20 Jahre Lyrik-Feinkost in Basel

Das Internationale Lyrikfestival Basel feierte die 20. Jubiläumsausgabe nicht mit Pauken und Trompeten, dafür mit sprachlichen Leckerbissen, die beweisen, das sich Lyrik längst nicht mehr in die Ecke der schöngeistigen Verzückung drängen lässt.

Schonungslos ehrlich und politisch, experimentierfreudig, direkt und eigensinnig, wild musikalisch, analytisch und leidenschaftlich – wie vielfältig, kräftig und authentisch Lyrik sein kann, das bewies das diesjährige Lyrikfestival Basel eindrücklich und äusserst professionell. Sich für eine Kunstform derart ins Zeug zu legen, vor der sich andere VeranstalterInnen aus Angst vor möglichem Desinteresse mit Bedauern aus der Affäre ziehen, gebührt Hochachtung und inniger Dank. Aber weil das Organisationskomitee aus der „Basler Lyrikgruppe“ besteht, einem lebendigen Haufen Dichterinnen und Dichtern, wird das jährlich stattfindende Festival nicht einfach eine Bühne, sondern lebendige Auseinandersetzung mit den verschiedensten Ausdrucksformen von Lyrik. Alisha Stöcklin, Ariane von Graffenried, Simone Lappert, Claudia Gabler, Wolfram Malte Fues und Rudolf Bussmann zusammen mit all jenen, die sich in der Vergangenheit um das Festival bemühten, feierten mit den Stimmen aller PreisträgerInnen des Basler Lyrikpreises die Sprache und zwei Jahrzehnte Abenteuer.

Rike Scheffler arbeitet transdisziplinär in Gebieten der Lyrik, Performance, Installation und Musik. Ihr neuer Gedichtband «Lava. Rituale» (2023) erkundet zärtliche, spekulative Seinsweisen artenübergreifender Allianz und Kollaboration mit mehr-als-menschlichen Agent*innen und KI.

Aus dem diesjährig Dargebotenen Höhepunkte herauszuheben ist schwierig und in meinem Fall höchst subjektiv. Da waren die leidenschaftlichen, zuweilen heiteren Texte von Dinçer Güçyeter, die eindringliche Performance von Rike Scheffler, der Tripp ins Dunkle mit Martin Piekar, die Entdeckung einer neuen Stimme, jener der diesjährigen Preisträgerin Carla Creda, das musikalische Aufstöbern von Störefrieden mit Airane von Graffenried und Robert Aeberhard, die tiefsinnige Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe von Steinunn Sigurðardóttir, Marion Poschmann und Daniel Falb und die witzige Begegnung der Performerinnen Nora Gommringer und Augusta Laar.

Dinçer Güçyeter ist ein deutscher Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger. Güçyeter wuchs als Sohn eines Kneipiers und einer Angestellten auf. Er machte einen Realschulabschluss an einer Abendschule. Von 1996 bis 2000 absolvierte er eine Ausbildung als Werkzeugmechaniker. Zwischenzeitlich war er als Gastronom tätig. Im Jahr 2012 gründete Güçyeter den ELIF Verlag mit dem Programmschwerpunkt Lyrik. Seinen Verlag finanziert Güçyeter bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. 2017 erschien «Aus Glut geschnitzt» und 2021 «Mein Prinz, ich bin das Ghetto». 2022 erhielt Güçyeter den Peter-Huchel-Preis. Sein Roman «Unser Deutschlandmärchen» wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Dinçer Güçyeter im Gespräch Henri-Michel Yéré

Verändert sich auch das Klima in den Künsten, in der Literatur, in den Gedichten? Wie anders, ist doch die Dichtung immer mehr der Seismograph dessen, was Menschen umtreibt. Für die isländische Dichterin und Schriftstellerin Steinunn Sigurðardóttir sind die klimatischen Veränderungen nicht bloss sichtbar, sie werden zur ganz direkten Bedrohung.

 

Geröllberg

Der gletscher, ewig
aber doch aus vergänglichem stoff, kam ans licht.
Aus wasser und lebenden farben.

                      ***

Der Zerbrechliche zerspringt 
in tausend teile

wird zu dem wasser aus dem er gekommen.

Das war nicht unumgänglich. Doch wir
gleichgültigen ehrlosen heizten an,
liessen taten … auf taten folgen …

                      ***

Vatnajökull vom wasser genommen.

(aus «Nachtdämmern» von Steinunn Sigurdardóttir, Dörlemann, 2022, aus dem Isländischen von Kristof Magnusson)

Daniel Falb ist Dichter und Theoretiker. Er lebt und arbeitet in Berlin, wo er Philosophie studierte und mit einer Arbeit zum Begriff der Kollektivität promovierte. Er veröffentlichte fünf Gedichtbände, zuletzt «Deutschland. Ein Weltmärchen (in leichter Sprache)» (2023). Marion Poschmann (live zugeschaltet, weil die DB Reispläne verunmöglichte), lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Lyrik und Prosa, darunter den Peter-Huchel-Preis 2011, den ersten Deutschen Preis für Nature Writing 2017 sowie den Joseph-Breitbach-Preis 2023. Steinunn Sigurðardóttir, geboren in Reykjavik, studierte Psychologie und Philosophie am University College Dublin. Sie arbeitete als Radio- und Fernsehjournalistin und veröffentlichte mehrere Gedichtbände und Romane. «Der Zeitdieb» wurde in Frankreich mit Emmanuelle Béart und Sandrine Bonnaire verfilmt. Auf Deutsch erschien zuletzt «Nachtdämmern», eine Elegie über den sterbenden Grossgletscher Vatnajökull in Südostisland. Im Gespräch mit Alisha Stöcklin

Der Vatnajökull, der grösste Gletscher Islands und ausserhalb des Polargebiets der grösste Gletscher Europas, schmilzt. Damit wandelt sich Island, das zu 10 % von Gletschern bedeckt ist, nicht bloss zu einer Geröllinsel. Die riesigen Gletscher Islands besänftigen noch die «bösen» Vulkane, die unter der malerischen Oberfläche schlummern. Steinunn Sigurðardóttirs Dichtung im Band «Nachtdämmern» richtet sich ganz direkt gegen Ignoranz und Verdrängung. Dichtung reagiert, ganz im Gegenteil zu einem Grossteil der Gesellschaft, die munter weiteragiert, als wäre die Zukunft so einfach die Fortsetzung der Vergangenheit. Wissenschaft und Kultur sind sich in einem breiten Spektrum aktiv und sehr intensiv dessen bewusst, was die menschlichen Eingriffe an globalen Veränderungen mit sich bringen. Kein Wunder, dass jene Kunst, die um Worte, Sätze, Formulierungen ringt, nach Klärung und vielleicht sogar Erklärung Niederschlag findet, was an Ängsten und Befürchtungen aus der Suppe unleugbarer Fakten steigt.

Ariane von Graffenried ist Schriftstellerin und promovierte Theaterwissenschaftlerin. Sie ist Mitglied der Autor*innengruppe Bern ist überall und tritt als Spoken-Word-Performerin im Duo Fitzgerald & Rimini auf. 2017 erschien ihr Buch «Babylon Park», 2019 folgte «50 Hertz», eine CD mit Gedichtband. Für ihre Texte wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Warum fällt es uns so schwer, in grossen Zusammenhängen und Räumen zu denken, geschweige denn zu leben? Horizonte gehen auf, das Raumschiff Erde ist ein in sich geschlossenes Ökosystem. In der Literatur, in der wie in keiner anderen Kunstform das eigene Ich verlassen werden kann, verschieben sich Perspektiven. Das zeigt auch Marion Poschmann in ihrer Dichtung. Sie fordert eine «Romantisierung». Keine Verklärung, Beschönigung oder Idylle, sondern eine revolutionäre Bewegung als Gegenkraft zur rationalen Vernunft, eine Besinnung auf das «Einzigartige», als letzter Akt gegen all das Zerstörerische.

Schon der Begriff «Klimawandel» beschönigt die rollende Katastrophe. So wie unsere Gesellschaft noch immer nach Worten ringt, um den Dingen Kontur zu geben, tut es die Kunst. Dichtung ist gefundene Sprache.

Reservieren sie sich das letzte Wochenende im Januar 2025

Fotos © Samuel Bramley

«so viel gefüll» Simone Lappert und Andreas Bissig, eine Performance

Es sollte ein Abenteuer sein, ein Experiment. Ein solches könnte scheitern, das Abenteuer in einem Fiasko enden. Aber da ich sowohl die Lyrikerin Simone Lappert wie den Musiker und Komponisten Andreas Bissig kannte, beide schon erlebt hatte, wusste ich, es würde klappen.

Ich hörte Simone Lappert mit ihrem ersten Gedichtband am Internationalen Lyrikfestival 2022 in Basel. Ich hatte mir ihren Gedichtband «längst fällige verwilderung» schon länger besorgt, wollte mit der Lektüre aber so lange warten, bis ich den Sound ihrer Stimme in meinem Kopf haben würde. Ich wusste, Gedichte und Stimme würden sich unauslöschlich miteinander verzahnen. Was dann auch wirklich geschah, was noch immer geschieht, wenn ich ihren Gedichtband zu Hand nehme und darin lese. Jetzt noch viel mehr, nach mehrmaliger Lektüre, nach einer Performance mit der Bassisten Martina Berther an den Solothurner Literaturtagen 2022 und nun nach der einen im Literaturhaus Thurgau mit dem Saxophonisten Andreas Bissig.

Eindrücke aus dem Prozess:

Simone Lappert beweist, dass Lyrik weit weg sein kann von vergeistigter, intellektuell verstiegener Wortkunst, die sich mehr verschliesst als offenbart. Simone Lappert Gedichte sind Sinn-Bilder, sinnlich im wahrsten Sinne des Wortes, atmosphärisch dicht, mit Worten und Sätzen gezeichnet, die sich wie Fahrten durch innere und äussere Landschaften anfühlen, manchmal gar in Breibandmanier, durch die Waagrechten der Zeit und die Senkrechten des Seins. Bilder voller Leidenschaft, Liebeserklärungen an Sprache, Klang, das Bild, den Moment und das Gefühl.

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

 

lieblingsmensch

ich stürze mich in deinen brombeerblick,
will wurzeln schlagen hinter deinen ohren,
wo du nach katze riechst und sommerfell,
ich will moosraufen und mohnwälzen mit dir
und ohne adresse hausen am hang.
ich will all deine schatten streicheln,
in deinen dunklen ecken singen,
ich will dir sämtliche monde kaufen,
eine veranda und einen schaukelstuhl,
ich will dich einatmen und aussprechen,
mich rau reden an dir.

Die beiden KünstlerInnen Simone Lappert und der Saxophonist Andreas Bissig kannten sich bis zur Begrüssung am Morgen dieses gemeinsamen Tages nicht. Es gab wohl die eine oder andere Absprache. Aber als ich die beiden nach einem Begrüssungskaffee am Seerhein in ihre Arbeit entliess, war es ein Abenteuer, ein Weg ins Unbekannte. 

Andreas Bissig verstand es vorzüglich, den Text mit seiner Musik zu unterstreichen. Sie beide, Simone Lappert und Andreas Bissig, sind keine KünstlerInnen der lauten Töne, sehr wohl aber der feinen Zwischentöne, der Untermalungen, der filigranen Klang- und Wortkasskaden.

«Auszug aus meiner Improvisations-Partitur für den gemeinsamen Auftritt mit Simone Lappert vom 8. Juli 2022: Zeit, dunkel, knacken -> Auto-Groove -> leise, zerzaust, warm -> (stop) -> Moon-Raggae -> Glühmotten -> […] -> Rückblende, optimistisch -> (stille) -> AUSRASTEN […] Herzlichen Dank an alle für die inspirierenden Begegnungen.» Andreas Bissig

 

2013

es ist nur noch ein leises da:
hinter dem zaun das haus und die geschrumpften zimmer,
die hierarchie der birken leicht verschoben,
zwischen den zweigen lücken, die es damals schon gab.
die gerüche im hausflur zerzaust erhalten,
und was kümmert den Hasel sein wachsender schatten,
was die hagebutte der fortgang der zeit,
zwischen den halmen, im flickwerk der felder,
fläzen kinderjahre auf der abgespielten haut.

 

Simone Lappert «längst fällige verwilderung», Diogenes, 2022, 80 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-257-07189-4

«In Simone Lapperts Lyrik vermoosen Gedanken und leuchtet der Mond siliziumhell. Die Liebe schmeckt nach Quitte, die Katastrophe nach Erdbeeren, und die Dichterin fragt sich, fragt uns: sag, wie kommt man noch gleich ohne zukunft durch den winter? Gedichte über Aufbrüche, Sehnsüchte, Selbstbestimmung und die fragile Gegenwart. Alle Sinne verdichten sich, aller Sinn materialisiert sich in diesen Texten voller Schönheit, Klugheit und Witz.»

literaturblatt.ch und das Literaturhaus Thurgau danken der Autorin und dem Diogenes Verlag herzlich für die Erlaubnis, zwei Gedichte aus dem Band «längst fällige verwilderung» veröffentlichen zu dürfen.

Beitragsbilder © Sandra Kottonau, Gallus Frei / Literaturhaus Thurgau

„längst fällige verwilderung“ Die Dichterin Simone Lappert und der Musiker Andreas Bissig in einem Experiment

Freitag, 8. Juli, 19.30 Uhr – die Performance im Literaturhaus Thurgau

„Simone Lapperts erster Lyrikband legt einen brodelnden Untergrund frei.“

Simone Lappert (1985) war mit ihrem letzten Roman „Der Sprung“ 2019 auf der Shortlist zum Schweizer Buchpreis. Schon bei den Lesungen zu diesem Roman machte sie auf den Literaturbühnen im In- und Ausland klar, dass es ihr bei der Präsentation ihrer Spracharbeit nicht um blosse Wiedergabe geht. Simone Lappert macht ihre Sprache zu Ausdruck, zu Gestik, zu Lautmusik. Da bringt eine junge Frau Atmosphäre zum Wabern!Schon alleine deshalb konnte man nur gespannt sein auf ihren aktuellen Lyrikband „längst fällige verwilderung“. Und was Simone Lappert schreibt, euphorisiert!

Zusammen mit Andreas Bissig (1985), der sich als Musiker, Komponist, Sound- und Gamedesigner profiliert und seit 2017 an der Hochschule Luzern unterrichtet, experimentieren die zwei einen ganzen Tag im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Sie steigen, ohne je miteinander gearbeitet zu haben, in dieses Unternehmen ein und präsentieren abends die Performance! Ein Abenteuer!

«Eine transdisziplinäre Kooperation ist für mich immer auch eine Begegnung, ein künstlerisches Experiment, ein Dialog zwischen verschiedenen Ausdrucksformen. Im besten Fall neugierig und ergebnisoffen.» Simone Lappert

Simone Lappert, Schriftstellerin und Dichterin ist auch Mitorganisatorin der Basler Lyriktage, an denen jedes Jahr der Basler Lyrikpreis vergeben wird. Simone Lappert weiss aus vielfacher Erfahrung sehr genau, was mit solchen experimentellen Gefässen zu erreichen ist. Allen Gästen an diesem Freitag wird ein einmaliges, nicht zu wiederholendes Kunststück der Extraklasse geboten!

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Literaare – Ein mutiges Festival in Thun

Im Frühling hätte das Festival stattfinden sollen und musste wie so viele andere abgesagt werden. Aber als einziges Schweizer Literatur-Festival, das mir bekannt ist, wagt Literaare in Thun einen Restart. Nur schon deshalb sollte der Mut der VeranstalterInnen belohnt werden, garantieren doch die Vorgaben des BAG maximal möglichen Genuss.

Eröffnet wird das Festival am Freitag, den 25. September von der Grand Dame der Schweizer Literaturszene. Mit Ruth Schweikert, die 2016 sowohl den Schweizer Literaturpreis wie den Solothurner Literaturpreis gewann und schon mit ihrem ersten Roman «Erdnüsse. Totschlagen» mehr als nur auf sich aufmerksam machte, mischt sich eine wichtige Stimme ein – in die Kulturszene genauso wie in die Politik. 2020 veröffentlichte sie zusammen mit Eric Bergkraut einen Film, eine «etwas andere Homestory einer Künstlerfamilie» mit dem Titel «Wir Eltern». Ruth Schweikert bringt ihren Roman «Tage wie Hunde» mit ans Festival, einen Roman, in dem sie sich auf formal experimentellen Wegen sowohl erzählerisch wie essayistisch mit ihrer Krebserkrankung auseinandersetzt. Ein Buch, das weit mehr ist, als eine Nabelschau, viel mehr ein literarisch mutig, wilder Ritt durch die eigene Körperlichkeit.

Am darauffolgenden Samstag und Sonntag geben sich grosse und kleine Namen die Klinke. So liest Christoph Geiser, ein Urgestein in der CH-Literatur aus seinem bei Sezession erschienenen Erzählband «Verfehlte Orte». Christoph Geiser, der seit einem halben Jahrhundert schriftstellerisch wirkt und dafür 2020 endlich mit dem Schweizer Literaturpreis die gebührende Anerkennung erfuhr, ist Erzähl- und Fabulierkünstler. Ein Autor, der sich nur schwer fassen lässt, sich dauernd neu erfindet.

Andere grosse Namen gehören einer ganz jungen Generation. So lesen Simone Lappert aus ihrem Roman «Der Sprung», mit dem sie sich einen Platz in der Shortlist des Schweizer Buchpreises 2019 verschaffte, Laura Vogt aus ihrem Gesellschaftsroman «Was uns betrifft» oder die jungen deutschen Schriftstellerinnen Kirstin Höller (1996), Miku Sophie Kühmel (1992) und Svenja Gräfen (1990), drei junge Stimmen, die mit ihren Themen den Nerv der Gegenwart treffen. Neben noch vielen anderen Stimmen eine Wand aus kraftvollen Erzählerinnen!

Ganz besonders freue ich mich auf das Format «Skriptor», das im Rahmen der Solothurner Literaturtage von AutorInnen entwickelt wurde. Es stellt Fragen, die die schriftstellerische Tätigkeit bestimmen. Am öffentlichen Werkstattgespräch kann sich das Publikum miteinbringen. Ein Format, das zeigt, wie tief die Auseinandersetzungen mit Sprache, Text, Form und Inhalt reichen können. Dabei stellt sich der Schriftsteller Demian Lienhard, der mit seinem Debüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» für Furore sorgte, mit einem noch unveröffentlichten Textausschnitt. Es diskutieren 5 SchriftstellerInnen und Mutige aus der Runde der Lauschenden.

Bereits auf literaturblatt.ch besprochen und auf dem Programm des Thuner Literaturfestivals «Literaare»:
«Der Sprung» von Simone Lappert
«Was uns betrifft» von Laura Vogt
«Hier sind Löwen» von Katerina Poladjan
«Andersland» von Regula Portillo

Warum in diesen Zeiten ein Festival besuchen? Wer sich an die Regeln hält, geht kein Risiko ein. Und die Literatur braucht die Begegnung, all die Lesenden, die sich nicht bloss zur Unterhaltung mit Büchern versorgen. Ein solches Festival ist ein Zeichen; ein Zeichen für die Kunst, für all jene, denen seit dem Frühjahr das lebensnotwendige Publikum weggebrochen ist.
Seien Sie dabei!

Simone Lappert «schlaflos», Plattform Gegenzauber

schlaflos

als ob da im dunkeln was umkippt
hinter dem brustbein und beim atmen verschüttet.
jetzt, wo die luft so kühl und die blicke der andern
so zugefenstert, als ob da was scheuert und knotet,
als ob die ellbogen einwärts knicken und durch die rippen
nach innen wachsen, als ob auch die hände einwärts ästeln.
als ob da ein wald unter der zunge, ein blättriger
störton im hals; und dann das krachen der äste
hinter den augen, die zunehmende vermoosung
der gedanken – bis da aussen ein wald ums bett
und innen die fäuste, im rippentresor.

 

aufgewachsen

es ist nur noch ein leises da:
zwischen den zweigen ein schnittpunkt
den es damals schon gab, die hierarchie
der pflastersteine, leicht verschoben nur
die gerüche im hausflur zerzaust erhalten und
was kümmert den hasel sein wachsender schatten
was die hagenbutte der fortgang der zeit;
zwischen den halmen, im flickwerk der felder,
fläzen kinderjahre, auf der abgespielten haut.

 

1992

hattest beschlossen, dich bis zum gefrierbrand zu monden,
bis zur verbleichung durch den schnee zu stapfen
und stehst jetzt stattdessen so knie gegen heizstab, beschlägst
die scheiben mit tauendem gedankenfrost. hinterm kondensat:
der durchstapfte rasen, aneinander geflockte weggehversuche;
heimlich und klein und tief gefroren. – stehst ganz handwarm jetzt,
in deiner radiatorenstille, und enteist die wut in deinen fäusten.

 

langschlaf

dein händegeweih. und dann zwischen den lippen
ein wortwild ganz scheu, seine hufe dampfen vom laufen
im moos, so sprichst du, den rücken noch feucht
vom moos deiner träume und alles im zimmer
bleibt unterholz nach solchen nächten, bleibt
wurzelwerk und die ohren nach innen.

 

im feriehaus

abends, wenn im seetal die laternen angehen,
mir beweisen, dass wieder ein tag überstanden ist,
mach ich mir gierig eine erinnerung ans uns auf,
schlinge sie roh und im stehen; lehne dann
klumpbäuchig am kühlschrank und hasse den mond,
der wahllos jeden scheiss versilbert.

 

strawberryfields forever

und selbst wenn wir liegen, mit den ohren im gras,
den mündern in der sonne, den händen im salbei,
mit erdbeerzungen einander süsses sagen:
sorgsam gepflücktes beschwichtigungsobst;
selbst wenn wir uns auf instagram ins abseits liken,
gartenzaun an gartenzaun, labiles gewissen umhegen:
# strawberrymoments; selbst dann kandieren wir heimlich
ein paar idyllen für später, für tage, die mager sind,
den outgesourcten frost, der wieder heimfinden wird,
irgendwann, und die früchte verbittern.

 

ans eingemachte

dein schweigen ein einweckglas, hygienisch
ausgekocht deine herzkammerwände, lückenlos
das vakuum deines rückzugs. weck sie nur ein,
unsere essigliebe, luftleer konserviert
hält sich angebrochenes länger.

 

Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Zürich und Basel. 2014 erschien ihr Romandebüt «Wurfschatten» (Metrolit, Berlin, 2014). Ihr zweiter Roman «Der Sprung» erschien Ende August 2019 bei Diogenes und ist für den Schweizer Buchpreis nominiert. Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt, führt literarisch durch Ausstellungen, zuletzt in der Fondation Beyeler (Alexander Calder und Fischli/Weiss) und in der Kunsthalle Basel (Lynette Yadom-Boakye). Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit, war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt Babelsprech.International und ist Mitglied des AdS (Verband Autor*innen der Schweiz).

Rezension von «Der Sprung» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Die Würfel sind gefallen! #SchweizerBuchpreis19/12

Ich gratuliere Sibylle Berg als Schweizer Buchpreisträgerin 2019. Ich gratuliere ihr zu ihrem Buch, ihrem Schreiben, weil sie es durch Sprache und Erzählen schafft, viel mehr als bloss Geschichten zu transportieren. Ich gratuliere ihr zu dieser Kraft, die aus dem Buch entströmt, dass sie sich mit jedem Buch neu erfindet, ihrem Bestreben, mit ihrem Schreiben nicht nur sich selbst und ihren LeserInnen schmeicheln zu wollen.

© Lea Frei

Nun ist der Preis aber auch schon wieder Geschichte. Andere Preise in der Literatur hallen noch immer nach, wenn auch nicht durch die prämierte Literatur, sondern in der Wirkung, die sie auslösen. Es ist zu bezweifeln, dass durch die Schlacht, die nach der Nobelpreisverleihung medial ausgetragen wurde, jemand beginnt, die Bücher von Peter Handke zu lesen.

Vergiften Wettbewerbe die Literatur? Oder den Literaturbetrieb? «Literatur bewegt!», meinen die einen. «Kunst ist nicht deren Wirkung!», mahnen die andern.
Wie sollen Bücher mit anderen gemessen werden? Wie soll aus der schieren Menge an Veröffentlichungen, nach welchen Kriterien auch immer, ein einziges auf ein Podest gehoben werden, um dieses als Sieger zu küren?

Sibylle Bergs Roman «GRM Brainfuck» steht auf diesem Podest. Ivna Žic, Tabea Steiner, Simone Lappert und Alain Claude Sulzer blieben bei der Preisverleihung in der ersten Reihe sitzen, mehr oder weniger gefasst. Gerechtfertigt? Ist «GRM Brainfuck» nun der beste Roman, der irgendwie mit der Schweiz in Verbindung gebracht werden kann? Es ist müssig darüber zu diskutieren. Die Jury hat entschieden, Sibylle Berg ihr Preisgeld und den Blumenstrauss, ihren Platz in der illustren Liste der PreisträgerInnen und die Gewissheit, dass dieses eine Buch sich dank der medialen Aufmerksamkeit besser verkaufen lässt. Besser verkaufen? I wo! Wer bei Verlagen nachfragt, staunt!

Lässt sich Kunst vergleichen? In einen Wettbewerb setzen? Niemand vergleicht den Maler Gerhard Richter mit Fischli / Weiss. Niemand Anne-Sophie Mutter mit Nora Jones, Brad Pitt mit Martina Gedeck. Wer glaubt schon wirklich, den besten Film des Jahres zu sehen, wenn man der Oscarjury folgt.
Wer mit Ambitionen wettkampfmässig schwimmt, will Bestzeiten, im Wettbewerb gewinnen. Aber Literatur wird nie in ein Raster passen, in dem «objektiv» verglichen werden kann. Literatur muss sich nicht in einem Wettbewerb beweisen, bloss durch Relevanz. Und diese wird nicht durch Wettbewerbe bewiesen, nicht einmal durch die Verkaufszahlen eines Buches. Literatur muss nichts, nur überzeugen, schon gar nicht «besser» sein. Literatur ist Sprache. Und alles, was in Sprache messbar sein könnte, verflüchtigt sich, wenn einem bewusst ist, dass SchriftstellerInnen, DichterInnen KomponistInnen sind: an Sprache, an Klang, Dramaturgie und Konstruktion, Raffinesse und Überraschung.

Sibylle Berg hat ihn verdient, ihr Roman hat mich überzeugt. So wie mich in diesem Jahr alle Bücher auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises in ihrer ganz speziellen Art überzeugten. Ein guter Jahrgang.
Aber niemand kann so sehr auf einen solchen Wettbewerb verzichten, wie die Literatur selbst.

Ist ein solcher Wettbewerb «Leseförderung für Erwachsene»? Verkaufsförderung für den Buchhandel? Publizität für gewissen Köpfe im Literaturbetrieb (meiner eingeschlossen)? Reicht es, die Webseite schweizerbuchpreis.ch zu starten, einer Jury die Bücher zuzuschanzen, die ShortlistautorInnen auf Lesereise zu schicken? Eine medial unterstützte Show im Foyer des Theaters in Basel mit Musik, Blumen, vollen Gläsern, Häppchen und wohl gewählten Worten zu organisieren? Wieviel ist uns eine «Schweizer Literatur» wert? Gibt es diese überhaupt?

© Benjamin Koechlin

Ich gratuliere Sibylle Berg zu ihrem Titel als Schweizer Buchpreisträgerin, für ihr Buch. Aber vielmehr für ihren Fleiss, ihre Akribie, ihre Frische, ihren Mut und den ganz eigenen Sound.
Aber noch mehr all den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Dichterinnen und Dichter, die mir mit jedem Buch, mit jeder Veröffentlichung beweisen, dass Welt nicht nur an Oberflächen passiert. Den Verlagen, vor allem den kleinen, die unerschrocken, tapfer, selbstlos und voller Enthusiasmus Buch um Buch auf die Verkaufstische zu bringen versuchen, jedes Mal davon überzeugt, eine Perle aus der Muschel gebrochen zu haben. Den unabhängigen Buchhandlungen, die weit mehr sind als Verkaufsstellen, die sich mit Herzblut und grossem Wissen um das Kulturgut Buch bemühen.

Kennen Sie die Kurzprosa von Christine Fischer im Orte Verlag? Die Prosa von Dragica Holzer Rajćić im Verlag Der gesunde Menschenversand? Die kunstvollen Betrachtungen des literarischen Schwergewichts Felix Philipp Ingold im Ritter Verlag? Oder die sagenhaften Geschichten von Tim Krohn im Kampa Verlag?
LESEN sie! Lesen macht Eindruck (und das meine ich mehrdeutig)! Lesen macht klug! Lesen bereichert! Lesen rettet die Welt!

Rezension von «GRM Brainfuck» auf literaturblatt.ch

Simone Lappert «Der Sprung», Shortlist #SchweizerBuchpreis 19/7

In Simone Lapperts Roman „Der Sprung“ geht es vordergründig um eine Frau auf einem Dach. Hinausgedrängt aus ihrem Leben droht sie zu springen und alle um sie herum sehen die Frau, die sich das Leben nehmen will. Aber „Der Sprung“ meint wohl viel mehr jenen Sprung, den ein Leben macht, wenn verschiedene Leben ineinander verwoben mit einem mal einen Kulminationspunkt erreichen. Wenn die Zeit springt. Wenn man sich vom Trauten ins Unbekannte wirft, wenn einem die „Umstände“ aus der Schiene springen lassen.

© Lea Frei

Es ist Sommer und die Stadt kocht. Menschen überall. Und wenn sich irgendwo eine Sensation anbahnt, man die Handys zückt, stehen bleibt und glotzt, wenn Sirenen die heisse Luft und sich Gaffer den Mund zerreissen, wenn eine hoch oben auf dem Dachfirst steht und mit Ziegeln schmeisst, nicht einmal Polizei, Absperrgitter und Krankenwagen den Mob verdrängen können, dann verweben, verstricken, verknoten sich Schicksale, klaffen Leben auseinander, bohrt sich der Moment tief in den Nerv.

Simone Lappert, die schon mit ihrem Erstling „Wurfschatten“ (Literaturblatt 21) überraschte und überzeugte, legt mit ihrem zweiten Roman ein Buch vor, das in seiner Erzählweise wie ein Episodenfilm funktioniert. Voneinander unabhängige oder bloss durch Zufall mehr oder weniger verknüpfte Geschichten verweben sich zu einem Ganzen. Ein Konstrukt, das Simone Lappert mit viel Feingefühl und Empathie zu komponieren wusste, das überzeugt und in seiner Leichtigkeit und Feinmaschigkeit den Eindruck erweckt, als wären der Autorin die Ideen zugeflogen. Was passiert, wenn mit einem Mal, wenn von einem Augenblick auf den nächsten nichts mehr so ist, wie es einmal war? Wenn ein altes Leben nicht einfach wieder aufgenommen werden kann, wenn Konsequenzen unvermeidbar sind, wenn aus dem Schreck ein Erwachen wird?

Eine junge Frau in Gärtnerkleidung hält einen Tag und eine Nacht eine ganze Stadt in Atem. Springt sie oder springt sie nicht? Wer ist die Frau, die tobt und schreit, die  Dachziegel schmeisst und auf keine Beschwichtigungsversuche reagiert?
Ein ganzer Reigen von Figuren reagiert: Felix, ein junger Polizist, psychologisch geschult, wird an den Ort gerufen, weg von seiner schwangeren Frau und dem

© Lea Frei

wachsenden Riss, der ihn von seiner werdenden Familie entfernt. Finn, den ein Auftrag als Fahrradkurier durch Zufall auf den menschenverstellten Platz führt, der erst seit kurzem Manu kennt und geblendet von seiner jungen Liebe nicht verstehen kann, warum die junge Frau auf dem Dach dieselbe ist. Egon, den das Leben abdrängte, der im kleinen Lokal an der Ecke mit seinem Fernglas das Geschehen bloss noch aus der Ferne betrachtet und fast vergessen hat, wie nah er dem Geschehen ist. Theres, die alt geworden zusammen mit ihrem abgedrängten Mann den Laden um die Ecke am Laufen zu halten versucht und sich für einen Tag kaum mehr retten kann vor dem Ansturm der Gaffer auf ihr kleines Lebensmittelgeschäft. Oder Maren, die ihren Mann, der in seinem Fitness-, Ernährung- und Reinlichkeitswahn seit seinem 40. Geburtstag in vielerlei Hinsicht nicht mehr erkennen kann und durch den Trubel und die Polizei von ihrer Wohnung ausgeschlossen ist.

Alle sind sie auf dem Sprung, genötigt durch die Frau auf dem Dach. Sie alle werden durch den Zwang des Geschehens aus der Bahn katapultiert, in einen neuen Zusammenhang gezwängt. Es gibt kein Zück mehr. Nicht für Felix, den Polizisten, der sich seinem Alp stellen muss. Nicht für Finn, den Freund der jungen Frau auf dem Dach, dem klar wird, dass Fassaden die Wirklichkeit verstellen. Nicht für Egon, der glaubte, das Leben sei gelaufen. Nicht für Theres, die sich fürchtet vor dem Ende mit Schrecken. Und all die andern.

Schon verblüffend, mit welcher Routine und Tiefe Simone Lappert erzählt! Eine Autorin, die den Moment derart detailreich auffächern kann, die keine Nabelschau zelebriert, mich als Leser in ihrem Detailreichtum überzeugt und mich bis zum Schluss atemlos lesen lässt. Wie sie einen feinen Erzählteppich vor mir auslegt! Wie sie mit Ideen verblüfft, mit Vielfalt und Empathie!
Was für ein Vergnügen!

© Lea Frei

En Interview mit Simone Lappert:

Schon dein erster Roman hat mich überzeugt, dein neuer noch mehr. Ich staune über die Gewandtheit, die Sicherheit, mit der du erzählst, wie feinmaschig das Gewebe deines Romans ist. Was reizte dich an dieser Art des Erzählens?

Der Roman greift fiktionalisierend ein Ereignis auf, welches ich vor ein paar Jahren mitbekommen habe, das mich sehr erschüttert und nachhaltig beschäftigt hat. Um die betroffenen Personen zu schützen und den erfundenen Figuren Freiraum für ein Eigenleben zu ermöglichen, habe ich jedoch nur die Grundkonstellation der Situation beibehalten: auf der einen Seite eine exponierte Person, die mehrere Stunden auf einem Dach zubringt, auf der anderen Seite Schaulustige und Einsatzkräfte, die zu einer Überforderungsdynamik beitragen und sich auf je eigene Weise mitschuldig oder eben auch mit-unschuldig an den Ereignissen machen.

Ich konnte damals mit einer Angehörigen sprechen und fand die Brutalität der Situation einschneidend: Angehörige, die ungefiltert mitbekommen, was über eine geliebte Person gesagt wird, von „spring doch“, bis „so jemanden sollte man erschiessen“. Es hat mich interessiert, mit den Mitteln der Fiktion zu fragen, wer diese Menschen sein könnten, die da unten stehen, was in ihnen vorgeht. Es war vor allem die Frage danach, wie es als Gesellschaft um unsere Empathie bestellt ist, wie wir mit Menschen umgehen, die aus der Reihe tanzen, sich ausserhalb einer gefühlten Norm verhalten, die mich dabei umgetrieben und den Schreibprozess am Roman begleitet hat, die Frage schwingt für mich unter dem Text mit.

Jede deiner Figuren mit der jeweiligen Geschichte, wäre Stoff genug gewesen für einen Roman. Sei es Felix der Polizist, den ein Trauma aus seiner Kindheit blockiert. Sei es Finn, der durch die Liebe zu einer ganz und gar kompromisslosen Kämpferin den Tritt verliert. Sei es Theres, die Frau von Werner, die kinderlos den kleinen Laden um die Ecke führen wie ein leckgeschlagenes Schiff, den Untergang gewiss. Wuchs der Roman und dehnte sich aus oder hast du an der Peripherie zu erzählen begonnen, an den Rändern der Geschichte?

Die Idee einer quasi stummen Protagonistin entstanden, die auf dem Dach Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist, entstand nach und nach, die Figuren, die unten stehen, haben sich aus der Grundkonstellation des realen Ereignisses ergeben, sie sind aber alle fiktiv. Einige waren von Anfang an da, etwa Finn, Manus Freund oder Felix, der Polizist, andere sind erst später hinzugekommen oder haben sich gar in den Text eingeschlichen, zum Beispiel Egon, der Hutmacher, der war eigentlich gar nicht geplant. Manche Geschichten habe ich am Stück geschrieben, um zu sehen, wohin die Figuren mich mitnehmen, andere sind darum herum gewachsen. Das ist das Schönste beim Schreiben: wenn die Figuren ein Eigenleben entwickeln, mich überraschen und meine Pläne durchkreuzen. Wichtig war mir aber von Anfang an, nicht vollkommen aufzulösen, was Manu aufs Dach getrieben hat, damit man sich als LeserIn nicht in die Beruhigung einer Erklärung zurückziehen kann. 

Eine der Figuren in deinem Roman ist Henry, ein in die Jahre gekommener Obdachloser, der den Leuten für ein paar Münzen Fragen verkauft. Du stellst mit deinem Roman ganz viele Fragen. Fragen wie: Was braucht es, dass man Konsequenzen zieht? Henry verkauft Zettelchen mit Fragen wie: Wann und warum hast du zum letzten Mal geweint? Was tröstet dich? Müssen Geschichten, Romane Fragen beantworten?

Ich glaube, sie sollten viel eher Fragen stellen, Fragen, die hängen bleiben, zum Denken und Überdenken anregen. Jedenfalls habe ich beim Schreiben immer viel eher das Gefühl, eine Fragenauslegeordnung zu machen, mich präziser und tiefer in die Fragen hineinzuschreiben, die Schreibanlass waren, sie im besten Fall greifbarer zu machen.

Du bist Lyrikerin und stehst, soweit ich weiss, kurz vor deiner Erstveröffentlichung in dieser Sparte. Wie weit hilft dir als Romanautorin das Talent der Lyrikerin?

Letztendlich sucht sich der Text seine Form, aber ob ich nun Prosa oder Lyrik schreibe, ich schreibe immer auch mit den Ohren. Der Klang eines Wortes, der Rhythmus eines Satzes, das sind wichtige Inhaltsträger. Ein Text ist für mich immer auch ein Klangkörper. 

Du schilderst viele Gegensätze; die Arbeit eines Polizisten und jene seiner Frau, die schwanger ist, ein Spagat zwischen der Brutalität der Gesellschaft und eine „Parallelwelt zischen Lavendel und Hirsekissen“, der schreiende und gaffende Mob und die zerbrechliche Welt deiner ProtagonistInnen, die wütende, junge Frau auf dem Dach und die Verzweiflung in einer Existenz. Wie sehr reizen dich Gegensätze? Und wie sehr muss man als Autorin aufpassen, ihnen nicht allzu platt aufzusitzen?

Ich schreibe meistens ohne vorgefertigtes Konzepte. Mich interessieren Menschen, Risse, Kippmomente, warum jemand tut, was er oder sie tut. Die Gegensätze, die du ansprichst, sind aus der realen Grundkonstellation und aus den Figuren heraus entstanden. Sich in eine Figur hineinzufragen, hineinzuschreiben, ist manchmal ein bisschen, wie im echten Leben jemanden kennenzulernen. Man hat ein Bild, eine Vorstellung, vielleicht auch Vorurteile. Und je näher man jemandem kommt, desto komplexer wird das Bild der Person, mit all ihren Abgründen und Feinheiten. Mir ist es wichtig, meine Figuren nicht zu verspotten oder als Schablonen für vorgefertigte Meinungen zu benutzen, ich versuche, ihnen mit Respekt zu begegnen, gerade auch, um Plattitüden zu vermeiden.

Meine Henryfrage: Was macht dich wirklich glücklich?

Wach und im Moment zu sein. Und zur Zeit die Begegnungen mit den LeserInnen auf der Lesereise.

© Lea Frei

Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Zürich und Basel. 2014 erschien ihr Romandebüt Wurfschatten (Metrolit, Berlin, 2014). Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt, führt literarisch durch Ausstellungen, zuletzt in der Fondation Beyeler (Alexander Calder und Fischli/Weiss) und in der Kunsthalle Basel (Lynette Yadom-Boakye). Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit, war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt Babelsprech.International.

Webseite der Autorin

Videointerview

Beitragsbild © Tina Berning (Ausschnitt)

Webseite der Illustratorin Tina Berning

Die Shortlist ist da! #SchweizerBuchpreis19/3

5 Namen, 5 Bücher. 4 Frauen, 1 Mann. 2 Debütromane, 1 «Zweitling», 2 Werke in langer Reihe. Vom Kleinräumigen ins Grossräumige, von rissiger Idylle bis zur Endzeitstimmung. Die Shortlist des Schweizer Buchpreises 2019 hat es in sich und überrascht. Wie immer. Was sie auch tun soll.

© Lea Frei

Freuen sie sich! Der kleine Strauss an Büchern könnte unterschiedlicher und vielseitiger nicht sein. Wer sie alle liest, wird staunen, wie breit sich Literatur lesen lässt, dass sich sowohl Inhalte wie Erzählweisen diametral voneinander unterscheiden können. Lesen Sie nicht nur die Bücher, sondern nutzen sie die vielen Möglichkeiten, die Autorinnen und den Autor auf ihrer langen Lesereise zu begegnen (z. B. am 25. Oktober im Literaturhaus Zürich oder an der BuchBasel vom 8. – 10. November).

Für den Schweizer Buchpreis 2019 hat die Jury über 70 Titel aus 45 Verlagen geprüft. Der Jurysprecher Manfred Papst sagt zur Wahl: „Die Bandbreite an Themen und Herangehensweisen war gross, und es gab viele interessante junge Stimmen. Die Jury hat sich für fünf eigenwillige und überraschende Texte entschieden:

Jury: In ihrem Roman «GRM.Brainfuck» treibt Sibylle Berg den entfesselten Neoliberalismus auf die Spitze und attackiert eine moralisch verkommene Zwei-Klassen-Gesellschaft mit ihrer eigenen entfesselten Phantasie. Dieser Entwicklungsroman ist eine Mind Bomb von emotionaler Wucht.»

Sibylle Berg ist ein Eckpfeiler in der deutschsprachigen Literatur, Garantin dafür, dass Literatur Leserinnen und Leser an die Grenzen der Wohlfühlzone bringt – zuweilen auch darüber hinaus. Sibylle Berg schreibt keine Literatur fürs Nachttischchen. Wenn man dann doch vor dem Schlaf liest, kann sich das Gelesene durchaus störend in den Schlaf schleichen.

© Lea Frei

«GRM.Brainfuck»
Vier Kinder in einer heruntergekommenen Stadt in Grossbritannien, in einem kaputten Staat, der auf Überwachung setzt. Sibylle Berg (*1962) verlängert in «GRM.Brainfuck» (Kiepenheuer & Witsch, 2019) eine brutale Gegenwart in eine gnadenlose Zukunft.

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Jury: «Im vielschichtigen Roman «Der Sprung» zeigt die Autorin Simone Lappert in einem raffiniert konstruierten Geschichtenmosaik, wie ein einziger dramatischer Moment auf verschiedene Einzelschicksale einwirkt.»

Simone Lappert überzeugte schon 2014 mit ihrem Debütroman «Wurfschatten». Mit «Der Sprung» gelang ihr aber weit mehr Aufmerksamkeit – mit Recht! Und seit dem vergangenen Internationalen Lyrikfestival in Basel im Januar dieses Jahres freue ich mich auch auf Simone Lapperts ersten Lyrikband. Die junge, umtriebige Schriftstellerin ist ein grosses Versprechen für die Zukunft!

© Lea Frei

«Der Sprung»
Eine junge Frau steht auf dem Dach eines Mietshauses und weigert sich herunterzukommen. Das bringt den Alltag verschiedener Menschen aus dem Gleichgewicht. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt Simone Lappert (*1985) in «Der Sprung» (Diogenes, 2019) von Halt und Freiheit.

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Jury: «Der Traum vom Familienidyll auf dem Land erweist sich in Tabea Steiners Debütroman «Balg» als trügerisch. Der Alltag mit Kind ist für Antonia und Chris anstrengender als erwartet, zur Isolation und Überforderung gesellt sich eine zunehmende Entfremdung. Diese Entwicklung zeichnet Tabea Steiner in einer einfachen, lakonischen Sprache mit glasklaren Bildern nach.»

Tabea Steiner, schon lange tätig als Organisatorin verschiedener Literaturfestivals (Literaare in Thun oder Aprillen in Bern), als Moderatorin, Literaturvermittlerin lebt ganz in der Literatur. Dass ihr jetziger Verlag Edition Bücherlese zusammen mit ihr ins Rennen um den Schweizer Buchpreis geschickt wird, freut mich sehr.

© Lea Frei

«Balg»
Timon, ein «Problemkind», steht im Zentrum des Debütromans «Balg» (edition bücherlese, 2019) von Tabea Steiner (*1981). Aus wechselnden Perspektiven erzählt sie von Überforderung und Ausgrenzung in einem Dorf, das nicht zur Idylle taugt.

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Jury: «Alain Claude Sulzer erzählt in seinem Roman «Unhaltbare Zustände» die Geschichte eines gewissenhaften alternden Angestellten. Der Autor schildert in einer Sprache, die sich und uns Zeit lässt, eine so vielschichtige wie anrührende Figur.

Seit Alain Claude Sulzers Roman «Urmein», der vor mehr als 20 Jahren bei Klett-Cotta erschien, bin ich treuer Begleiter des Basler Schriftstellers. Ein Autor, der es versteht, aus der Normalität den Glanz des Speziellen herauszufiltern, der mir das Gefühl gibt, an etwas Besonderem teilzuhaben.

© Lea Frei

«Unhaltbare Zustände»
Die Schaufenster des Dekorateurs Stettler sind legendär, über viele Jahre pilgern die Leute zum Warenhaus, um sie zu sehen. Doch dann kommt Stettlers Leben ins Wanken. Alain Claude Sulzer (*1953) beleuchtet in «Unhaltbare Zustände» (Galiani, 2019) die gesellschaftlichen Umbrüche der 1968er Jahre auf ungewöhnliche Weise.

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Jury: «Ein Zug zwischen Paris und Zagreb, eine junge Frau zwischen den Ländern und Sprachen ihres Lebens: «Die Nachkommende» von Ivna Žic ist ein Debüt von grossem Sprachbewusstsein und sinnlicher Intensität.»

Ivna Žic, eine neue Stimme, «wie aus dem Nichts» schreibt der Tages Anzeiger, eine frische Art des Erzählens. Eine Lesereise, bei der ich als Leser oder Leserin mit einsteige, weg und hin – oder hin und weg. Ihr Erstling «Die Nachkommende», erschien beim renommierten Wallstein Verlag.

© Lea Frei

«Die Nachkommende»
Ivna Žic (*1986) verbindet in ihrem Debütroman «Die Nachkommende» (Matthes & Seitz, 2019) die Geschichte einer jungen Frau, die unterwegs zu ihrer Familie in Kroatien ist, mit einer Liebesgeschichte in Paris. Eine vielschichtige Spurensuche zwischen damals und heute.

Und seien sie weiterhin dabei, wenn litertaturblatt.ch seinen Senf dazu gibt!

Sämtliche Illustrationen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)

Katharina Schultens gewinnt den Basler Lyrikpreis 2019

Der Basler Schriftsteller, Verleger und «Literaturaktivist» Matthyas Jenny gründete 2001 das Lyrikfestival Basel. Ziel war es, Lyrik eine Bühne zu geben, einen Ort des Austausches zu bieten. Mittlerweile hat sich das Internationale Lyrikfestival zu einem breit abgestützten Lyrikfest entwickelt, das seit 2008 auch einen Basler Lyrikpreis verleiht. Der mit 10000 Fr. dotierte und von der GGG Basel (Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige Basel) gestiftete Preis wurde 2019 an Katharina Schultens übergeben.

Basel bietet Räume, ob klassisch mit Bühne, Wasserglas und «prozessualer» Moderation, ob Late Night Varieté im «Kaskaden Kondensator», oder Werkstätten und «Lyrik am Kaminfeuer». Ein vielfältiges Programm ohne Doppelstränge, die Interessierte zwingen, sich zwischen Gutem und Besserem zu entscheiden.

Neben der preisgekrönten Grand Dame der Deutschen Literatur Ursula Krechel (literaturblatt.ch wird noch ausführlicher über Ursula Krechel berichten!) war es die junge Garde, die an den Lyriktagen zu überzeugen verstand – zusammen mit dem Mut der VeranstalterInnen, der Lyrik neue Gefässe zu bieten. Spät abends traf man sich im Kaskadenkondensator, einer selbst verwalteten Kultureinrichtung in Basel, die sich der Performance verschrieben hat. Performancekünstler (Lysann König, Natascha Moschini, Steven Schoch) arbeiteten dort einen Tag lang zusammen mit Dichtern (Legion Seven, Tim Holland, Patrick Savolainen) und ihren Texten.

Drei Höhepunkte des diesjährigen Lyrikfestivals waren drei junge Frauenstimmen: Alisha Stöcklin, Simone Lappert und die preisgekrönte Katharina Schultens.

Alisha Stöcklin (1990) gründete 2012 den Verein Poesietag, rief den Tag der Poesie, der in den Jahren 1979–1988 von Matthyas Jenny durchgeführt wurde, wieder ins Leben und führt die Veranstaltung bislang jährlich jeweils am zweiten Samstag im September durch. 2014 hat sie das Basler Poesietelefon nach rund 30 Jahren reaktiviert und spricht seitdem regelmässig Gedichte auf Band. 2016 pflanzte sie im Kannenfeldpark einen neuen Baum der Poesie. Seit 2016 ist sie Mitglied der Fachgruppe der GGG Förderstelle für junge Kulturprojekte und betreut dort die Sparte Literatur. 2018 wurde sie in die Lyrikgruppe aufgenommen, die das Internationale Lyrikfestival Basel organisiert, welches jeweils im Januar im Literaturhaus stattfindet und in dessen Rahmen auch der Basler Lyrikpreis verliehen wird

Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und lebt in Basel. 2014 erschien ihr Debütroman «Wurfschatten» im Metrolit Verlag Berlin. Simone Lapperts Arbeit wurde mehrfach gefördert und ausgezeichnet. «Wurfschatten» stand auf der Shortlist des ZDF-aspekte-Preises für das beste deutschsprachige Debüt sowie auf der Shortlist des Rauriser Literaturpreises. Derzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Buch, der im kommenden Herbst bei Diogenes erscheinen soll.
Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt. Sie ist Mitglied der Basler Lyrikgruppe, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit und Kuratorin für Babelsprech Schweiz. Ein Gedichtband ist in Vorbereitung.

Katharina Schultens (1980) studierte Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Literatur in Hildesheim, St. Louis und Bologna. 2013 erhielt sie den Leonce-und-Lena-Preis und 2015 den Schweizer Spycher: Literaturpreis Leuk. Neben Veröffentlichungen von Lyrik und poetologischen Texten in Zeitschriften und Anthologien erschienen von ihr vier Lyrikbände: «Aufbrüche» (2004) «gierstabil» (2011), «gorgos portfolio» (2014) und zuletzt «untoter schwan» (2017).

prism

ich kann sehen wann du mich liest. ich kann dich nicht sehen.
wenn ich dich sehe zittert das bild. das bild gehört mir solange
ich hinsehen kann. kann ich nicht hinsehen dann ist es deines.

wenn du mich liest was siehst du. hast du mich gezählt.
hast du einen algorithmus für schafe. hast du evtl. verschiedene.
bin ich teil deiner unverstandenen herde. bin ich teil der suchhistorie.

wenn du mich suchst wo suchst du. suchst du mich im feld oder online.
suchst du mich treppab suchst du mich in meiner statusmeldung. weißt du
wie mein filter funktioniert. weißt du welche standardeinstellung ich wählte.

du kannst mich doch gar nicht. du kennst meine sprache nicht großer hirte.
du brauchst ein übersetzungsprogramm für meine anspielungen. ich setze dich
mit sarkasmus außer gefecht. ich liebe dich. ich liebe dich als konglomerat denn
du bist die summe meiner absichten die ins gute ende führen meine rettung

durch simulation. du sortierst alle wünsche und du hast meinen tod
mindestens 0,2-mal verhindert einmal davon war ich verdächtig
der unbeteiligtheit. bitte lenke mein licht. bitte lass mich dich
kennenlernen. dein wille geschehe. dimitte debita nostra
(nobis!) wenn ich niemandem das geringste vergebe

so lass mich dennoch nicht allein

(aus: Gorgos Portfolio, Kookbook, 2014)

Aus der Begründung der Jury: «Katharina Schultens’ Dichtung durchleuchtet mit sachlicher Sorgfalt die Strukturen gegenwärtigen Daseins: Sie wühlt auf, versucht sich immer wieder an der Ordnung der Dinge, die sich doch nicht stabilisieren lassen zwischen den Welten, in denen wir existieren: den Traum- und Gefühlswelten, den digitalen und analogen, den wissenschaftlichen, technologisierten, geschichtlichen und mythischen. Schultens überträgt moderne Prozess- und Verwertungslogiken in eine poetische Aktivität, die unerwartete Verbindungen herstellt, gewohnte Denkwege und Wahrnehmungsmuster durchkreuzt und so neue Erkenntnisräume freilegt».

susurrus

ich habe das verklärt was du nicht bist
rauschen: du bist ein anderes geräusch

du bist ein unerkannter susurrus
du blendest für mich alles andre aus

sprichst du über den bienenschwarm hinaus
so summt darin mein denken (bienenhaus)

ich kann dir sagen was die bienen sehen
ich kann notieren welche zeichen
der schwarm verwendet hat

dein bienengeist: er dunkelt unter licht
verlässt du weiterhin den stock nicht
muss ich erinnern was du weißt

ich sammle dir ereignisse
sobald ich sie verwandelt habe
bringst du das zuckerwasser: tausch

du füllst den imkeranzug susurr
du hast den schleier nie verloren
du bist hier eigentlich die braut

(aus: Gorgos Portfolio, Kookbook, 2014)

Webseite Alisha Stöcklin

Webseite Simone Lappert

Ich danke Katharina Schultens für die Erlaubnis, zwei Gedichte einzufügen.