Michael Hugentobler «Der alte Mann im Nebel», Plattform Gegenzauber

Ein niederer Beamter der argentinischen Grenzbehörde absolvierte im Dezember 1945 seinen ersten Arbeitstag in Ushuaia, als die SS Lugano anlegte, ein Passagierschiff aus Genua. So wird es erzählt. Der Grenzbeamte sah einen kahlen alten Mann, der das Schiff als erster verliess, wie er die Zugangsbrücke herunter kam, mit der Körperhaltung eines Greises und dem Schritttempo eines Läufers.
Während des Krieges hatte der Beamte am Hafen von Buenos Aires die Flut von Migranten bewältigt, die vor dem flammenden Europa geflüchtet waren. Er war es sich gewöhnt, in wirre Augen zu schauen und seltsame Antworten zu bekommen, und so dachte er sich nun wenig dabei, als er auf die Frage, was der alte Mann hier am Ende der Welt zu finden hoffe, zu hören bekam: „Das Paradies!“
Ein jüngerer Grenzbeamter mit weniger Erfahrung hätte vielleicht seinen Vorgesetzten gerufen und die Vermutung geäussert, bei diesem Herrn könnte es sich um einen Fall für zusätzliche Abklärungen handeln – allein die Tatsache, dass der Alte ausser einer zerschrundenen Ledertasche kein Gepäck hatte, dass er in unglaublicher Eile zu sein schien, und dass seine rechte Hand eine einzige Eiterbeule war, eine grotesk deformierte Keule so dick wie ein Oberschenkel, umwickelt mit einer fleckigen Mullbinde, aus der eine gallertartige Masse tropfte, gelb wie Quittengelee – aber auch dann wäre der Herr wohl früher oder später durchgewinkt worden, da es von dieser Sorte nun mal ziemlich viele gab. Zudem erschien dem Grenzbeamten die Aussage, hier liege das Paradies, keineswegs verfehlt, hatte er doch die vergangenen zwei Wochen vor seinem Arbeitsantritt auf langen Wanderungen die Kiefernwälder bewundert, die von türkisfarbenen Bächen durchschnitten wurden und sich ab der stoische Ruhe der Bewohner erfreut, die nur sprachen, wenn es wirklich etwas zu sagen gab.
Dennoch, aus reiner Neugierde, entschied sich der Grenzbeamte dazu, den Alten etwas näher auszufragen: Was es denn mit dem vermeintlichen Paradies auf sich habe?
Er kenne, sagte der Mann, diesen Flecken Erde wie seine eigene Hosentasche, das Wiegen der Scheinkiefern im Wind, den Ruf des Guanakos in der Nacht, den Geruch der Mähnenrobbe und des Seebären und des Otters, das Geräusch des Stachelbeerbusches in der klirrenden Kälte, er sei hier sozusagen zum Mann herangewachsen. Und dann tippte er mit dem ausgestreckten Zeigefinger Bergspitzen ab und sprach Namen aus, allerdings in einer Sprache, die der Grenzbeamte nicht verstand.
So kam es, dass das Visum dieses alten Deutschen im Bruchteil einer Sekunde abgestempelt wurde. Anschliessend zog der Grenzbeamte den Reissverschluss der abgewetzten Rindsledertasche zurück und fand dort einen lila Stofffetzen, von dem er im ersten Moment dachte, es sei ein alter Putzlappen. Dann aber fielen ihm die verblassten Drucke der rosaroten Chrysanthemen auf, und die ausgefransten türkisfarbenen Kontrastpaspeln am Revers, und er fragte den Deutschen, was das denn sei, und der Mann murmelte etwas von einem Pyjama und etwas von einer verstorbenen Ehefrau.
Peinlich berührt winkte der Grenzbeamte den Deutschen durch, anschliessend prüfte er die Papiere eines einarmigen Schafhirten, eines blinden Schuhmachers, und schliesslich einer Familie aus Hamburg, die ihm etwas suspekt vorkam, zumal diese Leute normalerweise per Flugzeug ins Land kamen. Zwei Mädchen mit blonden Zöpfen lächelten. Der Mann sagte, er sei Steuerverwalter, was der argentinische Beamte sofort glaubte, die Frau sagte, sie sei Hausfrau, was der Beamte ebenfalls glaubte, und dann blätterte er durch die ganzen Empfehlungsschreiben aus der Schweiz, fragte sich kurz, wozu ein deutscher Steuerverwalter solche Dokumente brauche, prüfte dann eingehend die Stempel und die Siegel und musste schliesslich einsehen, dass sich sämtliche Fragen erübrigten.
Nach der biederen Familie aber kam ihm plötzlich nochmals der alte Deutsche mit der triefenden Hand in den Sinn, er schüttelte den Kopf, zog den Rollo vor seinem Schalter, bückte sich und entnahm der Tasche zwischen seinen Füssen ein Wachspapier und eine Thermoskanne. Er wickelte eine Empanada aus dem Papier, goss sich eine Tasse Kaffee ein und verliess das Gebäude durch den Hinterausgang.
Es war ein ausgesprochen nasser und kalter Dezember, und obschon dies der südamerikanische Sommer war, war das Thermometer tagsüber nie auf über sechs bis sieben Grad geklettert, und in zwei Nächten hatte es geschneit. Der Beamte schlüpfte in seine Drillichjacke, ging um das Gebäude herum, setzte sich an der Vorderseite auf eine Bank, nippte an der dampfenden Tasse, zerbiss die knusprig gebackene Kruste der Empanada und schmeckte auf der Zunge salziges Fleisch und Kreuzkümmel. Vorne auf der Strasse sah er den alten Deutschen, in seinem zerschlissenen Gelehrtenjackett, seinen ausgefransten Bundfaltenhosen, seinen flappenden Schuhen, wie er im Laufschritt an den Barackenhäusern mit ihren Wellblechdächern vorbeiging, weiter den Hügel hoch, am Gefängnis vorbei, das wie eine Spinne mit ausgestreckten Beinen dalag.
Der Deutsche hatte den Rand der Siedlung hinter sich gelassen, als sich die Wolken am Himmel zu Türmen ballten, bald würde er die Wälder erreichen, die sich bis zum Fuss der Berge hinziehen, und die nun mit Schnee bedeckt waren, und dahinter würde sehr lange nichts mehr kommen, keine Siedlung, keine Farm, rein gar nichts ausser Wildnis, und vermutlich würde der Deutsche bald einen Wintermantel brauchen, respektive eine ganze Ausrüstung zum Überleben in der unberechenbaren Natur, Handschuhe, Stiefel, wollene Unterwäsche, Fellmütze, viele Dinge, von denen er kein einziges besass.
Der Grenzbeamte nahm das Fernglas hervor, das er am Gurt trug, und nun sah er den Mann, als stünde er nur wenige Meter hinter ihm. Er sah den kahlen Kopf und den faltigen Nacken, er sah die losen Nähte des Jacketts und den von Schweiss verfärbten Hemdkragen. Und er sah eine Wand aus Nebel und Schnee, die herannahte.
In diesem Moment drehte sich der alte Deutsche ganz langsam um. Eine Atemwolke drang aus seinem Mund und verflüchtigte sich sofort in der eisigen Luft. Er schien nicht zu bemerken, dass er beobachtet wurde, oder vielleicht kümmerte es ihn auch nicht, er richtete einen tränenden Blick auf einen unsichtbaren Punkt, auf diese oder jene Bergspitze, oder vielleicht auch auf eine Wolke. Dann schloss er die Augen, die Züge vollkommen entspannt, wie ein Mönch, versunken in einen Zustand der Ruhe und des Friedens.
Der Beamte würde an diesem Abend in seinen Tagesrapport schreiben, es sei ihm unerklärlich, wie eine derart verwahrloste Erscheinung ein solch unbeschreibliches Glück ausstrahlen könne, der Krieg möge dazu beigetragen haben, oder vielleicht sei der Mann auch schlicht und einfach verrückt gewesen.
Im nächsten Moment wurde der alte Deutsche von einem weissen Schleier geschluckt.
So wird es erzählt, in der patagonischen Nacht, wenn der Wind aus unerklärlichen Gründen zu pfeifen beginnt, und dieser Wind etwas sagen will, vielleicht sagt er sogar etwas, aber man versteht es nicht, oder will es nicht verstehen. Der argentinische Grenzbeamte legte sein Fernglas nieder, griff zu seiner Kaffeetasse und nahm einen Schluck. Ein Schauder durchzuckte ihn, vielleicht war der Kaffee kalt geworden. Er ging zurück ins Haus, setzte sich auf seinen Hocker und liess den Rollo hochschnellen.
Er hatte einen Menschen sterben gesehen. Aber das wusste er nicht. Nein, er wusste es nicht.

Michael Hugentoblers neuer Roman «Feuerland» erscheint bei dtv Ende März 2021: Thomas Bridges wächst als Ziehsohn eines britischen Missionars am südlichen Ende Südamerikas auf, unter den Kindern der Yamana. Fasziniert von der reichen Welt und Sprache dieses Volkes, beginnt er, obsessiv ihre Wörter aufzuschreiben. Diese wertvolle Sammlung, sein Buch, wird ihm Jahrzehnte später gestohlen und fällt dem deutschen Völkerkundler Ferdinand Hestermann in die Hände. Hestermann spürt, dass er es mit einem einmaligen Schatz zu tun hat. Er verschreibt ihm sein Leben. Als in den 1930er Jahren die Nationalsozialisten beginnen, Bibliotheken zu plündern, begibt er sich auf eine gefährliche Reise, um das Buch in Sicherheit zu bringen.

Im September 2021 ist der Autor Gast im Literaturhaus Thurgau.

Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» (2018) ist sein erster Roman.

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Beitragsbild © Dominic Nahr

literaturblatt.ch macht ERNST

Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

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Literaturblatt macht Ernst!

ERNST ist ein unabhängiges Kultur- und Gesellschaftsmagazin für den Mann. In seinen Reportagen, Portraits und Analysen geht die monothematische Publikation nahe ran und stellt politische und gesellschaftliche Fragen zur Diskussion. In seinen Rubriken analysiert das vierteljährlich erscheinende Magazin mit einer Auflage von rund 4500 Exemplaren insbesondere Gleichstellungs-, Geschlechter- und Familienpolitik.

Die Redaktion besteht aus einem Kern von festen Mitarbeitern und ist zudem in ein grosses Netz von freien Journalisten, Autoren und Bloggern eingebunden. ERNST wird getragen vom Herausgeberverein Männerzeitung und finanziert sich durch Abos und Inserate. Der Herausgeberverein wurde am 15. August 2005 in Bern gegründet. Sein Sitz ist in Burgdorf. Mitglieder des Vereines sind die ERNST-Macher selbst. ERNST ist aus der Männerzeitung heraus entstanden.

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Michael Hugentobler „Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte“, dtv

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert „verabschiedet“ sich Hans Roth aus dem schweizerischen Schöndorn, um 1898 als Louis de Montesanto in London weltberühmt zu werden mit seiner sensationellen Lebensgeschichte. Michael Hugentobler zeichnet aber nicht einfach die Lebenssituationen eines Sonderlings nach. Er stellt Fragen, die nicht nur der Literatur gestellt werden, sondern dem Leben, der „Wahrheit“.

1898 tauchte in London ein Mann auf, der dort eine absurde und bizarre Geschichte erzählte, wie er dreißig Jahre lang unter Aborigines in Australien gelebt habe. Sein Reisebericht wurde unter dem Titel ›Adventures of Louis de Rougement‹ sogar zum Bestseller. Michael Hugentobler schreibt in einem Interview, wie er den Mann sofort ins Herz schloss. «Nicht weil er ein Lügner war, lügen kann jeder, aber nicht jeder kann mit so viel Phantasie lügen.»

In seinem Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» erfindet Michael Hugentobler die Geschichten von Louis, der sich in seinem Roman «de Montesanto» nennt, neu. Die verrückte Lebensgeschichte eines kleinwüchsigen Wallisers, der in seiner Heimat nichts zustande bringt, zuerst bei einem Pfarrer Asyl erhält und dort «die Kunst, Wörter zu schreiben und sie zu lesen» zu lieben beginnt. Damals noch Hans Roth reist der junge Mann aber bald weiter, treibt sich während Jahren durch Dörfer, mal als Erntehelfer, Sattler, Tischlergehilfe oder Kartoffelschäler in einem Keller. Von vielen ge-hänselt treibt es ihn immer weiter, bis er in den Dienst der Schauspielerin Emma Campbell tritt, die ihn mit nach Paris nimmt, bis Hans unter dem Triumpfbogen die «Erleuchtung» kommt und er sich zu Louis de Montesanto macht.

Louis wird Butler eines Schweizer Bankiers und später Bediensteter von Sir William Stevenson, einem britischen Gouverneur auf einer Reise nach Australien. Aber dort wächst die Gewissheit, er würde so sein Leben damit verbringen, anderen zu dienen. Dies sei eine Form der Sklaverei, auch wenn sie bequem sei und ihn sättigte. Es treibt ihn weiter, zusammen mit seinem Colt Dragoon. Louis der Montesanto wird glückloser Kapitän auf einem Perlenfischerboot, strandet und verliert sich an der Küste Australiens, wo er von Aborigines «aufgenommen» wird und Jahre bei ihnen verbringt. Louis wird Vater zweier Kinder, verlässt die Ureinwohner genauso wie seine Familie, seine Kinder und landet irgendwann ausgezehrt und mit wilden Abenteuergeschichten in der Londoner High society, die nur darauf wartet, bis erkaltete Sensationen durch neue ersetzt werden.

Im zweiten Teil des Buches macht sich die Tochter Old Lady Long auf die Suche nach dem Grab ihres Vaters Louis de Montesanto, trifft ihren Bruder in einem mit Efeu überwachsenen Haus. Eine Suche nach einer Familie.
Und viele Jahre später ein Schweizer Journalist, aber nicht wie Old Lady Long mit einem Plan, sondern einem «unbestimmten Gefühl folgend».

Louis de Montesantos einziger Besitz, sein einziges Kapital, sind seine Geschichten, die er mit Phantasie aufzublasen weiss. Während 1898 die London Times titelt: Die Sensation des ausgehenden Jahrhunderts – 30 Jahre unter Wilden!, macht sich Louis auf den Weg vor die ehrwürdige Royal Geographical Society, um vor ihr zu sprechen und seine zum Bestseller gewordene Lebensgeschichte den Fragen der Wissenschaft auszusetzen. Es kommt zum Eklat und Louis verschwindet in der Bedeutungslosigkeit. So sehr ihm eine ganze Welt zu huldigen scheint, so tief ist der Fall zurück in die Armut.

«Louis» oder Der Ritt auf der Schildkröte» ist eine Ikarus-Geschichte. Beispielhaft für viele, die sich im Laufe der Geschichte zu nahe an die verschiedensten Sonnen wagten, um gnadenlos abzustürzen. Über eine Gesellschaft, die wie heute nach Sensationen lechzt, nach ihr geifert. Beim Erwachen aber spuckt man jene aus, demütigt sie ebenso, wie man sie fliegen liess. Dabei erzählte Louis eigentlich nur Geschichten, genau jene, die die Gesellschaft hören will.

Mein Interview mit Michael Hugentobler:

In Gesprächen um die Qualität einer Romans muss ich immer wieder eine Lanze brechen, dafür, was die Literatur darf. Sie darf erfinden. «Lüge» wird zum
Programm. Ausgerechnet in der Literatur traut man dem Buch nicht, wenn es an Glaubwürdigkeit zu verlieren scheint. So wie bei einem Film «nach einer wahren Begebenheit» suggeriert wird, dort bilde man die Wahrheit ab, prüft man Literatur wie Zeitungen nach ihrem Wahrheitsgehalt. Ihr Protagonist scheitert daran genauso wie Beispiele aus der Gegenwart. Brechen Sie eine Lanze?
Ich entschied mich bei Louis bewusst gegen die Reportage, die sich an die Wahrheit hält – und für den Roman, der Erfindung zulässt. Was mich an Louis fasziniert, ist seine feuerwerksartige Phantasie, und dafür ist die Fiktion die spannendere Form. In einer Reportage hätte das platt gewirkt, im Roman aber wird das Explosive spürbar. Ich verstehe natürlich, wenn sich Leser fragen, was nun wahr sei und was Erfindung – aber meiner Ansicht nach ist diese Frage irrelevant, denn ein Roman ist ein Kunstwerk und hat sich nicht an der Wahrheit zu messen. Ich habe Louis’ ohnehin schon erfundenen Namen nochmals neu erfunden, um genau das zu suggerieren.

Da zieht einer aus, aus der Enge der Schweiz, aus der Vor- und Fremdbestimmung hinaus ins Abenteuer. In ihrem Roman wird Louis de Montesanto auch zu einem Prediger der Bescheidenheit, gegen den Besitz, gegen Geld und Ballast, zu einem, dem schlussendlich niemand mehr zuhört. Wie weit ist ihnen «Verzicht» angesichts dessen, was uns in den Medien vor Augen geführt wird, Herzenssache?
Louis wird zwischen diesen zwei Polen hin und her gerissen: zwischen der Armut auf der einen Seite und dem Prunk auf der anderen Seite – bis es ihn schier zerreisst. Dass er Bescheidenheit predigt, zeigt sein Mass an Freiheit auf. Er ist ein unglaublich freier Mensch, der tut, was sich die meisten von uns nicht trauen würden: Den Namen ablegen etwa. Oder die eigenen Charaktereigenschaften ablegen und die Charaktereigenschaften des Gegenübers annehmen. Ich habe eine sehr ambivalente Beziehung zu Louis, gewisse Seiten an ihm kann ich nicht ausstehen. Andere bewundere ich sehr, zum Beispiel den an Askese grenzenden Verzicht – aber ich persönlich bin nicht so.

Ihr Roman ist eine «Ikarus-Geschichte». Wehe dem, der sich zu nahe an die Sonne wagt. So hoch hinaus, so tief der Fall. Und trotzdem lechzt die Gesellschaft heute genauso wie die Londoner Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert nach Sensationen, nach Menschen, die es wagen, Menschen, die ausbrechen, Menschen, die Sensationen verkörpern. Eigentlich wird Hans Roth alias Louis de Montesanto abgestraft für seinen Mut, seine Phantasie und seine Kompromisslosigkeit. Braucht die Gesellschaft nicht einfach doch nur die Bestätigung, dass Bravheit und Rechtschaffenheit das Mass aller Dinge sind?
Natürlich werden die Braven und Biederen immer die Frechen und Mutigen bewundern, sie beim Versagen aber gnadenlos abstrafen. Anders könnte die Gesellschaft wohl nicht funktionieren, sonst würde dieses fragile Gebilde zusammenbrechen. Seltsamerweise aber bleiben über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg hauptsächlich jene in Erinnerung, die einst ausbrachen und Gefahr liefen, sich lächerlich zu machen. Odysseus zum Beispiel, oder Gilgamesch. Vielleicht braucht es diese Reibung, damit Funken sprühen und die Menschheit weiterbestehen kann.

Sie waren selbst lange Zeit in den verschiedensten Gegenden der Welt unterwegs. Ein Reisender mit Stift und Papier. Ist es heute nicht viel schwieriger zu reisen? Auf der einen Seite unendlich viel bequemer, aber fast nicht mehr wirklich hautnah, sich wirklich vom Bekannten entfernend?
Während den 13 Jahren, die ich unterwegs verbrachte, gab es einen ungeheueren technologischen Fortschritt. Auf meiner ersten Reise rief ich alle paar Wochen nach Hause an, aber danach hatte ich keinerlei Kontakt mehr zur Schweiz oder zu Europa. Ich stieg in einen Nachtbus und hatte keine Ahnung, wie es dort aussieht, wo ich an nächsten Morgen aussteigen werde. Ich kam als komplett Fremder in einer fremden Umgebung an – ein Gefühl, das ich über alles lieben lernte. Auf einer der nächsten Reisen richtete ich mir eine E-Mail-Adresse ein, und darauf kamen Tripadvisor, Google Earth, Facebook, noch im kleinsten Kaff konnte man ein Hotel mehrere Tage im Voraus reservieren und virtuell durch die Strassen der Ortschaft gehen. Ich urteile nicht darüber, welche Form des Reisens nun besser oder schlechter ist. Aber ich bin froh, dass ich nicht im 19. Jahrhundert unterwegs war. Allein das Fehlen von Penicillin hätte mich wohl sehr früh das Leben gekostet.

In einem Interview erzählen Sie, dass sie eigentlich die Lebensgeschichte ihrer Tante Mary zu einem Roman verarbeiten wollten. Waren Sie auf ihren Reisen auf den Spuren ihrer Tante? Wird aus der Absicht nun doch noch ein Buch? Oder warten Sie neben ihrer journalistischen Arbeit erst mal ab, bis jemand die Filmrechte kauft?
Mary ist ein Stoff, den ich seit vielen Jahren mit mir herumtrage und dem ich auch das eine oder andere Mal hinterher reiste. Ich würde die Geschichte lieber heute schreiben als morgen, aber die richtige Stimme habe ich leider noch nicht gefunden. Niemand kann wissen, was weiter mit Mary passiert.

Vielen Dank für das Interview! (Die Illustrationen stammen aus dem 1899 erschienen Buch «The Adventures of Louis de Rougement As Told by Himself», mit freundlicher Genehmigung des Verlags dtv)

Michael Hugentobler liest an den 40. Literaturtagen in Solothurn aus seinem fulminanten Erstling, der mehr als nur nacherzählt. Michael Hugentoblers Roman sprüht vor Fabulierlust, zeichnet mit satten Farben und entlarvt eine Gesellschaft, die wie heute nach Sensationen giert.

Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. ›Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte‹ ist sein erster Roman.

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Titelfoto: Louis de Rougement: Der Mann, durch den diese Geschichte inspiriert wurde.