53. Rauriser Literaturtage April 2024 – ein Bücherfest der Extraklasse!

Das Rauristal, eine Bahnstunde südlich von Salzburg, ist zwischen Ski- und Wandersaison ein stilles Tal. Und manch eine Lokalität ist für immer verrammelt, es wächst Gras aus den Parkplätzen, weil man einst von Grossem träumte. Das Rauristal ist ein geschlossenes Tal, ein Tal ohne Durchgangsverkehr, ein Sackgasstal. Aber ganz bestimmt nicht in jener Vorfrühlingswoche, in der jeweils die Rauriser Literaturtage stattfinden, in denen Winde aus nah und fern durchs Tal wehen, in denen sich das Tal auftut, der Horizont selbst dann aufbricht, wenn man sich in geschlossenen Räumen aufhält.

Als die Rauriser Literaturtage vor 53 Jahren gegründet wurden, waren Festivals wie dieses alles andere als selbstverständlich. Aber das Publikum schien begierig darauf gewartet zu haben. Und weil bei seiner ersten Durchführung 1971 schon Thomas Bernhard Gast an den Rauriser Literaturtagen war, im Jahr zuvor als Georg-Büchner-Preisträger gekürt, begann ein Festival zu strahlen, das bis heute nichts von seinem Glanz eingebüst hat, ganz im Gegenteil. Rauris ist mit seinen Literaturtagen gewachsen und das Festival im Rauristal.

Seit ein paar Jahren geben sich die Literaturtage ein Thema, heuer „Geschichten vom Zusammenleben“. Ein Thema, das sich angesichts der Probleme und Miseren, die sich uns stellen, mehr als aufdrängt. Ein Thema, das von der Literatur vielfach intensiv beackert wird. Ein Thema, mit dem die Literatur in Tiefen zu leuchten vermag, die sich den Überdrüssigen verschliessen. Texte stellen sich einem Publikum und stellen das Publikum. Sie beantworten keine Fragen, offenbaren keine Lösungen. Aber Literatur stellt präzise Fragen, deckt auf, entschlüsselt, sucht Form, wo sonst pure Sprachlosigkeit grassiert.

Matthias Gruber ist ein Roman gelungen, der, wohl der Grund seines Erzählens, auf einer großen Empathie seinen Figuren gegenüber aufbaut und an bedeutende Genres der Literatur anschliesst: das Märchen, die Fabel, die Legende. Er bringt diese Urformen des Erzählens so geschickt, leichthändig und verwandelt ins literarische Spiel mit sozialen Medien, gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen der heutigen Zeit ein, dass man über den ästhetischen Gewinn der Lektüre nur staunen kann. Dieses Buch wirft einen neuen Blick auf das Leben und was es sein kann.“ Jurybegründung zum Rauriser Literaturpreis 2024 für Matthias Grubers Debüt „Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“.

Mobilmachung“ von Margit Schreiner: Ein Fötus und Säugling, der zu verstehen sucht und sich mit jeder Frage Stück für Stück emanzipiert, auch wenn dieser weiss, dass die Erwachsenen damit nicht allzu sehr überfordert werden dürfen. Nichts ist heilig, schon gar nicht die Religion, nicht einmal die Muttermilch. Man liest „Mobilmachung“ mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und Betroffenheit, witziger Unterhaltung und demaskierender Verwunderung. Eine „Nestbeschmutzung“ der besonderen Art, eine „Publikumsbeschimpfung“ in bester österreichischer Tradition.

Amir Gudarzi auf der Heimalm in Zusammenarbeit mit dem Literaturforum Leselampe, Moderation: Magdalena Stieb

In seinem Debüt „Das Ende ist nah“ beschreibt Amir Gudarzi die Geschichte von A., mit Sicherheit seine Geschichte, aber damit viel mehr. Nämlich die Geschichte aller Geflohener, Heimatloser, Entwurzelter, Vertriebener und Verlorener. Die Geschichten jener, denen man überall begegnet; auf Bahnhöfen, in Parks, auf Plätzen mitten in der Stadt, irgendwo abgeschoben auf dem Land, am Strassenrand, auf einer Bank, ins Warten und Nichtstun verbannt, der Willkür von Bürokratie und Fremdenhass ausgesetzt. Ob in Österreich, in der Schweiz oder in Deutschland, wir lieben die Geschichten jener, die es geschafft haben. Das Vielfache jener, die es nicht schafften, versenken wir erfolgreich im grossen Vergessen.

Gianna Molinari im Gespräch mit StudentInnen der Universität Klagenfurt

Gianna Molinaris Roman „Hinter der Hecke die Welt“ erzählt nur rudimentär eine Geschichte. An einem Plott ist die Autorin nicht interessiert. Gianna Molinari schreibt wie die Arktisforscherin Proben aus den Sedimenten zieht. Sie liest aus den Veränderungen der Zeit. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein zweihundertseitenlanger Versuch, die Schichten der Veränderungen zu lesen. Das Vergnügen der Interpretation liegt ganz bei den LeserInnen. Ein faszinierender Leseprozess, ein Lesevergnügen der besonderen Art, wie schon in ihrem Debüt. Und doch ist der Roman weit mehr als ein sprachliches Fabulieren. Gianna Molinari zeichnet Skizzen, nicht nur sprachlich, zwischendurch gar bildhaft. Aber ihre Zeichnungen illustrieren nicht, genauso wie ihr Erzählen. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein schillerndes Porträt des Gegenwärtigen. Eine romanlange Aufforderung nachzudenken, ein literarisches Forschen in den Sedimenten des Lebens.

Sabine Gruber beschreibt in «Die Dauer der Liebe» eine Frau, die in den Ungewissheiten und dem Wegbrechen aller Sicherheiten den Halt im Leben zu verlieren droht, die mit Verzweiflung nach Gewissheiten sucht, irgendwann sogar in ein Auto steigt, um nach dem nachzuforschen, was sich in ihrem Geist zu Ungeheuerlichkeiten auftürmt. Sie schreibt von einer Frau, die ihr Leben neu kartographieren muss. Ein feinfühliger Roman, der nie in Sentimentalität wegbricht. Ein leidenschaftlicher Roman über die Macht der Liebe, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und den drohenden Verlust aller Gewissheiten.

Jan Wagner zusammen mit StudentInnen der Universität Wien

Jan Wagner las aus seinem Gedichtband „Steine & Erden“ über das Kleine, das Unscheinbare, auch das Abseitige, Fallen-Gelassene, Periphere. Jan Wagner greift auf, verfremdet und erzählt dadurch Grosses über Welt und Gesellschaft, über Politisches und Kulturelles, nicht zuletzt über Wahrheit und Schönheit. Aber so schön sie oft sind, seine Klangwunder und Sprachspiele – sie sind nicht stromlinienförmig, idyllisch oder gefällig. Unter der glatten Oberfäche blitzt immer auch etwas Verstörendes, Bissiges, Finsteres auf. Und: sein virtuoses Spiel mit der Sprache hat immer auch einen Gegenpart, nämlich die strenge Form.

Robert Prosser zusammen mit Lan Sticker bei einer Rauriser Hauslesung

Robert Prossers „Verschwinden in Lawinen“ ist viel mehr als ein Lawinenroman. Das deutet schon der Infinitiv im Titel an. Lawinen sind vielfältig. Es gibt jene aus Schnee und Steinmassen, aus Schlamm und Geschiebe. Aber es gibt auch jene, die Leben unsichtbar verschütten, die Menschen niederdrücken, Menschen nicht entfliehen lassen. Robert Prossers Sprache ist stark, ihr Klang so archaisch wie das Licht, die Konturen der Berge, die Kälte; und so direkt, wie die Schilderungen einer Schlachtung im Dorf, als der Protagonist bereits weiss, dass irgendwo da oben ein noch nicht erwachsener Bursche einen langen Kampf ums Überleben auszustehen hat. Robert Prossers Schreiben folgt nicht dem Countdown um Leben und Tod, sondern den Verletzungen der vielfach Verschütteten, dem Verschwinden in Lawinen. Beeindruckend und nachhal(l)tig!

Milena Michiko Flašar im Gespräch mit Festival-Co-Leiter Manfred Mittermayer
Milena Michiko Flašar im Gespräch mit Festival-Co-Leiter Manfred Mittermayer

Milena Michiko Flašar reisst in „Oben Erde, unten Himmel“ eine Tür auf, eine Tür, hinter der es stinkt, hinter der sich Fliegen und anderes Krabbelgetier über jene Säfte hermachen, die übrigbleiben, wenn Tote liegenbleiben. Die Autorin zelebriert aber weder den Schrecken noch die Abscheu. „Oben Erde, unten Himmel“ erzählt von jenem Dazwischen, vor dem wir allzu gerne die Augen verschliessen. Die Autorin beschreibt mit grosser Nähe und aller verfügbaren Liebe für menschliche Eigenheiten, derart liebevoll, dass man das Buch nach der Lektüre nur ungern zur Seite legt. Gleichzeitig konfrontiert sie nicht nur ihr Personal, sondern auch mich als Leser mit Fragen rund ums Sterben. Warum es in einer Welt, in der man von Dichtestresse spricht, immer mehr Menschen gibt, die sich in ihrer Einsamkeit verlieren und keinen Weg mehr herausfinden.

Das sind nur einige wenige Höhepunkte. Ich danke den OrganisatorInnen, dem grossen Team für ein äusserst gelungenes Festival!

Beitragsbilder © David Sailer IMAGES

20 Jahre Lyrik-Feinkost in Basel

Das Internationale Lyrikfestival Basel feierte die 20. Jubiläumsausgabe nicht mit Pauken und Trompeten, dafür mit sprachlichen Leckerbissen, die beweisen, das sich Lyrik längst nicht mehr in die Ecke der schöngeistigen Verzückung drängen lässt.

Schonungslos ehrlich und politisch, experimentierfreudig, direkt und eigensinnig, wild musikalisch, analytisch und leidenschaftlich – wie vielfältig, kräftig und authentisch Lyrik sein kann, das bewies das diesjährige Lyrikfestival Basel eindrücklich und äusserst professionell. Sich für eine Kunstform derart ins Zeug zu legen, vor der sich andere VeranstalterInnen aus Angst vor möglichem Desinteresse mit Bedauern aus der Affäre ziehen, gebührt Hochachtung und inniger Dank. Aber weil das Organisationskomitee aus der „Basler Lyrikgruppe“ besteht, einem lebendigen Haufen Dichterinnen und Dichtern, wird das jährlich stattfindende Festival nicht einfach eine Bühne, sondern lebendige Auseinandersetzung mit den verschiedensten Ausdrucksformen von Lyrik. Alisha Stöcklin, Ariane von Graffenried, Simone Lappert, Claudia Gabler, Wolfram Malte Fues und Rudolf Bussmann zusammen mit all jenen, die sich in der Vergangenheit um das Festival bemühten, feierten mit den Stimmen aller PreisträgerInnen des Basler Lyrikpreises die Sprache und zwei Jahrzehnte Abenteuer.

Rike Scheffler arbeitet transdisziplinär in Gebieten der Lyrik, Performance, Installation und Musik. Ihr neuer Gedichtband «Lava. Rituale» (2023) erkundet zärtliche, spekulative Seinsweisen artenübergreifender Allianz und Kollaboration mit mehr-als-menschlichen Agent*innen und KI.

Aus dem diesjährig Dargebotenen Höhepunkte herauszuheben ist schwierig und in meinem Fall höchst subjektiv. Da waren die leidenschaftlichen, zuweilen heiteren Texte von Dinçer Güçyeter, die eindringliche Performance von Rike Scheffler, der Tripp ins Dunkle mit Martin Piekar, die Entdeckung einer neuen Stimme, jener der diesjährigen Preisträgerin Carla Creda, das musikalische Aufstöbern von Störefrieden mit Airane von Graffenried und Robert Aeberhard, die tiefsinnige Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe von Steinunn Sigurðardóttir, Marion Poschmann und Daniel Falb und die witzige Begegnung der Performerinnen Nora Gommringer und Augusta Laar.

Dinçer Güçyeter ist ein deutscher Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger. Güçyeter wuchs als Sohn eines Kneipiers und einer Angestellten auf. Er machte einen Realschulabschluss an einer Abendschule. Von 1996 bis 2000 absolvierte er eine Ausbildung als Werkzeugmechaniker. Zwischenzeitlich war er als Gastronom tätig. Im Jahr 2012 gründete Güçyeter den ELIF Verlag mit dem Programmschwerpunkt Lyrik. Seinen Verlag finanziert Güçyeter bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. 2017 erschien «Aus Glut geschnitzt» und 2021 «Mein Prinz, ich bin das Ghetto». 2022 erhielt Güçyeter den Peter-Huchel-Preis. Sein Roman «Unser Deutschlandmärchen» wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Dinçer Güçyeter im Gespräch Henri-Michel Yéré

Verändert sich auch das Klima in den Künsten, in der Literatur, in den Gedichten? Wie anders, ist doch die Dichtung immer mehr der Seismograph dessen, was Menschen umtreibt. Für die isländische Dichterin und Schriftstellerin Steinunn Sigurðardóttir sind die klimatischen Veränderungen nicht bloss sichtbar, sie werden zur ganz direkten Bedrohung.

 

Geröllberg

Der gletscher, ewig
aber doch aus vergänglichem stoff, kam ans licht.
Aus wasser und lebenden farben.

                      ***

Der Zerbrechliche zerspringt 
in tausend teile

wird zu dem wasser aus dem er gekommen.

Das war nicht unumgänglich. Doch wir
gleichgültigen ehrlosen heizten an,
liessen taten … auf taten folgen …

                      ***

Vatnajökull vom wasser genommen.

(aus «Nachtdämmern» von Steinunn Sigurdardóttir, Dörlemann, 2022, aus dem Isländischen von Kristof Magnusson)

Daniel Falb ist Dichter und Theoretiker. Er lebt und arbeitet in Berlin, wo er Philosophie studierte und mit einer Arbeit zum Begriff der Kollektivität promovierte. Er veröffentlichte fünf Gedichtbände, zuletzt «Deutschland. Ein Weltmärchen (in leichter Sprache)» (2023). Marion Poschmann (live zugeschaltet, weil die DB Reispläne verunmöglichte), lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Lyrik und Prosa, darunter den Peter-Huchel-Preis 2011, den ersten Deutschen Preis für Nature Writing 2017 sowie den Joseph-Breitbach-Preis 2023. Steinunn Sigurðardóttir, geboren in Reykjavik, studierte Psychologie und Philosophie am University College Dublin. Sie arbeitete als Radio- und Fernsehjournalistin und veröffentlichte mehrere Gedichtbände und Romane. «Der Zeitdieb» wurde in Frankreich mit Emmanuelle Béart und Sandrine Bonnaire verfilmt. Auf Deutsch erschien zuletzt «Nachtdämmern», eine Elegie über den sterbenden Grossgletscher Vatnajökull in Südostisland. Im Gespräch mit Alisha Stöcklin

Der Vatnajökull, der grösste Gletscher Islands und ausserhalb des Polargebiets der grösste Gletscher Europas, schmilzt. Damit wandelt sich Island, das zu 10 % von Gletschern bedeckt ist, nicht bloss zu einer Geröllinsel. Die riesigen Gletscher Islands besänftigen noch die «bösen» Vulkane, die unter der malerischen Oberfläche schlummern. Steinunn Sigurðardóttirs Dichtung im Band «Nachtdämmern» richtet sich ganz direkt gegen Ignoranz und Verdrängung. Dichtung reagiert, ganz im Gegenteil zu einem Grossteil der Gesellschaft, die munter weiteragiert, als wäre die Zukunft so einfach die Fortsetzung der Vergangenheit. Wissenschaft und Kultur sind sich in einem breiten Spektrum aktiv und sehr intensiv dessen bewusst, was die menschlichen Eingriffe an globalen Veränderungen mit sich bringen. Kein Wunder, dass jene Kunst, die um Worte, Sätze, Formulierungen ringt, nach Klärung und vielleicht sogar Erklärung Niederschlag findet, was an Ängsten und Befürchtungen aus der Suppe unleugbarer Fakten steigt.

Ariane von Graffenried ist Schriftstellerin und promovierte Theaterwissenschaftlerin. Sie ist Mitglied der Autor*innengruppe Bern ist überall und tritt als Spoken-Word-Performerin im Duo Fitzgerald & Rimini auf. 2017 erschien ihr Buch «Babylon Park», 2019 folgte «50 Hertz», eine CD mit Gedichtband. Für ihre Texte wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Warum fällt es uns so schwer, in grossen Zusammenhängen und Räumen zu denken, geschweige denn zu leben? Horizonte gehen auf, das Raumschiff Erde ist ein in sich geschlossenes Ökosystem. In der Literatur, in der wie in keiner anderen Kunstform das eigene Ich verlassen werden kann, verschieben sich Perspektiven. Das zeigt auch Marion Poschmann in ihrer Dichtung. Sie fordert eine «Romantisierung». Keine Verklärung, Beschönigung oder Idylle, sondern eine revolutionäre Bewegung als Gegenkraft zur rationalen Vernunft, eine Besinnung auf das «Einzigartige», als letzter Akt gegen all das Zerstörerische.

Schon der Begriff «Klimawandel» beschönigt die rollende Katastrophe. So wie unsere Gesellschaft noch immer nach Worten ringt, um den Dingen Kontur zu geben, tut es die Kunst. Dichtung ist gefundene Sprache.

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Fotos © Samuel Bramley

Die Laudatio zum Basler Lyrikpreis 2024 an Carla Cerda – von Rudolf Bussmann

Auf dem Titelblatt von Carla Cerdas letztem Gedichtband Ausgleichsflächen stehen die Sätze: „Attention Readers! Dies ist ein Experiment der poetischen Kommunikation realer Ereignisse“. Der ironische Ruf nach Aufmerksamkeit kann auch als Warnung aufgefasst werden: Wer zu lesen beginnt, soll sich. vorsehen. Was hat es damit auf sich? Worauf muss, darf man gefasst sein, wenn man sich aufmacht, in Carla Cerdas Sprachwelt einzudringen? Allgemein gesprochen darauf, dass in den Gedichten das herkömmliche Verständnis von Realität und Fiktion erweitert und in kühner Weise neu bestimmt wird. Wenn wir im Folgenden nach einer etwas genaueren Antwort suchen, können uns zwei Textpassagen behilflich sein, die wir näher heranzoomen wollen.

Zwei Gedichtbände hat Carla Cerda bis jetzt veröffentlicht, Loops 2020 und Ausgleichsflächen 2023, beide sind in der Reihe roughbooks bei Urs Engeler erschienen. Die schmalen Büchlein enthalten je rund fünfzig Gedichte, gegliedert in fünf resp. sechs Gedichtzyklen, denen manchmal ein Intro vorangestellt ist. Eines davon haben wir gerade kennen gelernt.

Zoom eins

Es führt zum ersten Zyklus von Ausgleichsflächen, worin von einer Mutter und ihrem Kind die Rede ist. Die beiden sind mit einem Spiel beschäftig. Weiter anwesend sind ein Mann und eine Box mit einem Käfer drin. Wobei diese als anwesend zu bezeichnen ziemlich gewagt ist. Beim Mann handelt es sich – Attention readers! – um einen Chatbot, also um ein Computerprogramm, das menschliche Konversation simuliert. Der Kantbot, wie er im Gedicht genannt wird, schreibt gerade an einer wissenschaftlichen Abhandlung, einem Text, der vor über 200 Jahren verfasst wurde. Es ist ein posthum erschienenes Manuskript von Immanuel Kant. Den Philosophen beschäftigt darin unter anderem die Frage nach dem leeren Raum, in dem, obwohl er leer ist, dennoch physikalische Gesetze wirken, etwa das der Gravitation. Dass Carla Cerda gewisse von Kants Formulierungen in ihren Zusammenhang aufgenommen hat, ist kein Zufall. Sie holt Kant gleichsam als Vater an den Tisch zu Mutter und Kind, weil sie bei ihm vorgedacht findet, was sie heute beschäftigt.

und der Kantbot ist jetzt auf Seite 20, Convolut XI
angekommen, wo „die Gravitationsanziehung
dynamisch durch den leeren Raum –
obzwar kein solcher da ist“ 

Hinter Kants wunderbar lapidaren Feststellung von der Existenz des gedachten leeren Raums, der gar keiner ist, verbergen sich Grundfragen nicht nur der Physik, sondern auch der Literatur: In welchem Verhältnis steht, was ich lesend vor mir habe, zu meiner Erfahrungswelt? Wer bestimmt seinen Wirklichkeitsstatus? Welche Realität kommt einer Box mit einem Käfer zu, wenn sie in einem Gedicht auftaucht? Und: ist die Box weniger präsent, wenn das Gedicht sie mit den Worten einführt:

„ein Käfer in einer Box und die Box ist weg“ 

Die Dichterin weiss, dass mir die Box gegenwärtig bleibt, auch wenn sie diese im Gedicht zum Verschwinden bringt. Der Zyklus heisst „Bootstrap“. Bootstrapping benennt in der Computersprache einen Vorgang, der aus einem einfachen Programm ein komplexeres generiert. Ich habe aus dem Wort Box mittels der Formel „ist weg“ eine Vorstellung generiert, in der zwei Boxen£existieren, eine, die es gibt, und eine, die es nicht gibt, und beide meinen dieselbe.

Das erste Gedicht des Zyklus, aus dem die zitierte Zeile stammt, ist von denkbarer Schlichtheit. Dennoch fallen wir von einem Bootstrap in den anderen, von einer Falle – Trap – in die nächste. „spielen wir ein Spiel“, heisst der erste Satz. Wer spricht da zu wem? Die Mutter spricht zum Kind. Oder spricht die Ich-Erzählerin zu uns, den Lesenden? Es bleibt offen, der einfache Satz generiert zwei mögliche Bezugsfelder, die unaufgelöst nebeneinander stehen bleiben. Darauf folgt eine Aufzählung des Spielmaterials. Unter anderem wird auch das Kind vorgestellt, und zwar folgendermassen:

„das Kind, sowie es aufhört, nicht zu sprechen“

Das Kind scheint nur anwesend und für das Spiel brauchbar zu sein, wenn es sein Schweigen bricht und zu sprechen beginnt. Sein Reden macht es präsent, oder anders gesagt, seine Anwesenheit verdankt es dem Wort. Genau wie die Box, die da ist, weil sie genannt wurde.

Es gibt eine zweite bemerkenswerte Aussage über das Kind, sie ist in Klammern beigefügt:

„das Kind, sowie es aufhört, nicht zu sprechen (in etwa du)“

„in etwa du“ könnte zum Kind gesprochen sein, es würde dann bedeuten: Im Gedicht kommt ein Kind vor wie du eines bist, mein Schatz. Die Ich-Erzählerin spricht als Mutter zum Kind. Auch die Lesenden können sich mit dem Du gemeint fühlen. „in etwa du“ hiesse: so wie du, wenn du zum Kind wirst. Es sei denn, der Zusatz beziehe sich nicht auf eine Person, sondern auf die Sprache und meine ganz einfach nur das Personalpronomen selber, dem hier keine Person fest zugewiesen sei.
Ähnliches gilt für das Ich der Mutter. Wir, die Lesenden, tun gut daran, dieses Ich nicht ausschliesslich als Person, sondern ebenso als Pronomen anzusehen. Das mildert unseren Schreck, wenn das Ich auf einmal buchstäblich aus dem Text fällt:

„ich falle – ups – durch eine fiese Laufmasche im Satzgefüge.“

Verunglückt ist hier bloss das Pronomen, das drei Zeilen später munter wiederaufersteht und im Text weiterfährt.

Ein unspezifisches Sie, ein unspezifisches Du, eine Box, die nicht da ist, ein Philosoph als Chatbot – den erwähnten Textstellen ist gemeinsam, dass sie mehrere Bezugsebenen zur Verfügung halten, zwischen denen Lesende hin und her wechseln können und die untereinander agieren. Das gehört zum Spiel, zu dem uns die erste Zeile einlädt; zum Spiel, zu dem Carla Cerdas Bücher einladen. Die Autorin beherrscht es in all seinen Nuancen. Sie treibt es bis zum Irrwitz, bis zur Absurdität, behält die Spielfäden aber fest in der Hand.

Die 34-Jährige weiss mit Texten umzugehen, sie hat am Literaturinstitut Leipzig studiert. Sie hat ein Studium der Biologie und Ökologie hinter sich, kennt sich aus in der Welt der Wissenschaft. Und als Übersetzerin aus dem Spanischen und Englischen hat sie einen wunderbar leichten Umgang mit Sprachen. Ihre Spiellust kennt keine Grenzen. Das ist wörtlich gemeint. Sie geht über die Grenzen hinaus, die ein Gedicht in der Regel setzt, und bezieht nicht nur Wörter, Sätze, Zeilen mit ein, sondern auch die Druckseite selber.

Zoom zwei

Im Zyklus „Apophenia“ wird dem Lesepublikum ein mechanischer, durch Lochkarten gesteuerter Webstuhl vorgeführt. Die Gedichte sprechen diesmal ein Sie (in der Höflichkeitsform) an. Achtung, Personalpronomen! Wir Leser:innen werden uns hüten, uns vorschnell selber in das Sie hineinzudeuten. Wie recht wir mit unserer Vorsicht haben! Bringt der Text das „Sie“ doch in eine befremdliche Situation.

„fühlen Sie einmal hier unter der haut den stoff
die geschichte ihrer hm die geschichte des
programms das Sie hervorbrachte Ihre ganz
persönliche lochkarte sehen Sie? fühlen Sie?
merken Sie?“ 

Wir sind uns nicht sicher, was dem „Sie“ an dieser Stelle genau widerfährt. Aber wir haben verstanden, es geht um eine Lochkarte, „Ihre ganz / persönliche lochkarte sehen Sie? fühlen Sie? / merken Sie?“ Tatsächlich, wir fühlen die Lochkarte. Sie liegt in unserer Hand. Wir sehen, dass der Satzspiegel des aufgeschlagenen Gedichtbands eine Veränderung erfahren hat. Der Text ist vom Gedicht zur Lochkarte mutiert.
Gleichzeitig besteht er darauf, ein Gedicht zu sein. Die Lesenden haben die Wahl nicht nur zwischen verschiedenen Bedeutungen, sondern zwischen verschiedenen Erscheinungsweisen bedruckten Papiers. Wenn sie Lust haben, können sie die Lochkarte wahrnehmen und synchron dazu das Gedicht lesen. Das erhöht den Genuss, das hebt die Stimmung.

Vielleicht wäre für die Lektüre von Carla Cerdas Werk ein neuer Terminus einzuführen, das „synchrone Lesen“. Ihre Gedichte ermuntern dazu, verschiedene sich überlagernde Inhalte zusammenzudenken. Dies nicht im Sinne von Metaphern, die sich via Assoziation einstellen, sondern durch das Verflechten von Themen. So wechselt der Webrahmen-Zyklus von der Stoffproduktion zu anderen Kontexten, die mitgelesen werden können. Etwa zur literarischen Textproduktion. Und er führt, es liegt nahe, zur Bild- und Textproduktion des Internets. Es liegt nahe nicht nur deshalb, weil die Lochkarte der Vorgänger der Speichermedien Magnetband und Diskette ist. Sondern insbesondere deshalb, weil Carla Cerdas gesamtes lyrisches Schaffen mit dem Internet auf das engste verknüpft ist. Davon soll abschliessend die Rede sein.

Die Dichterin als DJ

Ein grosser Teil der in den Gedichten verarbeiteten Inhalte stammt aus der digitalen Welt. Sie sind raffiniert eingepasst und als solche nicht erkennbar, oder dann ganz offensichtlich im Copy/Paste-Verfahren übernommen. Sie gehören mit zu dem, was verhandelt wird, können es auch ergänzen, konterkarieren, ihm eine Alternative entgegenhalten.

Mitunter lässt sich ihr Weg von ihren Internetwurzeln bis in das Gedicht nachverfolgen. Etwa im Fall eines englischen Zitats aus der Finanzbranche, das ohne ersichtlichen Grund in den Webstuhl-Zyklus platzt. „trust me on this testimony everybody“, meldet sich mitten im zweiten Gedicht eine Stimme, um fortzufahren:

„I invested 900 and I withdrew 9000 it was like a dream come true” 

Vielleicht rühmt sich hier jemand, der gerade einen Deal mit Loom gemacht hat? Loom, das englische Wort für Webstuhl, bezeichnet auch eine Kryptowährung. Im Wort Loom bündeln sich zwei Welten, die des Webens und die des Spekulierens. Diese Nachbarschaft macht sich Carla Cerda zunutze. Sie wiederholt mehrfach die Beteuerung „trust me on this –“ und gibt diese Floskel aus der Werbesprache für Finanzprodukte der Lächerlichkeit preis.

Sie liebt es, en passant hier eine Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung anzubringen, dort Auswüchse unserer Zivilisation blosszustellen. Hellwach verfolgt sie das Weltgeschehen, setzt in ihre Lyrik Fetzen und Splitter davon ein, die im poetischen Umfeld nicht selten absonderlich und komisch wirken. Einmal lässt sie die Ich-Erzählerin sich damit brüsten, dass ihr Gedicht, das von einer Platane handle, die α Biodiversität erhöhen und ihre eigenen biodiversity credits wieder ins Gleichgewicht bringen werde. Das Gedicht löst sich hier aus seinem ästhetischen Kontext und gibt sich als Bon für Artenvielfalt aus, als Ausgleichsfläche für Umweltsünden – eine ironiegeladene Anspielung auf die verbalen Kraftakte in den Reden von Politikern und Industrievertretern.

Auch in diesem Beispiel manifestiert sich Carla Cerdas Lust, aus der Hermetik des Gedichts auszubrechen, diesem neue Funktionen zuzuweisen und die Grenzen der Lyrik zu transzendieren. Es interessieren sie neben der Welt der Märchen und Mythen, der Belletristik, der Kommunikation insbesondere die Bereiche, die als poesieresistent erscheinen. Der Einbezug von Textfragmenten aus der Meeresbiologie, dem Abbau von Bodenschätzen, der Karpfenzucht oder der Aktienbörse erschliesst dafür nahezu unerschöpfliche Quellen. Die Autorin wählt aus ihrem in umfangreichen Recherchen zusammengetragenen Material das Passende aus, wandelt um, passt ein, kombiniert, schneidet weg. Ihre Arbeit erinnert an die Tätigkeit einer DJ, die am Mischpult steht, sampelt, mixt und scratcht und die fortlaufend ihre Rhythmen komponiert. Ab und zu macht sie sich in Ausrufen Luft. Mit den eingestreuten hey, ups, äh, hm, oh, iiih, aha
scheint sie sich selber zu befeuern, vor allem aber steigert sie damit das Vergnügen der Lesenden. Sie macht Stimmung. Das ist vielleicht das Erstaunlichste an dieser Lyrik: wie heiter, wie munter sie daherkommt. Als gäbe es nichts Selbstverständlicheres, als aus den gigantischen Materialbergen des Internets eine Folge von durchgestalteten Gedichten zu machen. Als wäre es die eigentliche Bestimmung des worldwide web, in Poesie verwandelt zu werden.

Dieser Dichterin ist – Attention! – viel zuzutrauen. Der Basler Lyrikpreis, den ihr die Jury, bestehend aus Wolfram Malte Fues, Claudia Gabler, Simone Lappert, Alisha Stöcklin, Ariane von Graffenried und Rudolf Bussmann heute überreicht, soll sie dazu ermutigen, ihren literarischen Weg so konsequent und originär fortzusetzen, wie sie ihn begonnen hat. Unsere guten Wünsche begleiten sie dabei.

von Rudolf Bussmann

© Samuel Bramley

Carla Cerda, geboren 1990, ist Biologin, Dichterin und Übersetzerin und lebt in Leipzig, wo sie als Teil der «anemonen» interdisziplinäre Lesungen und Workshops mitorganisiert. Sie hat zwei Gedichtbände veröffentlicht: «Loops» (2020) und «Ausgleichsflächen» (2023), beide bei roughbooks. Sie erhiel tauch den Hauptpreis beim open mike 2019 und den Heimrad-Bäcker-Förderpreis 2022.

Beitragsbild © privat

Gallus Frei verabschiedet sich mit Gästen im Literaturhaus Thurgau

Und damit endet meine Intendanz am Literaturhaus Thurgau. Nicht weil es mit nicht gefallen hätte, weiterhin die verschiedensten Gäste ins schmucke Gottlieben am Seerhein einzuladen. Aber eine Amtszeit im Literaturhaus Thurgau ist stets zeitlich begrenzt und die Idee, mit jeder Neubesetzung frischen Wind ins Haus zu bringen, eine gute.

Mein Dank an die Bodman-Stiftung für das entgegengebrachte Vertrauen, den Geschäftsstellenleiterinnen der Stiftung Brigitte Conrad und Monika Fischer für die Zusammenarbeit, der Buchbinderin Sandra Merten für die Unterstützung, Sandra Kottonau für die in Freundschaft geschossenen Fotos. Ganz speziellen Dank gebührt Lea Le für all die Illustrationen, die meiner Intendanz ein eigenes Gesicht gaben.

«Lieber Gallus, während dreieinhalb Jahren hast du im Bodmanhaus ein ausserordentlich vielseitiges und spannendes Programm gestaltet. Du hast viele Autorinnen und Autoren eingeladen und das Publikum mit einer grossen Zahl von Büchern bekannt gemacht, die kennenzulernen sich jedes Mal lohnte. Zu Hilfe kam dir bei der Programmgestaltung deine enorme Belesenheit und deine grosse Neugier auf alles, was im Literaturbetrieb geschieht, auch dass du persönlich viele Autorinnen und Autoren kennst und mit vielen auch befreundet bist. Das alles konnte man beobachten in diesen dreieinhalb Jahren, und das Publikum hat davon profitiert. 
Zum Programmgestalten kamen dann auch die Moderationen deiner Veranstaltungen. Dank deiner Feinfühligkeit und Empathie sowohl den Autorinnen und Autoren als auch den Texten gegenüber ist es dir gelungen, jede Lesung zu einem interessanten Gesprächsanlass mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu machen, der dem Publikum den jeweiligen Text und die Autorin oder den Autor näherbrachten und zu neuen Einsichten führte. Der Besuch einer von dir moderierten Lesung hat sich immer gelohnt.

Du hast die Programmleitung in einer schwierigen Zeit übernommen. Kaum hast du angefangen, kam die Pandemie, was hiess, dass viele Veranstaltungen abgesagt oder umgeplant werden mussten. Das bedeutete viel Arbeit für dich, zum Teil auch vergebliche. Du hast dich aber nicht unterkriegen lassen. Nach der Pandemie wurde die Welt nicht besser, wie wir leider wissen. Da stellt sich die Frage, welchen Platz die Literatur in diesen Zeiten hat. Durch dein Programm hast du gezeigt, dass sie sehr wohl einen Platz hat, nicht nur in deinem Herzen oder im Bodmanhaus, sondern in der Welt – gerade auch dann, wenn diese aus den Fugen ist.
Für deine grosse Arbeit und dein Engagement für das Bodmanhaus danke ich dir im Namen des Stiftungsrats ganz herzlich. Ich freue mich darauf, dir bei weiteren Literaturveranstaltungen begegnen zu dürfen.» Lorenz Zubler, Präsident der Bodman-Stiftung

Meine Gäste an diesem Abend:

«Kalt war’s, und schön war’s. Wörter flogen auf, der Himmel segelte übers Wasser, das Ufer wurde unterspült, jemand bekam kaum Luft – Schreiben im Geborgenen, im Getriebenen. Darüber sprachen wir, und zum Glück hat Urs Faes all das gesagt, was ich vergaß zu sagen. Gallus Frei Tomic hat’s gebündelt und zu einem guten Ende zusammengeführt.» Alice Grünfelder 

«Durch tiefverschneites Land auf langen Umwegen zur Lesung (ein Abschied) gekommen. Atmosphäre über Fluss und Ort und unterm Dach: eine Musik, die trägt; Worte, Bücher, Gesichter, und noch einmal diese ganz besondere Stimmung, die Gallus schafft: so gerät man ins Gespräch, das tief und leicht zugleich ist, ein Abend, der unverwechselbar und erinnerungsdicht bleibt, eine nachklingende Freude.» Urs Faes

«Seit vielen Jahren sind Dominic Doppler am Schlagzeug und ich an den Saiten mit Gallus unterwegs. Unsere gemeinsame Liebe zum Geschichtenerzählen, sei dies in Worten oder mit Musik, verbindet uns. Der Verabschiedungsabend von Gallus in Gottlieben war wunderbar. Einmal mehr erlebten wir ihn als Menschenfreund, aufmerksamen Zuhörer und intelligenten Fragesteller. Durch seine Moderation erschliessen sich die gelesenen Texte in mehrdimensionaler Form. Das wir einmal mehr mit unserer Musik mit dabei sein durften, macht uns glücklich.» Christian Berger & Dominic Doppler

«Wir sind dir für die vielen Begegnung neben der einzigartigen literarisch-musikalischen Lesung in Gottlieben unendlich dankbar. Schwierig in Worte zu fassen, waren es doch tief beglückende Stunden, in denen alle Sinne angeregt wurden. Wir freuen uns, wenn du weiterhin als «Literaturblatt» am Bücherhimmel strahlst.» der Bär, ein Freund

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Über das Unsichtbare – Gianna Olinda Cadonau im Literaturhaus Thurgau

Wir leben zwar im Zeitalter der Information und Kommunikation und trotzdem leben wir in einem Zeitalter, in dem das Dialogische immer schwieriger zu werden scheint. Ob in der Politik, in Betrieben, in Familien, in Beziehungen, überall. In „Feuerlilie“ von Gianna Olinda Cadonau ist das eines der Themen, die angesprochen werden, aber eben in einer ganz eigenen, sehr oft verschlüsselten Art. 

«Gottlieben ist regenverhangen, in der Nacht soll es stürmen. Umso schöner ist es, in dieses alte Haus einzutreten, ins grüne Zimmer hinaufzusteigen, zusammen mit dir, Gallus, und einem sehr aufmerksamen Publikum über die Figuren, die Landschaft und alles Unsichtbare in meiner „Feuerlilie“ nachzudenken. Das Bodmanhaus ist einer dieser Orte, an den ich immer wieder zurückkommen möchte, den ich mitnehme, in meinen Alltag. Danke!» Gianna Olinda Cadonau

Gianna Olinda Cadonau ist in Scuol aufgewachsen, hat in Genf internationale Beziehungen und in Winterthur Kulturmanagement studiert und ist gegenwärtig an der Lia Rumantscha in Chur für die Kulturförderung verantwortlich. Vor ihrem belletristischen Debüt veröffentlichte Gianna Olinda Cadonau bereits zwei Gedichtbände mit den schönen Titeln „Letzte Stunde der Nacht“ und „wiegendes Land“. 
Kennengelernt habe ich Gianna Olinda Cadonau an der SAL, der Schule für angewandte Linguistik, in Zürich. Und vor fast einem Jahr lud ich eine kleine Gruppe jener StudentInnen hier ins Literaturhaus ein. Gianna Olinda Cadonau war eine von ihnen.

Heute, nachdem ihr Debüt mit dem Studer/Ganz-Preis ausgezeichnet wurde, liegt ihr erster Roman „Feuerlilie“ auf den Verkaufstischen und ist bereits heftig im Gespräch. „Feuerlilie“ ist ein Buch, dass sich nicht ganz so einfach einordnen lässt. Zum einen wegen seiner Erzählart, aber auch wegen seiner Sprache. Ich würde sogar behaupten, „Feuerlilie“ setzt einiges voraus. Wer bloss in einer konsumierenden Rolle unterhalten werden will, findet den Roman wahrscheinlich ziemlich anstrengend.

Drei Menschen. Die junge Journalistin Vera, die sich ins Engadin, ins Dorf ihrer Kindheit zurückziehen will, um an diesem Ort zu schreiben. Ihre ältere Schwester Sophia, die sie manchmal besucht, auch wenn sie in ihrer ganz eigenen Welt lebt und Kálmán, ein Fremder, der sich dort in einem alten geerbten Haus mit seiner Kriegsvergangenheit auseinandersetzen muss. Ein Berühungsroman, ein Roman um ein empfindliches Gravitationsfeld dreier Planeten, die es aus der Bahn zu werfen droht. Vera flüchtet, wenn auch im „Kleinen“ (vor ihrem Partner, dem Rummel, dem Stress), Sophia vor ihren Schwierigkeiten, ihre Psyche in den Griff zu bekommen, Kálmán vor einer Vergangenheit.

„Feuerlilie“ schert sich in seiner Machart nicht um aktuelle Strömungen, sehr wohl aber in seinen Themen; Isolation, Trauma, Auswirkungen von Gewalt… Cadonau erzählt von der Begegnung dreier Menschen, zweier Schwestern und eines Mannes in einem Ort im Engadin. Es kann nicht einmal gesagt werden, Cadonau erzähle die Geschichten, weil sie in ihrem Roman nicht ausleuchtet, nicht ausbreitet, nicht darlegt. Wer ihr Buch liest, ist bis zum Schluss mit Geheimnissen, Schatten und Leerstellen konfrontiert.

Es sind Räume, Häuser, Zimmer, Türen. Judith Hermann erzählte mir in einem Gespräch, Romane seien Häuser. Manchmal wie Puppenstuben. Mit versteckten, verborgenen Zimmern. Und eine Schriftstellerin jene, die mit Licht gerade soviel erhellt, dass sich Konturen zeigen, sprachliche Konturen. Gianna Olinda Cadonau geht es nicht um Klärung, nicht um Er-klärung, nicht um Durchsicht, nicht einmal um Einsicht. 
Vera will sich zurückziehen. Sie braucht Zeit, um in ihrer Arbeit voranzukommen. Und sie braucht Abstand von ihrem Partner. Umstände, die nicht weiter erläutert werden. Aber Umstände, die ausstrahlen. Denn ausgerechnet sie tritt in den Bannkreis eines Mannes, der eigentlich auch nur in Ruhe gelassen werden will.
Ob „Feuerlilie“ auch eine zarte Liebesgeschichte ist, darüber liesse sich diskutieren. Aber zwischen Vera und Kálmán knistert es, wenn auch nur zaghaft, verhalten und durchsetzt von Unsicherheiten, um nicht noch mehr „versehrt“ zu werden. 

Es sind Gegensätze; die Idylle eines Engadiner Ortes mit seinen schmucken Häusern, die menschlichen Abgründe, die tiefen Verletzungen, ein Ort in der Schweiz, Sinnbild für Konstanz und Standhaftigkeit, Menschen darin, die hypersensibel festen Untergrund zu finden versuchen. Die Wirkung verstärkt sich so.

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

„Nicht die Vergangenheit ist das Bedrohliche, es ist das Vergessen.“ Hansjörg Schertenleib las ein letztes Mal – an den Weinfelder Buchtagen!

Hansjörg Schertenleib ist ein Unermüdlicher. Seit mehr als vier Jahrzehnten reiht er Buch an Buch, schreibt Theaterstücke, übersetzt und scheut sich nicht, eine leidenschaftliche Diskussion darüber zu führen, was Literatur ist, was gute Literatur ist. Hansjörg Schertenleib schreibt von den zarten Dingen in einer äusserst starken Sprache, beschreibt Innenwelten und Aussenwelten mit kräftigen Farben und macht mir bewusst, das Schreiben eine Form des Sehens ist.

Vor bald dreissig Jahren wanderte Hansjörg Schertenleib nach Irland aus, in den Nordwesten, nach Donegal, in eine archaische Gegend, dem Wetter ausgesetzt, in ein freistehendes Schulhaus auf einem sanften Hügel. Mehr als zwei Jahrzehnte lebte er dort, schrieb und erlangte irgendwann gar die irische Staatsbürgerschaft.

Sein neustes Buch erzählt von dieser Zeit, auch wenn die Handlung fiktionalisiert ist und es die Geschichte eines Mannes ist, der allein sein Leben in Donegal beginnt. „Schule der Winde“ ist die Geschichte eines Mannes, der neu beginnen will, nicht weil sein altes Leben gescheitert wäre, sondern weil ihn ein Leben lockt, dass so ganz anders sein soll, als jenes in seinem beengenden Heimatland.

Er zieht in ein Haus mit Geschichte. Zum einen ein Schulhaus, zum andern ein Wohnhaus, gekauft von einem Ehepaar, das fast alles in dem Haus zurückliess. In ein Haus, das Geschichten erzählt, an einen Ort, an dem der Wind Geschichten zum Haus trägt. Ein Ort, der ihn öffnet, der ihm das Schreiben leicht macht.

„Wird ihm das Leben in der Fremde helfen, irgendwann zu wissen, was er sieht, statt zu sehen, was er weiss?“

Hansjörg Schertenleibs Buch ist kein Roman, entzieht sich einer Gattung, ist ganz und gar nicht plottorientiert. Aber „Schule der Winde“ ist voller Geschichte und Geschichten. Hansjörg Schertenleib schreibt nicht nur von dem Mann, seinen Erkundungen nach innen und aussen. Er schreibt von den Geschichten, die ihm das Haus erzählt, Lebensgeschichten von ehemaligen Schülerinnen und Schülern, Dialogen aus den Pubs der Umgebung, Erlebnisse mit Nachbarn, auch wenn es solche gibt, die ihn nie in ihr Leben einlassen. Hansjörg Schertenleib taucht in die Geschichte eines Landes ein, das über Jahrzehnte und Jahrhunderte von blutigen Konflikten zerrissen wurde. Er erkundet Menschen, Landschaft, die Sprache, die Tiere ums Haus, z. B. Krähen, aber auch die Landschaften, Räume und die Sprache in ihm selbst.

Der eigentliche Protagonist des Buches ist die Sprache. Überaus sinnlich, glasklar, nie verklärend, nie aufbauschend und effekthaschend. Ehrlich und poetisch, musikalisch und präzis.
Hansjörg Schertenleib beschreibst äusserst stimmungsvoll. Man sieht nicht nur, man fühlt mit, man riecht, schmeckt und hört. Wahrnehmungen, die so nur dem Buch vorbehalten sind. Trotzdem ist es, als ob man in seinem Buch durch eine Ausstellung grossformatiger, gemalter Bilder geht, Bilder, die Geschichten erzählen. Aber da sind auch Texte eingeflochten, die der Erzähler im Schulhaus schreibt, ziemlich düstere Zukunftsvisionen, Miniaturdystopien, als wolle das Unterbewusstsein des Autors der für ihn überwältigenden Schönheit Donegals entgegenwirken.

Ich danke der Organisation der Weinfelder Buchtage für die Begegnung mit Hansjörg Schertenleib. Vor allem auch deshalb, weil er während dieser Veranstaltung verkündete, es würde seine letzte Lesung sein.

Rezension «Schule der Winde» auf literaturblatt.ch

«Welche Frau bin ich dann?» Laura Vogt liest und diskutiert im Literaturhaus Thurgau und an den Weinfelder Buchtagen 2023

Laura Vogt ist mutig. Mutig, wie sie sich mit den Themen ihres neuen Romans «Die liegende Frau» auseinandersetzt, wie sie sich in Untiefen wagt und wie sehr sie sich mit ihrem Buch in meine, in die Intimsphäre von LeserInnen vorwagt. Alle ihre Roman bisher beschäftigen sich mit Familie. In immer neuen Spiegelungen und direkten Konfrontationen setzt sich Laura Vogt mit einem Konstrukt auseinander, ob Familie oder Ehe, dass wie kaum ein anderes Sozialgefüge von tektonischen Verschiebungen betroffen ist.

Selbst Mutter von zwei Kindern weiss sie sehr genau, wie sehr Tradition und Freiheit aneinander reissen.
Dass an diesem Abend eine junge Frau und ein älterer Mann auf der Bühne sassen, hätte einiges an Zündstoff mit sich bringen können. Glücklicherweise knallte es nicht. Ihr Roman tut es aber ganz bestimmt.

Der Titel ihres neuen Romans liess mich, bevor ich das Buch gelesen hatte, mit all den Gemälden aus verschiedenen Epochen assoziieren, auf denen eine mehr oder weniger nackte Frau liegt. In Laura Vogts Roman liegt auch eine Frau, Nora. Sie liegt in ihrem ehemaligen Kinderzimmer, spricht zu Beginn des Romans mit niemandem, hat sich in sich selbst zurückgezogen. Meret, ihre noch ganz kleine Tochter, wird von ihrer Mutter Anni betreut. Ein seelischer Zusammenbruch. Wenn man so will, ein Burnout. Aber ‹Mutter› und ‹Burnout› scheint nicht kompatibel, obwohl Statistiken dagegensprechen. Und schon steckt man mitten in den Zwängen und Festschreibungen von Rollenverständnissen.

„Die liegende Frau“ dreht sich um Romi, ihre Mutterschaft, ihre Beziehungen, ihre Familie, ihre Herkunft. „Die liegende Frau“ dreht sich aber auch um drei Freundinnen; Romi, Nora und Szibilla. Über Romis Lieben zu Phil und Dennis. Schon allein diese Aufzählung macht bewusst, in welch feingliedrigem Netz sich sich die Schriftstellerin bewegt.
Romi ist Mutter und schwanger. Der Vater der beiden Kinder ist Phil. Eine Beziehung, in der ausgesprochen war, dass man nicht mit dem Anspruch beständiger Monogamie leben würde. Der Roman ist die offene Auseinandersetzung mit Beziehungsmustern.
Romi liebt Phil, den Vater ihrer Kinder. Romi liebt aber auch Dennis, den sie noch nicht lange kennt. Phil und Dennis wissen voneinander. Und während Dennis sich nach Romi sehnt, tut das Phil auch, auch wenn in die Menage à trois trotz Offenheit schmerzt.

Den Roman als Roman über den Sinn und Unsinn eines Treueversprechens zu reduzieren, wird dem Roman «Die liegende Frau» bei weitem nicht gerecht. Der Roman ist ein klares Abbild dessen, was ‹Beziehung› heute einschliesst. Wie soll und kann Familie funktionieren, nachdem Rollen über Jahrhunderte fix verteilt waren? Das Aufbrechen dieser Rollen hat die Schwierigkeiten nicht minimiert.


Was mich beeindruckt, ist die Komplexität ihres Romans, der die Komplexität der Themen perfekt widerspiegelt.

„Schön, einen weiteren Abend im Literaturhaus verbracht zu haben, lieber Gallus – es war mir eine Freude, über Gesellschaft zu sprechen, über Rollenbilder und Veränderungen, über Liebe und die Möglichkeiten von Literatur. All das schwingt weiter … Bis bald!“ Laura Vogt

Judith Keller «Wilde Manöver» – Weinfelder Buchpreis 2023

Aus eigener Intiative vergeben die 7. Weinfelder Buchtag jedes Jahr einen Buchpreis. Sowohl Buchtage wie Buchpreis wurden von Katharina Alder, Inhaberin der Buchhandlung Klappentext in Weinfelden, initiiert. Hier die Laudatio von Katharina Alder:

Judith Keller ist an den Weinfelder Buchtagen keine Unbekannte. Bereits 2021 wurde sie für den ersten Weinfelder Buchpreis nominiert, damals mit ihrem zweiten Roman «Oder?», der beim Gesunden Menschenversand erschienen ist. Soeben ist ihr neuer Roman «Wilde Manöver» bei Luchterhand erschienen und knüpft stilistisch an ihren Vorgänger und auch an das von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnete Debüt «Die Fragwürdigen» an.

Judith Keller «Wilde Manöver», Luchterhand, 2023, 288 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-630-87743-3

Judith Keller besticht in ihren fiebertraumartigen Romanen durch ihren schrägen Humor, ihre Lust am Fabulieren und einer hinreissenden Beobachtungsgabe. Ihre Figuren bewegen sich in einem weiten Spannungsfeld von schräg, schwermütig, eigensinnig bis leichtfüssig. In der Tradition eines Franz Hohlers widmet sie ihre Texte den kleinen Leuten, den Menschen in ihren normalen und abstrusen Alltagssituationen und nimmt sie in detailreichen Erzählungen unter ihren präzisen, interessierten Blick. Dieses Auge für poetische Irrwitzigkeiten und gleichzeitig ein berührend Normales bereichert den Schweizer Literaturbetrieb.

Auch sprachlich muten Judith Kellers Romane spielerisch an. Mit einer schelmischen Ernsthaftigkeit nähert sie sich dem nackten Material der Sprache und stellt es aus. Dabei zeigt sie ein gutes Händchen im Umgang mit Sprechweisen, Mundart und Sprachwitz. Sie experimentiert sowohl mit der Form, als auch mit der Leserschaft, den Genres, der Darstellung und der Typografie. Die Leserschaft wird in den Prozess der Textentstehung mit eingebunden. Ganz anders ihr Umgang mit der Autorschaft, wo sie – entgegen dem momentanen autofiktionalen Hype in der Literatur – sich und ihre Biografie aus dem Text raushält und die fiktionale Welt auf Weiteste ausreizt. Müssige Diskussionen um das Autobiografische an Texten bleibt aus, viel lieber versüsst sie den Lesegenuss mit unzuverlässigen ErzählerInnen, denen man eigentlich nicht trauen sollte und trotzdem folgt.

Judith Keller liebt unklare Situationen, Stoffe, die schwierig zu beschreiben sind und immer ein bisschen im Dunkeln bleiben. In dieser Schreiblust und ihrem Mut, sperrige und ungeglättete Texte zu schreiben, in alle Ecken des Literarischen vorzudringen und sie auszuforschen, möchten wir sie mit diesem Preis unterstützen.

Vom Triglav, dem alpinen Nationalsymbol bis in die Seelen eines jungen Staates zwischen Hoffnung und Ideologien.

Literaturtage Zofingen mit Gastland Slowenien

Kennen sie Slowenien? Wenigstens die Hauptstadt? Slowenien, erst seit 1991 ein eigenständiger Staat, ganz ähnlich wie die Schweiz mit vielfältiger Landschaft, sowohl geografisch wie sprachlich, besitzt eine äusserst lebendige Literaturszene, nach Island die zweithöchste Anzahl literarischer Veröffentlichungen gemessen an der Einwohnerzahl. Ein Land, das literarisch nicht erst wegen seiner Einladung an die Frankfurter Buchmesse literarisch prosperierte. Ein Land, in dem das Geschichtenerzählen Teil seiner Kultur, seines Selbstverständnisses ist.

Ana Marvan mit ihrem Roman «Verpuppt», Otto Müller Verlag, im Gespräch mit Esther Schneider

Dass sich die Literaturtage in Zofingen jedes Jahr dem Gastland der Frankfurter Buchmesse widmen, ist einzigartig und gibt den BesucherInnen dieses Bücherfests einen ganz eigenen, besonderen Einblick in ein Land, das es zwischen den permanenten Unruheherden im Balkan und den politischen Verstolpereien seiner Nachbarländer kaum je in den Fokus der deutschsprachigen Welt schafft. Dabei bietet das Land alles, was an Abenteuern locken könnte; urige Landschaften, freundliche Menschen, spannende Geschichte(n) und Schätze, die geborgen werden wollen. Auf einige Höhepunkte der diesjährigen Literaturtage möchte ich hinweisen, im Wissen darum, dass ich andere(s) sträflich missachte.

Nataša Kramberger liest aus ihren Büchern «Verfluchte Mistern» und «Mauerpfeffer» schwärmt von der Arbeit und dem Einsatz als ökologiebewusste Landwirtin.

Nataša Kramberger, geboren 1983, ist Schriftstellerin, Kolumnistin und Ökolandwirtin. Im Winter lebt sie in Berlin, wo sie den slowenisch-deutschen Kulturverein Periskop leitet, im Sommer arbeitet sie auf ihrem kleinen biodynamischen Bauernhof im slowenischen Jurovski Dol, nicht weit von Maribor. Ein Hof, den sie von ihrer Mutter übernahm, ein Anfang, von der Nachbarschaft belächelt und von der Aufgabe scheinbar heillos überfordert.

Nataša Kramberger «Verfluchte Misteln», Verbrecher, aus dem Slowenischen von Lisa Linde, 2021, 260 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-95732-493-1

Ihr Debüt, 2017 in Slowenien und 2021 beim Verbrecher Verlag unter dem Titel „Verfluchte Misteln“ veröffentlicht erzählt die autobiographische Eroberung eines kleinen Hofs. Im Dorf lachen alle über ihre Absicht und selbst ihre Grossmutter, die auf der anderen Talseite lebt, zweifelt an ihr, ausgerechnet sie, bei der sie aufwuchs, die ihr in vielem als Vorbild gilt.
Die Erzählerin, mit 17 in die Grossstadt gezogen, zur Schriftstellerin geworden, mit 33 zurück zu ihren Wurzeln gekommen, glaubt theoretisch über ökologische Landwirtschaft alles zu wissen, um ziemlich schnell festzustellen, dass die praktische Arbeit dann doch ganz anders aussieht. Neben dem Kampf gegen die Eigenwilligkeiten der Natur, gegen die allgegenwärtige Bürokratie sind die literarischen Aufzeichnungen über ein ganzes Jahr auch Zeugnis ihres Kampfes gegen eigene Vorstellungen, ihre naive Entschlossenheit und Sturheit.

„Verfluchte Misteln“ erzählt zum einen selbstkritisch und humorvoll von diesen Kämpfen, aber ebenso von den Geschenken der Natur, von Kollaboration und Kooperation, davon, dass Landwirtschaft auch ausserhalb gängiger Konventionen betrieben werden kann, weit entfernt von reinen Produktionsstätten, dass das Leben mit der Natur, selbst dann, wenn man von ihr etwas zu gewinnen erhofft, ein Miteinander sein muss. Nicht nur bei der Lesung mit Gespräch Spangen die Funken. Der kleine Hof in Jurovski Dol ist zu einem Pilgerziel all jener geworden, die anpacken wollen. Nataša Kramberger ist ein Ereignis, sowohl literarisch wie menschlich!

Drago Jnčar liest aus seinem Roman
Drago Jančar liest aus seinem Roman «Als die Welt entstand», Zsolnay, Foto © Joûe Suhadolnik/Delo

Einer der ganz grossen der slowenischen Literatur ist der 1948 in Maribor geborene und schon lange in Ljubljana lebende Schriftsteller Drago Jančar, im ehemaligen Jugoslawien 1974 wegen ‚feindlicher Propaganda‘ inhaftiert und zuletzt 2020 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet.

Drago Jančar «Als die Welt entstand», Zsolnay, aus dem Slowenischen von Erwin Köstler, 2023, 272 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-552-07358-6

Nach einem halben Jahrhundert literarischen Wirkens, Romanen, Theaterstücken und Essays, schildert Drago Jančar in seinem neusten, bei Zsolnay erschienenen Roman „Als die Welt entstand“ vom jungen Danijel an der Schwelle von Kindheit zum Erwachsensein, 15 Jahre nach dem Ende des letzten Weltkriegs, in einem Land im Trauma eines Desasters, einer Kindheit, zerrieben in einer Familie zwischen mütterlichem Katholizismus und väterlichem Partisanenpatriotismus. Danijel muss seine Welt selber entdecken, die Liebe, die Verwirrungen der Jugend. Erst recht, als in der Wohnung unter ihnen die junge Sekretärin Lena einzieht und damit nicht nur Danijels Fantasie entflammt, sondern einen ganzen Stadtteil in Unruhe versetzt.

Drago Jančar erzählt die Geschichte Danijels aus zwei Perspektiven, aus der Sicht des Jungen und rückblickend aus der Sicht des älteren Mannes, eines direkt Betroffenen und einen aus zeitlicher Distanz Beobachtenden. Ein zweistimmiger Roman über den emotionalen Aufbruch ins Erwachsensein. Die grossen Themen Liebe, Hass, Verrat und Tod seien nicht nur Shakespeare und den alten Griechen vorbehalten, meinte der Autor mit einem Schmunzeln im Gesicht. Drago Jančars Roman gibt das Gefühl, als wären Friedenszeiten nur die Unterbrüche in stetig aufbrechenden Kriegen. Und doch ist „Als die Welt entstand“ kein niederschmetternder Roman. Durch all die Schwere blitzt betörender Humor.

im Gespräch mit Drago Jančar

Festivals wachsen nicht an Bäumen. Dass ein solches Festival stattfinden kann, setzt voraus, dass sich Büchermenschen über die Massen dafür einsetzen, von jenen, die das Programm machen, Dolmetscher organisieren, bis zu jenen, die während Stunden an der Kasse sitzen oder den liegengebliebenen Abfall entsorgen. Im Namen all jener, die an diesen drei Tagen Literatur geniessen, neue Namen kennenlernen und literarische Kostbarkeiten auf der Zunge zergehen lassen durften, bedanke ich mich bei allen, die zu diesem äusserst gelungenen Festival beigetragen haben.

Beitragsfotos © Gallus Frei (Aleš Šteger, der Sprachschamane)

Zsuzsanna Gahse mit «Zeilenweise Frauenfeld» im Literaturhaus Thurgau

All jenen, die sich in der Ostschweiz auf Literatur einlassen, all jenen, denen das Literaturhaus Thurgau ans Herz gewachsen ist, müsste man Zsuzsanna Gahse nicht vorstellen. Dass Zsuzsanna Gahse 2019 den Schweizer Grand Prix Literatur überreicht bekam, gibt ihr neben all den anderen Preisen, die sie erhielt, jenen Platz, an dem die Autorin seit 1983 über vier Jahrzehnte, damals mit ihrem Prosadebüt „Zero“ beginnend, unablässig schreibt.

Als ich vor vielen Jahren die Schriftstellerin und Dichterin zum ersten Mal traf und mit meinen Büchern nach der Lesung bei ihr zum Signieren hinstand, bestätigte sich, was zuerst bei der stillen Lektüre und dann in der ersten Begegnung mit der Künstlerin sicht- und spürbar wurde; jene Liebenswürdigkeit, jene Sorgfalt, jene Empathie, die die Künstlerin ihrem Gegenüber zeigt, sei das nun in ihren Büchern, oder in den Begegnungen über die Bücher hinaus.

Dass Thomas Kunst, Dichter, Kleistpreisträger und auch schon Gast im Literaturhaus Thurgau spontan bereit war, zu ihrem neuen Prosaband „Zeilenweise Frauenfeld“ eine Rezension auf meiner Webseite literaturblatt.ch zu schreiben und diese zu einer Liebeserklärung an die Kunst der Autorin werden liess, zeigt die Verbundenheit mit einer Schriftstellerin, die die Welt mit einem ganz eigenen Blick zu sehen vermag: „Zeilenweise Frauenfeld“ ist ein Bühnengewässer, in welchem die Dinge durcheinandergeraten können, wenn man das entlarvende Lesen gegen ein nachdenkliches Lesen eintauscht. Die Frauen an den Treppen. Die Frauen auf den Demos. Die kleine Kellnerin. Die Tochter der Wienerin. Damen und Frauen. Manu. Die Welsche. Nandu. Nora. Die Unbrennbare. Eine schwarz gekleidete Frau. Die Frau in Indigo. Frauen von vor etwa hundertfünfzig Jahren. Frauen beim Stolpern, Stürzen und Sterben. In einer Frauenfelder Inszenierung. Popkonzerte. Illusionen. Bahnhofsvorplätze. Festivals.“

Zsuzsanna Gahse schreibt ausserhalb üblicher Kategorien. Ihre Bücher sind nicht nur haptisch Schwergewichte in einem immer leichter werdenden Bücherangebot. Matthias Zschokke, einer der Nominierten für den Schweizer Buchpreis, schrieb mir auf die Frage, was denn Literatur ausmache: “Literatur ist das Andere. Wobei mir wichtig scheint zu ergänzen, … das Andere, ohne das sein zu wollen.» In diesem Sinne repräsentiert Zsuzsanna Gahse genau das.

Müsste ich Zsuzsanna Gahses Buch beschreiben, ist es für mich wie ein Sprachfries, quer durch einen Zivilisationsgarten. Als würde sich das Personal ihres Buches auf einem breiten Band bewegen und ich wäre der Zuschauer, der aber nur immer kleine Fetzen des Geschehens wahrnehmen kann. Nicht dass ich glaube, dass die Dichterin keine Geschichten erzählen würde; Kleinstgeschichten und Geschichten, die sich durch das ganze Buch spinnen, gibt es viele. Aber Zsuzsanna Gahse scheint es nicht darum zu gehen, eine Story zu erzählen, mich mit einer linear erzählten Chronologie eines Geschehens zu fesseln. Ihr Buch erscheint mir viel eher als eine Sehschule. Sie schaut auf das Geschehen. Sie ist Beobachterin. Die Erzählerin ist Beobachterin. Ermittlerin. Sie spinnt die Fäden zwischen den Personen, die sie sieht. Es sind Betrachtungen. Aber auch Selbstbetrachtungen. So wie Schreiben doch immer Selbstbetrachtung ist. „Manchmal erkenne ich mich selbst nicht, wenn ich mich in einem Schaufenster gespiegelt sehe.“

Es gibt einzelne Sätze, die ebenso faszinieren wie verunsichern: „Schmuggeln ist Ansichtssache.“ Oder „Welsch ist eine somnambule Bezeichnung.“ Oder „Selbstbegeisterung ist ein Enzym.“ – Sätze, die stolpern lassen, die sich nicht so einfach überlesen lassen.  Sätze mit einer ungeheuren theatralischen Kraft: „Mitten auf dem Fussgängersteg stand eine feuerfeste Frau. Eine Unbekannte, mit interessanten Furchen im Gesicht. – Sie hielt eine Ansprache mit ausgebreiteten Armen.»

Zsuzsanna Gahse zur Lesung im Literaturhaus Thurgau: «Wie Bilder laufen lernen, wie ein geschriebener Text filmisch wirken kann oder sogar szenisch, als würde man soeben ein Theaterstück erleben: Solche Partikel haben mir in unserem Gespräch besonders gefallen. Und weil wir gut und gerne eine weitere Stunde hätten reden können, wünsche ich uns eine baldige Fortsetzung.»

Irgendwo schreibt Zsuzsanna Gahse, dass nicht jedes beliebige Buch klüger oder empfindsamer macht. Ihres mit Sicherheit.

Rezension von Thomas Kunst