Gallus Frei verabschiedet sich mit Gästen im Literaturhaus Thurgau

Und damit endet meine Intendanz am Literaturhaus Thurgau. Nicht weil es mit nicht gefallen hätte, weiterhin die verschiedensten Gäste ins schmucke Gottlieben am Seerhein einzuladen. Aber eine Amtszeit im Literaturhaus Thurgau ist stets zeitlich begrenzt und die Idee, mit jeder Neubesetzung frischen Wind ins Haus zu bringen, eine gute.

Mein Dank an die Bodman-Stiftung für das entgegengebrachte Vertrauen, den Geschäftsstellenleiterinnen der Stiftung Brigitte Conrad und Monika Fischer für die Zusammenarbeit, der Buchbinderin Sandra Merten für die Unterstützung, Sandra Kottonau für die in Freundschaft geschossenen Fotos. Ganz speziellen Dank gebührt Lea Le für all die Illustrationen, die meiner Intendanz ein eigenes Gesicht gaben.

«Lieber Gallus, während dreieinhalb Jahren hast du im Bodmanhaus ein ausserordentlich vielseitiges und spannendes Programm gestaltet. Du hast viele Autorinnen und Autoren eingeladen und das Publikum mit einer grossen Zahl von Büchern bekannt gemacht, die kennenzulernen sich jedes Mal lohnte. Zu Hilfe kam dir bei der Programmgestaltung deine enorme Belesenheit und deine grosse Neugier auf alles, was im Literaturbetrieb geschieht, auch dass du persönlich viele Autorinnen und Autoren kennst und mit vielen auch befreundet bist. Das alles konnte man beobachten in diesen dreieinhalb Jahren, und das Publikum hat davon profitiert. 
Zum Programmgestalten kamen dann auch die Moderationen deiner Veranstaltungen. Dank deiner Feinfühligkeit und Empathie sowohl den Autorinnen und Autoren als auch den Texten gegenüber ist es dir gelungen, jede Lesung zu einem interessanten Gesprächsanlass mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu machen, der dem Publikum den jeweiligen Text und die Autorin oder den Autor näherbrachten und zu neuen Einsichten führte. Der Besuch einer von dir moderierten Lesung hat sich immer gelohnt.

Du hast die Programmleitung in einer schwierigen Zeit übernommen. Kaum hast du angefangen, kam die Pandemie, was hiess, dass viele Veranstaltungen abgesagt oder umgeplant werden mussten. Das bedeutete viel Arbeit für dich, zum Teil auch vergebliche. Du hast dich aber nicht unterkriegen lassen. Nach der Pandemie wurde die Welt nicht besser, wie wir leider wissen. Da stellt sich die Frage, welchen Platz die Literatur in diesen Zeiten hat. Durch dein Programm hast du gezeigt, dass sie sehr wohl einen Platz hat, nicht nur in deinem Herzen oder im Bodmanhaus, sondern in der Welt – gerade auch dann, wenn diese aus den Fugen ist.
Für deine grosse Arbeit und dein Engagement für das Bodmanhaus danke ich dir im Namen des Stiftungsrats ganz herzlich. Ich freue mich darauf, dir bei weiteren Literaturveranstaltungen begegnen zu dürfen.» Lorenz Zubler, Präsident der Bodman-Stiftung

Meine Gäste an diesem Abend:

«Kalt war’s, und schön war’s. Wörter flogen auf, der Himmel segelte übers Wasser, das Ufer wurde unterspült, jemand bekam kaum Luft – Schreiben im Geborgenen, im Getriebenen. Darüber sprachen wir, und zum Glück hat Urs Faes all das gesagt, was ich vergaß zu sagen. Gallus Frei Tomic hat’s gebündelt und zu einem guten Ende zusammengeführt.» Alice Grünfelder 

«Durch tiefverschneites Land auf langen Umwegen zur Lesung (ein Abschied) gekommen. Atmosphäre über Fluss und Ort und unterm Dach: eine Musik, die trägt; Worte, Bücher, Gesichter, und noch einmal diese ganz besondere Stimmung, die Gallus schafft: so gerät man ins Gespräch, das tief und leicht zugleich ist, ein Abend, der unverwechselbar und erinnerungsdicht bleibt, eine nachklingende Freude.» Urs Faes

«Seit vielen Jahren sind Dominic Doppler am Schlagzeug und ich an den Saiten mit Gallus unterwegs. Unsere gemeinsame Liebe zum Geschichtenerzählen, sei dies in Worten oder mit Musik, verbindet uns. Der Verabschiedungsabend von Gallus in Gottlieben war wunderbar. Einmal mehr erlebten wir ihn als Menschenfreund, aufmerksamen Zuhörer und intelligenten Fragesteller. Durch seine Moderation erschliessen sich die gelesenen Texte in mehrdimensionaler Form. Das wir einmal mehr mit unserer Musik mit dabei sein durften, macht uns glücklich.» Christian Berger & Dominic Doppler

«Wir sind dir für die vielen Begegnung neben der einzigartigen literarisch-musikalischen Lesung in Gottlieben unendlich dankbar. Schwierig in Worte zu fassen, waren es doch tief beglückende Stunden, in denen alle Sinne angeregt wurden. Wir freuen uns, wenn du weiterhin als «Literaturblatt» am Bücherhimmel strahlst.» der Bär, ein Freund

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Ich lade Sie ein ins Literaturhaus Thurgau! 2. Dezember 18 Uhr!

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung im Literaturhaus Thurgau waren es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künstlerinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Autorenwohnung, die das literarische Leben im Bodmanhaus ausmachten. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten und Interessierten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein. Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen („Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land“, u. a.) und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen bei Suhrkamp «Halt auf Verlangen» und «Untertags«. Urs Faes lebt in Zürich. Er nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren Projekten bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können. 

Datum: Samstag, 2. Dezember 2023
Zeit: 18.00 Uhr / Türöffnung 17.30 Uhr
Ort: Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 15.- regulär // CHF 10.- Freunde des Bodmanhauses // CHF 5.- in Ausbildung und KulturLegi

Hier zur Anmeldung!

Die Gäste im Literaturhaus Thurgau von September bis Dezember 2023

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau, liebe Literaturinteressierte, liebe Leserinnen und Leser dieser Webseite

Mein letztes Programm für das schmucke Literaturhaus am Seerhein, wo ich während dreieinhalb Jahren das Programm gestalten durfte. Schon jetzt melden sich erste Vorboten der Wehmut, weil sich gewisse Arbeiten bereits nicht mehr wiederholen werden. Intendant dieses Hauses zu sein, bedeutet mir sehr viel. Vor vier Jahren wurde ich telefonisch angefragt und es war, als hätte man mich mit einem übergrossen Geschenk beehrt. Eine Aufgabe, in die ich hineinwachsen musste, die mir ganz und gar entsprach; Gastgeber im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben.

Am Samstag, 2. Dezember, 18.00 Uhr: „Frei(ab)gang“ Gallus Frei-Tomic verabschiedet sich mit Gästen: Alice Grünfelder, Urs Faes und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung werden es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künsterinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Wohnung des Literturhauses, die das Leben in den obersten beiden Stockwerken des Literaturhauses ausmachten, gewesen sein. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. 

Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein.

Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Ein Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk, fast ausschliesslich bei Suhrkamp erschienen, wurde mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Schweizer Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Heute lebt Urs Faes in Zürich. Urs Faes nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren gemeinsamen Projekten, zum Beispiel mit jungen CH-Schriftstellerinnen und ihren Romanen oder internationalen LyrikerInnen mit lyrischen Texten, bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können.

Abgerundet wird die Veranstaltung durch einen reichen Apéro. Ein Anmeldung ist unbedingt erwünscht!

Gekelterte Augenblicke – Buchtaufen mit Jochen Kelter

«Exil ist ein doppelter Grund, nirgendwo einheimisch zu werden», eine Aussage des 75jährigen Dichters Jochen Kelter, die auf viel mehr verweist, als auf das Geographische. Aber wenn Jochen Kelter irgendwo zuhause ist, dann in der Sprache, in der Dichtung, seiner Lyrik.

Schreibe dem Wesen der Dinge
Zeile für Zeile den Ton deiner

Seele ein deiner Zeit und das
Grauen der Macht die allein
sichtbar werden im Licht einer
denkenden Pupille auf dem Papier

(aus «Fremd bin ich eingezogen», Caracol Lyrik, 2020)

Moderator Urs Faes verstand es auf eindrückliche und einfühlsame Weise, das Publikum an die neuen Gedichte Jochen Kelters heranzuführen. Jochen Kelter, der ein Leben schreibt, sein Leben schreibt, auf die Welt und die Zeit mit Dichtung und Sprache reagiert, wohl aus den Momenten heraus, aber immer durch den Filter einer intensiven Auseinandersetzung.

«Wörter sind Zeitritzen.»

Jochen Kelter ist ein Heimatloser, der aber klar und deutlich zu Heimat, Zeitgeschehen, bis hinein in die Politik, Stellung bezieht, sei es in seinen Romanen, Erzählungen, seinen Essays und mit Sicherheit in seiner Lyrik. In diesem und im letzten Jahr gar mit zwei Gedichtbänden, beide im neu gegründeten Caracol Verlag erschienen und arg bedrängt durch die Umstände der Zeit. Umso wichtiger für den Dichter, dem zu seinem 75. Geburtstag das schreibende und mitfühlende Gegenüber seines Dichterfreundes Urs Faes zu einem Geschenk wurde.

Try and catch the wind

Versuch ihn zu fangen den Wind
versuche die Zeit anzuhalten
die Gelegenheit kommt so bald nicht
wieder beim Marsch auf Washington
I had a dream war nie die Chance
so gross die Welt zu verändern einen
Sitz im Bus neben einem Weissen
zu erklimmen die Blechhütten
zu verlassen the times they are
a-changing geht nicht in den Krieg
nach Vietnam für die Kriegsherren
die jedes Mass verlieren auf
euren Knochen sondern help us raise
raise the prisons to the ground
nie sei sie glücklicher sagt Joan Baez
als wenn ihr Einsatz für Menschsein
und die singende Stimme eins würden
Zivilcourage Kunst zu Zivilcourage
wird gesegneter war Amerika nie
seiner hellen schwarzen Seele näher
die Fotografien beinahe vergilbt

(aus «Im Grauschlaf stürzt Emil Zátopek», Caracol Lyrik, 2021)

Das Wunder der Literatur spiegelt sich in der Lyrik des Altmeisters, der in seinen Anfängen auch schon «unter Polizeischutz» aus seinen Büchern vorlas, weil er in seinem Schreiben, selbst in seiner Lyrik, kein Blatt vor den Mund nimmt. Jochen Kelter macht kleine Momente zu grossen Worten, zarte Melodien zu ernsten Themen, gibt pointierten Sätzen leise Sohlen. Es sind Blicke in tiefe Vergangenheit, manchmal warm, manchmal beissend. Blicke auf die Gegenwart ohne Sentimentalität, aber mit der Kraft eines Mannes, der durch den kleinen Augenblick in die Tiefen blicken kann. Flüchtiges wird zu Wichtigem, manchmal sogar durch Bilder und Figuren wie die Engel, die auf den ersten Blick so gar nicht zum Dichter zu passen scheinen.

Jochen Kelter und Urs Faes

«Nur was versehrt ist, spricht wahr.»

Jochen Kelter ist 1946 in Köln geboren. Studium der Germanistik und Romanistik in Köln, Aix-en-Provence und Konstanz. Lebt seit 50 Jahren auf der Schweizer Seite des Bodensees in Ermatingen (von 1993 bis 2014 zudem in Paris). Lyriker, Erzähler, Essayist. 1988 bis 2001 war er Präsident des European Writers’ Congress, der Föderation der europäischen Schriftstellerverbände, und von 2002 bis 2010 Präsident der Schweizer Urheberrechtsgesellschaft ProLitteris. Jochen Kelter hat Lyrik aus dem Italienischen, Französischen und Englischen ins Deutsche übersetzt. Er ist Mitglied des AdS (Autorinnen und Autoren der Schweiz) und des PEN-Zentrums Deutschland.

Einer, der die Sprache sucht – ein Abend mit Urs Faes

«Schon der Ort, viel beschrieben, zeigte sich an diesem Septemberdonnerstag von seiner zauberhaften Seite: ein mildes Spätsommerlicht über den Dächern, über dem Wasser, über den Wellen, flockig flatterndes Laub – und die Verzauberung drang durch die offenen Fenster in den Raum unterm Dach, mit dem Duft von Meer und Weite, mit Sonne, die auf die Gesichter sich legte. Wieder Lesung vor Menschen; Gesichter, wenn auch noch unter Masken, die ein Mienenspiel verrieten, ein Nicken, ein unter der Maske scheues Lachen, ein Augenspiel, Blicke, zustimmende Gesten, gehaltene Augenblicke, «gestundete» Zeit – Lesezeit. Ein Wunder nach der Pandemie-isolation. Und da ist ein Gallus, der heranführt an Buch und Autor, an Stoff und Stern. Sternstunde. Dieser passionierte Leser mit dem Blick für das Wesentliche, für Nuancen und Details, für Laute und Klänge, für Silben und Sonden. Einer, der Bücher liebt, mit Fragen Räume öffnet, Gesprächsräume, Stoffräume, Leseräume, Räume zum Hören und Träumen: Lesetraumraum Gottlieben – und der schmale Spätmond über den Dächern nickt versonnen.» Urs Faes

Bücher werden nicht mit Stiften, weder mit Schreibmaschinen noch mit Computern geschrieben. Urs Faes ist «Schreiben» in Person, ganz Schreiben. Sein neuster Roman «Untertags» hat 15 Jahre Entstehungszeit gebraucht, bis er sich zwischen zwei Buchdeckel kleben liess. So war der Abend mit Urs Faes die Einweihung in seine Geheimnisse!

Urs Faes «Raunächte». Rezension auf literaturblatt.ch

Urs Faes Spur durch die Literatur ist mehr als 45 Jahre lang. Seine ersten Veröffentlichungen erschienen in Zeitungen und Zeitschriften und 1975 sein erstes Buch, sein Gedichtband «Eine Kerbe im Mittag». Nach einem Dutzend Romanen, vielen Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken gehört Urs Faes zu den Säulen der Schweizer Literaturszene. Als Hausautor von Suhrkamp sowieso und geadelt durch zwei Erzählungen, die in der Insel-Bücherei erschienen (2012 «Paris. Eine Liebe» und 2018 «Raunächte»). Dass Urs Faes nach so vielen preisgekrönten Büchern noch immer zu den Geheimtipps gehört und keines seiner Bücher von den Massen gelesen wird, zeigt, dass die Literatur dieses Meisters weder zum Fastfood noch zur leichten Küche gehören. Was Urs Faes in seinem Schreiben auftut, sind sowohl literarische wie thematische Tauchgänge in die Tiefe. «Keine leichte Kost», meinte ein Besucher bei einem Glas Wein im Anschluss an die Lesung im Literaturhaus Thurgau.

Stimmt, sein Roman «Untertags», eine Liebesgeschichte, eine Familiengeschichte, eine Findungsgeschichte, ein Abschiedgeschichte ist keine leichte Kost. «Ich wollte nicht noch ein Buch über Demenz schreiben, noch einen literarischen Erfahrungsbericht. Schon deshalb, weil ich den Begriff nicht mag und er in meinem Buch nicht einmal vorkommt. Demenz kommt von ‹ohne mens’‚ ‹ohne Verstand›. Aber selbst Kleinkinder sprechen wir den Verband nicht ab, auch wenn die Kommunikation ganz anders funktioniert.» Urs Faes begleitete Paare, die mit dieser Krankheit zu kämpfen hatten, bekam schriftliches Material von Betroffenen, erlebte mit, was es heisst, sie zu begleiten. Und so wie seine Recherche eine behutsame, innige und langfristige Annäherung ist, so ist sein Buch «Untertags» eine behutsame, innige Annäherung an eine Liebe, die sich auch durch die Diagnose «Demenz» nicht auslöschen lässt.

Urs Faes «Untertags», Suhrkamp, 2020, 239 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42948-8

Urs Faes schildert mit aller Behutsamkeit genau das, was das Erkennen in der Liebe ausmacht. Es ist nicht die bedingungslose Offenbarung, sondern die bedingungslose Hingabe. Was am Anfang zwischen Herta, der Erzählerin und Jakov Blumenthal, dem Mann mit den Cowboystiefeln durchaus ein zweiter Frühling war, wird zu einem langen, gemeinsamen Winter. Schweigen breitet sich aus. «Untertags» ist eine berührende Liebesgeschichte frei von jeder Sentimentalität, eingetaucht in die Ehrlichkeit eines Autors, der nicht beschönigen will und es in seiner ganz eigenen Art schafft, die Liebe in ihrer ganzen Kraft zu besingen.

Urs Faes breitete an diesem Abend seine Welt, sein Denken, sein Handeln, sein Herangehen an die Vielfältigkeit der Themen seines Romans aus. Urs Faes schreibt nicht mit Stift, auch nicht mit Tasten, sondern mit seinem ganzen Sein!

Rezension von «Untertags» mit Interview auf literaturblatt.ch

Gespräch mit Urs Faes über sein Buch «Untertags

Das 54. analoge Literaturblatt ist versandfertig!

«Die sind aber auch wirklich wunderschön gemacht, war auch einmal Teil davon und sehr begeistert!» Jürgen Bauer

«… und dann schwimmt vor Jahresende noch so eine zauberisches Literaturpost in meine Wohnung . Das ist wirklich eine Besonderheit! Vielen lieben Dank» Katharina J. Ferner

«Gibt’s denn sowas noch? Handgeschriebene, gezeichnete Buchempfehlungen. Dochdoch, die gibt’s bei literaturblatt.ch!» Joachim B. Schmidt

«Lieber Schweizer Initiator des Literaturblattes, dass es so etwas Schönes und liebevoll Gestaltetes wie das analoge Literaturblatt noch gibt, begeistert mich. Als ich das Literaturblatt sah, war es um mich geschehen. Ich freue mich sehr und denke, die Zusendungen werden Jahreshighlights sein.» Birgitta Nicola, Buchhändlerin und Illustratorin

Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.

Für mindestens 100 Fr/€ schicke ich ihnen als Freunde der Literaturblätter 10 Literaturblätter, 5 – 6 pro Jahr. Zudem sind sie auf literaturblatt.ch vermerkt.

Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.

Kontoangaben:
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil
Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil
CH16 8137 3000 0038 6475 8
SWIFT-BIC: RAIFCH22

Urs Faes «Untertags», Suhrkamp

Wovor fürchten sie sich? Vor den „grossen“ Katastrophen oder den kleinen? Jenen, deren Fangarme in den Medien nach uns greifen oder jene, die sich ganz still und leise in unser Bewusstsein schleichen und dort hartnäckig als Ängste und Bedrohungen haften bleiben? Urs Faes erzählt in seinem neuen Roman in seiner ganz eigenen, seismographisch empfindsamen Sprache von drohenden Abgründen, die sich hinter der Normalität verbergen.

Herta lernt in einem Frankfurter Flughafenterminal einen Mann kennen. Einen, der so gar nicht in ihr Schema zu passen scheint, einen mit Cowboystiefeln und Cowboyhut, einen, über dessen ausgestreckte Beine sie beinahe stolpert. Sie wartet auf ihren Flug nach Zürich, er auf den seinigen nach New York. Ein paar Monate später steht der Mann vor ihrer Haustüre, mit einem grossen, abgenutzten Seesack und der Absicht zu bleiben, obwohl Hertas Kinder Dorit und Eliane ihre Mutter nicht verstehen und sie für überdreht und bekloppt halten.

Jakov Blumental war vor Jahrzehnten in die Staaten ausgewandert, war in der Textilbranche erfolgreich, hatte Familie, Kinder drüben und einen Sohn, der viel zu früh gestorben war. Herta war mit einem Internisten verheiratet, aber immer nur die Ehefrau des Internisten geblieben. Und als dieser sich mit einer Jüngeren in einen zweiten Frühling absetzte, war Herta allein. Was sich zwischen Herta und Jakov anbahnt und sich schnell als dauerhaft abzeichnet, wird für die beiden zu einem zweiten Leben, wenn auch nicht mit gleichen Vorzeichen und Auswirkungen. Schon nach wenigen Jahren zeigt sich, dass Jakov, der nie viel von seiner Vergangenheit freigeben wollte, zuerst der Zerstreutheit und später dem grossen Vergessen zum Opfer fällt. Und als Jakov dann bei einer genauen Diagnose nicht nur einer allmählich wachsende Demenz zugeschrieben wird, sondern der Aussicht, dass sich aus dem schwindenden Gletscher des fest Eingeschlossenen Verfestigtes auftauen werde, das sich einer Zuordnung verweigere und bei Jakov Ungeahntes auslösen kann, wird das Zusammenleben der beiden auf eine harte Probe gestellt.

«Ich bin vergesslich geworden, aber ich vergesse nicht, dass ich vergesse.»

Urs Faes «Untertags», Suhrkamp, 2020, 239 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42948-8

Herta weiss, dass es in Jakovs Vergangenheit Dinge gibt, die ihr immer verschlossen bleiben. Und als sich das Vergessen bei ihm immer mehr im Alltag bemerkbar macht, in seinen Absenzen, Krisen, seinen Träumen und Notizen, kommt auch noch die Angst, einen Menschen ganz allmählich zu verlieren, auf verschlossene Kammern zu stossen, deren konservierte Atmosphäre das zu vergiften droht, was ihr noch geblieben ist. Kenne ich jenen Menschen, der mir am nächsten ist? Sind die Nächsten jene, von denen ich mir Jahrzehnte lang ein unumstössliches Bild zu machen traute? Was bleibt, wenn man mir nimmt, was stets in Stein gemeisselt schien?

Urs Faes schreibt die Geschichte von Herta und Jakov in Rückblenden, aus der Sicht Elianes, der Tochter Hertas. Herta sitzt am Tisch in ihrem Haus, in dem sich nach den Ereignissen um das langsame Sterben Jakovs langsam die Stille und Gleichförmigkeit wieder einstellt. Vor ihr auf dem Tisch stehen zwei Urnen. Herta will nur den einen Teil Jakovs Asche durch die Firma Ash Logistics nach Übersee liefern lassen. Ein Teil soll bei ihr bleiben. Einen Teil will sie für sich behalten. Nicht nur die Asche, sondern auch jenen Jakov, der ihr eine zweite Liebe schenkte.

«Kann man einen Menschen lieben, der einem kaum noch kennt, der nur noch selten zu einem spricht? Der oft spricht, ohne etwas zu meinen?»

An seiner Buchtaufe im Literaturhaus Zürich betonte Urs Faes, wie wichtig es ihm gewesen sei, nicht einfach einen weiteren Demenz-Roman in eine lange Reihe stellen zu wollen. „Untertags“ erzählt von den Sedimenten unserer persönlichen Geschichte. Davon, dass wir uns mit Bedacht eine Gegenwart zurechtrücken, die wir wie einen Garten hegen und pflegen. Davon, dass unter diesem Garten Magma- und Methankammern lauern, die jederzeit aufbrechen können, erst recht dann, wenn uns Demenz, Alter und Erschöpfung die Schaufel aus der Hand nehmen.

Urs Faes schildert mit aller Behutsamkeit genau das, was das Erkennen in der Liebe ausmacht. Es ist nicht die bedingungslose Offenbarung, sondern die bedingungslose Hingabe. Was am Anfang zwischen Herta und Jakov durchaus ein zweiter Frühling war, wird zu einem langen gemeinsamen Winter. Schweigen breitet sich aus. „Untertags“ ist eine berührende Liebesgeschichte frei von jeder Sentimentalität, eingetaucht in die Ehrlichkeit eines Autors, der nicht beschönigen will und es in seiner ganz eigenen Art schafft, die Liebe in ihrer ganzen Kraft zu besingen.

© Jürgen Bauer

Interview:

Jakov ist untertags unterwegs, schreibst du. Er ist wohl noch da, aber eigentlich schon zum grössten Teil abgetaucht. Für Liebende muss es eine schreckliche Erfahrung sein. Ebenso schrecklich für jene, die langsam ins Vergessen einsinken. Steckt da auch eine Portion Angst von dir?
Das Schwinden der Worte gehört zu den Verlusten, ein Abnehmen der Merkfähigkeit, also auch der Teilhabe an der Gegenwart, des Seins in der Gegenwart und der Rückkehr in Erinnerungen, jene Hallen des Gedächtnisses, in denen alles bewahrt ist, was ein Mensch erfahren hat.
Für sein Gegenüber, das Du, ist das gewiss schmerzhaft, aber nicht nur schrecklich, denn es gibt darin auch tröstliche Momente. Sie finden andere Sprachen, immer wieder, noch spät, und darin die Fülle gelebter Augenblicke, Freude an dem, was schön ist. Der gemeinsame Blick auf eine Distel zum Beispiel, der Gang in Landschaften, sogar hoch zu Pferd. 
Es stimmt schon: die Erfahrung, wie bedürftig und gefährdet wir sind, die ich durch eigene Krankheit gemacht habe, diese Sicht auf unsere Hinfälligkeit, die war immer bewusst. So schwangen eigene Ängste im Erzählen unbewusst mit, auch wenn das Erzählte eine andere Geschichte ist.

Du erzählst die Geschichte von Herta, ohne sie auszuleuchten. Genauso die Geschichte Jakovs. Das scheint eine deiner Grundeinsichten in deinem Roman zu sein. Dass man weder sich selbst noch sein nächstes Gegenüber erkennen kann, auch wenn man den Begriff des „Erkennens“ beinahe mystifiziert. Du bist kein „Sezierer“, wohl eher ein Schriftsteller, der seinem Personal mit allem Respekt möglichst nahe zu kommen versucht. Gibt es Grenzen der Nähe? Im Schreiben und in der Liebe?
Figuren sollen knapp und genau gezeichnet sein, aber immer so zurückhaltend, dass Ihnen auch ein Geheimnis bleibt, und das Portrait im Kopf des mündigen Lesenden entsteht (wie der letzte Vers eines Gedichtes auch erst im Kopf des Lesenden sich bilden soll). Der Erzähler hält sich zurück, das ist die halbe Kunst seines Handwerks: sich zurück – und die Geschichte von Erklärungen freizuhalten. Denn auch erzählte Figuren haben eine Aura von Würde, der man mit Respekt begegnen soll.
Und wo sind neben dem Erzählen diese Grenzen von Nähe wichtiger als in der Liebe: Amo, volo ut sis, ich liebe dich, lautete ein Satz aus dem Mittelalter, damit du der sein kannst, der du bist. Dem andern seinen Raum lassen, damit er seine Autonomie wahren kann (vielleicht auch sein Geheimnis), die ebenso ein Grundbedürfnis ist wie jenes nach Liebe und der Verheissung auf Geborgenheit. Das Gebot von Nähe und Distanz ist wichtig.

Herta wagt noch eine Reise mit Jakov in die Staaten. In der Hoffnung, Jakov Anknüpfung zu bieten und sich selber Antworten auf all die Namen und Gesten ihres Mannes, die ihr Rätsel aufgeben. Eine Reise, die mehrfach nah am Fiasko vorbeischrammt. Drohen nicht in allen Beziehungen „Büchsen der Pandora“?
Herta hofft mit ihren Reiseplänen auf jene Momente des Wiedererkennens von Menschen, Situationen, Orten, die ein Aufgehobensein in der Gegenwart noch einmal ermöglichen, erfüllte Augenblicke. Sie sind möglich, bis spät; es ist auch der Versuch, sich immer neu dem Leben zuzuwenden, zu leben, was noch möglich ist. Hier ist es allerdings schon sehr spät.
Beziehungen müssen nicht eine Büchse der Pandora sein. Aber natürlich ist es so, dass Unvorhergesehenes zum Leben, zu Beziehungen gehört, die gefährdet sind, wie der Einzelne auch. Jede Form von Leben ist immer auch ein Weg ins Nichtversicherbare, so sehr wir das Ausblenden und hundert Versicherungen abschliessen. Aber diese Ambivalenz ist zu ertragen.
Bei Jakov ist es ja auch nicht nur eine Büchse der Pandora, die sich öffnet, sondern aus der Vergangenheit taucht eine grosse Liebe auf, Ini, der dunkle Kern des Romans, und wird noch einmal, schon fast kindlich rein, Gegenwart. Traumatisch war allerdings ihr Ende. Auch das öffnet sich.

«Untertags» auf dem 54. analogen Literaturblatt

Du schreibst die Geschichte aus einer weiblichen Perspektive. Ist es leichter, damit Distanz zu wahren?
Es geht im Buch, auf verschiedenen Ebenen, um das Erzählen. „Nur im Erzählen kehrt das Leben zurück“, heisst es einmal. Erzählen antwortet oft auf einen Verlust (Wer sein Land oder seinen Partner verliert, erzählt davon). So geht es auch Herta. „Sie musste erzählen. Den andern. Und sich. Vor allem sich.“ Im Erzählen findet sie wieder zu sich, gewinnt Halt, Ich-Kohärenz. Sogar Patienten mit Diagnose gewinnen im Gedächtnistraining eine zumindest temporäre Identität. Ich habe das beim Recherchieren mit Erstaunen beobachtet. Es verweist auf einen Gedanken in der jüdischen Erzähltradition, dass Erzählen heilt. Ich selber kehre immer wieder zum Erzählen zurück, im eigenen Leben, im Schreiben. So ist «Untertags» ein Buch, das wohl von Verlusten berichtet, aber eben auch vom Erzählen, das Verluste aufhebt in Geschichten.
Mag sein, dass ich der weiblichen Perspektive aufmerksamer, behutsamer folge, weil ich sie immer neu wahrnehmen muss. Das war schon in meinem Erstling «Webfehler» so. Und seither immer mal wieder.

„Wenn man Sprache auch als ein Haus begreife, worin der Mensch wohne, dann müsse doch einer, der die Worte verliere, ins Nichts geraten, unbehaust sein“, sagt Eliane zu ihrer Schwester Dorit. Ist das nicht eine reichlich optimistische Anschauung? Müsste man nicht feststellen, dass viele Erdbewohner Teilobdachlose sind?
Ich wäre in der „Obdachlosenfrage“ nicht so skeptisch. Ich habe schon als Kind im Quartierladen meiner Mutter beobachtet, wie sehr Menschen ein Urbedürfnis haben, zu erzählen, also Worte zu finden, für das, was sie angeht, sie beschäftigt oder bedrückt. Das ist Sprechen und Sprache. Man kann sogar sagen, dass Menschen eine Tendenz haben, oder in ihrem Bewusstsein eine solche besteht, erzählend zu verarbeiten, zu gestalten, sich zu rechtfertigen. Erzählen gehört zu unserer Art in der Welt zu sein, Welt zu erfahren. Kinder wollen erzählen, was sie gesehen und erfahren haben, Reisende auch, Stammtisch- und Partybesucher eben auch. Und durch das Erzählen entsteht, schon fast nebenbei, so etwas wie Empathie, denn wer erzählt, versteht auch, ein Stück weit wenigstens.
Vielleicht ist das heute seltener geworden, weil viele die Wirklichkeit und die Menschen gegenüber nicht mehr wahrnehmen, da sie nur auf das Smartphone blicken, Nachrichten aus zweiter Hand. Erzählen könnte überall stattfinden, spontan, sprudelnd, ungeformt. 
Manche finden für ihre Geschichten später eine feste Form, eine bestimmte, gestaltete Art des Erzählens. Hier beginnt dann die Literatur.

© Silke Keil

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane «Paarbildung» und «Halt auf Verlangen» standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Rezension von «Raunächte» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Halt auf Verlangen» auf literaturblatt.ch

Ein Stück «Untertags» auf gegenzauber.literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Silke Keil/Suhrkamp

20 Jahre Bodmanhaus Gottlieben: Literaturhaus Thurgau

Das Bodmanhaus in Gottlieben, die Stiftung, das Literaturhaus Thurgau feiern «20 Jahre Literaturhaus»! Nach Zürich und Basel war Gottlieben das dritte Literaturhaus in der Schweiz. Was damals mit Sicherheit Mut brauchte, ist heute Institution und ein Ort mit besonderer Strahlkraft!

„Härzlichi Gratulazio dum Bodmaahüs va Gottliäbu, dum künftigu Literaturhüs vam Kantoo Thurgau. Ja, hei wär du Biächär witärhi Sorg, will was weeri iischi Läbu ooni Biächär: Woll wiän äs zärtrikkts Gornischo ooni Ragglett. Heit sus güät! Tschau zämu!“
Rolf Hermann, Schriftsteller

Zu einem Jubiläum gehören neben einem Fest GratulantInnen. So versammelt sich in diesem Bericht ein ganzer Chor von unterschiedlichsten Stimmen, die genau wissen, wie wichtig ein Literaturhaus als Kultur- und Identivikationsort ist:

«Ich habe auf meinen Lesereisen viele Literaturhäuser kennengelernt, mondäne wie in München oder Frankfurt, moderne wie in Basel oder Innsbruck, kleine, gemütliche wie in Kiel oder Oldenburg, Häuser, die Treffpunkte für die Literaturszene waren wie in Stockholm oder Istanbul, aber das Bodmanhaus hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Nicht nur als ein Haus des Lesens, sondern auch als eines des Schreibens. Immer wieder habe ich mich hier eingemietet und an meinen Texten gearbeitet, an diesem stillen und doch nicht abgelegenen Ort, der Literatur nicht nur ausstellt, sondern auch ihre Entstehung ermöglicht. Und was Schöneres kann ein Literaturhaus tun.»
Peter Stamm, Schriftsteller 

„Es gibt Schreib-Orte und es gibt Orte des Lesens und beide sind Wort-Orte. Und Orte von Ankunft und vorläufiger Heimat: das ist das Bodmanhaus in Gottlieben geworden und gewesen in den letzten zwei Dekaden: für Schreibende, für Lesende, auch für mich. Ein Gruss. Ein Dank. Eine Gratulation. Für engagiertes Wirken im Zeichen von Buch und Schrift, von Schreiben.
Die Schreib-Orte sind jene, wo der Text Ort, Gestalt und Sprache findet, eine vorläufige Ankunft: das Schreiben, das gelingt.
Und der Lese-Ort ist jener, wo der Text zum Lesenden findet, zum Dialog, zum Gespräch und damit erst Buch wird: in der Begegnung. 
Gottlieben war immer beides.
Ein Ort hat immer etwas Unverwechselbares, ein besonderes Licht in der Dämmerung, ein Duft von See und Grenze, eine Verfärbung der Erde, ein Ufer mit Schattenspiel, Wasser, wo Schiffe treiben, ein Haus mit knarrenden Treppen und Atmosphäre von alten Schriften und sirrenden Balken, die Atmosphäre des Besonderen – Magie, die zum Bleiben einlädt.
Erwartungsvoll gespannte Gesichter von Lesenden.
Das alles hat das Bodman-Haus in Gottlieben, diesen Hauch von Grenze und grossen Dingen, von Verheissung und Magie. Und es ist alles: Ist Schreib-Ort, wo einer Sprache finden kann, Lese-Ort, wo Lesende Lauschende werden, Sehnsuchtsziel und ein wenig Wallfahrt: zu Schreibenden und Büchern, zu Begegnungen und Gesprächen, ein Ort zum Finden des Eigenen im Fremden.
Das wurde im Bodmanhaus gelebt – 20 Jahre, mit Engagement von vielen Einzelnen (ihre Namen mögen bleiben und genannt werden), mit jener Leidenschaft, die das Besondere schafft, mit jener Menschlichkeit der Begegnung, die bewegt und in Erinnerung bleibt.
All das möge aufgehoben sein im neuen Literaturhaus Thurgau, ein Ort von Geheimnis und Ankunft, von Begegnung und Gespräch, von erfüllten Augenblicken in denen die Zeit stillsteht: gestundet in der Ahnung von Zuhause-sein, das wir nach Novalis immer suchen, von Heimat vielleicht.“
Urs Faes, Schriftsteller

In der Schweiz existieren heute sechs Literaturhäuser, wenn auch nicht alle in der gleichen «Qualität», mit der gleichen Veranstaltungsdichte oder ähnlicher Tradition: 
das Literaturhaus Zürich, seit 1999, von einer grossen Bank ebenso grosszügig unterstützt, mit über 100 Veranstaltungen pro Jahr mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein,
seit 2000 das Literaturhaus Basel mit ähnlich hoher Veranstaltungsdichte, mitgetragen von einer grossen Stiftung, die auch das Literaturfestival BuchBasel und die Vergabe des Schweizer Buchpreises mitfinanziert,
das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg, das seit 2004 mit einem äusserst kompetenten Team neben Veranstaltungen grossen AutorInnen einen dreimonatigen Schreibplatz im Haus bietet
und das Literaturhaus Zentralschweiz in Stans, 2014 eröffnet, gut vernetzt und mit einem überraschungsreichen Programm überzeugend.
Seit letztem Jahr wächst auch in St. Gallen das Literaturhaus und Bibliothek Wyborada, auch wenn das Pflänzchen noch jung ist.

„In einer Zeit, in der das Lesen sich dramatisch wandelt, braucht die Literatur mehr denn je ihre Lagerfeuer. Zu diesen gehören die Literaturhäuser. In ihrem Widerschein beginnen Texte erst richtig zu glimmen. Ein ganz besonderes Feuer, weil nicht in der urbanen Mitte angefacht, trägt neuerdings den Namen «Literaturhaus Thurgau». An der Kreuzung der zwei Übergänge Seerhein und deutsch-schweizerische Grenze befindet es sich in einer ganz anderen Mitte, die unsere Aufmerksamkeit genauso verdient wie der Trubel der Metropolen. Ich gratuliere dem Bodmanhaus und allen, die zu seinem Erhalt beigetragen haben, für die letzten 20 Jahre und wünsche dem Literaturhaus Thurgau eine erquickliche Zukunft.“
Jens Steiner, Schweizer Buchpreisträger 2013 und Stipendiat 2020 im Literaturhaus Thurgau

Und das Literaturhaus Thurgau?
Es hiess 20 Jahre lang «Bodmanhaus Literaturhaus Gottlieben» und darf stolz sein, in diesen 20 Jahren vielen, die im deutschen Sprachraum literarisch Rang und Name haben, eine Bühne für ihr Schaffen geboten zu haben. Wenn ich die Namen auf der langen Listen lese, schmerzen mich noch jetzt all jene, die ich aus was für Gründen auch immer versäumt und verpasst habe. Aber es sind auch «kleine Namen», Namen, die es wert sind, entdeckt zu werden, die allzu leicht von den grossen verdrängt werden. Namen, denen sich das Literaturhaus Thurgau ebenso verpflichtet fühlte und fühlt.

„Es ist ein grosser Tag, wenn man zwanzig wird. Man ist kein Teenie mehr, aber man muss auch noch nicht erwachsen sein. Man ist noch übermütig, aber man weiss doch schon zu schätzen, was vorhergehende Generationen geleistet haben. Die Welt steht einem offen, ist aber grosszügig genug, noch keine allzu hohen Anforderungen an einem zu stellen. 
In diesem Sinn wünsche ich dem Literaturhaus Thurgau, dass es auf immer zwanzig bleiben kann! Möge die Neugierde auf Literatur nie abflachen, weder auf Seiten des Publikums noch auf Seiten der Macherinnen und Macher, und mögen die Förderstellen grosszügig bleiben, ohne einengende Forderungen zu stellen. Die Literatinnen und Literaten werden es zu schätzen wissen – die jungen Übermütigen genauso wie die reifen Erfahrenen. 
Auf die nächsten zwanzig Jugendjahre in diesem gediegenen, ehrwürdigen Haus.“
Tabea Steiner, Schriftstellerin

„Das Literaturhaus Thurgau ist ein magisches Haus an einem magischen Ort. Müsste ich es einer literarischen Strömung zuordnen, zählte ich es zum magischen Realismus. Zum Geburtstag wünsche ich dem Literaturhaus ein langes, frohes Leben!“
Pedro Lenz, Schriftsteller

Aber warum mit einem Mal «Literaturhaus Thurgau»?
Nicht nur weil ein Haus zuweilen einen neuen Anstrich braucht. Auch nicht, weil das kleine feine Literaturhaus am Seerhein mit einer Tradition brechen, sich schon gar nicht von der Stiftung Bodman distanzieren will, die seit 20 Jahren alles daran setzt, dass dieses Haus gedeiht und sich weiter entwickelt.

«Ganz herzliche Grüsse von ganz im Osten nach ganz im Norden. Die Grenzregionen sind ja gern die Orte, an denen es brodelt, wo es kratzt und sich reibt und sich Feuer an der Kollision von scheinbar Unverträglichem entzündet, aus dessen Asche dann die schönste Kunst in ihrer ganzen Jungfräulichkeit und Ungeschütztheit entsteht. Ihr seid ein Ort, an den man immer mit Freuden wiederkehrt, belebt und betreut von herzlichen Menschen, und ich zweifle nicht daran, dass es euch noch weitere zwanzig und vierzig und zweihundert Jahre geben wird. Einen herzlichen Toast auf Bodmans Literaturhaus.»
Tim Krohn, Schriftsteller

Das Literaturhaus Thurgau hat allen Grund, sich mit Selbstbewusstsein in die Reihe der grossen Häuser zu hieven, auch wenn die dörflich, schmucke Kulisse eine ganz andere ist als in Zürich, Basel oder St. Gallen. Dafür aber werden die Gäste nachweislich um ein Vielfaches mehr verzückt, ihre Auftritte für sie unvergesslich.

„So wie das schöne Bodmanhaus ist auch die wertvolle Literatur: Nicht an der grossen Strasse gelegen, sondern eher fern des Rummels, letzten Endes aber doch erreichbar. Sie ist immer da, wo sich Grenzen aufheben und wir, mit der nötigen Musse, dem Näherkommen, was die Welt zusammenhält. 
Ich möchte mich feierlich in die Reihe der Gratulantinnen und Gratulanten stellen und diesem wunderbaren Literaturhaus, seinen Unterstützerinnen und Unterstützern sowie allen seinen treuen Besucherinnen und Besuchern meinen herzlichen Glückwunsch ausdrücken. Möge das Literaturhaus noch viele schöne Jahre seine Stellung als literarisches Leuchtfeuer am Bodensee bewahren!“
 
Dana Grigorcea, Schriftstellerin

Es müsste eine ganze Gegend, der Kanton selbst dieses Selbstbewusstsein entwickeln, diesen Stolz darüber, eine Perle zu besitzen, einen schlicht glänzenden Schatz, einen Ort, an dem Kunst lebendig wird, Literatur seinen Atem holt. Und für dieses Selbstbewusstsein braucht es den Namen «Literaturhaus Thurgau», gekoppelt mit der Hoffnung, dass dieses Haus an Ausstrahlung zunimmt und es nicht mehr passiert, dass durchaus Literaturbegeisterte den Namen dieses Hauses nicht einzuordnen wissen.

«Falls Literatur tatsächlich mit Poesie zu tun hat – Gottlieben i s t ein poetischer Ort. Nicht in erste Linie der Literatur wegen. Sondern von Natur aus. Des Rheins wegen, dieses kleinen Stücks sogenannten Seerheins wegen, das glücklicherweise, neben der Thur, auch noch zum Thurgau gehört. Max Frisch hat zwar nicht dieses Stück Seerhein im Sinn, sondern den Rhein bei Basel, vom Münster aus gesehen, wenn er in seinem kurz nach Kriegsende entstandenen Tagebuch, im März 1946 schreibt: 
„… der Rhein, wie er in silbernem Bogen hinauszieht, die Brücken, die Schlote im Dunst, die beglückende Ahnung von flandrischem Himmel –

Wie klein unser Land ist.
Unsere Sehnsucht nach Welt, unser Verlangen nach grossen und flachen Horizonten, nach Masten und Molen, nach Gras auf den Dünen, nach spiegelnden Grachten, nach Wolken über dem offenen Meer; unser Verlangen nach Wasser, das uns verbindet mit allen Küsten dieser Erde; unser Heimweh nach der Fremde…»
Ein nicht gleiches, aber vergleichbares Heimweh kann man verspüren, wenn man an einem schönen Sommerabend auf der Terrasse des Waaghauses sitzt und über das spiegelnde Stück Seerhein, den glänzenden Untersee hinweg die Erhebungen des Hegaus, das hügelige Land von Baden-Württemberg sieht, von dem man weiss, dass es nicht sehr weit entfernt, aber doch jedenfalls nicht mehr in der Schweiz liegt. In einem Jenseits, das im Sonnenuntergangslicht sich verbündet mit einem Verlangen in uns, das vielleicht Frischs „Heimweh nach der Fremde“ entspricht. Wobei wir nicht an fremde Länder dabei denken, sondern ein ganz und gar unpolitisches – eben poetisches Verlangen in uns erwacht nach jener schönen Fremde, jener Anderswelt, Gegenwelt, die auch die Literatur verkörpert. Ohne die wir – auch in Zeiten von Corona – nicht leben wollen, sollen und können. 
Aus diesem Grund ist das nun seit zwanzig Jahren bestehende Literaturhaus in Gottlieben vielleicht das poetischste der Schweiz. Ich danke dem alten Bodmanhaus für manche schöne Einladung und dem neuen Literaturhaus Thurgau wünsche ich viel – poetisches – Glück!»

Elisabeth Binder, Schriftstellerin und Verlegerin

Nebst vielen Zentren für bildende Kunst, Museen, Theatern, Kinos und einem Mekka für den modernen Tanz, spielen im Kanton Thurgau zwei Zentren der Literatur; die Kantonsbibliothek in Frauenfeld und das Literaturhaus Thurgau. Schon allein die Tatsache, dass das eine in der Hauptstadt wirkt und das andere, auf dem Land, an der Peripherie, dort wo sich der Kanton seinem Nachbarland hin öffnet, ist perfekte Synchronisation; Kantonsbibliothek Thurgau und Literaturhaus Thurgau. Wenn daraus eine noch intensivere Partnerschaft erwächst, ist das nur wünschenswert.

„Im ersten Moment erinnere ich mich an das Bett, auf dem ich etwas von Blanchot lese, draussen eiskalter Winter 2015, ich schreibe bei Goethe ab: «Es wird immer kälter, man mag gar nicht von dem Ofen weg», laufe durch das Dorf am frühen Abend. Dann fallen mir die Hunde im Erdgeschoss ein, riesige, zuverlässige Wächter, das Fahrrad, das ich einem Lehrling abkaufe, um damit nach Konstanz zu fahren, zu meiner Linken der stille, glänzende See. Schliesslich Emanuel von Bodmans unheimliche Kammer, überhaupt die Räume und Flure, nächtliche Lichter, wie von Geisterhand angezündet. Viel Glück zum Geburtstag, liebes Bodmanhaus!“
Dorothee Elmiger, Schriftstellerin

So feiert die Bodman-Stiftung am 20. Juni, ganz bescheiden aber mit berechtigtem Stolz. Was im Haus am Dorfplatz in Gottlieben alles passierte, wer dort in diesen zwei Jahrzehnten auftrat, das darf sich mehr als sehen lassen. Das Bodman-Haus, das nach dem Dichter Freiherr Emanuel von Bodman (1874–1946) benannt ist, lebt mehr den je. Der Dichter lebte von 1920 bis zu seinem Tod in diesem Haus. Auf Initiative der 1996 gegründeten thurgauischen Bodman-Stiftung wurde es fachgerecht restauriert und als Haus des Buches und der Literatur wieder mit Leben gefüllt.

„…In Zürich wie auch in Gottlieben durfte ich immer wieder mit Veranstaltungen – zweimal sogar mit Theaterstücken! –  zu Gast sein, und gegenüber den zwei anderen Häusern, die auf lange Zeit hinaus von den gleichen Personen geleitet wurden, fand ich es in Gottlieben schon deshalb spannend, weil immer wieder andere Persönlichkeiten die Leitung übernehmen und dem Programm wieder eine neue Richtung geben. So erinnere ich mich mit Dankbarkeit an das Wirken von Hans Rudolf Frey, aber auch an jenes von Stephan Keller, und auch bei Marianne Sax, die dank ihrem Background als Buchhändlerin und ihrer Tätigkeit als Jurorin in Deutschland eine ganze Reihe Korophäen an den Bodensee locken konnte, durfte ich ab und zu mitmachen. Nun freue ich mich sehr auf das Wirken des Amriswiler Literaturvermittlers Gallus Frei Tomic, von dem ich u.a. in «Saiten» immer wieder Spannendes gelesen habe. Es ist wunderbar, dass der Kanton Thurgau an diesem schönen Ort am Bodensee ein Literaturhaus besitzt, um das ihn viele grössere Orte in der Schweiz beneiden und dem eine erfolgreiche Zukunft mit immer wieder neuen inspirierten Leitungspersönlichkeiten und einem begeisterungsfähigen Publikum zu wünschen ist.“
Charles Linsmayer, Autor und Literaturvermittler

Heute ist das Bodman-Haus wieder eine Stätte der Kultur, der Begegnung und des Austauschs, was es bereits zu Lebzeiten Bodmans war, als es in Gottlieben eine Künstlerkolonie gab. Das Bodman-Haus beherbergt Stipendiaten, bemüht sich um ein hochkarätiges literarisches Programm und bereichert im Erdgeschoss mit einer Handbuchbinderei, in der sich Sandra Merten weit über Buchdeckel hinaus um das Kulturgut bemüht.

„Das Bodmanhaus fällt mir immer wieder durch sein abwechslungsreiches und interessantes Programm auf. Ohne gutes Knowhow und viel Herzblut wäre das nicht möglich. Immer wieder staue ich darüber, wen die engagierten LeiterInnen und Programmverantwortlichen alles ins kleine Gottlieben locken. Dass diese Begegnungen schon seit 20 Jahren gelingen, ist in der Tat ein Grund zum Feiern. Ich gratuliere herzlich und wünsche dem zukünftigen Literaturhaus Thurgau weiterhin viel Erfolg!“
Katrin Eckert, Leiterin Literaturhaus Basel, das im April 20 Jahre alt geworden ist

Ich gratuliere dem Stiftungsrat, all den treuen Besucherinnen und Besuchern, den Geldgebern und den bisherigen Programmmachern. Ganz besonders bedanke ich mich bei der Stiftungssekretärin Brigitte Conrad, die sich mit Ruhe, Umsicht und grösstem Engagement seit Jahr und Tag um Literatur, Haus und Gäste bemüht. Eine Kraft, die unschätzbare Arbeit leistet!

«Landschaften wie die, in der sich das Bodmanhaus befindet, hat man früher ‹gesegnete› genannt, weil das Zusammenwirken der Naturgegebenheiten und der 2000jährigen Kultivierung der Natur etwas hat entstehen lassen, das man nur als Schönheit bezeichnen kann. Und deshalb ist mir, wenn ich dort zu Gast war, auch immer eine wichtige und oft vergessene Aufgabe der Literatur wieder bewußt geworden: die Schaffung von Schönheit in und mittels der Sprache. Denn auch Schönheit kreieren zu wollen, ist eine Gesinnung, und vielleicht von allen Gesinnungen, die dem Schriftsteller abverlangt werden, nicht die Unwichtigste.»
Michael Kleeberg, Schriftsteller

Anfang Juli wird das neue Programm von August bis Oktober 2020 bekannt gegeben!

Literaturhaus Thurgau

Handbuchbinderei Merten

„Ich wünsche dem schönen Bodman-Haus in Gottlieben ein stetes weiteres Aufblühen, Wachsen, Erstarken und Ausstrahlen – immer mit dem Wissen darum, dass das Wachsen an sich für ein Kulturhaus immer auch viele Aspekte des Erfolgs mit sich bringt, die wenig mit Kunst zu tun haben und mit dieser auch in Konflikt kommen können. Wachstum, mehr Aktivitäten von Jahr zu Jahr, dieser Dynamik entgeht beinahe kein Kulturort und kein Literaturhaus – umso mehr braucht es heutzutage die Reflexion darüber, was Kulturförderung, was Literaturförderung soll und warum und für wen. Den Hausverantwortlichen, den Programmverantwortlichen wünsche ich deshalb viel Weisheit, Einsicht und Weitsicht bei ihren Entscheidungen, viel Mut zur Eigenständigkeit und Gelassenheit angesichts der Erwartungen von Geldgebern, politischen Entscheidungsträgern, Partnern, Autor/innen und Publikum – und viele Portionen Extrahumor und überbordenden Enthusiasmus. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Literaturbegeisterten, die wiederkehrenden Besucherinnen und Besucher, die treuen Seelen werden es euch danken. Letztlich sind es nicht die Zahlen, weder die der Besucher noch die der Einnahmen oder die einer Veranstaltungsstatistik, um die sich alles drehen sollte, sondern diese Sternschnuppenmomente in einem Gespräch über einen Text, eine unerwartete, erhellende Perspektive, der Widerhall von Worten, Ideen, Sprachklängen an den Wänden eines Ortes, dieses tiefe Leuchten in den Augen.“
Bettina Spoerri, Schriftstellerin und Leiterin Aargauer Literaturhaus Lenzburg

20 Jahre Literaturhaus Zürich

Das Literaturhaus Zürich feiert sein 20jähriges Bestehen. Ich gratuliere. 1834 als Museums- und Lesegesellschaft gegründet, mit grossem Lesesaal und öffentlicher Bibliothek, wurde das ehrenwerte Haus am Limmatquai 1999 ein Literaturhaus, das in seinen 20 Jahren Dienst an der Literatur zu einem bedeutenden Dreh- und Angelpunkt nationaler und internationaler Wortkunst wurde.

Wem Literatur mehr als nur Unterhaltung ist, wenn Bücher zu Türen und Toren werden, wenn ich mich als Leser nicht mehr begnügen kann allein mit dem, was zwischen zwei Buchdeckeln gefangen ist, dann beginne ich mich für das zu interessieren, was dahinter steckt. Dann will ich wissen, wer sich hinter dem Namen auf dem Cover verbirgt, wer geschrieben hat und warum. Dann werden Lesungen zu Begegnungen mit einer anderen Welt, die verschlossen bleibt, wenn mich nur die Spur interessiert, die der Text im Buch zeichnet.

Lesungen sind Begegnungen, solche mit Autorinnen und Autoren, aber auch solche mit Leserinnen und Lesern. Das, was im Schreiben und Lesen meist zurückgezogen und in innerer Stille passiert, öffnet sich und wird zur Gemeinsamkeit, Lesungen das, was, was das Schreiben und Lesen selbst nicht bieten kann. Für den Schreibenden die Reaktion auf das, was er schreibt, für den Lesenden darauf, was andere fühlen, denken, auslösen.

Dabei sind mir etliche Lesungen, die ich in den vergangenen Jahren besuchte unauslöschlich in Erinnerung geblieben; jene mit Anne Weber, der ich zuvor schrieb und die mich überraschend in ein Gespräch verwickelte, jene mit José Eduardo Agualusa und seinem Übersetzer Michael Kegler, die sich beide freuten über ein von Hand geschriebenes und gezeichnetes Literaturblatt, jene mit Urs Faes, der mich mit Nähe adelte oder eine Gesprächsrunde im Oberschoss des Literaturhauses, bei der ich erlebte, wie viel Leidenschaft Ruth Schweikert entwickeln kann, wenn es um konstruktive Kritik an einem Text geht.

Auch wenn ich nicht in Zürich wohne und der Weg zum Literaturhaus ein weiter ist, bleibt dieses Haus auch in Zukunft ein wichtiges. Eines, das beispielhaft sein muss in einer Zeit, in der man merkt, dass digitaler Austausch kein Ersatz sein kann für das, was an Orten wie dem Literaturhaus Zürich geschieht. Ich danke dem Haus, dem Team, das es führt (und hoffe, dass sich das, was an anderen Orten zaghaft im Entstehen ist, an dem orientiert, was sich bewährt) und all den Institutionen, die ein solches Unternehmen möglich machen.

Urs Faes

Judith Keller

 

Christian Haller, Ruth Schweikert, Franz Hohler

Gesa Schneider

Alle Zeichnungen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)

Urs Faes «Ins Schweigen reden»

Du bist allein im Haus, allein mit dem, was du jetzt ahnst, weißt und nicht annehmen willst: dass du nicht die grosse Liebe seines Lebens gewesen bist, sondern eine andere: Virginie. Oder einfach Ini. Sie und er, damals, und jetzt wieder. Schmerzt dich das?

Liebste Ini… so haben die Briefe angefangen. Das tönt zärtlich, vertraut, innig. Ja, innig ist das richtige Wort. Beeinander aufgehoben. Janek und Ini. Das tönt wie Hero und Leander. Des Meeres und der Liebe Wellen. Vom Winde verweht. Der grosse Gatsby. Janek und Ini. Wie die grossen Liebesgeschichten in der Literatur. Im Film.

Nicht grübeln. 

Eliane und Dorit kommen wieder. Sie lassen dich nicht im Stich. 

Jetzt bist du allein. In der Stille. In Gedanken. Im Schmerz. Das musst du mit dir austragen. Das nimmt dir keiner ab. Auch Eliane nicht.

Und Jakov?

Wo mag er sein? Auch allein? In einem Zimmer, das er nicht kennt? Ohne Worte für das, was ist. Fremd die Gesichter, die um ihn sind, die er nicht mehr erkennt. Irgend jemand könnte ihn besuchen, und er würde lachen, wie er immer Besuchern entgegengelacht hatte, freundlich, zuvorkommend, herzlich, ein zärtlicher Händedruck, eine sanfte Umarmung, ein gutes Wort. Jakov hatte für jeden ein gutes Wort, er war ein herzlicher Mensch, mit einem zärtlichen Blick auf die Menschen, auch auf dich. Vergiss das nicht. Wie liebevoll er sein konnte, fürsorglich, einer, der in den Augen der andern las, nicht nur ihre Wünsche, auch ihre Nachdenklichkeiten.

Und was ist mit diesem Kind? Jakovs Kind? Oder das Kind seines Vaters: Emily Mary Blumental. Ist Jakovs Vater der Vater oder der Grossvater des Kindes? Emily? Der Name ist nie gefallen. 

Du schüttelst dich, als könntest du abschütteln, was da ist, auf dir liegt, dir aufliegt.

Wie kannst du dich an Bilder halten, die nur eure sind, die Reisen, die vielen Reisen? Die Monate an der Baltischen See, Klaipeda, das Kurische Haff, das Ostseebad Cranz, eure Gänge durch die Birkenhaine bis zum Haff, in dem das Wasser im Sommer richtig heiss wurde, ein Dampfbad zwischen den Wanderdünen. Auch ihr habt eine Geschichte, du und Jakov. Aber du bist mit diesen Erinnerungen allein. In Jakov sind sie gelöscht, auch eure erste Begegnung im Rhein-Main-Flughafen. Auch eure Wanderferien im Bergell, das stundenlange Gehen, von Stampa über die Bogenbrücke der Maira und hinauf nach Coltura, zum Palazzo Castelmur. Jakov gefiel das Bild von Augusto Giacometti in San Pietro: Der Morgen der Auferstehung. Er buchstabierte das Wort: Risurrezione. Und er deutete auf das Epitaph unter dem Bild: Johannes und Magdalena. Ein Liebespaar, das aufersteht. Wer liebt, aufersteht. Jakov schien völlig fasziniert von diesem Gedanken und fotografierte das Bild zusammen mit dem Epitaph.

Langsam seid ihr dahingewandert, oft mit dem Blick ins Tal hinunter und hinauf zu den Bergen, den Piz Cam und den Pizzo Cengalo. In den Bergen war Jakov daheim, mountains home, sagte er, als wäre er in den geliebten Bighorn Mountains, wo ihr auf euren Ausritten dem Gros Ventre River gefolgt und hinauf auf die Spitze des Sleeping Indian Berges vorgedrungen seid, und ihr euch verloren habt im Hinunterblicken auf das Tal von Jackson Hole, an die Waipitis gedacht habt, die ihr auf eurer zweiten Reise, zum Schneeschuhfahren auf der Gros Ventre River Ranch, in der Nacht habt vor Hunger heulen hören, dieser unvergessliche Anblick: diese eng aneinander gelehnten Tiere im Schnee. 

Bilder, von denen Jakov nicht mehr spricht, die erdrückt und entrückt sind in ihm, vergessen, vergangen, versunken, in den Schutthalden seines Gehirns. Nur das ganz fern Erinnerte ist ihm noch nah, ein Frauenname, eine grosse Liebe.

Du bist allein mit euren Erinnerungsbildern, mit allem, was ihr gelebt habt: Du und Jakov, Herta und Jan. Das klingt nüchtern, alltäglich praktisch, zwei, die sich verstehen, sich arrangieren. Aber Janek und Ini, das bebt, das rührt an Traum und grosse Gefühle.

Du rufst allein eure Bilder zurück, kein „Weißt du noch, Jakov, die Gabelhorn-Antilopen unter den Laubbäumen im Boysen Park, nah am Ufer des Shoshoni, über dieser kleinen Bucht, in der das Schilf vom Licht angeblitzt wurde, ein heller Schein, gleissend hell…“. 

Nur bei dir ist das von euch Gelebte aufgehoben, euer Lebensbuch.

Ist das schon ein Nachruf? Jakov nachgerufen? Als wäre er schon nicht mehr da? Für dich ist er nicht mehr da, auch wenn er noch da ist. Gelöscht in Jakov, was dich, was euch betrifft, wie auf einem Bildschirm ein Text gelöscht wird, eine Melodie, ein Bild, ein Tastendruck und nichts mehr da, Leere.

Ini ist geblieben, erhalten, bewahrt, wie in Karneol unzerstört, zum unverhofften Wiedersehen, wundersam heil geblieben zwischen Gedächtnisablagerungen und Gehirnschuttverwicklungen, Denkhalden und Müllbergen.

Die Bildfolge Ini ist geblieben, lebt und atmet, weil die Liebe sie erhalten, stark gemacht hat, so stark, dass sie den Jahren trotzt, der Krankheit, dem Vergessen und Verlöschen, unsterblich ist, ewig.

Diese Vergangenheit ist geblieben und Gegenwart geworden. Janek und Ini, eine unsterbliche Liebe, das letzte Refugium eines verlorenen Gedächtnisses. Vielleicht wird sie auch bleiben, wenn Jakovs Gestalt still geworden ist, weil bleibt, was von der Liebe gebildet, getragen, unzerstörbar geworden ist. Weil die Liebe nicht vergeht, nie vergeht, auch  über den Tod hinaus? Ist es das, was uns antreibt, was in uns als Sehnsucht glüht, unstillbar? 

Auch dich hat das angetrieben, und du hast geglaubt, in Jakov diese Nähe gefunden zu haben, all die Jahre hast du das geglaubt. Du hast nicht geahnt, dass sie in ihm schon gefunden und verwahrt war und einen Namen trug: Ini.

Du wischst mit der Hand langsam durch die Luft, als wüsche deine Hand die Nacht, wüsche sie die Welt, wüsche herunter, was trübte, die Aussicht, die Fernsicht, die Rücksicht. Du musst sie waschen, die verwüstete Welt, die unter Schlacken, Ablagerungen siechende Welt da draussen; und die Welt in Jakovs Kopf, in Jakovs Gehirn, in Jakovs Gedächtnis, die wüst ist und fast leer, glanzlos geworden, stumpf, de-mens, von Sinnen, jetzt, erst jetzt verstehst du das Wort.

Du bist allein. Und wer allein ist mit den Erinnerungen und mit der wüsten Welt, der ist wirklich allein. So stehst du in diesem Korridor, so gehst du durch die Räume, greifst nach dem Halte-Tau an der Wand, das Jakov vom Schlafzimmer ins Bad und durch die Räume geleitet hat.
Du musst dich festhalten, dich anklammern am rauen Tau, gegen diesen Sturm, der weht, von einem verlorenen Paradies, von den Erinnerungen her, die dich aus dem Leben mit Jakov umweben und dem, was sie trübt: Janek und Ini. Du gerätst von Sinnen im Sinnen; wonach steht dir noch der Sinn?

Was kannst du dem entgegenstellen, was da weht, stürmt, heult, dich forttreibt?

Bleibt nur die Müdigkeit, und darin ein letzter Aufruhr, ein Dennoch, das schon nicht mehr trotzig, sondern nur noch ein Flügelschlagen ist, Einsicht?

Dieser Vers, den dir Eliane einmal aufgeschrieben hat, eine Frucht ihrer Theaterarbeit, als Trost gemeint, auch in der Bitterkeit: „Schatten sind des Lebens Güter, Schatten seiner Freuden Schar,/ Schatten, Worte, Wünsche, Taten,/ Die Gedanken nur sind wahr// Und die Liebe, die du fühltest,/ Und das Gute, das du tust;/ Und kein Wachen als im Schlafe,/ Wenn du einst im Grabe ruhst.// Possen! Possen! Andre Bilder/ Werden im Innern wach!“

Lachen über die Possenspiele des Lebens, zum Lächeln finden, zum Lassen, Loslassen, Zulassen, Ablassen?

Und einmal gelassen sein, Gelassenheit finden?

Und darin eingestehen, deine grosse Liebe war nicht, was du dachtest, war weniger, Schatten, ja ein Schatten, unter dem Schatten einer andern?

Und Jakov? Ist er jetzt leicht, zurück in der frühen Liebe, da wieder eingekehrt, darin jetzt gelassen, losgelassen von allem andern, von all dem, was lastet oder lasten könnte? Vom Leben?

Back home? War das nur diese im Kokon verwahrte Liebe?

Und du hast geglaubt, das gelte dem Heimweh nach den Weiten Wyomings, den Wäldern des Teton, dem gewundenen Lauf des Snake River, den kleinen Seen um Boulder Flats. Es hat, ohne dass er es nennen konnte, nur ihr gegolten, Virginie, der frühen, der grossen Liebe, nach der ihn ein Sehnen verzehrte; das war der Heart Lake, in dessen Wasser er getaucht ist und darin weiterschwimmt.

Hast du ihn für den genommen, der er gewesen ist, den versprengten Reiter, einer, der immer ein Reisender gewesen ist, einer, der von irgendwoher kam und nach irgendwohin aufbrach, getrieben von der unbestimmten Hoffnung, es gebe irgendwo eine Ankunft, beschlichen von der Ahnung, keine Ankunft zu finden. Vielleicht war es diese unbestimmte, diese unstillbare Sehnsucht, die ihn antrieb, die ihn reisen liess und nur einen Namen hatte. Vielleicht hat ihn das letztlich auch seine Statistiken schreiben lassen, dieser unbestimmte Leerraum, in dem alles entschwunden schien, in dem es keine Gewissheit gab, in Fülle verfügbar war nur der Mangel, der Mangel an Selbstgewissheit, an Heimat und menschlicher Bedingung in der Welt. Hat ihn dieser Mangel angetrieben, nach den früh erfahrenen Toten, der Mutter, von Virginie, von Ken, vielleicht auch von Emily? Und die immerwährende Angst vor Verlusten, immer neuen Verlusten, auch von dem, was man ist und lebt? 

Du zitterst. Du sagst so oft vielleicht? Vielleicht, weil du so wenig weißt, mit Gewissheit weißt: von Jakov, von dir selbst. Auch du hast Angst. Nichts ist sicher. Nur das Gefährdetsein, auch in der Liebe, die fragile Aussicht, den Alltag halten zu können, wenn überhaupt. Kannst du es noch? Noch weiter? Immer weiter? Gehen. Gehst du noch, oder stehst du?

Du gehst durch die Wohnung; durch die Ratlosigkeit gehst du, deine Ratlosigkeit. Deine Schritte widerhallen, dumpf patschend auf dem Parkett, ein Eichenparkett, hohl klingt das, als wäre alles hohl unter dir, voller Leerräume, mit Geheimnissen und Untaten, voller Archive, die jemand angelegt hat, von deinen Wegen, Schritten, deinen Sehnsüchten, das ist abgelegt in Schachteln und Mappen, du brauchst sie bloss zu öffnen, einzutreten in die Archive, in dir, unter dir, Archive, tief in die Erde hinein, unterkellert ist das alles, immer neue Räume mit Dokumenten, Mappen, Statistiken, die alles enthalten, was dich angeht, die infragestellen, was du empfunden, was du entschieden, was du gesprochen hast. Überall Papiere, Virginie-Papiere, Jakov-Papiere, Eliane- und Dorit-Papiere, alles ist voller Papiere, Buchstaben, Zeichen, Schriftzeichen, Wandzeichen, Menetekel. 

Soviel an Spuren aus einem Leben, soviel an Zeugnissen, Leidenschaften und Leiden, an Glück und Scheitern, an Ahnungen und Vermutungen, und so wenig an Gewissheit, an Klarheit, selbst da, wo Zahlen und Namen und Daten sind, so flüchtig, so undurchschaubar, so dämmerhaft und unzugänglich bleibt, was einer gelebt, du, Jakov, Ini.

Du gehst, und von draussen fällt jetzt das Licht herein, fällt auf den Boden, stumpf, dumpf, wie die Schritte, die du machst, behutsam, ängstlich. Dünn ist die Kruste über diesem Hohlraum unter dir, das Echo verrät es, das ist hohl da unten, du kannst jederzeit einbrechen, durchbrechen wie durch das Eis auf dem See, das voller brüchiger Stellen ist, die nicht tragen, die dich in die Tiefe fallen lassen, in die Archivschächte des Erdachten, mit den Schachteln des Erinnerten, mit den Statistiken deiner Irrtümer, Irrwege und Irrfahrten, mit diesen Papieren, Virginie-Papieren, Jakov-Papieren, mit den Rechnungen, Statistiken, Zahlen, alles ist voller Zahlen, als zählten nur noch die Zahlen.

Dieser Text, den mir Urs Faes freundlicherweise zur Verfügung stellt, ist ein erster Blick in seinen neuen Roman.

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Er ist einer der Grossen der Schweizer Literatur. 1983, vor 35 Jahren, erschien sein erster Roman «Webfehler» bei Lenos. 1989 wechselte er zu Suhrkamp und veröffentlicht dort seit 30 Jahren Romane und Erzählungen. 2017 erschien «Halt auf Verlangen. Ein Fahrtenbuch» in dem er seine Erfahrungen mit einer schweren Krankheit mit der Geschichte seiner Herkunft verwob. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Sein Roman «Paarbildung» stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis. Zuletzt erschien in der Insel Bücherei die Erzählung «Raunächte».

«Urs Faes’ Sprache legt sich wie ein weicher, weisser Mantel um die Schultern des Lesers.«

Rezension von «Raunächte»  auf literaturblatt.ch

Rezension von «Halt auf Verlangen» auf literaturblatt.ch

Urs Faes im Logbuch von Suhrkamp

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ekko von Schwichow