Ein literarischer Doppelstern im Literaturhaus Thurgau; Julia Weber & Heinz Helle

Julia Weber und Heinz Helle verkörpern alles, was ein „Schreibendes Paar“ ausmachen kann: Ein erfolgreiches SchriftstellerInnen-Paar, eine Familie, in der Kinder nicht bloss Beigemüse sind, ein Paar, das sich respektiert und zwei Stimmen, die sich unabhängig voneinander in den Kulturbetrieb mit einbringen, ihn auch aufmischen.

Julia Weber, Jahrgang 1983, Mutter von zwei Kindern, zwei Romanen, zwei Theatern und unzähliger Beiträge zu Literatur, Gesellschaftsfragen oder Kultur, vielfach preisgekrönt. Heinz Helle, Jahrgang 1978, Vater der gleichen Kinder, von vier Romanen, bis in Chinesische übersetzt und ebenso vielfach preisgekrönt.

zusammen mit Co-Moderatorin Cornelia Mechler

Beide sind kurz vor der gemeinsamen Lesung in Gottlieben zurückgekommen von einem mehrmonatigen Aufenthalt zusammen mit ihren Kindern in der Villa Massimo in Rom. Monate an einem Ort, der nicht zum Ferien machen gedacht ist, sondern Zeit und Raum geben sollte fürs Schreiben. Das, wofür man zuhause im Strudel der familiären Pflichten zuweilen kämpfen muss. Das, was in ihren beiden Romanen zum Stoff wurde. Das, was literarisch im gleichen Sonnensystem um einen Stern kreist, verschieden in Atmosphäre und Färbung, als wären es Doppelstern – Sie kreisen umeinander, zeigen sich wechselseitig; „Die Vermengung“ von Julia Weber erschien im Frühling dieses Jahres bei Limmat und „Wellen“ von Heinz Helle, diesen Herbst bei Suhrkamp erschienen.

Auf die Frage, ob es eine Strategie dahinter gegeben habe, oder einfach nur wirkungsvoller Zufall sei, erzählten die beiden, sie hätten nach der Geburt des zweiten Kindes schnell gemerkt, dass es im Austausch über ihr Schreiben Parallelen gegeben habe. Aber die Anfänge der beiden Bücher seien unabhängig voneinander entstanden, bei beiden aus einer Notwendigkeit heraus.

Julia Weber und Heinz Helle lernten sich schreibend in Biel am Schweizerischen Literaturinstitut kennen. Julia Weber und Heinz Helle gibt es nicht ohne die Literatur. Beide Bücher „Die Vermengung“ und „Wellen“, ein Doppelhelix und doch völlig verschieden, kreisen um das Thema Schreiben, Familie, Mutter- und Vatersein, Rollenverständnis, Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Heinz Helles Buch liest sich wie ein Tagebuch, wie eine Liebeserklärung an das Schreiben, seine Frau, seine Kinder, eine philosophisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung. In Julia Webers Roman vermischen sich eigentlich zwei Romane; den, den ich lese und den, den sie während des Schreibens schreibt. Zwei Romane, die sich gegenseitig spiegeln. Aber Julia Webers Roman hat noch andere Ebenen; Briefe, Generationenstimmen, die vielfache Auseinandersetzung mit Muttersein. „Wellen“ ist ein Solostück, „Die Vermengung“ ein Orchesterstück.

«Liebe Cornelia, lieber Gallus, vielen Dank für den schönen Abend mit Euch im Bodmanhaus! Wir habe uns sehr wohl gefühlt und nicht nur das gemeinsame Essen und den Spaziergang am Rheinsee genossen, sondern auch das anregende, einfühlsame Gespräch auf der Bühne. Wir kommen sehr gerne wieder einmal. Vielen Dank und herzliche Grüsse» Julia und Heinz

Rezension von «Die Vermengung» von Julia Weber auf literaturblatt.ch

Rezension von «Wellen» von Heinz Helle auf literaturblatt.ch

Julia Weber «Die Vermengung», Limmat

Vielleicht hat Julia Weber mit ihrem zweiten Roman „Die Vermengung“ etwas erschaffen, was einmalig ist. Der Titel ihres Romans ist nicht nur Überschrift, sondern Programm. „Die Vermengung“ vermengt biografisches mit fiktionalem Schreiben, die Sicht nach Innen mit jener nach Aussen, ist Roman über Frausein, Menschsein, Muttersein und Schriftstellerinnensein.

Julia Webers Roman ist keine Nabelschau. Solche mag ich nicht. Und doch schreibt Julia Weber über eine Julia, verheiratet mit H (Heinz Helle). Beide sind Schriftsteller und Eltern von B, einem Mädchen, das bereits in die Schule geht. Julia schreibt, H schreibt. Julia ist Mutter, H ist Vater. Sie wohnen zusammen in einer nicht übergrossen Wohnung mitten in Zürich. Sie schreibt in „freien“ Zeiten zuhause, er in seiner kleinen Kammer, die er irgendwo in der Nähe gemietet haben. Sie haben sich eingerichtet, das Leben als Paar, Eltern und Schreibende. Bis klar ist, dass Julia ein zweites Kind mit sich trägt. Bis klar ist, dass nach der Geburt alles anders ist und es mehr braucht als bloss eine Umgewöhnungsphase. Wird sie weiter schreiben können? Wird sie das eine zugunsten des andern „abbrechen“ müssen, so wie es in der Geschichte des Frauseins über Jahrhunderte passierte? Reicht es, einen fürsorglichen und einfühlsamen Mann an ihrer Seite zu wissen, um all dem gerecht zu werden, was sich mit bei kleinen Kindern intensivieren wird? Julia fühlt sich bedrängt, in die Enge getrieben. Eine Mischung aus Verzweiflung, Mutlosigkeit und Ängsten zieht sie in tiefe Trauer, in einen Kampf, der ihre Existenz gleich mehrfach bedroht.

Julia Weber «Die Vermengung», Limmat, 2022, 352 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03926-041-6

Julia Weber bleibt aber nicht eindimensional. Sie verknüpft ihre Auseinandersetzung mit ihrem Schreiben, der Geschichte, mit der sie sich während und nach der Schwangerschaft auseinandersetzt, mit den Figuren dieser fiktiven Geschichte, Ruth, Linda und Karl machen in ihrer Fiktion Ähnliches durch; Schwangerschaft, Zukunftsängste, Stürme in ihren Beziehungen. Aber die reale Julia kommuniziert mit ihren Romanfiguren. Sie schreiben sich, beschwören einander, mischen sich ein. Die reale Familienkonstellation spiegelt sich in der fiktiven und umgekehrt. Dabei ist Julia Webers Schreiben über das Schreiben weit mehr als das Protokollieren einer „Buchwerdung“. Die Geschichte, an der die Autorin schreibt, ist das Spielfeld eine Wahrscheinlichkeit. Die Personen in ihrer Geschichte treten aus der Fiktion heraus und mischen im Realen mit.

«In jener Nacht verstand ich, dass sich alles vermengt, dass ich die Kunst bin, die ich mache, und die Kunst ist ich. Ich bin die Mutter dieses Kindes, und das Kind hat mich als Mutter. Wir werden ineinander und auseinander herauswachsen, und die Kunst wird neben uns her wachsen und auch in uns hinein.»

In einer weiter Ebene mischen sich auch noch weitere Beziehungen in „Die Vermengung“ ein; eine Freundin, die ihre Eizellen einfrieren lässt, weil ihr Wunsch, Mutter zu werden, den Vater noch nicht gefunden hat. Oder die Mutter, die ihr mitteilt, man habe einen Krebs in ihrer Brust gefunden. Julia Weber vermengt all die „Bedrohungen“ einer Frau in einem Roman, der mich bei der Lektüre schwindlig macht. Keineswegs, weil er unübersichtlich geschrieben oder nur schwer lesbar wäre. Julia Webers Roman ist in einer Sprache geschrieben, die sich mühelos ebenso klar wie verspielt zeigt. „Die Vermengung“ ist ein Roman, den man mit Bleistift hinter dem Ohr liest, der mit tiefer Sehnsucht geschrieben wurde, nicht nur den Moment, sondern die Welt zu verstehen, Ordnung in Gefühle zu bringen, die einem in ihrer Heftigkeit bedrohen können. Julia Webers fiktionale Figuren in ihrem Roman eskalieren stellvertretend. Die Briefe zwischen Ihr und ihrem Mann zeugen von jener Ernsthaftigkeit, die ich einer Gegenwart, die sich verliert, nur wünsche. 

Julia Webers Experiment der Vermengung hätte leicht scheitern können. Aber weil die Autorin die Vielstimmigkeit ihres Stimmenorchesters so virtuos dirigiert, gelingt ihr ein grosses symphonisches Werk, das getragen wird von Grossherzigkeit, Mut und der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit.

Julia Weber wird 1983 in Moshi (Tansania) geboren und zieht 1985 mit ihrer Familie nach Zürich. Nach der Schule macht sie eine Lehre als Fotofachangestellte und absolviert die gestalterische Berufsmaturität. Von 2009 bis 2012 studiert Julia Weber literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne. Im Jahr 2012 gründet sie den Literaturdienst (www.literaturdienst.ch ) und ist 2015 Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert“ zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht. Im Frühjahr 2017 erscheint ihr erster Roman «Immer ist alles schön» beim Limmat Verlag in Zürich. «Immer ist alles schön» wird mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem internationalen Franz-Tumler-Literaturpreis, der Alfred Döblin Medaille der Universität Mainz, 2017 steht der Roman auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Oktober bis Dezember 2022

Liebe Besucherinnen und Besucher, Freundinnen und Freunde, Zugewandte und grundsätzlich Interessierte

Zwischen Oktober und Dezember 2022 knistert es im Literaturhaus Thurgau: Dramatische Verwandlungen in dystopischer Kulisse, Kunst und Familie im Schreiben vereint, ein Sommer mit Geschichte, ein Schicksal aus der Mitte heraus, eine Virtual-Reality-Reise, eine Widerstandsgeschichte vom Ufer des Bodensees und ein AutorInnenkollektiv, das sich stellt:

Mehr Informationen auf der Webseite des Literaturhauses

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

literaturblatt.ch macht ERNST

Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

ERNST 4 / 22

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