Anne Weber «Heldinnenepos», Matthes und Seitz

Noch lebt Anne Beaumanoir. 2023 wird sie hundert Jahre alt. Anne Beaumanoir wurde wegen ihres Einsatzes für Juden im besetzten Frankreich nach dem Krieg als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet, eine Auszeichnung, die nur nichtjüdischen Personen für ihren Einsatz ein Denkmal setzen will. Anne Weber erschrieb Anne Beaumanoir ein weiteres, diesmal literarisches Denkmal.

Anne Weber lernte Anne Beaumanoir kennen, sprach mit ihr und erzählte ihr von ihrer Absicht, über ihr Leben ein Buch zu schreiben. Aber wie erzählt man über eine noch lebende «Heldin» ein Buch, das ihre Geschichte erzählen soll, das ganz nahe an der Geschichte bleiben soll, ohne die Handlung mit Fiktionalem aufzublasen? Wie soll man Dialoge gestalten, wenn die Person, über die man schreibt, noch lebt und man sich in der Pflicht fühlt, authentisch zu bleiben? Wie soll man so eine Geschichte schreiben, die nicht blutleer und leblos wirken soll? 

Als der Nationalsozialismus nach Frankreich überschwappte und grosse Teile des Landes mit der Hauptstadt Paris Teil eines Tausendjährigen Reiches werden sollte und die noch nicht einmal zwanzigjährige Anne Beaumanoir Medizin studierte, schlug sich die junge Studentin auf die Seite des Untergrunds, der Résistance und rettete Juden aus eigener Initiative vor dem sicheren Tod. Nach dem Krieg nahm Anne Beaumanoir ihr Medizinstudium wieder auf und ergriff in den 50ern Partei für die nach Unabhängigkeit strebenden Algerier, die sowohl in Frankreich selbst wie in ihrem Herkunftsland unter der Herrschaft Frankreichs zu leiden hatten. Eine Herrschaft, die sich zu oft an jenen Machtmitteln vergriff, gegen die sich die junge Anne Beaumanoir im besetzten Frankreich zur Wehr setzte. Es muss ein tief verwurzeltes Gerechtigkeitsempfinden gewesen sein, dass es der Medizinerin unmöglich machte, das an den Algeriern verübte Unrecht hinzunehmen. Zusammen mit ihrem Mann beteiligte sie sich an Geldbeschaffungsaktionen für den Algerischen Widerstand (FLN), wurde verraten, festgenommen, schwanger eingesperrt und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Anne Beaumanoir allerdings entzog sich der Haft spektakulär, schlug sich allein bis nach Algerien durch und beteiligte sich dort nach der Unabhängigkeit am Aufbau eines funktionierenden Gesundheitswesens. Nach dem Putsch der damals noch durchaus liberalen Regierung floh Anne Beaumanoir in die Schweiz, wo sie in einer Klink als Neurophysiologin bis zu ihrer Pensionierung arbeitete. Bis in die Gegenwart engagierte sie sich gegen Faschismus und Rassismus, hielt Vorträge und besuchte Schulen. 

Anne Weber «Annette, ein Heldinnenepos», Matthes & Seitz, 2020, 208 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-95757-845-7

Während des 2. Weltkriegs war Anne Beaumanoir auf der Seite jener, die man nach dem Krieg zu Helden erklärte. Mit Recht. Ihr Kampf an der Seite der FLN, die sich bis heute als treibende Kraft in Algerien aber alles andere als liberal zeigt und zu einer korrupten Einparteienregierung mit Unterstützung des Militärs wurde, bekommt aus heutiger Sicht ein ganz anderes Licht. Was als Unabhängigkeitskampf gegen eine Kolonialmacht begann, kochte zu einem zähen Machtapparat ein, der sich weit von dem entfernte, was einst das Ziel gewesen war: ein liberaler, demokratisch funktionierender Staat.

Anne Beaumanoir folgte ihrer inneren Stimme, ob als Mitglied der Résistance, als Mitstreiterin im Algerienkrieg oder als Ärztin in einer Klinik. Mag sein, dass der Begriff einer Heldin heute kein unproblematischer mehr ist. Erst recht in einer Gegenwart, in der Film und Kino ein Heldenbild konstruiert, dass so gar nicht dem einer Anne Beaumanoir entspricht. Aber wie kann man heute von so einem Menschen erzählen, von einer Frau, die noch immer lebt, während man schreibt. Anne Beaumanoir ist eine Heldin mit Selbstzweifeln, dauernd zerrissen von Gefühlen zwischen Liebe und Hass. Anne Weber erzählt von einer Frau, die immer wieder Zweifel an ihrem eigenen Leben hegt, für die der Kampf für die Freiheit zu einer Kontinuität eines langen Lebens wurde.

Dass Anne Weber für ihr Erzählen die Form des Held(inn)enepos gewählt hat, zeigt, wie sehr die Form den Inhalt zu verstärken vermag. So sehr Anne Beaumanoirs Leben ein Experiment war, das immer wieder hätte scheitern können, das alles riskierte und dabei Leben schenkte, so sehr ist die Form dieses Buches ein Experiment, haben doch Epen eine Tradition zurück bis Homer. Eine Lebensgeschichte «Heldinnenepos» zu nennen, war ein Wagnis. Eines, das im vergangenen Jahr zu Recht mit dem Deutsch Buchpreis belohnt wurde.

Beitragsbild: Anne Weber nach einer Lesung im Kunstmuseum St. Gallen mit der Leiterin des St. Galler Literaturhauses Wyborada Anya Schutzbach

Anne Weber «Annette, ein Heldinnenepos», Matthes und Seitz, Gasttext von Alice Grünfelder

Es sind wenig mehr als Gedanken, die ich hier notiere, weil sie mir beim Lesen unentwegt durch den Kopf gesprungen sind. Ich bin angenehm überrascht, dass solch ein ungewöhnliches – im sprachlich-formalen und thematischen Sinne – Buch den deutschen Buchpreis erhalten hat, was mich doch noch an die Vernunft der Vergabepraxis glauben lässt. 

© Mine Dal

Heldinnen früher und heute
Gasttext von Alice Grünfelder, Schriftstellerin, Herausgeberin, Übersetzerin und Literaturvermittlerinvon Alice Grünfelder

Ich ärgerte mich über so manchen Feuilletonisten, der meinte, mit der Form, also eine Biografie in Versform, hätte Anne Weber den Stoff arg tief gehängt. Dabei ist es gerade diese Form, die Ambivalenz eines Heldinnenlebens in wenigen Worten und mit einer stupenden Präzision zu verdichten, um damit gleichsam die Widersprüche dieses Jahrhunderts auf den Punkt zu bringen. Jedes weitere und unnötige Wort würde ihr Ansinnen verwässern.

Doch ich rätselte mitunter, warum dieser Titel – von der Autorin? Vom Verlag? – gewählt wurde, denn ist Anne Beaumanoir wirklich eine Heldin? Eine vermeintliche, eine verblendete? Die Heldin folgt dem Prinzip Gleichheit und Gleichberechtigung, und wegen dieses Prinzips ist sie immer mal wieder auf dem einen Auge oder gleich beiden blind. Was auch nicht weiter verwunderlich ist, wenn Zweifel im «Sand der Gegenwart», dem algerischen wohlgemerkt, vergraben werden. Anne Beaumanoir sieht dieser Wahrheit erst spät ins Gesicht, als sie sich monatelang in einem Keller verstecken muss: «Die Wahrheit ist, dass sie für einen souveränen Staat (den algerischen A.d.R.), der binnen kurzer Zeit zu einem Militärregime mutiert ist, alles eingebüßt hat.» Vor allem unter dem Verlust ihrer drei Kinder leidet die Frau, die sie jahrelang nicht sehen durfte, denn um einer zehnjährigen Haftstrafe in Frankreich zu entgehen, floh sie auf Umwegen nach Tunesien. 

Man mache es sich zu leicht, schreibt Anne Weber, aus der Vergangenheit zurückzublicken und zu kritisieren, man bedenke indes, dass dies ungerecht sei, denn wenn man im Nebel stecke, sehe man die Möglichkeiten nicht unbedingt, die sich erst Jahre später herausschälen. Die Autorin blendet ihre Zweifel nicht aus, gräbt tief, fragt nach, hinterfragt die einstigen Ideale, will diese schillernde Persönlichkeit verstehen, die so viel aufgegeben hat, um am Ende ihres Lebens am Fuss eines Berges zu stehen und einen Stein hinaufrollen zu wollen. Wer nun an Camus‘ Sisyphos denkt, denkt richtig, denn mit ihm schliesst dieses Versepos: «Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu grossen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen.»

mehr über Anne Beaumanoir

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber wurde 1964 in Offenbach geboren und lebt seit 1983 in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u.a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Büchern schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Für ihr Buch «Annette, ein Heldinnenepos» wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Beitragsbild © Thorsten Greve

Cécile Wajsbrot «Zerstörung», Wallstein

Eine Frau alleine in ihrer Wohnung, dem letzten Rückzugsort in einer Zeit, in der alles zerbricht, was einmal zu ihrem Leben gehörte. Nicht bloss Familie und Beziehungen, sondern eine ganze Welt. Frankreich bricht ab in einer Diktatur, in ein Land, dass sich der Geschichte verweigert und aus Menschen bloss noch Existenzen macht.

Cécile Wajsbrot schrieb keine chronologische Geschichte. Sie nimmt mich mit in ein dystopisches Paris, in die klein gewordene Welt einer Schriftstellerin, die von rätselhafter Seite her aufgefordert wird, einen „Soundblog“ zu führen. So erzählt die Protagonistin keine Geschichte, auch nur stückweise ihre eigene. Sie schildert eine Realität, die in vielen Belangen nur wenig entfernt von der Wirklichkeit zu sein scheint. In Coronazeiten erst recht.

„Wir dachten … Wir glaubten … Wir träumten …“

In Frankreich gab es umwälzende politische und gesellschaftliche Veränderungen. In einem Frankreich, das nicht in ferner Zukunft liegt, eher in unmittelbarer Gegenwart. In einem Frankreich, einem Europa, das in vielen Belangen schon die Neigung zeigt, sich in eine beängstigende Zukunft zu begeben, eine Zukunft der totalen Kontrolle, einer Zukunft ohne Vergangenheit, in eine Zukunft, in der Kultur zur blossen Unterhaltung degradiert wird, man in Konzert- und Opernhäusern nur noch Operettenhaftes zeigt, Bücher nur noch lauwarme Unterhaltung bieten und man alles dem Erdboden gleich macht, was älter als ein Jahrzehnt ist.

Cécile Wajsbrot «Zerstörung», Wallstein, 2019, 229 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-8353-3610-0

Die Protagonistin ist einsam geworden, mäandert, philosophiert und schweift gedanklich in einer Welt herum, die sie sich mit niemandem mehr zu teilen traut, ausser mit dem anonymen Kanal eines Soundblogs. Eine Frau, die dem nachtrauert, was einst das Leben ausmachte. Erinnerungen an eine Zeit, in der einst die Literatur der Leuchtturm der Gesellschaft war. Jener Turm, der vor den Untiefen in stürmischen Zeiten warnt. In einem Land, einer Stadt, die sich einst als Nabel der Welt, der Kultur, des Fortschritts, der Wissenschaft und der Eroberung verstand. In einem Land, einer Stadt, in der alles flach geworden ist, alles in Angst und Dunkelheit versinkt.

„Was nicht weitergetragen wird, gibt es irgendwann nicht mehr.“

Cécile Wajsbrot stellt sich in „Zerstörung“ aber nicht nur Fragen, sondern stellt sich selbst in Frage. „Zerstörung“ ist nicht das Protokoll einer äusseren Zerstörung, sondern jener gegen innen, gegen das eigene Selbst, gegen das Bewusstsein, ein Stück in einer Geschichte, in der Geschichte zu sein, wirksam zu sein bis in die Zukunft. Sie schreibt von einem Land, das Leck geschlagen mit Seitenlage sinken wird, auf dem die Menschen aber immer noch zur Musik tanzen. Über einen Staat, der das reine Vergnügen verordnet hat nach dem Motte „Lacht und vergesst, wir kümmern uns um alles Übrige“.

Schreiben und das stille Sprechen ist das einzige, was der Protagonistin geblieben ist. In einer Welt, in der Toleranz auf der Strecke geblieben ist, sich abschottet, sowohl gegen innen wie gegen aussen. „Zerstörung“ ist eine Analyse dessen, was einer Gesellschaft blüht, die nur noch ihren Hunger nach Unterhaltung stillen muss. Einer Gesellschaft, in der das Denken und Handeln nicht im plumpen Protest stecken bleibt und mit Engagement verwechselt wird. „Zerstörung“ bietet 230 Seiten gesellschafts- und kulturpolitischen Zündstoff, ohne je platt oder plakativ zu sein.
Cécile Wajsbrot untergräbt mein Denken, mischt sich ein bis in die scheinbaren Tiefen meiner Sicherheit.

Ein Buch wie ein mahnender Monolith!

Cécile Wajsbrot, geb. 1954, lebt als Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin aus dem Englischen und Deutschen in Paris und Berlin. Sie schreibt unter anderem für die Zeitschriften «Autrement», «Les nouvelles Littéraires» und «Le Magazine littéraire». 2007 war sie Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Prix de l’Académie de Berlin.

Anne Weber, geb. 1964, ist eine deutsche Autorin und literarische Übersetzerin. Sie arbeitete bei verschiedenen französischen Verlagen und übersetzte nebenbei Texte deutscher Gegenwartsautoren und Sachbücher ins Französische. Ihr Roman «Kirio» stand auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2017.

Beitragsfoto © imago image / Christian Thiel

Anne Weber «Kirio», S. Fischer

Anne Weber fragt: «Wie kommt es, dass Literatur so sehr vom Bösen fasziniert ist? Wäre das Gute nicht viel rätselhafter? Gibt es für das Gute ebenso einleuchtende Erklärungen wie für das Böse; fehlende Liebe, Verletzungen und Enttäuschungen aller Art?» «Kirio», der dem neuen Roman der Schriftstellerin seinen Namen gibt, ist ein Mensch ohne Arg.

Was macht den Durchschnittsmenschen aus? Die massvolle Ansammlung aller möglichen Eigenschaften? Dass es Menschen gibt, die über besondere, nicht immer gute Eigenschaften verfügen, beweisen die Medien erschreckend. «Kirio» ist die Geschichte eines jungen Menschen, dem gewisse «Fähigkeiten» und Eigenschaften wie Machtstreben, Gier, Härte und Erfolgsstreben gänzlich fehlen. Der Urtypus Antiheld, dem alles fehlt, was den Menschen sonst antreibt, vielleicht sogar die Liebe. Kirio, der im Irrenhaus landet nach einem angeblich missglückten Kidnapping des französischen Präsidenten.

Erzählt wird die Geschichte von einer geheimnisvollen Stimme aus dem Äther, einer allgegenwärtigen, die sich selbst zu wundern scheint, dass die Spezies Mensch ein so rares Exemplar hervorbringen kann, eine Figur, die an den heiligen Franziskus erinnert, der mit Tieren sprach.
Kirios Leben verläuft schon im Bauch seiner Mutter nach anderen Regeln. Kirios Geburt wird von einer Stimme am Telefon angekündigt. Es wird eine ausnehmend leichte Geburt, eher Rückenwind verursachend. Die Geburt selbst vollzieht sich im Auto in einem Strassentunnel unter dem Druck der Berge über ihnen. Mit drei Jahren kann Kirio lesen und schreiben und mit sieben soll er in die Klavierklasse am Konservatorium angemeldet werden. Aber Kirio will lieber Flöte spielen, nach seiner Pfeife tanzen. Und noch zwei ganz spezielle Eigenschaften Kirios; er kümmert sich nicht um das Urteil anderer und ist nicht an Konventionen interessiert. Was Kirio jedoch am meisten auszeichnet, ist seine Fähigkeit «Wunder» auszulösen, ohne dass er es selbst bemerken würde. Er verhindert schon als kleines Kind einen Mord durch einen Schrei. Grosse und kleine Wirkungen, ohne dass Kirio sich dessen bewusst wäre. Und wenn er dann später in der Schule als Störefried gilt, dann nicht beabsichtigt oder aus Böswilligkeit, sondern nur schon deshalb, weil er sich im Handstand oder das Rad schlagend fortbewegt, selbst im Klassenzimmer. Sein wirkliches Gesicht aber zeigt Kirio, wenn man ihm begegnet, wenn Menschen nach einer Begegnung merken, wie ihnen unwillkürlich das Herz aufging. Kirio hört zu, allem und jedem, auch einem Tier oder einem Stein, ohne Misstrauen, ohne Hintergedanken, ohne Absicht.
Mit sechzehn haut er ab, geht weg, um irgendwann und irgendwo stehen zu bleiben. Menschen begegnen ihm, berichten von ihm, wundern sich, lieben ihn, ohne ihn zu verstehen, aber mit dem Gefühl, erkannt worden zu sein. «Durch Kirio erhielt die Menschheit Botschaft vom Mars oder von noch weiter weg, von der Herkules-Zwerggalaxie vielleicht, oder von der Kleinen Magellan’schen Wolke: aus einer unbekannten Welt.»

Obwohl in diese Welt geboren, ist Kirio nie wirklich Teil von ihr. Anne Weber interessiert sich für die Wellen, die dieses Leben verursacht, den Schweif, den es hinter sich herzieht. Der Roman klärt nicht auf, bringt mich als Leser kaum in die Nähe Kirios. Kirio bleibt unfassbar, ein Rätsel, unerklärbar für alle, die ihm begegnen auf seiner Odyssee durch eine immer neue Welt. Vielleicht ist Kirio ein Gegenentwurf zum modernen Menschen und der Roman eine Versuchsanordnung mit der Frage, was geschehen würde, wenn jemend ohne Arg nur nach seiner eigenen «Flöte» tanzt. Mit Sicherheit hatte Kirio laut einem Interview ein reales Vorbild, einen Menschen in der Umgebung der Autorin, der ihr ein Rätsel blieb.

Anne Weber interessiert sich für das, was den Menschen ausmachen würde, aber immer mehr zu verschwinden droht. Schon in ihrem vorletzten Roman «Tal der Herrlichkeiten» war es eine Liebesgeschichte der besonderen Art; die Liebesgeschichte zweier Verlorener, zweier verletzter Seelen, die sich treffen und wieder verlieren. So wie sich das Leben Kirios verliert. Anne Weber schreibt anders. So wie sich die Liebenden in «Tal der Herrlichkeiten» oder Kirio nicht um Konventionen scheren, so scheint sich ihr Erzählen nicht an Konventionen zu halten. «Kirio» scheint unbekümmert erzählt, vielleicht weil die Autorin selbst etwas von Kirios kindlich scheinenden Wesenszügen hinüberretten konnte. Kirio ist kein Heiliger, aber ein Mensch ohne Masken. Vielleicht zeichnet Anne Weber jenen Rest, der vom Paradies in den Menschen übrig geblieben ist. «Qui rit» heisst «der lacht», «Kyrios» «das Göttliche, Übermenschliche».

Anne Weber macht Lesen zum Abenteuer.

Anne Weber, geboren 1964 in Offenbach, lebt als Autorin und Übersetzerin in Paris. Zuletzt erschienen bei S. Fischer «Kirio», «Ahnen», «Tal der Herrlichkeiten», «August» und «Luft und Liebe». Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Heimito-von-Doderer-Preis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Ihre Bücher schreibt Anne Weber auf Deutsch und Französisch.

Ein Interview mit Anna Weber über ihren Roman «Kirio» auf der Verlagswebseite

Titelbild: Sandra Kottonau