«Und seltsam: Weniger Sehen als Gesehenwerden! Ja, es verlangte ihn, ja, er begehrte, gesehen zu werden, und mehr noch als bloss gesehen – erkannt zu werden»

Lieber Gallus

Unser Lesezirkel hat aus meinen drei Vorschlägen Maja Haderlap («Nachtfrauen«), Nina Jäckle («Verschlungen«) und Peter Handke letzteren ausgewählt. Bisher hatte ich nur «Abschied des Träumers» und «Winterliche Reise» gelesen, um die Kontroverse um Serbien zu verstehen, was nur teilweise gelang. Ich freute mich auf eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Nobelpreisträger von 2019. Ein Rezensent hat geschrieben, die 200 Seiten von der «Ballade des letzten Gastes» seien an zwei Abenden gut zu lesen, Handke hätte in diesem Alterswerk zu einer einfacheren Sprache gefunden.

Ich aber kämpfte mehrere Abende erfolg- und ratlos um das Verstehen dieses knorrigen Buches mit seiner rätselhaften Sprache und kaum zu erfassendem Inhalt. Nach fünfzig Seiten dachte ich: Dieses Buch kann ich nicht fertiglesen. Irgendwie wollte ich nicht aufgeben und kaufte die Biografie von Malte Herwig «Meister der Dämmerung». Diese Biografie ist ein Meisterwerk, voller Selbstzeugnissen Handkes, beispielsweise dessen Briefen an seinen leiblichen Vater, sehr spannend zu lesen, mit vielen Hinweisen auf die Verarbeitung persönlicher Ereignisse in den Texten und reich bebildert. Ein sehr lesenswertes Werk! Angeregt durch diese eindrückliche Lebensgeschichte las ich «Wunschloses Unglück» und «Die Lehre der Sainte-Victoire», zwei sehr persönliche und berührende Bücher, in einer mir verständlichen, wunderbaren Sprache, die ich dank der Hinweise in dieser Biografie mit Genuss lesen konnte. Dass Peter Handke seinem leiblichen Vater erst mit 18 Jahren begegnet ist und seine Mutter 1971 Selbstmord gemacht hat, dass er bereits in der Schule ein kluger genau beobachtender Einzelgänger war, das alles erleichterte mir den Zugang zu diesem widersprüchlichen Autor. Es gelang mir, die «Ballade des letzten Gastes» ganz zu lesen, die kunstvolle Sprache und die verwirrenden Bilder auf mich wirken zu lassen, auch wenn viele Passagen für mich weiterhin fremd bleiben.

Peter Handke «Die Ballade des letzten Gastes», Suhrkamp, 185 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43154-2

Für mich ist der letzte kurze Abschnitt dieser Ballade am besten gelungen, ein Gedicht voll eindrücklicher Bilder, sehr anregend und bereichernd:
«Als ich mich schnarchen hörte beim Schlaf im Bombentrichter. Aus heiterem Himmel angefallen von einem Schmetterling. Der Tag ohne Vogelflug.»
Malte Herwig schreibt: «Handkes Werke sind Bruchstücke einer grossen Konfession, und die Radikalität und Schonungslosigkeit, mit der er seine Selbsterforschung betreibt, ist einmalig. Hier schreibt einer über sich, aber stellvertretend für alle, die der Welt noch nicht so abhanden gekommen sind, dass sie sich nicht einmal mehr für sich selber interessieren.»

Mit diesen Worten hoffe ich, dass die Uraufführung von «Mein Tag im anderen Land» gestern Abend in Villach erfolgreich verlief. Dein Beitrag im Literaturblatt hat mir übrigens auch sehr geholfen, Peter Handke besser zu verstehen.

Nun wünsche ich euch noch angenehme Tage in der Heimat dieses aussergewöhnlichen Schriftstellers und sende herzliche Grüsse aus der Innerschweiz

Bär

Lieber Bär

In Griffen, einem kleinen Ort im Drautal in Südkärnten, kann man seit ein paar Jahren im ehemaligen Stift ein Handke-Museum besichtigen. Als ich das Museum zum ersten Mal besuchte, dachte ich, es wäre ein Wallfahrtsort für Handke-Begeisterte geworden, ein Blick ins Leben des Nobelpreisträgers mit allen Höhen und Tiefen, einem Shop mit Büchern von und über den Dichter, einer anwesenden Museumsleitung. Das über 500 Jahre alte Kloster, das vor 200 Jahren aufgelöst wurde, die Gebäude privater Nutzung zugeführt und die Kirchen zu Pfarren, sind mehr als bloss in die Jahre gekommen. Es war kein Mensch anzutreffen. Und als ich neugierig und etwas verunsichert durch die feuchten Räume des Stifts streifte auf der Suche nach dem Handke-Museum, sah ich bloss auf dem angrenzenden Friedhof zwei Frauen, die sich um die Blumen auf den Gräbern bemühten.

Man scheint in Griffen, in Kärnten, in Österreich durchaus stolz auf den Nobelpreisträger zu sein, bekam er doch dieses Jahr das «Große Goldene Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich». Die Ausstellung im Stift ist ein aufschlussreicher Blick in ein Leben, das schon in frühen Jahren eine deutliche Richtung bekam, in ein Schreiben, das sich wenig um Konventionen und Strömungen kümmerte, ein Wirken, das stets eigenwillig und eigensinnig ist und war. Eigenschaften, die in der Gegenwart immer schwieriger werden, in der «fremde» Ein- und Ansichten schnell zu vernichtenden Urteilen führen, in einer hyperempfindlichen Gesellschaft, die sich immer schwerer tut, andere Meinungen zu akzeptieren.

Das Handke-Museum in Griffen ist ein seltsamer Ort. Als wäre es Pflicht geworden. Als hätte man ihm das Leben entzogen. Als würde man sich ein bisschen schämen.

Peter Handke «Mein Tag im anderen Land», Bibliothek Suhrkamp, 2021, 93 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-518-22524-0

Umso beeindruckender war die Uraufführung des Stückes „Mein Tag im anderen Land“ an der «Neuen Bühne Villach«. Michael Weger, Schauspieler, Regisseur und verantwortlich für die Bühnenbearbeitung der «Dämonengeschichte» von Peter Handke, die 2021 bei Suhrkamp erschien, performte sich mitten in den Text, ganz nah ans Publikum, unmittelbar.

Ein Mann wandelt durch einen Tag. Manchmal in einer realen Welt, manchmal im Dazwischen, zwischen Traum, Wahn, Fata Morgana und Realität. Von sich selbst und seiner Schwester begleitet, manchmal ganz nah, manchmal weit abdriftend. Er geht durch einen Ort, einen Ort, ebenso unbekannt wie vertraut. Geht wie von Sinnen und doch mit scharfem Gespür für das, was sich neben der Realität offenbart. Er redet mit lauten Zungen, schwadroniert, schreit und gebärdet sich wie ein Entfesselter, verbreitet Schrecken und Verunsicherung, um dann mit einem Mal wieder der ganz Sanftmütige und Ruhige zu werden. Vielleicht erkennt man dort den Autor selbst, wenn man sich erinnert an seine selbstvergessenen literarischen Erkundungen, seine ruhigen Worte in der lichtdurchfluteten Schreibstube seines Hauses, in den Betrachtungen in seinem verwachsenen Garten. Aber ebenso in der verbalen Entgleisung, wenn man Handke zu reduzieren versucht, wenn man ihm auf die Pelle rückt.

So seltsam die Erzählung, so seltsam die Sprache. Peter Handke bedient sich einer Sprache, die wie die Geschichte selbst leicht daneben klingt, ebenso wie die Geschichte entrückt, nicht der Welt hier und der Zeit jetzt entsprechend. Eine Sprache, die beinah singt, die Haken schlägt und Kringel zeichnet, die anders ist als das, was der Realität entspricht, die mich wegzieht, meinen Blick verbaut.

Handke ist Handke.

 

Valerie Fritsch «Zitronen», Suhrkamp

Es gibt Bücher, die überrollen, verstören und faszinieren mich. «Zitronen» von Valerie Fritsch ist ein solches, ein weiterer Streich einer überragenden Schriftstellerin, eine Literaturperle. Und trotzdem würde ich dieses Buch nicht allen empfehlen, denn es ist schrecklich schön, leuchtet tief in die Abgründe menschlichen Seins!

Während des Lesens stellte sich eine seltsame Mischung aus Erschütterung, Faszination und Freude ein. Wie schafft es Valerie Fritsch ein Buch in einer derart hohen Sprach- und Bildintensität durchzuziehen, vielfach überraschend, beweisend, dass Literatur viel mehr sein kann, als eine gute Geschichte zu erzählen. „Zitronen“ schmeichelt mit Sprache. „Zitrone“ erschüttert mit Einsichten. „Zitronen“ bannt bis zum letzten Satz. „Zitronen“ ist ein Sprachkunstwerk. Der Saft dieser Zitronen brennt sich ein!

Eine Kleinfamilie in der Provinz, in einem windschiefen, vollgestopften Haus am Rande eines Dorfes. Ein Vater, der die Mutter und seinen Sohn schlägt. Mutter und Sohn, die in dauernder Angst leben und sich in einem Band aus Nähe und Zartheit miteinander gegen den übermächtigen Vater verbünden. Sie braucht ihren Sohn, ihr Sohn braucht sie. Der Sohn ist das einzige, was in ihrem Leben Resonanz gibt. Und für den Sohn ist die Mutter die einzige, die ihm Trost für all die vom Vater zugefügten Verletzungen bietet. Die Eltern waren ein Kippbild aus Schutz und Bedrohung, ein janusköpfiges Wesen, das einem erst mit kaltem, dann mit mitleidigem Gesicht ansah. Bis mit einem Mal der Vater, der Mann verschwindet und sich alles verschiebt.

«In jedem Leben gehen Bestimmung und Selbstbestimmung, Glück, Unglück und Zufall mit stiller Wirkmächtigkeit gegeneinander an, zerren an der Linie, die zwischen Geburt und Tod gespannt ist, und wehen die auf ihr Balancierenden wieder und wieder vom Weg.»

Ein Verschwinden, dass auch die Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn radikal verändert. Was der Sohn als Rettung für die Mutter in einem Leben aus Angst und Bangen war, öffnet sich zwar, kehrt sich aber um in eine Angst, diesen Sohn an ein eigenständiges, unabhängiges Leben zu verlieren. Nach einer Krankheit, die die Mutter dem noch jungen August noch einmal ganz in seine Nähe brachte, beginnt die Mutter heimlich Medikamente in die Nahrung ihres Sohnes August zu mischen. Sie deckt August mit ihrer Fürsorge zu, so sehr, dass August nicht einmal mehr zur Schule gehen kann und über Wochen und Monate ans Bett gefesselt bleibt, beständig umgarnt von seiner Mutter, die ganz in ihrer Rolle als Schützende und Wissende aufgeht. Die Medikamente, die sie missbraucht, bezieht sie von ihrem Hausarzt.

Valerie Fritsch «Zitronen», Suhrkamp, 2023, 186 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43172-6

Auch nach einem gemeinsamen Urlaub am Meer, im Land der Zitronen, zusammen mit eben jenem Arzt, der zwar konstatiert, dass es dem Jungen mit jedem Tag am Meer besser geht, ändert sich das Leben von August nur marginal. Seine Mutter bringt ihn züruck ins Bett, zurück an ihren Tropf. Bis ein Blitz einschlägt. Bis auch für den Arzt nicht mehr zu leugnen ist, dass Augusts Krankheit bloss das Resultat eines fatalen Medikamentenmix ist. August kommt nach Wien, wird förmlich ausgesiedelt, in eine kleine Wohnung, die ihm der Arzt, der sich seiner Schuld bewusst ist, in der fernen Stadt zur Verfügung stellt.

So sehr ins Mutternest zurückgebunden, so einsam und allein sind die ersten Wochen für August in der fremden Stadt. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs mehr schlecht als recht durch und baut aus den Versatzstücken fremder Biographien und Lügengeschichten eine eigene Vergangenheit zusammen, mit der er sich sein Dasein formt, ein Leben zwischen Huren und Ganoven. Bis er Ava trifft, eine Künstlerin, eine Verwundete wie er. Bis er in Ava seine grosse Liebe findet und alles dafür tut, diese eine Liebe nicht wieder zu verlieren. Aber August in seiner Angst, auch diese Liebe zu verlieren, schnürt Ava immer mehr die Luft zum Atmen weg. Bis das Unvermeidbare zur Tatsache wird und sich auch diese Liebe von ihm trennt. Bis August spürt, dass er dorthin zurück muss, wo ihn die Fesseln noch immer binden.

«Es gab nichts, was es nicht gab, aber es gab vieles, was es nicht hätte geben dürfen.»

Aber um den Zauber dieses Romans zu ergründen, sollte man sich viel mehr der Sprache zuwenden. Was Valerie Fritsch mit „Zitronen“ schafft, gelingt nur ganz wenigen. Meist ist die Sprache der Träger einer Geschichte. Aber bei Valerie Fritsch ist die Geschichte der Träger eines Sprachteppichs aus Farben, Gerüchen, Geräuschen und Melodien, die seinesgleichen suchen. Zum einen spürt sie sich in die Seelenlandschaft eines Gefesselten, zum andern bebildert sie die Welt dieses Gebeutelten, eines jungen Mannes, der mit Strategie krank gemacht wird. Ihr Schreiben ist im wahrsten Sinne des Wortes schaurig schön. Valerie Fritsch schreibt in Sätzen, die mich wie Winde umschmeicheln, die den Schrecken in helle Farben verwandeln, die einen Alp sublimieren.

Ich verneige mich tief vor der Kunst dieser Autorin! Lange her, dass mich Lesen so sehr berührte!

Interview

Natürlich geht es um einen krankhaften Zustand, den die Medizin „Münchhausen-Stellvertretersyndrom» nennt, eine ganz fiese Form der Kindsmisshandlung. Mütter, die in ihrem Umfeld als perfekt, maximal fürsorglich gelten und sich hingebungsvoll um angebliche Krankheiten ihrer Kinder kümmern. Krankheiten, die sie selbst herbeiführen. Aber du legst den Fokus auf das Kind, auf August, zeigst, dass dieses zurückgebundene Leben für immer gezeichnet ist. Und trotzdem wolltest Du viel mehr als die Nacherzählung eines Befreiungsversuchs. Du bist eine Reisende. Doch eigentlich erstaunlich, dass dein neuer Roman eine ganz besondere Reise ist.
Und auch sie begann mit Distanz, denn angefangen hat es damit, dass mir viele allgegenwärtige Phänomene fremd und fern waren und ich ihnen näher kommen wollte, um sie zu verstehen. Drei Jahre lang bin ich durch eine Welt hinter der Welt gereist, jene oft unsichtbare der Gewalt, habe intime Gespräche mit Opfern und Tätern geführt, mit Mördern Kaffee getrunken und durfte durch Schlüssellöcher in viele nicht lineare Leben schauen. Herausgekommen ist ein seltsames Buch über Gewalt und Zärtlichkeit, vor dem ich meine Lektorin am Ende nur gewarnt habe: es ist wild geworden.

»Der schlimmste Augenblick jedes Sommers ist sein Ende.«
Text & Foto © Valerie Fritsch

So sehr die Familie über Jahrhunderte idealisiert und von Politik und Religion immer wieder kräftig instrumentalisiert wurde, so sehr „Familie“ zu einem Traum, einem Ziel, einem Paradies werden kann, so sehr kann „Familie“ Hölle werden. Eine Hölle, die von den betroffenen Kindern mit stoisch scheinender Selbstverständlichkeit ertragen wird. August ist ein ewig Verwundeter. Warum begeben sich Menschen in einen Tunnel, bei dem es keine Umkehr gibt?
Selbstverständlichkeit ist eine hinterhältige Kategorie, sie ist das, was man kennt. Geschlossene Machtsysteme können überall entstehen, Türen zugesperrt, Vorhänge zugezogen werden. Wenn dann noch genug Menschen rundum die Augen verschließen, schaffen es auch die eigenartigsten und schrecklichsten Zustände als Normalität zu gelten, sogar für die Betroffenen. Man trägt schwer an den früheren Verwundungen, sie zerstören mitunter den Vertrauensindex zur Welt. Und es kann in existentiellen Krisensituationen zu einer Logik des Misslingens, einer Folgerichtigkeit der schlechten Entscheidung, sogar dem Glück der bösen Tat kommen: es fühlt sich das objektiv Falsche dann subjektiv richtiger an alles anderes. 

In seiner Zeit in der Stadt, nach seiner ersten grossen Befreiung, muss sich August in seiner Selbstständigkeit zuerst zurechtfinden. Auch mit einem Leben, das sich nach Geschichte sehnt, nach erzählbarer Geschichte. Literatur ist Geschichte. Zusammengetragenes, Versatzstücke, Er- und Gefundenes. August erzählt „Lügengeschichten“, bastelt sich seine Vergangenheit immer und immer wieder neu zusammen. Eine befreundete Schriftstellerin meinte einmal, die Schriftstellerei sei der einzige Betrug, in dem man schadlos lügen kann. Wir hadern mit Wahrheiten, wissen, dass nichts so vieldeutig ist wie die Wahrheit. Tun wir der Lüge unrecht?
Ich denke, die Lüge hat mitunter ihre Berechtigung, außerdem ist sie angenehm eindeutig, manchmal sogar schonend und zartfühlend gemeint. Ganz ohne sie kommt der Mensch nicht aus. Wer würde es schon ertragen, auf einem Familienfest pausenlos mit allen ernstgemeinten Wahrheiten und angestauten Werturteilen beworfen zu werden zwischen Schweinsbraten und Dosenpfirsichkompott? Wer allgemein genug Wahrhaftiges in seinem Leben hat, muss es mit der Wirklichkeit nicht immer so genau nehmen.

»Die Mehrzahl der Toten hatte ihr Bett in riesigen Schränken aus Stein, schlief dort in Schubladen, über- und nebeneinander angeordnet und sorgfältig beschriftet, damit man nicht durcheinanderkam. Es war ein Setzkasten für die Ewigkeit.
Und er erzählte, wie er früher mit den anderen Kindern in den leeren Grabkammern der steinernen Kästen gesessen war, wie sie in den obersten gekrümmt gehockt waren unter der niedrigen Decke wie in Nestern, in den Ecken Vorräte von Süßigkeiten anlegten und Amarettini und Zuckerschlangen aßen zwischen den Toten. Wie sie einander Gespenstergeschichten zuflüsterten.«
Text & Foto © Valerie Fritsch

Du nennst das Dorf, in dem August aufwächst, das „Dorf, das sich mit Enttäuschungen auskannte“. Auch das Wort „Ent-Täuschung“ birgt doch eigentlich etwas Positives. Wird man nicht von Täuschungen befreit?
Enttäuschung ist eine Funktion der Erwartung, sagen die Philosophen. Zu sehen, dass etwas anders ist, als man gedacht und gehofft hat, ist möglicher Weise befreiend, wenn man resilient ist, aber doch in den meisten Fällen zuerst einfach sehr unschön. 

Zwischen August und Ava wächst eine grosse Liebe. Aber auch diese Liebe zerbricht, weil August die Grenze nicht spürt zwischen Zuwendung und Umklammerung, zwischen Hingabe und Besessenheit. Doch eigentlich ganz ähnlich wie die Liebe seiner Mutter damals. Leben ist ein permanenter Befreiungsversuch. So sehr wir uns nach Liebe sehnen, nach einem Spiegel, der uns vor der Einsamkeit bewahrt, so sehr verlieren wir uns in Abhängigkeiten, der Befreiung entgegengesetzt. Hatte August je eine Chance?
August nimmt das Wünschen nach seiner tragischen Kindheit zum Ausgleich besonders ernst: er wünscht sich unbescheiden und glühend die große Liebe, das große Geld, das große Glück, er will leben bis zum Umfallen. 
Diese Kindheit ist nichts vom Rest des Lebens Abgekoppeltes, es ist die Zeit, in der wir Schritt für Schritt zu dem Erwachsenen heranwachsen, der dann entscheidet, wer man sein will und kann. Für eine eigene Identität bedarf es immer einer Kraftanstrengung, und für eine Flucht aus alten Mustern und Systemen einer umso größeren. Unmöglich ist aber nichts, das ist das Schöne am Menschsein. Und das Schreckliche. 

Am meisten fasziniert mich an deinem Roman die Sprache, die Machart, der Ton, was dein Buch in mir evoziert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ein Buch wie das Deinige, so einfach in losen Stücken zusammensetzen kann. Wie gelingt es Dir, dass ich glaube, du hättest Dein Buch in einem Zug, wie im Sprachrausch geschrieben?
Tatsächlich kommt es mir an guten Tagen vor, als würde ich am Schreibtisch zwischen Teetassen und Bücherstapeln mit den Buchstaben komponieren auf der Tastatur. Es hat etwas geheimnisvoll Melodiöses. Ich höre die Sätze. Es ist manchmal wie ein Flow in Zeitlupe: das mag ich sehr.

Valerie Fritsch, geboren 1989, arbeitet als freie Autorin und bereist die Welt. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 wurde sie mit dem Kelag-Preis und dem Publikumspreis ausgezeichnet. 2020 erhielt sie den Brüder-Grimm-Preis für Literatur. Sie lebt in Graz und Wien.

«Herzklappen von Johnson & Johnson», Rezension

Webseite der Autorin

Beitragsbild © oxyblau/Suhrkamp Verlag

Gerbrand Bakker «Der Sohn des Friseurs», Suhrkamp

Mit seinem Roman „Oben ist es still“ (dt, 2008) hat sich der niederländische Schriftsteller nicht nur bei mir tief ins literarische Bewusstsein gegraben. Da schreibt einer mit einem ganz eigenen Blick auf Menschen und Szenarien! Mit seinem neusten Roman „Der Sohn des Friseurs“ setzt Gerbrand Bakker noch einen drauf!

Da ist die Geschichte eines stillen Mannes, der in seiner Freizeit Stunden Länge um Länge im Hallenbad schwimmt, der den Friseursalon seines Grossvaters weiterführt und gerade so viel arbeitet, dass es reicht. Da ist die Geschichte eines Sohnes, der die Einmischungen seiner Mutter stoisch erträgt und auf die Fragen nach seinem Vater keine Antworten bekommt. Die Geschichte eines Kunden, eines Schriftstellers, der erst zaghaft nach Einblicken in die Arbeit eines Friseurs fragt und ein immer wichtigerer Teil im Leben des stillen Mannes wird. Und die Geschichte eines Vaters, der sich aus seinem Leben weggeschlichen, dem eine Katastrophe zu einem Neuanfang verholfen hat.

Gerbrand Bakker erzählt die unspektakulären Leben der kleinen Leute. Und weil er sich selbst auch zu ihnen zählt und ganz offensichtlich nichts am Hut hat mit kulturellem Klassenbewusstsein, ist auch der Schriftsteller, der sich in diese Geschichte mischt und unzweifelhaft seine Züge trägt, ein „kleiner Mann“. Einer, der seine Arbeit macht, gerade so viel, dass es reicht, so wie Simon in seinem Salon in der Stadt. Jener Schriftsteller, der sich zu Recherchezwecken so sehr für die Arbeit eines Friseurs interessiert, wurde mit einem Roman „Oben ist es still“ bekannt. Er ist einer neuen Geschichte auf der Spur, jener eines stillen Mannes, der in seiner Freizeit Stunden Länge um Länge im Hallenbad schwimmt.

Gerbrand Bakker «Der Sohn des Friseurs», Suhrkamp, 2024, aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, 285 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-518-43158-0

In Simons Salon ist die Zeit stehengeblieben, alles noch immer so wie damals, als sein Vater aus dem Leben der Familie gerissen wurde, Opfer jener Flugzeugkatastrophe vom 27. März 1977, als eine Boing der KLM und einer der Pan American auf der Ferieninsel Teneriffa bei Nebel auf dem Flughafen Los Rodeos zusammenkrachten. Fast 600 Tote. Simons Mutter verweigert Antworten auf Fragen nach seinem Vater. Simons Mutter war damals schwanger, schwanger mit Simon. Und obwohl Simons Vater keine Erinnerungen generiert, bestimmt er immer wieder Simons Gedanken. Nicht zuletzt, weil sein Grossvater, der damals seinen Salon zu einem regelrechten Quartiertreffpunkt gemacht hatte und so ganz anders tickt wie er, immer wieder rätselhafte Andeutungen machte, beginnt Simon zaghaft eine Recherche.

Gerbrand Bakker erzählt aber auch die Geschichte des Vaters, der damals in einem jener Flugzeuge sass, aber eben nur vor dem Start auf der Ferieninsel, vor der tödlichen Katastrophe. Weggeschlichen aus einem Leben, das ihm zu vorgezeichnet erschien. Es hätten ein paar Tage mit einem Praktikanten aus dem Salon werden sollen. Es wurde ein ganzes Leben auf der Insel, in einem neuen Leben.
Und Gerbrand Bakker erzählt die Geschichte eines Schriftstellers, der auf der Suche nach einem neuen Stoff ist, der der Spur einer Geschichte folgt, der mehr und mehr vom Leben des vierzigjährigen Simons erfährt und sich nicht zuletzt von ihm hingezogen fühlt, sie beide ruhelose Seelen auf der Suche nach einer Spur. In Simons Wohnung über dem Salon, in dessen Schlafzimmer immer noch die eigerahmten Poster seiner grossen Schwimmidole hängen, stehen auch die Bücher des Schriftstellers. Obwohl sie erst nur höfliche Geschenke waren, beginnt Simon zu lesen. So nähern sich die beiden Männer an, verknoten sich mit ihren Geschichten.

„Der Sohn des Friseurs“ ist eine Geschichte, die sich selbst erzählt. Gerbrand Bakker erzählt von sich, von seinem Schreiben, nicht zuletzt vom Unerklärlichen des Literaturbetriebs, witzig dann, wenn er von einer Begegnung mit dem grossen Kehlmann erzählt, bescheiden dann, wenn er sich an der Übersteigerung seines Berufsstands stört. „Der Sohn des Friseurs“ ist Vater- Sohn- und Enkelgeschichte. Die Geschichte einer Familie, die eine Katastrophe zeichnete. Wie viel ist Bestimmung? Können wir uns so einfach verabschieden? Wer und was bestimmt, was wir tun? Gerbrand Bakker stellt seine Fragen ganz dezent, erzählt scheinbar locker und bleibt seinen Figuren freundschaftlich nah. Ein echter Bakker!

Gerbrand Bakker, 1962 geboren, lebt und arbeitet in Amsterdam und in der Eifel. Neben dem Schreiben ist er auch als Gärtner und hin und wieder als Eisschnelllauftrainer tätig. Seine Romane, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, sind vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Independent Foreign Fiction Prize und dem International IMPAC Dublin Literary Award.

Andreas Ecke hat neben Gerbrand Bakker, AutorInnen wie Saskia Goldschmidt und Ernest van der Kwast ins Deutsche übertragen. Er wurde mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis und dem Europäischen Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Marc Brester

20 Jahre Lyrik-Feinkost in Basel

Das Internationale Lyrikfestival Basel feierte die 20. Jubiläumsausgabe nicht mit Pauken und Trompeten, dafür mit sprachlichen Leckerbissen, die beweisen, das sich Lyrik längst nicht mehr in die Ecke der schöngeistigen Verzückung drängen lässt.

Schonungslos ehrlich und politisch, experimentierfreudig, direkt und eigensinnig, wild musikalisch, analytisch und leidenschaftlich – wie vielfältig, kräftig und authentisch Lyrik sein kann, das bewies das diesjährige Lyrikfestival Basel eindrücklich und äusserst professionell. Sich für eine Kunstform derart ins Zeug zu legen, vor der sich andere VeranstalterInnen aus Angst vor möglichem Desinteresse mit Bedauern aus der Affäre ziehen, gebührt Hochachtung und inniger Dank. Aber weil das Organisationskomitee aus der „Basler Lyrikgruppe“ besteht, einem lebendigen Haufen Dichterinnen und Dichtern, wird das jährlich stattfindende Festival nicht einfach eine Bühne, sondern lebendige Auseinandersetzung mit den verschiedensten Ausdrucksformen von Lyrik. Alisha Stöcklin, Ariane von Graffenried, Simone Lappert, Claudia Gabler, Wolfram Malte Fues und Rudolf Bussmann zusammen mit all jenen, die sich in der Vergangenheit um das Festival bemühten, feierten mit den Stimmen aller PreisträgerInnen des Basler Lyrikpreises die Sprache und zwei Jahrzehnte Abenteuer.

Rike Scheffler arbeitet transdisziplinär in Gebieten der Lyrik, Performance, Installation und Musik. Ihr neuer Gedichtband «Lava. Rituale» (2023) erkundet zärtliche, spekulative Seinsweisen artenübergreifender Allianz und Kollaboration mit mehr-als-menschlichen Agent*innen und KI.

Aus dem diesjährig Dargebotenen Höhepunkte herauszuheben ist schwierig und in meinem Fall höchst subjektiv. Da waren die leidenschaftlichen, zuweilen heiteren Texte von Dinçer Güçyeter, die eindringliche Performance von Rike Scheffler, der Tripp ins Dunkle mit Martin Piekar, die Entdeckung einer neuen Stimme, jener der diesjährigen Preisträgerin Carla Creda, das musikalische Aufstöbern von Störefrieden mit Airane von Graffenried und Robert Aeberhard, die tiefsinnige Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe von Steinunn Sigurðardóttir, Marion Poschmann und Daniel Falb und die witzige Begegnung der Performerinnen Nora Gommringer und Augusta Laar.

Dinçer Güçyeter ist ein deutscher Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger. Güçyeter wuchs als Sohn eines Kneipiers und einer Angestellten auf. Er machte einen Realschulabschluss an einer Abendschule. Von 1996 bis 2000 absolvierte er eine Ausbildung als Werkzeugmechaniker. Zwischenzeitlich war er als Gastronom tätig. Im Jahr 2012 gründete Güçyeter den ELIF Verlag mit dem Programmschwerpunkt Lyrik. Seinen Verlag finanziert Güçyeter bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. 2017 erschien «Aus Glut geschnitzt» und 2021 «Mein Prinz, ich bin das Ghetto». 2022 erhielt Güçyeter den Peter-Huchel-Preis. Sein Roman «Unser Deutschlandmärchen» wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Dinçer Güçyeter im Gespräch Henri-Michel Yéré

Verändert sich auch das Klima in den Künsten, in der Literatur, in den Gedichten? Wie anders, ist doch die Dichtung immer mehr der Seismograph dessen, was Menschen umtreibt. Für die isländische Dichterin und Schriftstellerin Steinunn Sigurðardóttir sind die klimatischen Veränderungen nicht bloss sichtbar, sie werden zur ganz direkten Bedrohung.

 

Geröllberg

Der gletscher, ewig
aber doch aus vergänglichem stoff, kam ans licht.
Aus wasser und lebenden farben.

                      ***

Der Zerbrechliche zerspringt 
in tausend teile

wird zu dem wasser aus dem er gekommen.

Das war nicht unumgänglich. Doch wir
gleichgültigen ehrlosen heizten an,
liessen taten … auf taten folgen …

                      ***

Vatnajökull vom wasser genommen.

(aus «Nachtdämmern» von Steinunn Sigurdardóttir, Dörlemann, 2022, aus dem Isländischen von Kristof Magnusson)

Daniel Falb ist Dichter und Theoretiker. Er lebt und arbeitet in Berlin, wo er Philosophie studierte und mit einer Arbeit zum Begriff der Kollektivität promovierte. Er veröffentlichte fünf Gedichtbände, zuletzt «Deutschland. Ein Weltmärchen (in leichter Sprache)» (2023). Marion Poschmann (live zugeschaltet, weil die DB Reispläne verunmöglichte), lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Lyrik und Prosa, darunter den Peter-Huchel-Preis 2011, den ersten Deutschen Preis für Nature Writing 2017 sowie den Joseph-Breitbach-Preis 2023. Steinunn Sigurðardóttir, geboren in Reykjavik, studierte Psychologie und Philosophie am University College Dublin. Sie arbeitete als Radio- und Fernsehjournalistin und veröffentlichte mehrere Gedichtbände und Romane. «Der Zeitdieb» wurde in Frankreich mit Emmanuelle Béart und Sandrine Bonnaire verfilmt. Auf Deutsch erschien zuletzt «Nachtdämmern», eine Elegie über den sterbenden Grossgletscher Vatnajökull in Südostisland. Im Gespräch mit Alisha Stöcklin

Der Vatnajökull, der grösste Gletscher Islands und ausserhalb des Polargebiets der grösste Gletscher Europas, schmilzt. Damit wandelt sich Island, das zu 10 % von Gletschern bedeckt ist, nicht bloss zu einer Geröllinsel. Die riesigen Gletscher Islands besänftigen noch die «bösen» Vulkane, die unter der malerischen Oberfläche schlummern. Steinunn Sigurðardóttirs Dichtung im Band «Nachtdämmern» richtet sich ganz direkt gegen Ignoranz und Verdrängung. Dichtung reagiert, ganz im Gegenteil zu einem Grossteil der Gesellschaft, die munter weiteragiert, als wäre die Zukunft so einfach die Fortsetzung der Vergangenheit. Wissenschaft und Kultur sind sich in einem breiten Spektrum aktiv und sehr intensiv dessen bewusst, was die menschlichen Eingriffe an globalen Veränderungen mit sich bringen. Kein Wunder, dass jene Kunst, die um Worte, Sätze, Formulierungen ringt, nach Klärung und vielleicht sogar Erklärung Niederschlag findet, was an Ängsten und Befürchtungen aus der Suppe unleugbarer Fakten steigt.

Ariane von Graffenried ist Schriftstellerin und promovierte Theaterwissenschaftlerin. Sie ist Mitglied der Autor*innengruppe Bern ist überall und tritt als Spoken-Word-Performerin im Duo Fitzgerald & Rimini auf. 2017 erschien ihr Buch «Babylon Park», 2019 folgte «50 Hertz», eine CD mit Gedichtband. Für ihre Texte wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Warum fällt es uns so schwer, in grossen Zusammenhängen und Räumen zu denken, geschweige denn zu leben? Horizonte gehen auf, das Raumschiff Erde ist ein in sich geschlossenes Ökosystem. In der Literatur, in der wie in keiner anderen Kunstform das eigene Ich verlassen werden kann, verschieben sich Perspektiven. Das zeigt auch Marion Poschmann in ihrer Dichtung. Sie fordert eine «Romantisierung». Keine Verklärung, Beschönigung oder Idylle, sondern eine revolutionäre Bewegung als Gegenkraft zur rationalen Vernunft, eine Besinnung auf das «Einzigartige», als letzter Akt gegen all das Zerstörerische.

Schon der Begriff «Klimawandel» beschönigt die rollende Katastrophe. So wie unsere Gesellschaft noch immer nach Worten ringt, um den Dingen Kontur zu geben, tut es die Kunst. Dichtung ist gefundene Sprache.

Reservieren sie sich das letzte Wochenende im Januar 2025

Fotos © Samuel Bramley

Florjan Lipuš «Die Verweigerung der Wehmut», Bibliothek Suhrkamp

Ein Mann kehrt an den Ort seiner Herkunft zurück. Nicht freiwillig, denn mit dem Tod seines alten Vaters kehren die Erinnerungen zurück, das, was er vor Jahren mit seinem Wegzug in die Stadt hinter sich lassen wollte. Florjan Lipuš schmaler Roman „Die Verweigerung der Wehmut“ ist ein Sprachkunstwerk, ein literarischer Kristall, der das Licht auffächert!

Dass dieses Buch nach seiner deutschen Ersterscheinung 1989 im Residenz Verlag, die slowenische Erstausgabe unter dem Titel „Jalov Pelin“ erschien 1985 im Drava Verlag in Klagenfurt, nun in der gediegenen Bibliothek Suhrkamp erscheint, mag mit dem Gastland Slowenien an der Frankfurter Buchmesse 2023 zusammenhängen. Aber wahrscheinlich viel mehr mit der Tatsache, dass Florjan Lipuš längst zu einem Sprachgiganten geworden ist und die Bibliothek Suhrkamp jener Ort, dem dieser Text gebührt.

Florjan Lipuš «Die Verweigerung der Wehmut», Bibliothek Suhrkamp 1533, 2023, aus dem Slowenischen von Fabjan Hafner, 128 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-518-22533-2

Als Florjan Lipuš 1981, vier Jahre zuvor, mit seinem Roman „Der Zögling Tjaž“, der von Peter Handke und Helga Mračnikar übersetzt wurde, viel Aufmerksamkeit weckte, stieg ein Stern auf, der zum Fixstern wurde, auch wenn der Autor selbst sich nie in den Vordergrund rückte. Florjan Lipuš Roman hat nichts von seiner Sprachmächtigkeit verloren. Als würde man vor einem kolossalen Bild stehen, von dem man erahnt, dass es auch in ferner Zukunft Besucherinnen und Besucher demütig werden lässt. „Die Verweigerung der Wehmut“ zeigt alles, womit sich Florjan Lipuš bis heute beschäftigt; mit der Klarheit und dem Farbenreichtum einer Sprache und den Erinnerungen zwischen Trauma und Traum. Dieser Roman lässt mich staunen. Da schreibt jemand, dessen Sprachmacht taumelnd macht, der nicht nur mit einem Instrument spielt, sondern mit einem ganzen Orchester. Sprache, die mich zutiefst berührt und eine Erzählweise, die mit jedem Buch den Schmerz in schöpferische Kraft umzuwandeln weiss.

Die Geschichte des Romans ist schnell erzählt. Ein Mann, der in der Stadt ein neues Leben aufgebaut hat, kehrt ins Dorf seiner Herkunft, seiner Kindheit, seines Traumas, seines Urschmerzes zurück. Sein Vater ist gestorben, man trägt ihn zu Grabe. Schon im Zug dorthin drängt sich in Träumen und Gedanken der Alp der Vergangenheit auf; die Verschleppung der Mutter, die Strenge und Härte des Vaters und die Enge des Ortes tief in den Bergen Südkärntens. Er erreicht das Dorf und bleibt doch für sich. Er taucht ein in die Riten und Gebräuche eines Dorfes, den immer wiederkehrenden Totengesang eines Lebens, das von Traditionen und Geboten geprägt ist. Er bleibt aussenvor, ein Betrachter, der weniger durch das Geschehen, als durch das, was es auslöst, in die archaische Gegenwart hineingezogen wird. Es tauchen Bilder, Vergessenes, Vedrängtes auf, so intensiv, dass es den Erzähler hinaustreibt, weiter hinein ins Tal, bis an jenen Ort, wo von den Resten jenes Hauses, in dem das Urtrauma geschah, fast nichts mehr zu erkennen ist. Aber was sich die Natur zurückgenommen hat, bleibt in den Erinnerungen des Erzählers wie ein zäher, klebriger Brei.

„Die Verweigerung der Wehmut“ ist ein lyrisch geschriebener Prosatext, der weit mehr als bloss nacherzählen will. In lange mäandernden Sätzen, farbig gezeichneten Bildern zwischen Groteske und Traumbildern, hyperrealistischen Szenarien und tiefsitzender Melancholie, beschreibt Florjan Lipuš einen Mann, der mit sich kämpft, der sich den Resten einer verlorenen Kindheit anzunähern versucht. Als ob der Autor die Sicht zurück mit den inneren Bildern einer Camera obscura beschreibt; über die Wirklichkeit hinausfliessend. Florjan Lipuš kann, was vielen verwehrt bleibt; Er braucht die Sprache nicht, er spielt auch nicht mit ihr – seine Sprache ist Musik!

Florjan Lipuš, geboren 1937 in Kärnten, lebt in Sele/Sielach (Unterkärnten). Er veröffentlicht auf Slowenisch: Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Übersetzung, darunter «Der Zögling Tjaž», übertragen von Peter Handke und Helga Mracnikar. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2018 den Grossen Österreichischen Staatspreis und 2019 den Goldenen Verdienstorden der Republik Slowenien.

Fabjan Hafner, geboren 1966 in Klagenfurt, studierte Deutsche Philologie und Slawistik (Slowenisch ) in Graz und war seit 1998 am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung in Klagenfurt tätig. Für seine Übersetzungen, unter anderem von Florjan Lipuš und Tomaž Šalamun, wurde er vielfach ausgezeichnet. Hafner lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2016 in Feistritz im Rosental/Bistrica v Rozu (Südkärnten).

«Schotter» von Florjan Lipuš, Rezension

«Seelenruhig» von Florjan Lipuš, Rezension

Beitragsbild © Marco Lipuš

Deniz Utlu «Vaters Meer», Suhrkamp

Vaterbücher – vielleicht sind alle Bücher Mutter- und Vaterbücher. Bücher, in denen man Kindheitsbildern nachhängt, in denen man sich von seinen Eltern emanzipiert, ein Tun, das sehr oft ein nicht enden wollender Prozess bleibt. «Vaters Meer» von Deniz Utlu ist ein ganz eigenes, in Liebe getauchtes Vaterbuch.

Vaterbücher, Bücher, mit denen man sich loszusagen versucht von gewalttätigen Vätern oder einnehmenden Müttern. Bücher, die in der Auseinandersetzung mit sich selbst Väter und Mütter spiegeln, nicht nur dann, wenn man selbst Mutter oder Vater wird, aber ganz bestimmt dann, wenn man im Spiegel die Züge seiner Eltern sieht, wenn man mit dem Sterben und dem Tod konfrontiert wird und mit Schrecken feststellt, das die Vertreibung aus dem Paradies allgegenwärtig ist.

Deniz Utlu schrieb mit seinem Roman „Vaters Meer“ ein sehr bewegendes Vaterbuch, einen mosaikartigen Erinnerungsteppich über ein Leben, dass sich mit den vielfältigsten Formen der Trennung und des Schmerzes auseinanderzusetzt, aber ohne je in Rührseligkeit zu verfallen. „Vaters Meer“ ist die Hommage an eine Liebe, das Erinnern an einen langen Abschied, das Nachspüren dessen, was geblieben ist.

«Eine Erinnerung ruft die nächste. Wo ich eine Wüste erwarte, stosse ich auf ein Meer.»

Deniz Utlu «Vaters Meer», Suhrkamp, 2023, 384 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-518-43144-3

Schon in seinen ersten beiden Romanen, „Die Ungehaltenen“ (2014) und „Gegen Morgen“, waren Vatererinnerungen Thema. Aber in seinem aktuellen Roman wird die Vaterfigur, sein Schicksal, seine Krankheit, seine Sprachlosigkeit, sein Tod zu einem Tor ins eigene Leben. Deniz Utlu taucht in Vaters Meer, um die Inseln zu suchen, die ausmachen, was er war und ist.

Als Yanus (im Türkischen „Delfin“) dreizehn Jahre ist, erleidet sein Vater einen zweiten Schlaganfall, nachdem er sich eben erst schlecht und recht von einem ersten erholt hatte. Nachdem man ihn aus der Türkei zurück nach Deutschland geflogen hatte und die Ärzte nicht mehr von Heilung sprechen, nimmt ihn die Mutter des Erzählers nach Hause. Der Vater ist vollständig gelähmt und kann seiner Umgebung nur noch mit den Augen zeigen, dass in der erlahmten Hülle einer liegt, der am Leben teilhaben will. Vaters Blinzeln wird zur Augensprache. Auch wenn das Schicksal des Vaters ein Schweres war, Deniz Utlu spricht vom «Fallen», von einem Erdbeben, obwohl die Schlaganfälle des Vaters sowohl die Mutter wie den Sohn zurückbanden, sie mehr oder weniger isolierten, der Sohn eine Rolle einnehmen musste, die ungefragt über ihn hereinbrach, ist in dem Buch kein Funke Verbitterung oder Anklage zu lesen.

«Der erste Satz, den er mit den Augen sprach: Ödlum sandım. Mutter und Selma atmeten auf, sie hatten die Verbindung zu meinem Vater wiederhergestellt. Sein erster Satz lautete: Ich dachte, ich sei tot.»

In einem opulenten Teppich aus Erinnerungen und Reflexionen, Spiegelungen und Binnengeschichten erzählt Deniz Utlu die Geschichte eines Auswanderers, eines Heimatlosen, eines Mannes zwischen den Welten, von jemandem, der nach dem Glück in Deutschland suchte, aber stets arabisch fluchte. Von der elterlichen Liebesgeschichte, einer Kindheit zwischen den Kulturen. Von einer beinahe märchenhaften Kindheit seines Vaters in der Wüste Mesopotamiens, ein Blick, der jenem übers Meer ganz ähnlich erscheint. Von den Momenten unsäglicher Nähe, wenn sich der Vater zu ihm legte und Geschichten erzählte. Deniz Utlus Schreiben ist gleichsam Nachspüren wie die Suche nach sich selbst. Was trägt man an Geschichten mit sich? Was formt? Was zieht und was stösst?

Deniz Utlus Roman, der alles andere ist als eine chronologisch erzählte Vater- und Familiengeschichte, ist ein Meer aus Sprache und Verdichtung, aus Erinnerungen und Geschichten, aus Reflexionen darüber, was einem ausmacht. Ein grossartiges, herzerwärmendes Buch!

«Wenn ein Mensch stirbt, verschwindet das Wasser nicht.»

Deniz Utlu liest und diskutiert an der BuchBasel 2023!

Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext heraus. Sein Debütroman «Die Ungehaltenen» erschien 2014 und wurde 2015 im Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert. Von 2017 bis 2019 schrieb er für den Tagesspiegel die Kolumne «Einträge ins Logbuch». 2019 erschien sein zweiter Roman «Gegen Morgen». Ausserdem hat er Theaterstücke, Lyrik und Essays verfasst (u. a. für FAZ, SZ, Tagesspiegel und Der Freitag). Er forscht am Deutschen Institut für Menschenrechte und veranstaltet am Maxim Gorki Theater die Literaturreihe «Prosa der Verhältnisse». Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Alfred-Döblin-Preis und dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Heike Steinweg

Maja Haderlap «Nachtfrauen», Suhrkamp

Nach dem Grossereignis „Engel des Vergessens“ musste man sich ein Jahrzehnt gedulden, bis Maja Haderlap erneut mit einem Roman auf der literarischen Bühne erscheint. Dass sich das neue Buch thematisch noch sehr vom Vorgänger unterscheidet, erstaunt nicht sehr, dafür umso mehr der Wille, sich sprachlich versöhnen zu wollen.

Maja Haderlaps Roman „Nachtfrauen“ ist vordergründig eine Auseinandersetzung mit einer alt gewordenen Mutter, dem Umstand, dass diese in absehbarer Zukunft in ein Altenheim umziehen muss, ein Schritt, den weder Mutter noch Tochter von sich aus initiieren würden. Maja Haderlap beschreibt eine Frau, die aus Wien für ein paar Wochen in ihre alte Heimat zurückkehren soll, um das zu beschleunigen, was ihr Bruder Stanko und Verwandte bereits ins Rollen brachten. Eine Frau, die widerwillig zurückkehrt, schon gar nicht auf unbestimmte Zeit, weil es ihr damals nur unter Aufbietung aller vorhandenen Kräfte gelang, sich aus der Umklammerung einer Gegend zu lösen, die schon mehr als ein Jahrhundert unter dem inneren und äusseren Kampf zweier „Volksgruppen“, dem slowenisch und deutsch sprechenden Südkärnten gefangen ist. Aus dem Gefühl, sich permanent für eine „Seite“ entscheiden zu müssen. Aus der Urschuld einer Familie, die mit dem frühen Tod des Ernährers den Boden unter den Füssen verlor.

«Das Dorf liess nicht von ihr ab. Es klammerte sich regelrecht an sie.»

Maja Haderlap «Nachtfrauen», Suhrkamp, 2023, 294 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-518-43133-7

Sie kommt widerwillig zurück ins Haus ihrer Mutter, das dem Fortschritt weichen soll. In ein Haus, das mit jedem Winkel Geschichten erzählt, in eine Gegend, einen Ort, eine Landschaft, von der sie glaubte, sich endgültig abnabeln zu müssen, um frei atmen zu können. Aber kaum zurück, schluckt sie die Vergangenheit. Nicht zuletzt das nie überwundene Gefühl, am Tod ihres Vaters Schuld zu sein. Damals, sie war noch ein Kind, brachte sie ihm das Essen in den Wald, rief seinen Namen, und genau in diesem Moment wurde dieser von einem fallenden Baum erschlagen. Nicht das tödliche Ereignis im Wald, sondern die Reaktionen im Ort, die Hilflosigkeit der Mutter, die Einsamkeit des Kindes vervielfachten die Katastrophe, das lange Leiden, das Unausgesprochene zwischen Mutter und Tochter.

«Der slowenische Dialekt war das Tor, durch das sie eine abgeschlossene, scheinbar zurückgelassene Welt betrat, die von Menschen bevölkert wurde, von Lebenden und Toten, die etwas von ihr wollten.»

Sie begegnet Jurij, ihrer Jugendliebe und erliegt den Gefühlen, die damals gar keinen Platz hatten. Sie schreibt nichtssagende Nachrichten an Martin, ihren Mann in Wien. Nur wenn sie auf langen Spaziergängen um den Ort ihrer Kindheit und Jugend die Enge vergisst, scheint etwas von der Zuversicht aufzuflammen, jener Zuversicht, die es braucht, um sich aus dem Unausweichlichen zu schälen.

Maja Haderlaps „Nachtfrauen“ ist erstaunlich versöhnlich angesichts der noch immer gährenden Unversöhnlichkeit in der Gegend aus der sie kommt. Der Sprachenzwist, das gegenseitige Misstrauen zwischen den beiden Sprachgruppen, die Ängste und Traumata sind genauso unauslöschlich wie das Trauma der Tochter ihrem Vater gegenüber. Maja Haderlap gibt sich nicht in den Szenen versöhnlich, sondern in der Art des Erzählens. Im zweiten Teil des Romans wechselt Maja Haderlap die Perspektive, schildert aus der Sicht der Mutter. Auch wenn es nie zu einer wirklichen Aussöhnung, einer Versöhnung kommt; Ich als Leser beginne zu verstehen. Sie beide, Mutter und Tochter, sind gefangen. Emanzipation ist ein Prozess, kein Zustand. Leben ist ein permanenter Versuch des Ordnens und Einordnens.

«Es war ihr, als müsse sie tief unter dem Schutt und der Asche des Zweiten Weltkriegs nach etwas graben, was damals zerstört werden sollte und doch am Leben geblieben war.»

„Nachtfrauen“ ist der tiefe Blick in die verklebten Seelen zweier Frauen, die sich durch die Zwänge ihres Lebens winden. „Nachtfrauen“ besticht aber vor allem sprachlich. Selten erfrischten mich Natur- und Stimmungsbeschreibungen so sehr wie in diesem Roman, der sich durch eine hohe Musikalität auszeichnet. Man spürt dieses ganz besondere Verhältnis der Autorin zur Sprache, zweier Sprachen, die viel mehr sind als Instrument, als Mittel zum Zweck. Maja Haderlap spürt in Schichten, die dem oberflächlichen Betrachter verborgen bleiben.

«Sie sehnte sich danach, begnadigt zu werden.»

Was für ein Buch!

Maja Haderlap wurde in Bad Eisenkappel / Železna Kapla (Kärnten) geboren. Nach einem Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik war sie Lehrbeauftragte an der Universität Klagenfurt und lange Jahre Chefdramaturgin am Stadttheater Klagenfurt. Sie veröffentlichte Lyrik in slowenischer Sprache, ehe sie für einen Auszug aus ihrem Romandebüt «Engel des Vergessens» 2011 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Weitere renommierte Preise folgten, wie der Max Frisch-Preis 2018 oder der Christine Lavant Preis 2021.

Beitragsbild © Heike Steinweg

Andreas Maier «Heimat», Suhrkamp

Andreas Maiers Opus Magnum nennt er „Ortsumgehung“. In elf Bänden (die Anzahl sei rein willkürlich gewählt) kreist er um seine Herkunft, die Gegend, aus der er kommt, die Wetterau, nördlich von Frankfurt, um Deutschland nach dem letzten Weltkrieg bis in die Gegenwart – und in seinem neunten Band um das Thema „Heimat“.

Sonst sind es meist KrimiautorInnen, die Band um Band schreiben, deren Bücher auch im Regal als Einheit sichtbar sind, als wachse da zu Lebzeiten schon eine Gesamtausgabe. Aber Andreas Maiers Schreibe ist maximal entfernt von blosser Unterhaltung, auch wenn sie ein unendliches Geschichtenreservoir speisen würde. Andreas Maiers Romane erinnern an literarische Spaziergänge hinein in die Zeit, von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück, soweit zurück, wie das Leben des Autors dauert. Andreas Maier leuchtet die Zeit aus, erkundet mit den Augen seines ehemaligen Ichs die Zeit, die Menschen, Geschichte und Geschichten, die Farben, die sich änderten, das Licht, der Ton. Er lotet aus, stellt Fragen, spürt den Dingen nach, die die Menschen damals mit sich herumtrugen, sei es an der Oberfläche oder in den Tiefen der Verdrängung.

Schon allein die Tatsche, dass man sich mit dem Begriff „Heimat“ herumschlägt, einem Begriff, der von Kitsch bis rechter Gesinnung alles mit sich herumträgt, ist Risiko genug, baucht einiges an Mut. Andreas Maiers Buch ist die Erforschung, dieses Begriffs, eine bitter notwendige Auseinandersetzung mit einem „Gefühl“, dass in den Jahren staatlich brauner Gesinnung Teil der Seelenlandschaft war, in die man faschistische Gesinnung einbettete.

«Wir sind die Kinder der Schweigekinder.»

Andreas Maier «Die Heimat», Suhrkamp, 2023, 245 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-43115-3

Mehr als 20 Jahre nach Kriegsende geboren, wächst Andreas Maier in den 70ern in einem Deutschland auf, das nach einem verlorenen Krieg erst mal nichts zu tun haben wollte mit „Ausländern“. Die wenigen Ausländer in der Schule wurden behandelt wie Ausserirdische, mit aller verfügbaren Distanz. Worte wie Juden, Hitler oder Nazis waren aus dem Sprachgebrauch gelöscht. Man tat, als wär die Zeit schon immer so gewesen wie in den 70ern. Bis mit einem Mal das Leben in eine Schockstarre geriet, weil in den Stuben der Deutschen die us-amerikanische Miniserie „Holocaust“ über die Bildschirme flimmerte und dem kollektiven Schweigen mit einem Mal ein Ende setzte. Bis Söhne und Töchter zu fragen begannen und man eine Generation nach dem Krieg nicht mehr wegschweigen konnte, was einst tausend Jahre hätte dauern sollen. Juden gab es keine mehr und man hätte meinen können, es hätte sie nie gegeben.

„Die grösste metaphysische Unheilskraft ging von einem Mann aus, dessen Namen auszusprechen nicht möglich war. Ihn auszusprechen war in etwa so, wie sich an den eigenen Eltern oder der eigenen Grossmutter zu vergehen.“

In den 80ern waren es die ersten Austauschschüler, die man wie fremde Wesen in ein unbekanntes Land aussetzte. Man beschnupperte sich mit rudimentären Sprachkenntnissen und demonstrierte heile Welt. Fremdsprachen hiessen Fremdsprachen, weil sie einem bewiesen, wie fremd einem die Gattung Mensch sein konnte. Und weil nach der TV-Serie „Holocaust“ mit einem Mal Filme über Hitler wie Pilze aus dem modrigen Grund schossen, schlichen sich Gesten, Wörter und Verwünschungen zurück ins Gehabe der Zeit, die bezeugten, wie dünn die Membran zur verdrängten Vergangenheit war und ist. Erst als mit den langen Haaren und weiten Hosenstössen die RAF auftauchte und mit den Fotos auf Fahndungsplakaten die Urskepsis gegen Polizei, Politik und Verwaltung, als die DDR zu sterben begann und die Mauer fiel, weckte das scheinbare Durcheinander jene aus dem Dauerschlaf.

„Heimat war in dieser Epoche ein Unwort.“

1933 bis 45 stempelte man zum kollektiven Irrtum und was hinter den Grenzmauern zur DDR geschah zu einem misslungenen sozialistischen Versuch. Andreas Maier leuchtet bis in die Jahrtausendwende, als die Suche nach einem Zuhause auch die erneute Suche nach Heimat wurde.

Wenn ich Andreas Maiers Romane lese, die mit einer ungeheuren Leichtigkeit von der Schwere der Vergangenheit erzählen, staune ich über den Sog, den sein Roman „Die Heimat“ entwickelt. Ein Sog, der nicht mit der erzählten Geschichte entsteht, aber mit der überwältigenden Ehrlichkeit. Wer die Romane aus der Andreas Maiers Opus Magnum „Ortsumgehung“ liest, taucht in die Tiefen des Menschlichen.

Andreas Maier, 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren, studierte Philosophie und Germanistik, anschliessend Altphilologie. Die vielfach preisgekrönte Autor lebt zurzeit bei Frankfurt am Main.

Rezension zu «Die Familie» auf literaturblatt.ch

Rezension zu «Der Kreis» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild: Andreas Maier auf dem Erlanger Poetenfest 2019 (Wikipedia)

Dževad Karahasan «Einübung ins Schweben», Suhrkamp

Ein Mann, der hätte fliehen können, bleibt in der belagerten Stadt Sarajevo, weil er „zum ersten Mal die Gelegenheit habe, etwas länger in Grenzsituationen zu leben, um sein wirkliches Selbst kennenzulernen». Ausgerechnet in einer Stadt, in der andere verdammt zum blossen Überleben sind. „Einübung zum Schweben“ ist eine literarische Symphonie.

In Trauer um eine grosse europäische Stimme! 

Sarajevo im Frühling 1992; Peter Hurd, Dichter, Sprach- und Mythenforscher ist für eine Lesung in der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina eingeladen. Er wird begleitet von seinem einheimischen Übersetzer und Freund Rajko Šurup. Weil sich die Situation um die Stadt immer mehr zuspitzt und im März die ersten tödlichen Schüsse fallen, die Stadt am Beginn einer über vierjährigen Belagerung steht, heisst man den walisischen Gast, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Auch sein Freund drängt ihn. Aber Peter Hurd bleibt, glaubt, in eben diesem Moment die Stadt nicht verlassen zu können. Nicht weil er beabsichtigt zu helfen, sondern weil er die Erfahrung eines solchen Kriegs mitnehmen will, weil er das Existenzialistische einer solchen Situation miterleben will.

Peter Hurd quartiert sich zusammen mit seinem Freund im Haus von Rajkos Verwandten ein, unter dem gleichen Dach wie Mutter Ljuba und ihre fast erwachsene Tochter Sanja. Das Verhältnis der beiden Freunde ist das eines bewundernden Übersetzers und eines zerstreuten, sehr mit sich selbst beschäftigten Intellektuellen. Die immer grössere Not der Stadt sieht er als Experiment, jenem an sich selbst und jenem an den Menschen, die ihn umgeben. Schnell wird klar, dass der Krieg, die Belagerung, die Schüsse und Granaten immer und überall treffen können. Ob in einer Hochzeit, einer Beerdigung, in die Schlange vor der Bäckerei – überall trifft der Tod. Während sich die einen trotzig der Verrohung stellen, werden andere zu Nutzniessern. Während die einen verbissen versuchen, ihr Leben fortzusetzen, geben sich andere dem Fatalismus hin.

Dževad Karahasan «Einübung in Schweben», Suhrkamp, 2023, aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber, 304 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-518-43122-1

Genau diese gegensätzlichen Bilder scheinen Peter Hurd zu betören. Er stürzt sich förmlich in eine Stadt, in der der Tod wütet, in der das hervorbricht, was in „normalen“ Zeiten unter einer Decke aus Konventionen verborgen bleibt. Rajko protokolliert die Veränderungen an seinem Freund. Immer mehr schwindet die Begeisterung und Verehrung für einen Freund, dessen Kunst Rajko stets über alles bewunderte. Peter entzieht sich ihm immer mehr, taucht ab in einer Stadt, der man sich entweder ergibt oder alles daran setzt, sie zu verlassen. Peter bleibt. Aber dieses Bleiben ist ein ganz anderes als das derer, die die Stadt lieben, die dort seit Generationen leben, denen die Stadt Heimat ist.

Sarajevo, eine Stadt, in der die einen hungern und die anderen prassen, die im Sommer nach den ersten Schüssen zu kochen beginnt, in der Unschuldige von Scharfschützen niedergestreckt werden und Granaten Menschenansammlungen treffen, die einen verzweifeln, die anderen Geschäfte machen. Ausgerechnet hier beginnt Peter seinen existenzialistischen Tripp noch auszuweiten, von seinem mehr und mehr zweifelnden Freund unverstanden. Peter nimmt Drogen. Sie sind leicht zu beschaffen in einer Stadt, in der es ausgerechnet davon im Überfluss zu kaufen gibt. Peter gibt sich dem Ausnahmezustand völlig hin, ein Aggregatzustand, der auch andere mitzureissen drohst, nicht zuletzt die junge Sanja, mit der Peter eine Liebe ohne Zukunft beginnt.

„Einüben ins Schweben“ ist vieles; ein Roman über eine Freundschaft, die an der Zeit zu zerbrechen droht, über einen Mann, der sich in einem Zustand treiben lässt, der wie das Schweben in einem Zwischenraum hängt, über den Versuch einer Grenzerfahrung mitten in einer kriegerischen Belagerung, mitten im Sterben, mitten im Kampf ums blosse Überleben. Und „Einüben ins Schweben“ ist die Chronik einer nicht sterben wollenden Stadt, einer Stadt, die sich aufbäumt, die einer jahrelangen Belagerung trotzt, in der Menschen leben, obwohl der Tod sich an jeder Ecke zeigt.

Dževad Karahasan erzählt in starken, kraftvollen Bildern, die in ihrer Unbarmherzigkeit bis an die Schmerzgrenze gehen. Was Dževad Karahasan in seinem Buch „Tagebuch der Übersiedlung“ () nur in Andeutungen schilderte, ist in „Einübung zum Schweben“ unmittelbar. Ein vielfacher Schmerz in einer Sprache, die mit einer Leichtigkeit überzeugt, die in scharfem Kontrast zur Szenerie steht. Dževad Karahasan geht es aber nie um die blosse Schilderung von Elend, Gewalt und Verzweiflung. „Einübung zum Schweben“ ist voller Binnengeschichten über jene Menschen in Sarajevo, die geblieben sind, denen man ihre Stadt auch mit Bomben und Granaten nicht nehmen konnte. Ein Buch, das in der Gegenwart, mit den Bezügen zur Belagerung der Ukraine, dem trotzigen Überleben dort von schmerzhafter Aktualität ist.

Dževad Karahasan, 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Autoren der Gegenwart. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane, Essays, Erzählungen und Theaterstücke. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung 2004 und mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt 2020. Dževad Karahasan verstarb am 19. Mai 2023 im Alter von 70 Jahren in Graz.

Katharina Wolf-Griesshaber, geboren 1955, studierte Slavistik und Osteuropäische Geschichte in Heidelberg und Bochum. Sie lebt und arbeitet als freie Übersetzerin in Münster.

Beitragsbild © Suhrkamp Verlag

Die 45. Solothurner Literaturtage – Welten, die aufeinandertreffen!

Wie gut, dass es in Zeiten globaler Krisen Gelegenheiten wie die Solothurner Literaturtage gibt, die in konstruktiver Weise versuchen, vieles von dem zu spiegeln, was Grund genug gäbe, an den gegenwärtigen Tatsachen und ihrer Wirkungen zu verzweifeln. Wie noch nie strömten Besucherinnen und Besucher, als wäre jedem bewusst, wie schmal der Grat geworden ist.

Die Solothurner Literaturtage sind das Flaggschiff im nationalen Literaturbetrieb. Als solches von beachtlicher Grösse und mit viel Masse und Wasserverdrängung. Kein Wunder, wenn der eine Kapitän von Bord geht, dass es zuweilen vernünftig ist, diesen schweren Kahn unter eine furchtlose Doppelleitung zu stellen. Nathalie Widmer und Rico Engesser, beide noch lange nicht so alt wie das Festival selbst, müssen bestehen im Spagat zwischen den Erwartungen jener, die Tradition und Beständigkeit hochhalten und anderen, die dem in die Jahre gekommenen Schiff am liebsten mehr als nur neue Segel setzen wollen. 

Aber ganz offensichtlich goutiert man der neuen Leitung den guten Mix zwischen modernem Gesicht und reifer Haltung. Schon am ersten Tag wurden die Veranstaltungen förmlich überrannt. Lange Schlangen bildeten sich vor den Eingängen und Interessierte mussten freundlich weggewiesen werden, weil jeder mögliche Sitzplatz besetzt war. Der Dichter und Schriftsteller Andreas Neeser meinte im Vorfeld seiner Lyriklesung, es würden sich wohl nur eine Handvoll Interessierter an seiner Lesung finden, weil gleichzeitig Kim de L’Horizon im grossen Landhaussaal las. Weit gefehlt. Klar, die Schlange vor dem Landhaussaal war überwältigend. Aber genauso jene, die sich vor dem Einlass zur Lesung von Andreas Neeser formierte. Und als der Dichter dann las, die Stimmung von raunender Erwartung in andächtige Stille überging, war das Sprachglück fast mit Händen zu greifen. So wie sich Neesers Gedichte den Konventionen entziehen, ohne mich zu brüskieren, so schafft es das Festival immer wieder zwischen Tradition und Zeitgeist Brücken zu schlagen.

Das Festival zählt 45 Lenze. Ich mag den neuen Anstrich, die motivierte Crew und die zurückhaltenden Steuerleute, die das «Festivalgeschäft» schon jahrzehntelang kennen und es bestens verstehen, die verschiedensten Strömungen unter die gleiche Takelage zu bringen.
So wie beispielhaft die 25jährige Newcomerin Mina Hava mit ihrem Debütroman «Für Seka» und der 80jährige Routinier, das literarisches Urgestein Christian Haller mit seiner Novelle «Sich lichtende Nebel».

Mina Hava bei ihrer Lesung in der SRF-Sendung «Kultur-Talk» in der Cantina del Vino

Mina Hava schrieb sich mit ihrem Roman «Für Seka» in eine tiefe Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft Bosnien, dem Ort Omarska, der es im Krieg in den 90er Jahren nie in ein kollektives Bewusstsein schaffte, obwohl die Gräuel, die der Krieg in und um jenes Gefangenenlager anrichtete eine Wunde klaffen lässt, die bis heute weit weg von einer historischen Aufarbeitung steht. Was damals in Srebrenica vor den Augen der Weltöffentlichkeit geschah, ritzte sich ins kollektive Bewusstsein. Was in Omarska passierte, begegnete selbst der Autorin, deren Familie ganz in der Nähe lebt, erst im Laufe ihrer Recherchen zu ihrer Herkunft. Omarska, ein Konzentrationslager damals, noch heute eine Mine, in der gnadenlos ausgenutzt wird, was Menschenkraft und Natur hergibt. Omarska, ein Schreckensort ohne Denkmal, wo man alles andere als interessiert ist, die Leichen in Massengräbern mit ihren Geschichten zu Tage zu bringen.
«Für Seka» ist nicht einfach Geschichte, die erzählt wird, sondern ein literarischer Zettelkasten genau jener Recherchen, mit denen Mina Hava in Rückblenden in verschiedene Vergangenheiten taucht. Auch eine Auseinandersetzung zwischen Bosnien und der Schweiz, ihre eigenen Geschichte, die sich in der Schweiz nicht «abgebildet» findet. Einmal mehr auch eine Auseinandersetzung mit dem verklärten Begriff der «Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen».

nach seiner Lesung im voll besetzten Landhaussaal beim Signieren seiner Bücher

Oder Christian Haller, der heuer seinen 80. Geburtstag feierte und längst zu den ganz Grossen der Schweizer Literatur gehört. Ob als Romancier, Lyriker oder mit seiner kantigen Art auch als Essayist –  er mischt sich in aktuelle gesellschaftliche Fragen, in seinem neusten Essay «Blitzgewitter», wie weit digitale Medien unser Leben nachhaltig verändern.
Auch sein neuestes Buch, die Novelle «Sich lichtende Nebel» beschäftig sich mit der Wahrnehmung, dem Irritierenden. «Es kann nur existieren, wofür es Wörter, eine Sprache gibt.» Eine Geschichte darüber, wie eine Banalität einer weltbewegenden Idee die Initialzündung gibt. Christian Haller lässt Figuren auftreten, deren Biographien sich durch Handlungen und Ideen ineinander verschränken. Nach zwei Trilogien, die sich mit seiner Herkunft, seinem eigenen Leben auseinandersetzten, war der Stoff um Heisenberg und seine Quantenphysik wie eine neue, noch unbesetzte Keimzelle, die zur Novelle wurde. Eine Novelle, die viel mehr will als das Verbildlichen einer komplexen physikalischen Fragestellung. «Sich lichtende Nebel» ist eine Liebesgeschichte, nicht zuletzt eine zur Liebe des Sehens, des Erkennens.

Mina Hava und Christian Haller stellen Fragen, Schicht für Schicht. Die beiden Bücher repräsentieren das Suchen nach Antworten. Beide in reifer Distanz und doch so verschieden in der Überzeugung, was Erzählen bewirken soll. Sie bricht auf – er ordnet.