Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime – Hauslesung im Literaturport Amriswil

Ein Kunstraub oder gar ein Mord im Museum? Markus Bundis Roman «Wilde Tiere» ist kein Krimi – und schon gar keine Strandlektüre. «Wilde Tiere» ist ein literarisches Abenteuer, geschrieben von einem Schriftsteller, der sich nicht gerne eingrenzen und schubladisieren lässt.

Museen sind Unorte, weder Biotop, noch Lebensraum. Man besucht sie, zuweilen gar nachts. Aber es sind Orte des Schauens. Orte, an denen die Uhr anders oder gar nicht tickt. Orte, an denen die Zeit konserviert wurde, ob Kunstmuseum, Historisches Museum oder dergleichen. Auch wenn Schulklassen manchmal etwas Leben in solche Tempel bringen, bleibt leblos, was da drin von der besten Seite gezeigt wird. Museen sind Orte des Erinnerns, eingelagertes Bewusstsein, nur durch BesucherInnen mit dem Leben, der Gegenwart verbunden.

Dass Markus Bundi in seinem neuesten literarischen Streich einen solchen Unort gewählt hat, ist für einen Philosophen wie ihn doch eigentlich nicht verwunderlich. Sind Museen doch Spiegel der jeweiligen Zeit, passen sich ihrer jeweiligen Zeit wie ein Chamäleon an, wenn auch nicht aus eigenem Antrieb. Museen wollen Antworten geben. Museen wollen zeigen, verblüffen, manchmal bluffen, festhalten, das wie alles andere der Vergänglichkeit unterworfen ist. In seinem Roman „Wilde Tiere“ leuchtet der Schriftsteller in ein ganz besonderes Terrarium.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime, 2024, 115 Seiten, CHF ca. 22.90
ISBN 978-3-99120-037-6

In diesem Haus kreuzen sich die Wege vieler, von Besucherinnen und solchen, die dort arbeiten. Bis eines Morgens die Polizei auftaucht und man im Haus ein Kapitalverbrechen vermutet. Julius Assinger, Stammgast mit Dauerkarte im Museum, wittert den grossen Kunstraub, bis durchsickert, dass in der Herrentoilette des Hauses eine Tote gefunden wurde. Kaum bekannt, überstürzen sich die Mutmassungen. Ist die Direktorin, die erst seit kurzem das Haus führt, Opfer eines Verbrechens geworden? Sie, die alles umkrempelt, dem Museum eine neue Richtung geben will, Einsparungen für notwendig erachtet und lieber Geld ausgibt für elektronische Überwachung statt für Personal? Odradek, der Museumswärter (In Franz Kafkas „Ein Landarzt“ ist Odradek eine nach Sinn und Unsinn fragende Gestalt oder ein Ding, wie eine seitlich gekippte Spule, von der nicht gesagt werden kann, wozu sie nütze wäre.), der in seiner Abstellkammer mehr Zeit mit Sinnieren verbringt, als mit tätiger Arbeit, glaubt an grosse Zusammenhänge und dass das erst der Anfang sein kann. Oder Hammi, die „Putze“, übrig geblieben von einer ganzen Putzkolonne. Oder Greta, die den Museumsshop führt und an der im wahrsten Sinne des Wortes keine und keiner vorbeikommt. Bis mit einem Mal klar wird, dass doch alles ganz anders ist, als angenommen. Kein Wunder in einem Haus, in dem die Scheinwelt eingerahmt an den Wänden hängt.

Markus Bundis Roman ist sonderbar. So museal die Szenerie, so museal die Sprache. Leicht gestelzt, als hätte der Autor beim Schreiben stets den kleinen Finger der Schreibhand nach oben gereckt. Wer ist heute noch ‹frappiert›? ‹Ehedem› und ‹einerlei› – Wörter wie aus dem Setzkasten der Vergangenheit. Markus Bundis „Wilde Tiere“ sind die Figuren im Museum, die durch das Auftauchen der Polizei in Aufruhr gesetzt werden. Hier die stoische Ruhe der Kunst, dort das hektische Treiben der Menschen im Haus. Einem Haus mit offener und versteckter Bühne, mit Räumen und Sälen für das Publikum und solchen, die auf keinem Übersichtsplan vermerkt sind. „Wilde Tiere“ hat kafkaeske Züge und liest sich dann mit Vergnügen, wenn die Lust am Geheimnis grösser ist, als deren Klärung. Was auf den ersten Seiten wie ein Krimi daherkommt und nach Verbrechern und Motiven sucht, ist ein Tiefgang in die Vieldeutigkeit. So wie es die akstrakte Kunst schon lange tut. Ein grotesk-skurriles Kammerstück voller Poesie und Witz für FeinschmeckerInnen!

Markus Bundi, 1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte, zuletzt  «Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig» und «Des Möglichen gewärtig. Ein Essay zum Werk von Klaus Merz». 2018 veröffemtlichte er sein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk «Wirklichkeit im Nachsitzen» und seit 2011 erscheint unter Bundis Herausgeberschaft die Klaus-Merz-Werkausgabe im Haymon Verlag. Bei Septime erschienen bisher der Kriminalroman «Alte Bande, Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte» und «Die letzte Kolonie».

Veranstaltungen:
So, 10. März 2024, 11 Uhr, Wettingen, Gluri Suter Huus, Buchvernissage
Moderation: Klaus Merz

Mi, 17. April 2024, 19.45 Uhr, Lenzburg, Literaturhaus, Lesung mit Gespräch
Moderation: Luzia Stettler

Sa, 4. Mai 2024, 18 Uhr, Amriswil, Maihaldenstrasse 11, Hauslesung bei Irmgard
und Gallus Frei-Tomic, Anmeldung unbedingt an info[at]literaturblatt.ch

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Peter Höner «Rocha Monte», Septime

Peter Höner zu Gast im Literaturhaus Thurgau

Zwanzig Jahre lang bleibt Aurélio Fuertes der Wächter eines verlassenen Hotels. Während dieser Zeit verliert der Mann fast alles, nur seine Prinzipien nicht. Peter Höners Roman ist die faszinierende Geschichte des Verschwindens. Aber auch eine Parabel über den Zustand der Welt.

Leben Sie Prinzipien? Halten sie sich an Dinge, die Sie einstmals versprachen? Wenn es mit Prinzipien und Versprechen so steht wie mit den „ewigen Treueschwüren“, bis dass der Tod sie scheide, dann sind Menschen, die sich bis zur letzten Konsequenz an ihre Prinzipien, ihre Versprechen halten, wohl eher eine Ausnahme. Wer will sich schon festlegen. Mal schauen, ob sich der Wind nicht dreht. Was geschieht mit Menschen, die mit absoluter Konsequenz festhalten, die nichts und niemand erweichen kann? Sind das Helden oder nicht einfach unsäglich sture, unflexible Zeitgenossen? Leben wir doch in einer Welt, die uns an Flexibilität alles abverlangt. Was heute zählt, wichtig ist, unumgänglich, unumstösslich, ist übermorgen vielleicht schon kalter Kaffee.

Peter Höner erzählt in seinem Roman „Rocha Monte“ die Geschichte eines Unerschütterlichen. Aber Peter Höner erzählt auch die Geschichte vom Verschwinden, eines Mannes, der sich zuerst gegen das Verschwinden eines Traumes wehrt, einer Hoffnung, eines Versprechens. Vom Verschwinden der Liebe, Freundschaft. Und am Schluss verschwindet er selbst. Wobei auch die Raupe verschwindet, die Puppe mit einem Mal leer ist und der Schmetterling ausgeflogen.

Aurélio Fuertes ist Haustechniker im Hotel Rocha Monte, dem ersten Haus auf dem Archipel, hoch über dem Meer mit Aussicht auf die Vulkanlandschaft der Insel. Doch schon nach seiner ersten Saison droht dem Hotel das Aus, oder zumindest umwälzende Veränderungen, denn das Hotel wurde an einem Ort gebaut, an dem während 220 Tagen im Jahr der Nebel hängt, auf einer Insel, auf der sonst eigentlich fast jeden Tag während einiger Stunden die Sonne scheint. Während einer „feierlichen“ Übergabe verpflichtet man Aurélio Fuertes bis zur Neueröffnung mit anderm Besitzer mit Unterstützung des Chauffeurs José Dante Barosa auf das Anwesen aufzupassen. Und weil Aurélio glaubt, als Haustechniker in dem Hotel seine Lebensstelle gefunden zu haben, ein sicheres Fundament für seine Frau und seine beiden Kinder, nimmt er den Auftrag an, verspricht, so lange zu bleiben, bis die Tore wieder öffnen, so lange die Haare nicht mehr zu schneiden, bis wieder Leben in die Mauern des Luxushotels einkehrt. Aber aus Monaten werden Jahre, aus Jahren Jahrzehnte. Zu Beginn feiert man ihn noch als standhaften Helden, auch wenn seine Frau Lucia, schwanger mit dem dritten Kind, der Standhaftigkeit ihres Mannes nichts abgewinnen kann.

Peter Höner «Rocha Monte», Septime, 2023, 264 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-99120-020-8

Aurélio merkt sehr bald, dass das Hotel nicht nur am falschen Ort, sondern auch mit einem ganzen Arsenal an Fehlplanungen gebaut wurde. Rechnungen wurden nicht bezählt, Gläubiger vertröstet, bis er mit Hilfe der ehemaligen Rezeptionistin Immaculata herausfindet, dass es nur schon wegen der angehäuften Schulden unwahrscheinlich sein wird, dass jemals wieder solvente Gäste die Zimmer beziehen. Aber Aurélio hat ein Versprechen gegeben. Ein Versprechen, den damaligen Betreibern gegenüber, ein Versprechen gegenüber seiner Familie und Verwandtschaft, aber vor allem ein Versprechen sich selbst gegenüber. Aurélio wird zum Wächter eines dahinsiechenden Betonkolosses. Nach und nach wenden sich die Menschen von ihm ab, heissen ihn stur, unnachgiebig, verbohrt. Irgendwann lässt sich gar Lucia von ihm scheiden, verwehrt ihm den Kontakt zu den gemeinsamen Kindern. Schlussendlich verlässt ihn sein Gefährte José mit seiner Frau Pineda. Was ihm bleibt, ist das Haus, seine Pflanzen, die Musik und sein Hund Kuno. 

Zwei Jahrzehnte lang haust der Mann in dem feuchten Betonhaufen, stemmt sich mit all seiner Kraft dem totalen Zerfall des Hauses entgegen, bleibt seinem Versprechen treu. Bis auch Kuno, der Hund, stirbt und Nevio, der Sohn, der heimlich mit ihm Kontakt hielt, von der Insel wegzieht. Bis er mehr und mehr in den Mauern, zwischen den wuchernden Pflanzen entschwindet und eines Tages ganz.

der Autor auf Recherchereise

Es gibt dieses Hotel auf den Azoren, das Hotel Palace. Peter Höners Roman ist gespickt mit Seiten aus den fiktiven Aufzeichnungen von Aurélio Fuertes, Aufzeichnungen, die dem Roman etwas ungeheuer Authentisches geben. Man spürt die Faszination dieses Ortes, die auf den Schriftsteller übergesprungen sein muss. Aber nicht jene des Ortes, sondern jener der Person des Wächters. Zum einen die Faszination einer vielleicht aussterbenden Gattung Mensch, jener, die um jeden Preis den Prizipien treu bleibt. Die Faszination des Eigenbrötlers, denn die Geschichte hat etwas robinsonhaftes. Aurélio lässt sich auf eine verlassene Insel abdrängen. Ein Hund, seine Pflanzen, seine Bücher und die Musik sind seine letzten Begleiter.

Man liest dieses Buch gleichsam fasziniert und atemlos. Peter Höner ergründet kein Geheimnis. Aber er wird zum feinsinnig, stillen Begleiter eines Menschen, der sich nicht abbringen lässt. Die Art seines Erzählens ist gezollter Respekt. „Rocha Monte“ ist ein unaufgeregtes Meisterwerk!

Peter Höner, geboren 1947 in Eupen/Belgien, freischaffender Schriftsteller und Schauspieler, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg im Kanton Thurgau. Nach Schauspielstudium und verschiedenen Enngagements als Theaterautor, Regisseur und Schauspieler und einem vierjährigen Afrikaaufenthalt veröffentlichte Peter Höner Romane, Theaterstücke und Hörspiele. Seit 2004 wohnhaft auf dem Iselisberg. Auf dem Iselisberg gründete er zusammen mit der Schriftstellerin Michèle Minelli die Schreibwerkstatt Schreibwerk Ost.

«Kenia Leak», Rezension auf literaturblatt.ch

„HG NEUNZEHN Der sonderbare Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt“, Rezension auf literaturblatt.ch

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Die Gäste im Literaturhaus Thurgau von September bis Dezember 2023

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau, liebe Literaturinteressierte, liebe Leserinnen und Leser dieser Webseite

Mein letztes Programm für das schmucke Literaturhaus am Seerhein, wo ich während dreieinhalb Jahren das Programm gestalten durfte. Schon jetzt melden sich erste Vorboten der Wehmut, weil sich gewisse Arbeiten bereits nicht mehr wiederholen werden. Intendant dieses Hauses zu sein, bedeutet mir sehr viel. Vor vier Jahren wurde ich telefonisch angefragt und es war, als hätte man mich mit einem übergrossen Geschenk beehrt. Eine Aufgabe, in die ich hineinwachsen musste, die mir ganz und gar entsprach; Gastgeber im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben.

Am Samstag, 2. Dezember, 18.00 Uhr: „Frei(ab)gang“ Gallus Frei-Tomic verabschiedet sich mit Gästen: Alice Grünfelder, Urs Faes und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung werden es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künsterinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Wohnung des Literturhauses, die das Leben in den obersten beiden Stockwerken des Literaturhauses ausmachten, gewesen sein. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. 

Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein.

Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Ein Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk, fast ausschliesslich bei Suhrkamp erschienen, wurde mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Schweizer Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Heute lebt Urs Faes in Zürich. Urs Faes nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren gemeinsamen Projekten, zum Beispiel mit jungen CH-Schriftstellerinnen und ihren Romanen oder internationalen LyrikerInnen mit lyrischen Texten, bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können.

Abgerundet wird die Veranstaltung durch einen reichen Apéro. Ein Anmeldung ist unbedingt erwünscht!

Jürgen Bauer «Portrait», Septime

Bin ich der, der ich sein möchte? Sehen mich meine Mitmenschen, meine Vertrauten so, wie ich mich selber sehe? Welches Bild macht man sich von mir? Wie sehr verstecke ich mich hinter einer Fassade, hinter Pappkulissen? Jürgen Bauer geht in seinem neuen Roman „Portrait“ genau diesen Fragen und vielen mehr nach. Ein kunstvoll konstruierter Einblick in die verwundeten Seelen der Gegenwart.

Das Buch erzählt von Georg, der nach dem Krieg irgendwo in der österreichischen Provinz in einem Bauerndorf aufwächst, zusammen mit seinem älteren Bruder und seiner Mutter, die nach dem Krieg nicht mehr hofft, dass ihr Mann wieder auftaucht. Georg ist anders als sein Bruder, aber wenigstens ein Junge, der auf dem Hof mitanpacken kann, jetzt wo alles auf der Schultern der Mutter liegt und sie zu erdrücken droht. Aber Georg ist nicht wie sein Bruder, auch nicht wie seine Mutter. Er wird auch nicht, was sich die Mutter erhoffte, ganz anders wie der Bruder, der wirklich anzupacken weiss. Georg ist gut in der Schule, ein Einzelgänger, vom Onkel ans Gymnasium geschickt, vom Onkel, der im Hintergrund gerade so viel hilft, dass der Hof mit der Mariedl und den beiden Söhnen nicht untergeht. Georg bleibt weg, studiert an der Universität in Wien, wird ein „Städter“ und taucht kaum mehr auf auf dem Hof, auf dem sich die Mutter abrackert und der Bruder ohne Frau und Familie bleibt.

Das wäre schon Stoff genug; die Entfremdung zwischen Mutter und Sohn, der Alp eines verschwundenen Vaters, der aus der Sicht des Sohnes ein Held des Widerstands ist, aus der Sicht der Mutter ein Versager, einer der seinen Mund nicht halten konnte, der seine Familie im Stich liess. Aber Jürgen Bauer erzählt viel mehr, denn „Portrait“ erzählt nicht direkt von Georg, der sich in der Stadt lieber Schorsch nennt. Jürgen Bauer erzählt die Geschichte, das Leben des verlorenen Sohnes im ersten Teil des Romans aus der Sicht seiner Mutter, im mittleren Teil aus der seines Liebhabers Gabriel und im letzten aus der seiner Ehefrau Sara. Sie alle drei erzählen ihre Geschichte und die Geschichte Georgs. Mariedl aus der Sicht einer verbitterten und hart gewordenen Frau, der nichts geschenkt, aber alles genommen wird. Gabriel aus der Sicht Georgs Liebhabers, eines Wiener Strichjungen, der wie ein Streunender durch sein Leben hechelt, immer auf der Suche nach dem Kick. Und aus der Sicht seiner Ehefrau Sara, die Georg heiratet, weil sie beide die verzweifelte Liebe verbindet, weil Georg eine Frau braucht, um die Fassade in der Hauptstadt aufrecht erhalten zu können und weil Sara einen Mann braucht, der ihr Sicherheit gibt, der sie achtet, den sie formen kann.

Jürgen Bauer «Portrait», Septime, 2020, 305 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-902711-93-9

Jürgen Bauer öffnet in seinem facettenreichen Roman derart viele Räume, dass ich als Leser förmlich hin- und hergepeitscht werde. Nicht zuletzt deshalb, weil Jürgen Bauer die drei Teile in genau dem Ton erzählt, der zu den drei Erzählenden passt. Georgs Mutter Mariedl ist bis auf die Knochen verbittert und enttäuscht. Ihre Sprache, ihr Gestus ist hart, hölzern. Da schwingt nichts mehr mit von Liebe,Verständnis, Fürsorge oder Hoffnung. Das Leben ist blosser Kampf, nichts als harte Arbeit, weit weg von allem, was an Liebe erinnert. Sie macht auch nie einen Hehl daraus, dass sie das Leben ihres jüngeren Sohnes missraten findet, so wie das Leben ihres nichtsnutzigen Ehemannes, der in den Wirren des Krieges verschwand.
Georgs Liebhaber Gabriel wächst auch auf dem Land auf, entflieht diesem, weil er genau weiss, dass er mit seinem Schwulsein nur in der Stadt, in der Hauptstadt das findet, wonach der permanente Durst ihn treibt. Gabriels Sprache ist schnodderig, ungehemmt, seine Gedanken kreisen zumindest in seiner ungestümen Jugend nur um das Vergnügen, den nächsten Rausch. Wien ist sein Tummelplatz, auch wenn man ihm in den 70ern in den Wiener Gassen ungehemmt nachschreit, solche wie ihn hätte man gescheiter alle vergast.

Und Sara? Sara ist Bankierstochter, ursprünglich aus reichem Haus in Amsterdam, in Wien hängen geblieben, weil sie sich eine Karriere als Opernsängerin erhoffte, es aber nie reichte, zum einen weil ihr Aussehen den Massstäben nicht entsprach, zum andern aber auch ihre Stimme. Und weil Sara genau merkt, dass Georg in seinem Leben eine Stütze, einen Halt, Rückendeckung braucht, weil er Karriere macht und ihn sein Kippleben zwischen Laster und Fassade zu zerreissen droht, ist sie die, die sich als Ehefrau anbietet. Sie erzählt als die Gebildete, die Frau, die alles unter Kontrolle zu halten versucht, weil sie aus Erfahrung weiss, wie tief man fallen kann.

„Portrait“ schildert das harte Leben einer Alleingelassenen im Nachkriegseuropa, das bittere Dasein aller nicht Heteros in den 70ern und 80ern, erst recht, als die „Schwulenpest“ Aids all jenen in die Hände spielte, die schon immer wussten, was richtig und falsch ist und den Leidensweg einer Frau, die nie dort ist, wo sie sein will, der der Kampf um Sicherheit, ihr Kampf um ihr Leben wird.

Sie alle erzählen von Georg. Einem Mann, der sich nach nichts mehr sehnt, als dort zu sein, wo man ihn nimmt, wie er wirklich ist, den Ort aber nie findet. Der es nie schafft, als „verlorener Sohn“ zurückzukommen, der sich immer verstecken muss, nie genügt, nie ankommt. „Portrait“ ist harte Kost, ein Sittengemälde der jüngsten Vergangenheit. Virtuos geschrieben, ganz nah am Leben, unmittelbar!

Interview

Sie erzählen Georgs Geschichte, ohne direkt von ihm selbst zu erzählen. Seine Geschichte aus drei verschiedenen Perspektiven, aus der Sicht jener, die ihm am nächsten kommen. Georg ist aus verschiedenen Perspektiven aber nicht immer der selbe Georg. So wie wir selbst aus der Perspektive aller, die uns kennen oder von uns wissen, ganz verschieden sein können. Selbst die Sicht auf sich selbst kann mit einem Mal zu wanken beginnen, durch Lebenskrisen, markante Einschnitte. Ist jede Person nur ein Konstrukt aus Wahrnehmung und Inszenierung?

Selbstgemalte Kleinigkeiten – im Lockdown anlässlich des Buches gemalt © Jürgen Bauer

Es ist eine uralte Frage, ob es das Ich überhaupt gibt – und wenn ja, welches Ich. Da braucht man nicht bis zu Kleists «Amphytrion» zurückgehen. Ich wollte es eine Nummer kleiner haben … Ausgangspunkt des Romans war die Beobachtung, dass selbst engste Freunde und Familienmitglieder völlig unterschiedliche Beschreibungen widergeben, wenn sie einen Menschen portraitieren sollen. In «Portrait» ist das ins Extrem getrieben: Ein Mann, der selbst nicht mehr weiss, wer er ist, weil er der Welt zu lange so viele verschiedene Gesichter präsentiert hat. Und das kombiniert mit der Frage, ob wir überhaupt von anderen Menschen erzählen können – oder insgeheim doch immer von uns selber reden, wenn wir ein fremdes Leben widergeben. Ob das heisst, dass wir alle nur Konstrukt und Inszenierung sind? Ich tu mir schwer mit so allgemeinen Aussagen. Bei «Portrait» ist es jedenfalls so, und es hat einen riesen Spass gemacht, das zu schreiben – mit all den literarischen Verwirrungen, die man daraus basteln kann. 

Geschichten vom Widerstand während des Nationalsozialismus kennen wir. Georgs Mutter, die erste, die in Ihrem Roman von ihrem missratenen Sohn erzählt, ist eine vom Leben gestrafte Frau. Verbittert und vernarbt. Ihr Mann, untergetaucht, weil er „den Mund nicht halten konnte“, liess sie damals schwanger mit Hof und Familie allein. Eine Frau, die sich selbst nach dem Krieg noch gestraft fühlte. Das zeigt sich auch in der Erzählstimme. Gab es da ein reales Vorbild, einen Sound im Ohr? Mit Jahrgang 1981 muss eine solche Stimme wie aus einem anderen Jahrtausend „klingen“.

Notizbücher © Jürgen Bauer

Die Stimme Mariedls klang beim Schreiben nie fremd, im Gegenteil! Meine Grosseltern väterlicherseits hatten einen Bauernhof im Burgenland, in einem kleinen Dorf. Ich kenne den Klang, die Redensweise. Meine Grossmutter, andere Verwandte, Dorfbewohner – sie alle habe ich «angezapft». Und musste dennoch viel recherchieren. Es gibt, den Archiven sei Dank, viele Bücher, auch Ton- und Videoaufnahmen von alten Bäuerinnen. Mir war es extrem wichtig, die Stimmen der drei Erzähler genau zu treffen. Ich hasse Bücher mit verschiedenen Ich-Erzählern, die schlussendlich alle wie die Autorin oder der Autor klingen. Es war die Hauptarbeit im Schreibprozess, die Stimmen zu entwickeln.

Georg ist schwul. Er wächst nach dem Krieg in einem Dorf auf, in dem ein solches Anderssein mehr als bloss ein Makel ist. Dazu die Ablehnung und das Gefühl des permanenten Nicht-Genügen, dass von seiner Mutter über ihn gegossen wurde. Da muss unweigerlich ein Trauma wachsen. Er lernt in Wien Gabriel kennen. In einer Stadt, die seine Feindschaft der Homosexualität gegenüber ganz offen und in aller Hässlichkeit zeigt. Noch immer ist die Stigmatisierung des „Ungewöhnlichen“ tief im Menschen verankert, auch wenn eine gewisse Öffnung zu spüren ist. Glauben sie an eine Gesellschaft, in der Menschen als das geschätzt werden, was sie sind?

Ich weiss nicht, ob wir je für das geschätzt werden, was wir wirklich sind. Wir spielen meist Rollen – und die sind gesellschaftlich geprägt. Sogar die Befreiung der Schwulen und Lesben war ja nur möglich, weil diese Gruppen plötzlich für ihre Kaufkraft geschätzt wurden – ökonomische Gründe spielen bei gesellschaftlicher Anerkennung ja immer eine Rolle! Wer Geld hat, wird geschätzt. Wie schon Pollesch sagt: «Liebe ist kälter als das Kapital.» Aber der Roman zeigt ja nicht nur die Ablehnung, sondern auch die anarchische, lustvolle, verspielte Schwulenszene der siebziger Jahre. Es hat Spass gemacht, die wilden Aktionen, Bälle, Proteste zu beschreiben, den Zusammenhalt und Streit der Szene. Wir werden vielleicht nicht von allen akzeptiert für das, was wir sind – aber von manchen schon. Und Qualität ist besser als Quantität. Für alles andere muss man kämpfen – und die besonders Bornierten reizen, provozieren, ihnen metaphorisch ins Gesicht schlagen, wie mein Erzähler Gabriel sagen würde.

Georg tut fast alles, um seine Fassade aufrecht zu halten. Das tat schon seine Mutter auf ihre eigene Weise. Das tut Georgs Freund Gabriel und Georgs Frau Sara. Künstler tun es sehr oft auch. Man pflegt das Klischee des Übermenschen. Schwäche, Unsicherheit, Zweifel kaschiert man gerne mit dicker Fassade. Selbst Schriftstellerinnen und Schriftsteller tun es mit jovialer Geste am Fernsehen, in Talkshows oder im Feuilleton. Belügen wir uns selbst?

Jürgen Bauers Kunstwand als Inspiration © Jürgen Bauer

Ich habe das Gefühl, dass es in Zeiten von Social Media und medialer Dauerpräsenz eine Gegentendenz gibt. Die dauernde Selbstentblössung, das Zu-Markte-Tragen der eigenen Verletzungen, das Zu-Geld-Machen des eigenen Lebens inklusive aller Verletzungen. Es wurde fast zum Imperativ: Sei du selbst, zeige dein Innerstes. Nicht umsonst ist der Buchmarkt voll mit Authentizitätsliteratur, mit Ich-Büchern. Das wollte ich nicht bedienen. Vielleicht ist es nicht die schlechteste Entwicklung, Masken als Schutz und Selbstschutz zu nutzen. Extreme sind selten gut – und die Figuren in «Portrait» kämpfen darum, zwischen Verlust des Ichs und völliger Selbstentblössung einen Weg zu finden, den sie leben können. Sara zum Beispiel gelingt das ja ganz gut, den Umständen entsprechend.

Sara heiratet Georg. Eine Ehe als gegenseitige Sicherheit, als Rückendeckung, Eckpfeiler einer perfekten Kulisse. Und gleichzeitig akzeptiert Sara die Lüge, weil sie weiss, dass sie zum Gefüge ihrer Ehe gehört, ein Teil des Fundaments ist. Wir verbinden Lüge mit Unwahrheit, dabei baut jede und jeder an seiner Lebenslüge. Ist die Lüge nicht Teil des menschlichen Seins? Viel mehr als eine lasterhafte Sünde?

Ich habe nichts gegen die Lüge. Man kann in der Gesellschaft nicht ohne Lüge leben. Wenn man immer man selbst ist, erträgt man die Verletzungen irgendwann nicht mehr. Lügen können helfen, Schmerz zu vermeiden – und anderen Schmerz zu ersparen. Und manchmal macht das Lügen, das Maskenspiel, das Vortäuschen ja auch einfach nur Spass. Wie immer macht die Dosis das Gift!

Welches Buch hat sie in den letzten Monaten aus den Socken gerissen? Und warum?

Annie Ernaux – «Die Scham»
Weil sie ein riesen Einfluss für mich war. Weil sie die eigene Psyche seziert – und dazu die ganze Gesellschaft. Weil sie über Klasse schreiben kann, wie das nur Franzosen hinkriegen, neben ihr Didier Eribon, Eduard Louis usw…

Gabriele Kögel – «Gipskind»
Weil es Parallelen zu meinem Roman gibt, der dann doch ganz anders ist. Weil sie mich zum Weinen gebracht hat, ohne kitschig zu werden. 

 Christoph Szalay – «Raendern»
Weil er Heimat definiert und seziert, weil die Sprache dieses Textes zwischen Lyrik und Prosa einfach der Wahnsinn ist.

 Und noch viele andere: Sandra Gugic, Helena Adler, Dennis Cooper – dessen „Die Schlampen“ zum Beispiel ist ein wildes, dreckiges Gegenbeispiel zu den gerade so beliebten „braven“ Romanen über schwules Leben von zumeist heterosexuellen Frauen 😉

© Daniel Schönherr

Jürgen Bauer wurde 1981 geboren und lebt in Wien. Im Septime Verlag erschien sein Debütroman «Das Fenster zur Welt» und drei weitere Romane. Im Rahmen des Studiums der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, Amsterdam und Utrecht spezialisierte er sich auserdem auf Jüdisches Theater und veröffentlichte hierzu zahlreiche Artikel und Buchbeiträge. 2008 erschien sein Buch «No Escape. Aspekte des Jüdischen im Theater von Barrie Kosky» in der Edition Steinbauer. Jürgen Bauer erhielt zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, 2014 unter anderem ein Aufenthaltsstipendium des Literarischen Colloquiums Berlin. 

Rezension von «Ein guter Mensch» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

literaturblatt.ch macht ERNST

Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

ERNST 4 / 22

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ERNST 2 / 2022

ERNST 1 / 2022

ERNST 3+4 / 2021

ERNST 2 / 2021

ERNST 1 / 2021

ERNST 4 / 2020

ERNST 3 / 2020

ERNST 2 / 2020

ERNST 1 / 2020

ERNST 4 / 2019

ERNST 3 / 2019

ERNST 2 / 2019

ERNST 1 / 2019

ERNST 4 / 2018

ERNST 3 / 2018

Jürgen Bauer „Ein guter Mensch“, Septime

Bereit für die Zukunft? Keine wie in „star wars“, keine mit einem satten Soundtrack im Hintergrund? Vielleicht wollen Sie sich dem Buch, dem Szenario gar nicht stellen. Der Roman verlangt einiges ab. Dafür belohnt mich das Buch mit einer Sprache, die wie die beschrieben Hitze flirrt und manchmal beim Atmen fast Schmerzen verursacht.

Marko und Norbert sind Brüder – Überlebende. Marko liefert zusammen mit seinem kaputten Kumpel Trinkwasser in einem alten Tanklaster. Norbert haust mehr schlecht als recht auf dem von allem verlassenen elterlichen Hof. Er ist krank, nur noch Haut und Knochen. Marko besucht ihn zwischendurch. Wenn Norbert Glück hat, fliesst Wasser durch die Rohre in der stinkenden Küche. Was die Vergangenheit zurückliess, ist ausgetrocknet, leer, knochendürr und ohne Hoffnung. Marko ist einer der letzten, dem der letzte Rest noch nicht genommen ist. Obwohl Grund genug da wäre, um allen Mut zu verlieren. Seine Frau verliess ihn, weil sie zurück zu ihren Eltern wollte. Seine Eltern verliessen ihn und seinen Bruder einst mit dem Versprechen zurückzukommen. Und Norbert, sein grosser Bruder, der ihn einst beschützte und den ganzen Hof zu erhalten versuchte, ist nur noch ein Schatten seiner selbst.

“In Zeiten wie unseren hast du drei Möglichkeiten. Du kannst schreien, abhauen oder in die Hände spucken und mitanpacken.“

Die Erde brennt. Seit über einem Jahr kein Regen mehr. Wenn etwas vom Himmel fällt, dann der Ascheregen von den riesigen Bränden, die vor der fast verlassenen Stadt wüten. Es ist heiss. Es stinkt überall, nach Schweiss, Kloake, nach Kadavern. All die Gerüche aus der Vergangenheit gibt es nicht mehr. Sie verblassen wie die Erinnerung an die Zeit davor, an grüne, feucht Wiesen oder den Duft eines Parfüms.

Marko fährt Wasser dorthin, wo es gebraucht wird. Weil Wasser längst nicht mehr einfach aus Rohren rinnt. Weil nicht einmal die Feuerwehr mit Wasser die Brände zu löschen versucht. Weil an andern Orten der Welt die Menschen in den Fluten ertrinken und ganze Gegenden weggespült werden. Marko will für etwas nütze sein, will einer jener sein, die allen Widrigkeiten zum Trotz „in die Hände spucken und anpacken“. Was nicht einfach ist angesichts der Fatalitäten rundum.

“Ein guter Mensch“ ist mehr als eine Dystopie, sondern ein Roman über wahre Gefühle, über das, was als Bodensatz bleibt, über Familie und was einen hält. Über den Zusammenprall mit „der dritten Welle“, einer Bewegung, die alles in Frage stellen will. Stimmen, die schon heute argumentieren „Geht doch sowieso alles kaputt. Egal, was wir tun.“, gibt es schon jetzt genug. Ausgerechnet in einer Zeit, in der wir wohl auf der Kippe stehen, es uns aber in Europa so gut geht wie noch nie.

Ein Interview mit Jürgen Bauer:

Die Welt in ihrem Roman ist eine verbrannte, dem Sterben schutzlos ausgesetzte. Wer reich genug ist, setzt sich in jene Zonen ab, in denen es abgeschottet und abgeschlossen noch lebenswert erscheint. Wer bleiben muss, kämpft oder wird fatalistisch. Angesichts einer Gegenwart, in der vieles in eine solche Zukunft weist – darf man noch ein Vollbad nehmen, Nestlé-Mineralwasser trinken und den Rasen sprengen?

Man darf alles – ob man soll, muss jeder für sich selbst entscheiden. Was sicher nicht schadet: ein Abwägen der Konsequenzen, die die eigenen Handlungen haben. Allerdings glaube ich, dass der Hinweis: „Veränderung beginnt bei einem selber“ mittlerweile auch dazu dient, gröbere Verfehlungen zu verschleiern. Wir können alle unseren Wasserkonsum drosseln und auch sonst gute Bürger sein – es bräuchte jedoch eine gewaltige Anstrengung von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, um den Karren (noch) aus dem Dreck zu ziehen. Genau das habe ich in meinem Roman ja auch versucht zu beschreiben: Es kann der einzelne noch so sehr ein „guter Mensch“ sein, wenn es größere Interesse gibt, die dem entgegenstehen, ist ein Scheitern unausweichlich.

Zog die Geschichte um Marko, der in ihrem Roman in einer kaputten Welt „ein guter Mensch“ zu sein versucht, Fäden bis in ihre Träume? Das Szenario ihres Romans jedenfalls hat alle Attribute, um sich in Träumen, in Alpträumen festzusetzen.

Nein, bis in die Träume hat mich die Geschichte nicht verfolgt. Zwar gräbt man sich beim Schreiben in sein Material ein, lebt mit den Figuren, aber neben der kreativen Arbeit ist das Verfassen eines Romans ja auch immer ein technischer Prozess, zumindest für mich. Ich denke parallel zu den Themen und Figuren auch immer an Dramaturgie, Aufbau, Stil. Und das sorgt für ein wenig Distanz. Sonst wäre mir bei den Themen sehr schnell sehr heiß geworden!

Warum gab und gibt es in Buch und Film so viele realistisch erscheinende Endzeitszenarien und gleichzeitig so viel bornierte Verweigerung, das Heft in die Hand zu nehmen? Ist ein Buch wie das ihre, eine Dystopie, eine Art des Schüttelns, des Aufrüttelns?

Das ist eine sehr schwierige Frage: Warum sind wir alle so lethargisch. Ich glaube tatsächlich, dass der Klimawandel, wie in meinem Roman beschrieben, (noch) sehr unbegreiflich ist. Bis auf Hitzeperioden und einige Wetterextreme leben wir noch sehr gut in Mitteleuropa. Das sieht in anderen Weltgegenden schon ganz anders aus. Ich bin überzeugt, dass die Menschen die schrecklichen Szenarien in der Theorie begriffen haben, aber in der Praxis noch zu wenig davon spüren, um tatsächlich Handlungen zu setzen. Allerdings geht es in dem Roman ja auch um eine größere Frage: Wie geht man überhaupt mit einer Welt um, in der den Menschen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft abhandengekommen ist? Und das betrifft viele Aspekte des Lebens, nicht nur die Umwelt – auch Politik, Gesellschaft usw… Rebelliert man? Läuft man weg? Und ich glaube, viele Menschen sind von einer solchen Hoffnungslosigkeit auch gelähmt.

Marko ist ein Mann mit Prinzipien, ein Mann mit Moral, ein Mann, der den Optimismus nicht sterben lassen will, selbst angesichts von Chaos und Apokalypse. Liegt in Prinzipien die letzte Hoffnung, wenn Glaube fehlt?

Meine letzte Hoffnung ist immer Humor. Den muss man der Hoffnungslosigkeit entgegensetzen. Und es gibt ja auch im Roman einige Figuren, die das machen: Aleksander, Kali, sogar ein Ekel wie Kowalski. Ich wollte zeigen, dass es immer Auswege gibt. Dass der Optimismus nur funktionieren kann, wenn er nicht verbissen wird, sondern sich eine Freiheit bewahrt, einen Witz, der seine Feinde überwältigt.

„Die dritte Welle“ ist in ihrem Buch eine Bewegung, die mit permanentem Feiern und befremdenden Spass-Aktionen auf den unvermeidlichen Kollaps hinsteuert. Auch wenn es kein realen Pendant zu geben scheint, wie kamen Sie auf die Idee einer solchen „Bewegung“?

Es gibt durchaus reale Vorbilder, für mich waren etwa die Aktionen Christoph Schlingensiefs extrem wichtig. Die hatten genau den Witz, die Frechheit, die Doppeldeutigkeit, die ich bei der „Dritten Welle“ so schätze. Einmal etwa ging Schlingensief mit anderen Menschen im Wolfgangsee baden und wollte so das Urlaubsdomizil Helmut Kohls überfluten. Das war natürlich absolut surreal und größenwahnsinnig – aber auch sehr witzig. Und die „Dritte Welle“ versucht genau das. Wobei hier die Ziele gar nicht so klar sind. Auch die Figuren im Roman wissen ja nicht: Was will die „Dritte Welle“ eigentlich?! Und das macht die Attraktion der Gruppe aus, darum zieht sie aber auch so viel Hass auf sich.

Jürgen Bauer, vielen Dank für die aufschlussreichen Anworten.

Copyright: Barbara Pálffy

Jürgen Bauer, geboren 1981, lebt in Wien. Im Rahmen des Studiums der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, Amsterdam und Utrecht spezialisierte er sich auf Jüdisches Theater und veröffentlichte hierzu zahlreiche Artikel und Buchbeiträge. 2008 erschien sein Buch „No Escape“. Aspekte des Jüdischen im Theater von Barrie Kosky. Sein Debütroman „Das Fenster zur Welt“ erschien 2013 bei Septime. 2015 erschien sein zweiter Roman „Was wir fürchten“.

Webseite des Autors

Titelfoto: „Zeit“ © Philipp Frei

Shūsaku Endō «Schweigen», Septime

«Schweigen» lag 1969 zum ersten Mal in Japan zum Verkauf. Als Shūsaku Endō den Roman damals geschrieben hatte, war er 46, in der «Mitte seines Lebens». Bei seinem Tod 1996 war Shūsaku Endō einer der wichtigsten Autoren Japans und «Schweigen» ein Roman über seinen eigenen Glaubenskonflikt, darüber, dass sich Glaube und Vernunft oft kaum vereinen lassen, schon gar nicht im Denken eines katholischen Japaners. Ein Buch um Glauben und Hinterfragen.

Seit März 2017 läuft Martn Scorsese’s Verfilmung des Romans «Schweigen» in den Kinos. Weil ich Martin Scorsese Filmschaffe schätze, hätte ich den Film mit Sicherheit geschaut. Weil ich die literarische Vorlage von Shūsaku Endō nicht kannte, gibt es noch einen Grund mehr, den Roman zu lesen, vor oder nach dem Gang ins Kino.

Im Jahrhundert vor den Geschehnissen, die der Roman beschreibt, schien Japan, das Land am Ende der Welt, für die europäischen Missionare aus dem 16. Jahrhundert das Paradies zu sein und förmlich auf den «wahren» Glauben gewartet zu haben. Innert weniger Jahrzehnte zählte man Hunderttausende zum Christentum bekehrte Japaner. Es entstanden Schulen, Waisenhäuser und Ausbildungsstätten für Priester. Aber als im 17. Jahrhundert die japanische Monarchie und Oberschicht wieder erstarkte und sich gegen «fremde» Einflüsse abzuschotten begann, empfand die japanische Oberschicht den Zangengriff von spanisch-portugiesischen Katholiken und englisch- holländischen Protestanten immer stärker als abtötenden Eingriff in die eigene Kultur, in ihr buddhistisches Selbstverständnis. Drangsaliert vom eigenen Feudalsystem und der Strenge des Staatsapparates, den Steuern und dem grassierenden Misstrauen von Dorf zu Dorf schien ein Evangelium der Liebe und der Barmherzigkeit Grund genug, dass sich die neue Religion wie Wasser ausbreitete. Buddhistische Mönsche aber waren Verbündete derer, die die Bauern wie Rinder ausnutzten.

Der katholische Glaube, den der portugiesische Padre Sebastião Rodrigues im 17. Jahrhundert nach Japan bringen wollte, blieb aber eine Religion «ab der Stange», weit weg von der japanischen Kultur und Tradition.

Das Spezielle an Shūsaku Endōs Roman «Schweigen» ist neben seinem beschriebenen Kampf zwischen Glaube und Vernunft, die Perspektive, die der Autor wählte, um den Konflikt, den Endō beschreibt, noch zu vertiefen. Shūsaku Endō schildert nicht aus der Sicht eines Japaners, sondern über weite Strecken aus der des portugiesischen Padres. Sebastião Rodrigues tritt seine lange, nie endende Reise von Portugal nach Japan an, weil er nicht glauben kann, dass sein ehemaliger charismatischer Lehrer Padre Ferreira seinen Glauben in Japan verworfen habe. Am 25. März 1638 sticht sein Schiff mit drei portugiesischen Priestern an Bord in See. Schon die Schiffsreise bis zu ihrem ersten Ziel Goa an der Westküste Indiens ist aus heutiger Sicht ein Märtyrium der Entbehrung: Hunger, Durst, Seuche, Tod, Lebensgefahr und permanente Ungewissheit – all das, was in den folgenden Jahren zu ständigen Begleitern der Missionare in der Fremde werden sollte. Padre Rodrigues beschreibt in Briefen seine Reise und in einer Art Bericht sein Wirken auf Japan, das unter dem Gouverneur Inoue, dem Fürsten von Chikugo, der sich einst selbst taufen liess, durch Drohung und Folterung in seinem Land dem fremden Glauben mit aller Härte den Garaus machen will. Padre Rodrigues findet seinen einstigen Lehrer Padre Ferreira. Es kommt zu mehrmaligen Treffen, die der Inoue geschickt zu inszenieren versteht. Treffen, die den jungen Padre Rodrigues immer tiefer in eine Krise stürzen lassen.

Das Grauen vor Gottes Schweigen

Warum ein solches Buch lesen, das von Geschehnissen aus dem 17. Jahrhundert berichtet? Weil wir in einer Welt leben, die nicht weniger gespalten ist zwischen Glaube und Vernunft. Weil es in diesem Roman um das Fremdsein geht, das sich auch heute, angesicht der Migrationsströme, förmlich aufdrängt. Weil die Wahrheit hier nicht die Wahrheit dort ist. Eine Erkenntnis, die mit den globalen Bemühungen der Kirche, ihre Religion in die ganze Welt hinaustragen zu wollen schon im 16. Jahrhundert fatal war. Weil Abschottung, Verfolgung, Folter, Gewalt gegen Fremde Themen sind, die sich heute erst recht aufdrängen, Feigheit im Angesicht aller Ungerechtigkeit.

Shūsaku Endō erzählt von seinem eigenen inneren Konflikt. Von der Verzweiflung darüber, dass «sein» Gott angesichts aller Gewalt schweigt.
(1923–1996) studierte französische Literatur in Japan und katholische Literatur in Frankreich. Er gilt in Japan als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller und erhielt u. a. den »Akutagawa-Preis«, den wichtigsten japanischen Literaturpreis. Seine Hauptwerke sind die Romane Schweigen, Samurai und Skandal. Letzteres erscheint 2017 ebenfalls bei Septime.

Titelbild: Sandra Kottonau

Steven Millhauser «Zaubernacht», Septime Verlag

Tagsüber ist es eine gewöhnliche Kleinstadt in Connecticut, aber wenn dann der Vollmond aufgeht und sein bleiches, doch helles Licht verstreut, ändert sich dort vieles.

Allerdings bleibt dabei alles in der Wirklichkeit. Niemand verwandelt sich in einen Werwolf, es gibt auch sonst keinen Horror. Da sind lediglich Menschen, die unter dem Licht des magischen Mondes aus unbestimmter Sehnsucht nicht mehr schlafen können. Eine Bande von Teenagermädchen img_0145zum Beispiel, die in fremde Häuser einbricht und dort die Nachricht hinterlässt: „Wir sind eure Töchter!“. Oder eine junge Frau, die ganz plötzlich ihren idealen Geliebten auf der Kinderschaukel vor ihrem Haus sieht. Oder ein Mann, der seit Jahrzehnten an seinem Opus Magnum schreibt, damit nicht zu Ende kommt und genau in solchen Nächten seiner Qual offenbar wird. Aber auch Schaufensterpuppen werden kurzzeitig lebendig und das nicht mehr gebrauchte Kinderspielzeug, das auf den Dachböden herumliegt, beginnt sich zu regen.
img_0146Steven Millhauser, 1943 geboren und Universitätsprofessor, ist 1997 bekannt geworden, als er für seinen Roman „Martin Dressler. The Tale of an American Dreamer“ den Pulitzerpreis bekam. Hier hat er eine Novelle geschrieben, eine Geschichte, die einen beim Lesen sofort anrührt und unmittelbar verzaubert. Gewandt und schwer romantisch zeichnet er die wunderbarsten Bilder und evoziert jene magische, fast schlafwandlerische Stimmung, in die man beim Lesen nur zu gerne versinkt. An diesem erfreulichen Lektüreerlebnis hat auch die vorzügliche deutsche Übersetzung durch Sabrina Gmeiner ihren Anteil. Schwer beeindruckt denkt man noch lange nach über diese menschlichen Dramen, die sich in dieser Mondnacht abspielen.

Wolfgang Bortlik