis ins wachsende Bewusstsein eines Fötus, der alles, was dieser wahrnimmt schon im Mutterbauch zu Gedanken formt. Keine Nabelschau, sondern ein Blick in den Uterus, in das Bewusstsein eines Heranwachsenden. Dieser hört und spürt, kombiniert und wertet mit den Gedanken einer Erwachsenen. Dabei spielt keine Rolle, wie weit ein solches Gedankenspiel realistisch ist. Margit Schreiner geht es um die Stimme selbst, die spiegelt. Eine Schwangerschaft im Nachkriegsösterreich, einer Gesellschaft mit klaren, patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, einer Gesellschaft, von der man sich in der Moderne verabschiedet glaubt, die uns aber noch immer tief in den Knochen sitzt.

Ein Fötus und Säugling, der zu verstehen sucht und sich mit jeder Frage Stück für Stück emanzipiert, auch wenn dieser weiss, dass die Erwachsenen damit nicht allzu sehr überfordert werden dürfen. Nichts ist heilig, schon gar nicht die Religion, nicht einmal die Muttermilch. Man liest „Mobilmachung“ mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und Betroffenheit, witziger Unterhaltung und demaskierender Verwunderung. Eine „Nestbeschmutzung“ der besonderen Art, eine „Publikumsbeschimpfung“ in bester österreichischer Tradition.

Ich freue mich ausserordentlich auf die Literaturtage im Salzburgischen Rauris. Gäste sind die Spoken Word PerformerInnen Timo Brunke, Elif Duygu, Robert Prosser, die Kinderbuchautorinnen Renate Welsh, Verena Hochleitner, Luka Leben und Martina Wildner, die LyrikerInnen José F. A. Oliver, Anja Utler und Jan Wagner und die AutorInnen Milena Michiko Flašar, Laura Freudenthaler, Matthias Gruber, Sabine Gruber, Amir Gudarzi, Irene Langemann, Gianna Molinari, Tonio Schachinger, David Schalko und Margit Schreiner.

Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren. Nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie derzeit in Gmünd, Niederösterreich. Sie erhielt für ihre Bücher zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, 2016 erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis. Mit «Kein Platz mehr» war sie 2018 für den Österreichischen Buchpreis nominiert.

Rauriser Literaturtage vom 3. bis 7. April 2024

Beitragsbild © Patricia Marchart

Ian McEwan «Am Strand», Film vs Buch

Einmal im Jahr trifft sich eine kleine Schar Literaturinteressierter, um nach der Lektüre eines Buches auch dessen Verfilmung anzusehen, Buch und Film, soweit wie möglich einander gegenüberzustellen. Heuer war es «On Chesil Beach»,  deutsch «Am Strand» von Ian McEwan, 2007 bei Diogenes erschienen und 2017 unter dem gleichen Titel von Dominic Cooke verfilmt.

Florence und Edward haben geheiratet und sitzen sich am Tisch in der Hochzeitssuite eines Hotels am Strand von Chensil Beach gegenüber und wissen beide, dass die Nacht, die vor ihnen liegt, etwas Platz machen muss, was bisher verborgen blieb. Sie stochern in ihrem Abendessen herum und das Himmelbett im Zimmer nebenan wartet auf das, was kommen soll. Sie lieben sich. Sie lieben sich wirklich, wenn auch jeder auf seine Art. Und weil man 1962 weder über Gefühle, Ängste, Befürchtungen und schon gar nocht über Wünsche spricht, schwebt über dieser einen Nacht das Damoklesschwert.

Florence stammt aus einer gutbürgerlichen, „gebildeten“ Familie, der Vater Fabrikant, die Mutter Professorin. Florence studiert, spielt Geige und träumt von einer Karriere als Musikerin. Edwards Elternhaus starrt vor Dreck, sein permanent überforderter Vater kämpft sich durch ein Leben zwischen Pflichten, der Liebe zu seiner Familie und dem Umgang mit einer geisteskranken, „verrückten“ Frau. Für Florence und Edward ist das Studium eine Flucht aus der Enge ihrer Herkunft. Sie treffen sich zufällig an einer Anti-Atombomben- Versammlung, eine Begegnung, von der beide glauben, sie sei schicksalshaft. So sehr Edward fasziniert ist von der Anmut seiner Angebeteten, so sehr ist Florence überzeugt, in Edward jemand Besonderen gefunden zu haben.

Ian McEwan «Am Strand», Diogenes, 2008, aus dem Englischen von Bernhard Robben, Taschenbuch, 208 Seiten, CHF ca. 16.90, ISBN 978-3-257-23788-7

Die frühen Sechzigerjahre sind in Sachen Sexualität Ewigkeiten von der Gegenwart entfernt. Man spürte zwar die Spannung, man erzählte sich gegenseitig Geschichten. Aber „freie Liebe“ spielte sich nur in düsteren Strassen und schummrigen Lokalen ab. Über Sex sprach man nicht. Sex spielte sich in abgedunkelten Ehebetten ab, ob Pflicht oder Routine, ein Geschehen, das ohne den nötigen Sauerstoff durch Gespräche sehr bald verlor, was es davor an Geheimnisvollem barg. Die Pille war noch nicht da und sehr oft fehlte allein schon das Vokabular, um sich dessen bewusst zu werden, was sich zwischen Kopf und Lenden abspielte.

Zwar waren Florence und Edward schon lange vor ihrer Hochzeit ein Paar, aber darüber zu reden, was Sex zwischen den beiden hätte sein können, trauten sie sich nicht in einer Mischung aus Unwissen und Ängsten. Was dann an diesem späten Abend in der Hochzeitssuite nach einem verkorksten Abendessen passiert, ist logische Konsequenz. Beide werden enttäuscht. Beide glauben, versagt zu haben. Beide manövrieren sich in einen Zustand unverrückbarer Verwundung hinein. Florence verlässt panisch das Schlafzimmer. Und als Edward sie später am Strand, über einen Kilometer vom Hotel entfernt wiederfindet, schlingert sich Katastrophe in Ausweglosigkeit.

Das Faszinierende an diesem literarischen Meisterstück sind die kleinen Mosaikstücke, mit denen Ian McEwan den Weg ins Unausweichliche zeichnet, die Dramaturgie, die Mischung aus Rückblenden, die eine Ahnung dessen geben, warum sich die Dinge nicht anders entwickeln können und die Chronologie des Unausweichlichen, Millimeter für Millimeter.

«Am Strand», Spielfilm, 2017, 110 min, Regie: Dominic Cooke, Drehbuch: Ian McEwan, Besetzung: Saoirse Ronan, Billy Howle, Anne-Marie Duff

Vielleicht funktioniert der Film nach der Lektüre auch darum, weil Ian McEwan das Drehbuch schrieb. Der Film hält sich sehr stark an die literarische Vorlage, auch wenn die Rückblenden ein viel grösseres Gewicht tragen. Im Film ist auch sonnenklar, dass Florence traumatisiert ist von einem sexuellen Übergriff ihres Vaters, dass sie den Ekel von damals nicht ablegen kann. Im Buch sind diese Zusammenhänge viel durchscheinender beschrieben. Während das Buch von seiner Erzählweise getragen wird, sind es im Film die schauspielerischen Leistungen der Hauptdarsteller Saoirse Ronan und Billy Howle. Der Kontrast zwischen tiefer Liebe, maximaler Sehnsucht nach Zusammensein und bodenloser Enttäuschung und Kränkung ist bravurös gespielt. Ein Film, der es in sich hat!

Sonntag, 28. April 2024, 11:00 Uhr, Bernhard Theater, Zürich, NZZ live

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg «Abbitte» ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt kamen «Am Strand» (mit Saoirse Ronan) und «Kindeswohl» (mit Emma Thompson) in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille.

Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, John Williams, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime – Hauslesung im Literaturport Amriswil

Ein Kunstraub oder gar ein Mord im Museum? Markus Bundis Roman «Wilde Tiere» ist kein Krimi – und schon gar keine Strandlektüre. «Wilde Tiere» ist ein literarisches Abenteuer, geschrieben von einem Schriftsteller, der sich nicht gerne eingrenzen und schubladisieren lässt.

Museen sind Unorte, weder Biotop, noch Lebensraum. Man besucht sie, zuweilen gar nachts. Aber es sind Orte des Schauens. Orte, an denen die Uhr anders oder gar nicht tickt. Orte, an denen die Zeit konserviert wurde, ob Kunstmuseum, Historisches Museum oder dergleichen. Auch wenn Schulklassen manchmal etwas Leben in solche Tempel bringen, bleibt leblos, was da drin von der besten Seite gezeigt wird. Museen sind Orte des Erinnerns, eingelagertes Bewusstsein, nur durch BesucherInnen mit dem Leben, der Gegenwart verbunden.

Dass Markus Bundi in seinem neuesten literarischen Streich einen solchen Unort gewählt hat, ist für einen Philosophen wie ihn doch eigentlich nicht verwunderlich. Sind Museen doch Spiegel der jeweiligen Zeit, passen sich ihrer jeweiligen Zeit wie ein Chamäleon an, wenn auch nicht aus eigenem Antrieb. Museen wollen Antworten geben. Museen wollen zeigen, verblüffen, manchmal bluffen, festhalten, das wie alles andere der Vergänglichkeit unterworfen ist. In seinem Roman „Wilde Tiere“ leuchtet der Schriftsteller in ein ganz besonderes Terrarium.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime, 2024, 115 Seiten, CHF ca. 22.90
ISBN 978-3-99120-037-6

In diesem Haus kreuzen sich die Wege vieler, von Besucherinnen und solchen, die dort arbeiten. Bis eines Morgens die Polizei auftaucht und man im Haus ein Kapitalverbrechen vermutet. Julius Assinger, Stammgast mit Dauerkarte im Museum, wittert den grossen Kunstraub, bis durchsickert, dass in der Herrentoilette des Hauses eine Tote gefunden wurde. Kaum bekannt, überstürzen sich die Mutmassungen. Ist die Direktorin, die erst seit kurzem das Haus führt, Opfer eines Verbrechens geworden? Sie, die alles umkrempelt, dem Museum eine neue Richtung geben will, Einsparungen für notwendig erachtet und lieber Geld ausgibt für elektronische Überwachung statt für Personal? Odradek, der Museumswärter (In Franz Kafkas „Ein Landarzt“ ist Odradek eine nach Sinn und Unsinn fragende Gestalt oder ein Ding, wie eine seitlich gekippte Spule, von der nicht gesagt werden kann, wozu sie nütze wäre.), der in seiner Abstellkammer mehr Zeit mit Sinnieren verbringt, als mit tätiger Arbeit, glaubt an grosse Zusammenhänge und dass das erst der Anfang sein kann. Oder Hammi, die „Putze“, übrig geblieben von einer ganzen Putzkolonne. Oder Greta, die den Museumsshop führt und an der im wahrsten Sinne des Wortes keine und keiner vorbeikommt. Bis mit einem Mal klar wird, dass doch alles ganz anders ist, als angenommen. Kein Wunder in einem Haus, in dem die Scheinwelt eingerahmt an den Wänden hängt.

Markus Bundis Roman ist sonderbar. So museal die Szenerie, so museal die Sprache. Leicht gestelzt, als hätte der Autor beim Schreiben stets den kleinen Finger der Schreibhand nach oben gereckt. Wer ist heute noch ‹frappiert›? ‹Ehedem› und ‹einerlei› – Wörter wie aus dem Setzkasten der Vergangenheit. Markus Bundis „Wilde Tiere“ sind die Figuren im Museum, die durch das Auftauchen der Polizei in Aufruhr gesetzt werden. Hier die stoische Ruhe der Kunst, dort das hektische Treiben der Menschen im Haus. Einem Haus mit offener und versteckter Bühne, mit Räumen und Sälen für das Publikum und solchen, die auf keinem Übersichtsplan vermerkt sind. „Wilde Tiere“ hat kafkaeske Züge und liest sich dann mit Vergnügen, wenn die Lust am Geheimnis grösser ist, als deren Klärung. Was auf den ersten Seiten wie ein Krimi daherkommt und nach Verbrechern und Motiven sucht, ist ein Tiefgang in die Vieldeutigkeit. So wie es die akstrakte Kunst schon lange tut. Ein grotesk-skurriles Kammerstück voller Poesie und Witz für FeinschmeckerInnen!

Markus Bundi, 1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte, zuletzt  «Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig» und «Des Möglichen gewärtig. Ein Essay zum Werk von Klaus Merz». 2018 veröffemtlichte er sein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk «Wirklichkeit im Nachsitzen» und seit 2011 erscheint unter Bundis Herausgeberschaft die Klaus-Merz-Werkausgabe im Haymon Verlag. Bei Septime erschienen bisher der Kriminalroman «Alte Bande, Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte» und «Die letzte Kolonie».

Veranstaltungen:
So, 10. März 2024, 11 Uhr, Wettingen, Gluri Suter Huus, Buchvernissage
Moderation: Klaus Merz

Mi, 17. April 2024, 19.45 Uhr, Lenzburg, Literaturhaus, Lesung mit Gespräch
Moderation: Luzia Stettler

Sa, 4. Mai 2024, 18 Uhr, Amriswil, Maihaldenstrasse 11, Hauslesung bei Irmgard
und Gallus Frei-Tomic, Anmeldung unbedingt an info[at]literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Iris Wolff «Lichtungen», Klett-Cotta

„Lichtungen“ ist die Geschichte von Kato und Lev, eine zarte Liebesgeschichte, die Iris Wolff überraschend erzählt, nämlich in neun Kapiteln vom Ende her erzählt. Haben Liebesgeschichten ein Ende? Jene von Kato und Lev nicht, Iris Wolffs Roman nicht, denn der Schluss des ersten Kapitels ist die Frage „Wohin fahren wir?“. Der Anfang ist ein Schluss ist ein Anfang.

Schon in ihren Romanen zuvor ist die Qualität in Iris Wolffs Erzählen die Zartheit ihrer Sprache, dieses filigrane Netz aus Wahrnehmungen, Empfindungen, das Sichtbarmachen des Unsichtbaren. „Lichtungen“ ist die Geschichte einer Freundschaft, zweier Charakteren, die sich wie ein Doppelplanet umkreisen, bis der eine aus dem Gravitationsfeld ausbricht und damit auch die Umlaufbahn des andern zerreisst. Kato reist in den Westen, bricht auf. Lev bleibt im Dorf, bis ihn eine Karte aus Zürich erreicht: „Wann kommst du?“.

Kato und Lev wachsen in Ceaușescus Rumänien auf, das Mädchen Kato mehr oder weniger alleine, zusammen mit einem alkoholkranken Vater, getrieben vom Wunsch auszubrechen, Lev bei seiner Mutter Lis und seinen Grosseltern, seinen beiden Halbgeschwistern, als jüngster Spross einer Familie, in einem kleinen, grauen Ort. Beide sind Aussenseiter, Lev schwächlich, ohne Antrieb, bei all dem Rudelgehabe in der Schule und im Dorf eine Rolle zu spielen, Kato von fast allen gemieden, nicht zuletzt, weil sie sich mit Stift und Papier von all dem absetzt, was die Interessen aller anderen ausmacht. Und weil man Kato dazu verdonnert, dem kranken Lev die Hausaufgaben ans Bett zu bringen, wächst zwischen den beiden etwas, was mit den Jahren immer mehr zu einer Freundschaft wird, die alles andere zusammenzuhalten scheint.

Iris Wolff «Lichtungen», Klatt-Cotta, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-608-98770-6

Dass Iris Wolff Malerei studiert hat, zeigt sich nicht nur, weil ihre Protagonistin Kato Künstlerin, Zeichnerin, Malerin ist. Iris Wolff hat eine ganz eigene Fähigkeit zu sehen. Sie schreibt aus den Augen ihrer beiden ProtagonistInnen, ohne in ihre Figur hineinzuschlüpfen. Kato entwickelt ihre ganz eigene Art des Sehens, so wie die Autorin selbst. Auch Lev ist ein Sehender, ein Beobachtender, einer, der mehr wahrnimmt als andere und doch das Gefühl nicht wegbekommt, aussen vor zu sein. Ein Gefühl, das ihn restlos einnimmt, als ein Fremder in Fahrradmontur im Dorf auftaucht und Kato dazu bringt, mit ihm das Dorf mit unbestimmtem Ziel zu verlassen. Kato entschwindet und Lev bleibt. Bis er es nicht mehr aushält und ein kläglicher Versuch eines Ausbruchs ihn wieder zurück ins Dorf spült. Bis Lev Jahre später die Karte aus Zürich erhält und endlich aufbricht.

Vielleicht beschreibt der Titel „Lichtungen“ auch die Art der Freundschaft der beiden. So wie das, was zwischen Kato und Lev über die Jahre entstanden ist, genau das, was „Lichtungen“ in seinem Leben ausmacht. Für Lev ist Kato die Tür zur Welt, für Kato Lev ein Stück Zuhause, etwas, das ihr im Vergleich zu allem anderen nicht genommen werden kann.

Lev, der die Schule abbricht, als Soldat nur schwer zurechtkommt, als Waldarbeiter in die Tiefen der rumänischen Wälder geschickt wird und nur überlebt, weil er Freundschaft mit Imre schliesst, einem Mann, der sich dort selbst bestraft und in dessen Sägerei er später Arbeit findet, wird durch ein Leben geschoben. Kato, die sich ihre Welt mit ihrem Stift, mit Pinsel oder Kreide macht, die mit ihrer Leidenschaft immer am Fenster zur Welt steht, zieht es weg. Eine Freundschaft in Gegenseitigkeit. Eine Freundschaft, die in Liebe eingetaucht ist, in die sich Leidenschaft mischt, die aber immer zuerst Freundschaft bleibt, bis zu diesem einen Satz „Wohin fahren wir?“.

Ihre Strategie, die Geschichte von Kato und Lev in ihrer Chronologie zurückzuerzählen, scheint experimentell. Aber ein Blick zurück, auf ein Leben, eine Geschichte, auch auf die Geschichte eines Landes, jener Ecke Rumäniens, die die nationale Zugehörigkeit immer wieder wechseln musste, ist immer ein Blick zurück. Nur die meist gewählte Erzählrichtung liegt in der Gegenrichtung. Aber während des Lesens von „Lichtungen“ erschliesst sich Schicht um Schicht, erklärt sich Bild um Bild.

Warum „Lichtungen“ ein ähnliches Lesegefühl wie „Die unendliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera bei mir auslöst, weiss ich nicht wirklich. Aber beim Lesen, ich las den Roman gleich zweimal hintereinander, war da das Gefühl, an etwas Besonderem teilhaben zu dürfen.

Interview

Ich bin begeistert und schwer beeindruckt. Zum einen ist es eine Geschichte, in der viele Themen eingebunden sind. Aber genauso deine Art des Erzählens, die Zartheit deiner Sprache, die mich ans Zeichnen erinnert. Es sind keine opulenten, mit Öl gemalten Bilder, sondern Zeichnungen in Pastellfarben, ohne je rührselig oder kitschig zu wirken, fein skizziert, mit vielen Zwischenräumen, Zeichnungen in der perfekten Mischung aus Schmeichelei und Herausforderung. Wie passiert Schreiben bei Iris Wolff? Was sind die Zutaten, dass es klappt? Gibt es Dinge, die du um jeden Preis vermeidest?

Die wichtigste Zutat ist Stille. Sprachliche Äußerungen deuten Wirklichkeit, reduzieren sie, verfehlen sie manchmal haarscharf. Es ist schwer, etwas wirklich Neues zu denken und zu schreiben; nicht immer dieselben Erfahrungen zu machen, weil sich die Zukunft aus den Mustern der Vergangenheit wiederholt. Er wolle malen, was er sehe, und nicht, was er wisse, soll William Turner formuliert haben – dabei ist es geradezu unmöglich, die Welt zu sehen, wie sie an sich ist, weil sich alles immerzu in unsere Gedanken einfärbt. Was mir hilft ist Stille. Dort sind Dinge und Erfahrungen noch nicht beurteilt, zergliedert, analysiert. Sie sind einfach da; sie sind groß, überwältigend, mitunter widersprüchlich. Aus dieser Kraft heraus sind Sätze möglich, die jene Balance halten zwischen Präzision und Offenheit, zwischen Gesagtem und Angedeuteten. Was ich unbedingt vermeiden möchte: Meine Figuren festnageln, ausdeuten ins grellste Licht zerren. Ich möchte ihnen möglichst unvoreingenommen begegnen; sehen, was sich verbirgt, zeigen, was ungesagt ist, aber doch auch gleichzeitig das Verborgene, ihr Geheimnis hüten.

Landschaft im Iza-Tal, © Iris Wolff

Die Freundschaft zwischen Kato und Lev ist ein feinmaschiges Geflecht, das den beiden ganz unterschiedliche Positionen erlaubt. Obwohl es zwischendurch ganz ordentlich knistert und Eros schon früh mitspielt, lassen sich die beiden nie bis zur letzten Konsequenz auf den anderen ein. Weil sie ahnen, dass Leidenschaft Leiden schafft?

Mir war es wichtig, in der Schwebe zu lassen, ob es Liebe oder Freundschaft ist. Jeder Freundschaft ist Liebe beigemischt, und jeder Liebe Freundschaft. In der Malerei gibt es in der Moderne die Tendenz, den Rand freizulassen. Es wird nicht etwas gezeigt, sondern das Bild zeigt sich. So wie in Katos Skizzen die Strichführung sichtbar ist, ihre Spontaneität, Wucht, Feinteiligkeit, möchte ich auch in der Literatur mit offenen, unbeschriebenen Rändern schreiben – einen weiten Raum öffnen. So können sich Leserinnen und Leser zu einer Geschichte in Beziehung setzen (mit ihren Fragen, inneren Bildern) und letztlich selbst entscheiden, was das zwischen Lev und Kato ist. 

Weder Lev noch Kato wachsen in klassischen Familien auf, in Familien, die einem Muster entsprechen. Beide fühlen sich nie ganz und gar zuhause, sicher, aufgehoben. Da ist bei beiden die Sehnsucht nach mehr. Nur manifestiert sich diese Sehnsucht ganz unterschiedlich. Bei üblicher Erzählweise frage ich gerne, ob während des Schreibens der Weg oder gar das Ende klar vor Augen war. Du erzählst zuerst den Schluss. Warum diese Strategie?

Ich habe Lev im Bett liegend kennengelernt, als kleinen Jungen, der nach einem Unfall seine Beine nicht mehr bewegen kann. In dieser reduzierten Welt, bestehend aus Bett, Haus und Familie, aus Geschichten und Geräuschen, war alles enthalten. Ich wusste: Sein Leben wird rückwärts erzählt, denn so begegnen wir einander auch im „echten Leben“. Man lernt jemanden kennen, und wenn sich die Begegnung verstetigt, erfährt man nach und nach, was denjenigen zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist. Die Form setzt den Rahmen für bestimmte Fragen. „Jedes Jetzt enthält das Vergangene“ – das ist eine Erkenntnis, die Lev in Zürich, am Anfang des Romans hat. Ich habe mir gewünscht, dass er die Traumata seiner Kindheit eines Tages hinter sich lassen und dass er neu beginnen kann. Ohne Kato wäre ihm das nie gelungen. Erzählerisch war diese Strategie eine Herausforderung, und habe mir vorgenommen, es mir beim nächsten Buch leichter zu machen 😉

Man muss sich aufmachen. Kato und Lev tun es. Du tust es mit jedem Buch. Du machst dich auf in dein Herkunftsland, eine Geschichte, in „fremdes“ Leben. Angesichts der aktuellen Geschichte, der Probleme, die ungelöst anstehen, scheint mir die einzig wirksame Losung zu sein, sich aufzumachen. Weder in der aktuellen Politik noch in Klimafragen spüre ich diesen unbedingten Willen. Vielleicht deshalb meine Überzeugung, dass die Literatur, die Kunst, dieses Aufmachen initieren kann. Wer liest, macht sich auf in andere Welten, öffnet sich. Oder ist Schreiben doch nur Selbstzweck?

Diese Frage berührt den Kern des Buches. Lev und Katos Geschichte ist als Reise in die Vergangenheit angelegt, weil Erkenntnis am leichtesten rückwirkend geschehen kann. Umso frustrierender, wenn wir merken, dass der Mensch anscheinend nicht fähig ist, aus den vergangenen Jahrhunderten mit seinen Kriegen und Diktaturen zu lernen. Der Blick zurück ist wichtig. Aber wahre Veränderung ist nur möglich, wenn man sich traut, radikal neu zu denken. Es kommt mir vor, als laborierten wir an Systemen herum, die grundsätzlich nicht mehr taugen. Nehmen wir das Beispiel Klimaschutz oder unser Umgang mit der Tierwelt. Wir gehören zur Natur, sind abhängig von anderen Lebewesen. Aber die menschliche Gier setzt sich über diese Einsicht hinweg. Dabei haben wir eine gemeinsame Geschichte, eine Übereinkunft: dass das Leben nur im Verbund möglich ist. Aber statt eine neue Tier-Ethik aufzustellen oder den Mut zu haben, Klimaschutz als oberste Priorität zu setzen, werden nur ab und an (oft genug nicht einmal das) Gesetze verabschiedet, die etwas verbessern sollen. Man könnte, wenn man hier in die Tiefe geht, leicht verzweifeln. Was Bücher auf einzigartige Weise können ist: Empathie erzeugen. Weil wir mit Büchern die Welt aus den Augen eines anderen Menschen sehen. Das gilt generell für Kunst: Wir weiten – für die Dauer eines Films, eines Buchs, eines Musikstücks – die Grenzen unseres fest gefügten Selbst und begreifen vielleicht, wie sehr alles miteinander verbunden ist. 

„Lichtungen“ ist auch ein Buch der Auslassungen, der Ungewissheiten. Du leuchtest die Szenerien nicht aus. Dein Roman will nicht erklären. Es sind „Lichtungen“, die du beschreibst. So wie die eine Szene im Wald, der Kampf zwischen zwei Wölfen. Eine Szenerie, die nicht verdeutlicht, aber eine Stimmung erzeugt, eine Ahnung, Diskussionsstoff für ganz viele Leserunden, die sich mit deinem Buch zusammensetzen. Wie sehr ist dein Schreibprozess, dieses Buch, der Spiegel deiner ganz eigenen Prozesse? Oder wie sehr öffnest du dich im Schreiben der Einmischung und Beeinflussung?

Jedes Buch ist wie ein weiterer Jahresring eines Baums. Bücher sind Wachstumsprozesse. Es kann mitunter befremdlich sein, aus früheren Werken zu lesen; ein wenig so, als würde man alte Fotoalben durchblättern. Jeder neue Text verhandelt Fragen und bezeugt sicher auch Veränderungen der Weltwahrnehmung. Ich habe in Lichtungen mit Lev gelernt, dass das Gegenteil von Sprechen nicht Schweigen ist, sondern Hören. Dass es wichtig ist, ab und an zu überprüfen, ob Glaubenssätze und Selbstbilder einen am Gehen hindern. Und was den Schreibprozess anbelangt: Ich habe das Manuskript lange für mich behalten, weil ich Angst hatte, dass mir jemand das Rückwärtserzählen ausreden wird. Gleichzeitig bin ich immer offen für Einmischung. Die besten Hinweise begegnen einem zufällig. Wenn man auf „Empfang“ gestellt ist, arbeitet das Leben, der Zufall, die Natur, andere Menschen an der Geschichte mit. 

Iris Wolff liest am 8. Juni in Frauenfeld CH!

Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, Siebenbürgen, studierte Germanistik, Religionswissenschaft, Grafik und Malerei. Sie ist Mitglied des internationalen Exil-PEN und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Marieluise-Fleißer-Preis und den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk. Für «Die Unschärfe der Welt» (2020) erhielt unter anderem den Solothurner Literaturpreis. Ausserdem wurde der Roman sowohl von deutschen als auch von Schweizer Buchhändlern zu einem der fünf beliebtesten Bücher gewählt. Iris Wolff lebt in Freiburg im Südwesten Deutschlands.

Rezension von «So tun, als ob es regnet» auf literaturblatt.ch

«(Er)zählen», Iris Wolff, Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Max Gödecke

Simone Meier «Die Entflammten», Kein & Aber

Leidenschaft allein reicht nicht. Aber Genialität allein ebenso nicht. Gina, eine junge Frau, schreibt zwischen Lähmung und Selbstzerstörung, über Lebensentwürfe, die nach ihrer Erfüllung rufen. In „Die Entflammten“ prallen Welten aufeinander.

Sie kennen Vincent van Gogh mit Sicherheit. Wahrscheinlich kennen sie auch Theo van Gogh, seinen jüngeren Bruder, Kunsthändler und -sammler, ohne den sein genialer Bruder nie und nimmer jene Bilder hätte malen können, die ihn unsterblich machten. Aber wahrscheinlich lernen sie Jo van Gogh-Bonger, die Frau von Theo, erst durch den Roman von Simone Meier kennen. Eine Frau, die es sich nach dem frühen Tod der beiden Brüder zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Vincent van Goghs Bilder dorthin zu bringen, wo sie hingehören; in die grossen Museen der Welt. Vincent van Gogh war einzig und allein an seiner Malerei interessiert, unkonventionell und mit totaler Hingabe. In einer Hingabe, die gekoppelt mit seiner desaströsen Lebensweise schon früh auf eine Katastrophe hinzielte und mit dem frühen Tod seines Bruders, der ihn in jeder noch so zerstörerischen Lebensphase unterstützte, leicht ins grosse Vergessen hätte münden können. Wenn nicht Johanna van Gogh-Bonger gewesen wäre.

Simone Meier erzählt aber nicht einfach die Geschichte jener Frau nach, die die Sehnsucht nach Liebe an die Seite der berühmten Brüder brachte, der die Kunstwelt verdankt, dass jenem Künstler, der viel mehr als einfach abbilden wollte, jener Platz an den Wänden der Welt sicherte.

Über hundert Jahre später stösst die junge Kunsthistorikerin Gina auf die Geschichte dieser Frau. Sie taucht immer tiefer ein in die Biografie dreier Leben, die in ihrer Radikalität und Besessenheit auch im stummen Untergang hätten enden können. Was wäre geschehen, hätte Vincent seinen Bruder Theo nicht gehabt? Was wäre geschehen, hätte Jo das Lebenswerk beider nicht weitergeführt? Was wäre geschehen, wenn das Selbstzerstörerische des Malers, die Syphilis seines Bruders die junge Witwe mit ihrem kleinen Sohn mitgerissen hätte? Gina folgt einem Leben, sucht nach dieser Stimme und findet sie.

Simone Meier «Die Entflammten», Kein & Aber, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-0369-5029-7

Gina sucht aber auch nach den Rätseln in ihrer eigenen Familie. Warum scheiterte die Ehe ihrer Eltern? Warum schafft es ihr Vater in dem kleinen Haus am Meer nicht endlich, aus den vielen Anfängen einen zweiten Roman zu schreiben, nachdem der Ruhm des ersten schon seit Jahrzehnten verflogen ist? Gina zieht für eine begrenzte Zeit in das kleine Haus ihres Vaters, wohl nicht zuletzt darum, weil sie hofft, dass sie mit ihrem Schreiben die Fesseln ihres Vaters lösen kann.

Das Reizvolle an diesem Roman sind die  Prozesse der Begegnungen. Im Vordergrund steht jene zwischen Jo und Gina, zweier Frauen in ganz unterschiedlicher Zeit, obwohl doch eigentlich nur etwas mehr als ein Jahrhundert zwischen den beiden Frauenleben liegt. Gina rutscht mit Recherche und Schreiben immer tiefer in das Leben einer Frau, die ihr Dasein nach dem Tod der van Goghs immer entschiedener in den Dienst einer Sache stellt. Eine Kompromisslosigkeit, von der die Schreibversuche ihres Vaters diametral entfernt sind und wehleidig groteske Züge angenommen haben. Je tiefer Gina forscht und sich in das Leben Johannas hineinversetzt, desto mehr schwinden Barrieren, bis Jo und Gina im letzten Teil des Buches in einen Dialog treten, der die Grenzen schwinden lässt.

Wo sind die Grenzen zwischen Eigensinn und Genialität? Wie schafft es Genialität an die Oberfläche, zwischen all die Banalitäten des Lebens? Simone Meier geht es um mehr als Aufklärung über eine Frau, die seit einem Jahrhundert im Schatten „ihrer“ beiden Männer steht. „Die Entflammten“ ist ein Buch über Entflammte, die in ihrem selbstzerstörerischen Tun alles mit sich reissen und über „Entflammte“, die das einst entfachte Feuer nie erlöschen lassen.

Interview

Was war zuerst; die Faszination für die Person Johanna Bonger, später van Gogh oder die Geschichte einer jungen Frau, die sich in ihrer Suche nach einer eigenen Stimme mit dem Scheitern ihres Vaters konfrontiert?
Keine von beiden. Zuerst war Ginas Vater da. Nach meinem letzten Buch war ich frustriert, ich hatte die Ausläufer des Corona-Tiefs schwer unterschätzt, besonders in Deutschland. Man kriegt nun mal keine Sichtbarkeit hin, wenn die Buchhandlungen ganz oder teilweise geschlossen sind. Die Zugänge zu Lesungen waren beschränkt und die Leute blieben vorsichtshalber lieber zuhause. Aus therapeutischen Gründen wollte ich zuerst eine Literaturbetriebssatire schreiben. Einfach um Wunden zu lecken. Das sollte man natürlich unterlassen, das habe ich relativ schnell gemerkt. Und dann kam Jo. Ganz plötzlich, aber sehr bestimmend, und ich wusste, wenn ich mich jetzt nicht ganz in den Dienst dieser Figur stelle, bin ich die blödste schreibende Person weit und breit. Gina kam erst danach, allerdings enorm selbstverständlich, und aus dem Vater wurde aus einer lächerlichen eine gute Figur.

Über ein Jahrzehnt nach dem Suizid des einen und dem Syphilistod des andern war Vincent van Goghs Kunst nur einem ganz kleinen Kreis ein Begriff. Heute werden, wenn ein Bild überhaupt zum Verkauf steht, exorbitante Summen bezahlt, die mit Kunstverstand oder Sammelleidenschaft nichts mehr zu tun haben. Doch eigentlich eine Watsche an Künstler, eine an die Kunstszene, profitiert doch die Kunst selbst nie von solchen Preisen und eine Watsche ins Gesicht all jener, deren Genialität nie an die Oberfläche gelangt.
So what? Im stillen Kämmerchen sind wir alle in irgendwas genial. Ich war mal eine geniale Blockflötistin. Aber braucht die Welt das? In den allermeisten Fällen nicht. In meinen 28 Jahren als Kulturjournalistin sind mir wohl erst zwei lebende Menschen untergekommen, von denen ich sagen würde, sie sind genial und ihre Kunst bringt uns wirklich was. Vorherrschend ist ja immer und überall solides, stabiles Mittelmass. Ich persönlich bin kein Van-Gogh-Fan, mir ist das zu aufdringlich, aber in der Beschäftigung mit ihm für das Buch habe ich verstehen gelernt, wie echt revolutionär er war und was die Menschen in ihm sehen konnten, was sie begeisterte. Tragisch für ihn, dass er das nicht erlebte, Picasso und Warhol hatten mehr von ihrem Ruhm. Aber wenn besonders Viele einen Einzelnen besonders grossartig finden, kommt es unweigerlich irgendwann zu diesen perversen monetären Exzessen, egal ob in der Kunst, im Fussball, in Hollywood oder in Chefetagen. Offenbar haben wir noch nicht gelernt, unsere Wertschätzung anders auszudrücken. 

Das Literaturhaus St. Gallen lädt ein!

Gina setzt sich einigem aus, nicht zuletzt dem Stolpern ihres Vaters, der, statt seinem einstigen Brotberuf nachzugehen, vom Leben eines erfolgreichen Schriftstellers „besessen“ ist. Muss man besessen, entflammt sein, um mit seiner Kunst eine Bühne zu finden?
Für seine Arbeit entflammt zu sein, garantiert noch lange keine Bühne, hilft aber sicher. Was ich jedoch weiss, ist, dass es kein Entkommen vor einer gewissen Besessenheit, einer Auslieferung gibt, wenn man es mit seiner Kunst wirklich ernst meint. 

Jo findet schlussendlich ihre Bestimmung in der Kunstvermittlung, mit ihrer Strategie, die Werke ihres Schwagers nicht einfach gewinnbringend zu verscherbeln, sondern den Bildern jenen Platz zu geben, der ihnen durch ihre Einzigartigkeit zusteht. Ein typisch «weibliches Prinzip»?
Ist diese Frage ernst gemeint? Ich hoffe nicht! Das Einzige, was Jo an Weiblichkeitsklischees wie diesem interessierte, war, sie aus der Welt zu schaffen. Zum Glück hatte sie dank Theo, aber auch dank ihrem späteren Umfeld ganz unweibliche Einblicke in den damals zu hundert Prozent von Männern beherrschten Kunstmarkt. Sie sah, wie man es eben nicht machen sollte. Und sie war ein totaler Kontrollfreak. SIE wollte das Narrativ bestimmen, niemand sonst. Das Praktische an Vincent van Gogh war ja nun mal, dass er schon tot war und nicht mehr von seiner Kunst zu leben brauchte, sie konnte die Nachlassverwaltung entsprechend gründlich und langfristig angehen. Und sie legte sich einen genialen Dreiphasenplan zurecht: Sichtbarkeit schaffen, Rarmachen auf dem Markt, am Mythos basteln. Die breitestmögliche Sichtbarkeit erreichte sie, indem sie Zeit ihres Lebens über 100 Ausstellungen organisierte und dabei immer darauf achtete, dass Leute, die wenig verdienten, weniger Eintritt zahlen mussten. Da war sie ganz Sozialistin, wie übrigens die meisten im Van-Gogh- und Bonger-Clan damals glühende Sozialisten waren, was in der Van-Gogh-Rezeption natürlich gerne unterschlagen wird. Am Mythos bastelte sie bei ihrer Herausgabe der Briefe der Brüder, zu der sie selbst den alles entscheidenden Essay schrieb, der das Bild von van Gogh nachhaltig prägte. Und mit dem Zurückhalten besonders beliebter Bilder vom Markt befriedigte sie einerseits die Museumsbesucherinnen und -besucher und schuf andererseits noch grössere Begehrlichkeiten bei den abgewiesenen Käufern. So kam der immer lautere «Buzz» um van Gogh zustande.

Im zweiten Teil ihres Buches mischen sich die Stimmen der beiden Protagonistinnen Jo und Gina zu einem Dialog über Zeit und Raum hinaus. Eigentlich eine virtuelle Begegnung. Ist das nicht genau das, was die Literatur kann? Warum muss die Grenze des Möglichen ausgerechnet auch für die Literatur gelten? 
Mich müssen Sie das nicht fragen, ich bin eh das Schmuddelkind, das sich nicht um die Genregrenzen und die albernen Reinheitsgebote der deutschsprachigen Literaturkritik kümmert. In jeder anderen Weltliteratur ist diese Art der Kunstfreiheit, des ’magischen Realismus’, des kreativen Ausserkraftsetzens von Zeit, Raum und Konventionen völlig normal und anerkannt. Bei uns nicht.

Simone Meier, geboren 1970, ist Autorin und Journalistin. Nach einem Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte arbeitet sie als Kulturredakteurin, erst bei der WochenZeitung, dann beim Tages-Anzeiger, seit 2014 bei watson. 2020 und 2022 wurde sie zur »Kulturjournalistin des Jahres« gewählt. Bei Kein & Aber erschienen ihre Romane «Fleisch«, «Kuss» und «Reiz». Simone Meier lebt und schreibt in Zürich.

Beitragsbild © Ayse Yavas