Özlem Çimen «Babas Schweigen», Limmat

Dass sich mit der Zeit Schicht um Schicht über die Vergangenheit legt, mag tröstlich erscheinen, vor allem dann, wenn sich in den verborgenen Schichten Geheimnisse verbergen, die Wunden aufreissen würden. Und doch macht das Vergessen Verborgenes nicht ungeschehen, wirkt Eingeschlossenes auch dann, wenn sich Schweigen ausgebreitet hat. Özlem Çimen hat Mut.

Letzthin sah ich einen Ausschnitt eines Interviews mit einer jungen Person, die sich vehement dagegen wehrte, sich mit der Vergangenheit beschäftigen zu müssen, mit den Gräueln des 2. Weltkriegs, des systematischen Tötens Andersgläubiger, den fatalen Auswirkungen eines Führerkults, der sich jeder Eigenverantwortung entzog. Und weil es die selbsternannte Spitze der Evolution nicht schafft, ein Miteinander wenigstens so zu organisieren, dass nicht immer und immer wieder Massen von Menschen Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt sind, ist es wichtig, diese Schichten aufzureissen, um sich nicht in einer falschen Sicherheit zu suhlen, man hätte mit all dem Schrecken aus der Vergangenheit nichts zu tun.

Özlem Çimen erlebt das unmittelbar, nachdem sie zu fragen beginnt und jenes Gefühl und all die kleinen Beobachtungen wahrnimmt, die ihr zeigen, dass da etwas in ihrer Familie wirkt, was sich nicht nur in ihrer Familie auswirkt. Özlem Çimens Roman „Babas Schweigen“ ist eine ganz direkte Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres Herkunftslandes, der Türkei. Eine unrühmliche Geschichte, die bis in die Gegenwart wirkt, Menschen ihre Kultur raubte, ihre Sprache, ihre Geschichte, ihren Boden. Özlem Çimens Roman ist minimal fiktionalisiert und beschreibt das Bemühen einer jungen Frau Verdrängtes, Verschwiegenes, Verleugnetes aufzubrechen.

In den Jahren 1937 und 1938 wurden in der türkischen Region Dersim mehr als 10 000 Kurden von türkischem Militär umbebracht, eine Aktion zur Türkisierung, ganz offensichtlich deshalb, weil der Staat Angst hatte, das verbliebene ehemalige Osmanische Reich würde durch verschiedene Volksgruppen und ihre Unabhängigkeitsbemühungen auseinanderbrechen. Damals fiel ein Zehntel der nicht muslimischen Dersim-Kurden dem Morden zum Opfer. Erst 2011 entschuldigte sich die türkische Regierung. Ein Akt, der den Armeniern gegenüber immer noch auf sich warten lässt. Viele Kurden damals mussten ihre angestammte Heimat verlassen, Kultur und Sprache verleugnen.

Özlem Çimen «Babas Schweigen», Limmat, 2024, 120 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-071-3

Özlem Çimen wuchs in der Schweiz auf. Jedes Jahr reiste man, schon als sie ein Kind war, immer wieder in die Türkei zu ihrer grossen Verwandtschaft, ihren Grosseltern. Sommer für Sommer war das Dorf dort der Inbegriff für Freiheit, Familie und Gemeinschaft. Özlem Çimen, die mittlerweile selber Mutter zweier Kinder ist, die sie immer und immer wieder auffordern, Geschichten aus ihrer Heimat zu erzählen, muss im Laufe der Zeit feststellen, dass die erzählte Idylle sich immer mehr mit dunklen Ahnungen mischt, die Özlem Çimen auffordern, ihre Fragen ganz direkt zu stellen. Fragen an Menschen, ihre Grosseltern, die es nicht gewohnt sind, das in Worte zu fassen, was sie schon ein ganzes Leben als Alp mit sich herumtragen.

Özlem Çimen erzählt ganz behutsam, auch mit der Absicht, mit dem Aufbrechen niemandem schaden zu wollen, am allerwenigsten ihrer Familie selbst. „Babas Schweigen“ ist eine Konfrontation gegen innen. Özlem Çimens Roman ist ein vorsichtiges Herantasten an Tatsachen und Wunden, die über Jahrzehnte verborgen und vergessen schienen, erzählt in einer schlichten Sprache, die den Schrecken von damals in vielem bloss andeutet. Ich hätte dem Buch etwas mehr historische Einbettung gewünscht, auch wenn damit eindeutige Positionierungen auf heikles Terrain führen.

„Babas Schweigen“ ist ein wichtiges Buch, weil das Schweigen nichts ungeschehen macht!

Interview

In Ihrem Roman treffen zwei Dringlichkeiten aufeinander; die Frage nach Herkunft und Wurzeln und das Bedürfnis, etwas offenzulegen, etwas ans Licht zu führen, das während Jahrzehnten unbelüftet zwischen Unter- und Unbewusstem schlummerte. Mir scheint, dass diese Fragen aus der Distanz, als in der Schweiz Geborene und Aufgewachsene noch viel dringlicher werden.

Die räumliche Distanz ist eine von vielen Komponenten, die sicherlich dazu beigetragen hat, mich mit diesem Thema intensiv auseinanderzusetzen. Ich habe das grosse Glück, all dieses Leid nicht am eigenen Leib erfahren zu haben. Meine Grosseltern konnten nicht darüber sprechen. Einerseits aus Selbstschutz und andererseits, weil sie nicht wussten, wie. Meine Eltern waren auch nicht in der Lage dazu. Sie mussten dafür sorgen, ein möglichst unauffälliges Leben für sich und ihre Nachkommen aufzubauen.

Insofern glaube ich, dass ich es einfacher habe, darüber zu sprechen, da ich das Ganze aus der nötigen zeitlichen Distanz sehen kann. Nun versuche ich der nächsten Generation unsere Geschichte weiterzugeben und komme dabei selbst an meine Grenzen. Wie spricht man darüber? Wie erzählt man eine solch grausame Geschichte weiter? Es ist nicht einfach, die passenden Worte dafür zu finden. Es sind nun mehrere Generationen her, aber es fühlt sich beim Berichten letztlich so an, wie wenn man selbst dieses Schicksal erlitten hätte.

Wie weit hat die Aufarbeitung dieser Themen mit der Tatsache zu tun, dass Sie selber Mutter sind? Oder anders gefragt; Hätten diese Themen mit gleicher Dringlichkeit angeklopft, hätten Sie keine eigenen Kinder?

Bevor ich mich entschied, diese Geschichten niederzuschreiben, lag ich wegen Corona im Bett. Mir ging es richtig mies. Da wurde mir bewusst, falls ich morgen sterben würde, würden meine Kinder die Wahrheit über ihre Wurzeln nie erfahren. Irgendwie war ich ihnen eine Erklärung oder Antwort schuldig. Hinzu kommt, dass ich aus diesem Schweigen, das mich starr machte, endlich ausbrechen wollte. Das konnte ich nur tun, indem ich die Geschichte der nächsten Generation weitererzählte. Im Endeffekt kann ich aber nicht abschliessend sagen, ob ich dieses Buch auch ohne Kinder fertiggebracht hätte. Jedenfalls hätte ich auch ohne eigene Kinder in der Vergangenheit recherchiert und nachgebohrt.

Die Türkei nennt sich zwar Republik, aber zumindest aus meiner Warte gleicht Recep Tayyip Erdoğans Politik viel mehr einer autokratischen Regierungsform, die wenig Widerspruch oder Oposition erlaubt. Minderheiten scheinen es sowohl in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart schwer zu haben. In ihrem Roman schildern sie die Angst ihrer Familie, dass mit dem Buch unschöne Dinge an die Oberfläche gelangen. Müssen Sie nicht viel mehr befürchten, dass ihre zukünftigen Besuche in der Türkei schwieriger werden?

Warum sollte ich? Ich stelle niemanden an den Pranger.

Eine Freundin von mir ist Mutter geworden. Sie ist Einzelkind und ihre Eltern wohnen weit weg. Die Eltern ihres Mannes sind im Altersheim. Auch er hat keine Geschwister. Eine kleine Familie. Von Sippe keine Spur. Die Familie meiner Frau ist ein dicker Teppich aus Beziehungen. So sehr Sippen, grosse Verwandtschaften Sicherheiten bieten, ein Eingebettetsein, Heimat, so sehr kann eine Sippe einengen, eine Rolle aufzwingen.

Möglicherweise verstehe ich Ihre Frage nicht. Aber ja, ich bin in einer grossen Familie aufgewachsen und innerhalb dieses Kreises genoss und geniesse ich nach wie vor viele Freiheiten. Ich erlebe die Beziehung in meiner Familie als sehr respektvoll. Selbst, wenn wir anderer Meinung sind, sind wir füreinander bedingungslos da. Ich bin nach dem Motto aufgewachsen: Mensch ist Mensch, er ist mit all seinen Ecken und Kanten okay, so wie er ist. Aber das ist in meiner Familie so. Ich kann nicht stellvertretend für alle grossen Familien oder im Namen der Zaza sprechen.

Unabhängig von der Grösse der Familie und der herrschenden Kultur, gilt in allen Familien das Anna-Karenina-Prinzip oder was meinen Sie?

Ihr Buch ist auch ein Buch über das Schicksal einer Minderheit in der Türkei. Ein Kapitel, das auch mit der Entschuldigung der türkischen Regierung 2011 kein Ende gefunden hat, denke man nur an das Schicksal anderer Kurden oder das der Armenier. Warum blüht der Nationalismus in einer Zeit, in der man doch eigentlich merken sollte, dass Grenzen und Abgrenzungen willkürlich und nie aus einer echten Not entstehen?

Alle unterdrückten Minderheiten haben eine Entschuldigung und eine Aufarbeitung der Vergangenheit verdient. Ich bin mit meiner Geschichte über die Zaza nicht einzigartig. Sie ist leider eine von vielen. Gerade jüngst wurde darüber berichtet, dass eine deutliche Mehrheit der Australier in einer Volksbefragung gegen die Stärkung der Rechte der Aborigines stimmte. Dies in einem fortschrittlichen Land wie Australien.

Das Buch steht für alle Minderheiten, die von einer Mehrheit unterdrückt, missachtet und überstimmt werden. Ich bin bereit mein Gesicht und meinen Namen dafür herzugeben. Ich habe weder ein politisches Motiv noch führe ich Krieg gegen eine Mehrheit.

Özlem Çimen, geboren 1981 und aufgewachsen in Luzern, lebt mit ihrer vierköpfigen Familie in Zug. 2012 schloss sie den Master in Education in Special Needs an der Pädagogischen Hochschule Luzern ab und ist als Heilpädagogin im Kanton Luzern tätig.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Daniel de Roulet «Die rote Mütze», Limmat

In Zeiten, in denen das historische Bewusstsein mehr und mehr schwindet und man glaubt, im Internet die Wahrheit über Vergangenes zu finden, sind Autoren wie Daniel de Roulet wichtiger denn je. „Die rote Mütze“ (damals Symbol der Revolution) ist ein Stück Geschichte, das sowohl bei den Protagonisten wie beim Autor physisch ins Leben eingreift.

Mag sein, dass jede Form des literarischen Schreibens eine Art der Vergangenheitsbewältigung ist, selbst dann, wenn das Geschriebene in der Zukunft geschieht. Aber wir leben und erzählen, was wir an Geschichten und Geschichte mit uns herumtragen. Aber nicht alle, die schreiben, kann man als „politische“ oder gesellschaftspolitische AutorInnen bezeichnen. Ich begleite das Werk von Daniel de Roulet schon seit Jahrzehnten. Er ist nicht nur ein Urgestein der Schweizer Literaturszene, Daniel de Roulet ist ein Autor, dessen Geschichtsbewusstsein, sein gesellschaftpolitisches Bewusstsein stets Niederschlag in seinem Schreiben finden. Und trotzdem ist sein Schreiben weder belehrend noch von Mission durchsetzt. Aber sein Schreiben schärft das eigene Bewusstsein.

„Die rote Mütze“ ist in vielfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Roman. Zum einen beschreibt er Geschehnisse vor und nach der Französischen Revolution aus einer eigenen Betroffenheit. Daniel de Roulet muss feststellen, dass einer seiner Vorfahren in jener Zeit eine mehr als nur ungute Rolle spielte, der Roman wendet sich weniger den Ursachen hin als den Auswirkungen, Auswirkungen bis in die Gegenwart. Und nicht zuletzt überrascht der Roman formal.

Daniel de Roulet «Die rote Mütze», Limmat, 2024, aus dem Französischen von von Maria Hoffmann-Dartevelle, 168 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-066-9

Stellen sie sich vor, sie müssten feststellen, dass einer ihrer Vorfahren eine unrühmliche Rolle in der Vergangenheit spielte, vielleicht auch erst aus heutiger Sicht und obwohl man demjenigen ein Dankmal setzte. Denke man nur an all jene Namen, die erst heute im Zusammenhang mit Sklavenhandel gebracht werden.
Daniel de Roulet muss feststellen, dass auf einem goldgerahmten Stich, den er von seinem Vater erbte, ein Vorfahr mit Louis-XVI-Perücke abgebildet ist. Jacques-André Lullin de Châteauvieux war Besitzer eines Söldnerregiments, ein Menschenschinder, der einen Aufstand seiner Söldner wegen ausbleibenden Solds blutig niederschlagen liess. Aber weil Daniel de Roulet Daniel de Roulet ist, erzählt er in seinem Roman „Die rote Mütze“ nicht einfach die Geschichte jenes royalen Zöglings nach. Es geht auch nicht darum zu verstehen, wie Menschen damals funtionierten, die sich nicht vorstellen konnten, dem „gemeinen“ Volk ein Mitspracherecht oder gar die Demokrtie zuzugestehen. Daniel de Roulet erzählt von den Opfern, jenen Söldnern, die die Konsequenzen auch mit dem Leben bezahlen mussten oder nur mit viel Glück mit dem Leben davonkamen.

Samuel wächst in Genf auf, einer Stadt, die von Patrizierfamilien regiert wird und sich ganz der französischen Monarchie verpflichtet fühlt. Aber schon Samuels Vater akzeptiert die scheinbar göttliche Ordnung nicht mehr. Samuel gerät zwischen die Fronten, muss Genf verlassen, heuert als Söldner an, wird festgenommen, muss mitansehen, wie seine Kameraden gefoltert und erhängt werden und entkommt erst im letzten Moment dem sicheren Lagertod, um schlussendlich in einer Heldenparade von Festakt zu Festakt geschoben zu werden, um nach Jahren festzustellen, dass sich das Leben, das er einst mit so viel Hoffnung begonnen hatte, ein Trümmerfeld ist.

Beeindruckend an Daniel de Roulets Roman ist zum einen die Perspektive, aus der er erzählt, aber auch die Klarheit und Schlichtheit der Art seines Erzählens. Nichts ist aufgeblasen, aufgebauscht und ausgeschmückt. Daniel de Roulet vermeidet jede Form der Verklärung oder Entfremdung. Er hält sich an Fakten, lässt diese sprechen. Was sich auch formal niederschlägt, denn der Text ist im Flattersatz geschrieben (linksbündig), abgespeckt und schlank.

Ein wichtiger Einblick in ein Stück Geschichte, die sich immer und immer wiederholt!

Am 4. Februar feiert Daniel de Roulet seinen 80. Geburtstag. Herzliche Gratulation und eine tiefe Verneigung vor dem engagierten, vielfältigen und eigenständigen Werk des Schriftstellers!

Interview

Historische Romane haben ein grosses Publikum. „Die rote Mütze“ ist durchaus ein historischer Roman. Und doch unterscheidet er sich in vielem von den meisten dieses Genres. Was mich am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass sie keine „Guten“ und Bösen“ konstruieren, die Handlung nicht emotionalisieren und aus einer ganz eigenen Perspektive erzählen. War die Form von Beginn weg klar?
Seit 1688, als die Krankheit die Schweizer Söldner traf – und nur sie – wird sie «Nostalgie» genannt (etymologisch, Die Krankheit der Rückkehr). Das war eine ansteckende Krankheit, die tödlich verlaufen konnte. 
Wenn ein Soldat eines Regimentes an ihr erkrankt war, musste man ihn nach Hause schicken, bevor er andere anstecken konnte. Ausserdem waren die Schweizer Söldner bekannt als sehr grausam im Kampf. Auf der einen Seite die Nostalgie (das Heimweh), auf der anderen Seite die Grausamkeit. Wie also diese Widersprüchlichkeit in Worte fassen? Der klassische, historische Roman vermeidet solche Widersprüche. Ich hatte verschiedene Arten ausprobiert und habe mich schlussendlich für eine Form entschieden, ähnlich wie eine Ballade, wie «Vreneli am Guggisberg». Keine Psychologie, ein objektiver Blick von aussen. Die unterbrochene Prosa entspricht, für mich, einer angelsächsichen Tradition in der die Poesie Geschichten erzählt. 

Ein politischer Autor. Stört Sie dieses Etikett? Man setzt Sie in eine Reihe mit Dürrenmatt, Frisch und Meienberg. Ist es nicht erstaunlich, dass es in der Schweizer Literaturszene nicht mehr politische AutorInnen gibt? 
Für mich ist es schwierig, dass ein Autor Stellung beziehen kann, ohne von den Gerüchten der aktuellen Zeit beeinflusst zu werden. Man kann die Literatur nicht produzieren wie Tomaten ohne Erde ‘hors-sol’.
Also ja, ich befinde mich im Jahrhundert, ich schliesse mich der Tradition deutschsprachiger Schweizer Autoren der Generation vor mir an. In der Westschweiz ist die Literatur oft intim und misstrauisch gegenüber der Politik. Für mich hat Literatur mit Aktivismus nichts zu tun. Ich schreibe keine Flugblätter, ich erzähle Geschichte und versuche diese in einen Kontext zu betten, der das literarische Feld überschreitet. Das heisst, es gibt auch engagierte Autorinnen und Autoren, die nicht den Anspruch erheben, Politik im klassischen Sinn zu betreiben, sondern die sich für Feminismus, Ökologie, etc. engagieren.

Sie waren lange Jahre Informatiker und betrieben das Schreiben neben Ihrem Brotberuf. Erst mit über 50 Jahren widmeten Sie sich ganz dem Schreiben. Wenn heute junge Menschen mit dem Traum der Schriftstellerei Ihr Schreiben intensivieren, sind das ganz andere Vorzeichen. Wie hat sich Ihr gelebter Berufsalltag auf Ihr Schreiben später ausgewirkt?
Ich habe bis 50 verdient, um es danach für die Literatur auszugeben. Mit 50 Jahren habe ich zu schreiben und zu veröffentlichen begonnen. Davor habe ich nur Bücher gelesen, die etwas mit meinem Beruf zu tun hatten, keine literarischen Werke, Romane usw. Die wissenschaftliche und die literarische Welt kehren sich den Rücken zu. Ich wollte die beiden Welten versöhnen, für meine alten Kollegen schreiben, aber das ist unmöglich, diese zwei Kulturen sind zu unterschiedlich. Themen die ich behandle, wie das des Atoms, bedürfen einer wissenschaftlichen Erläuterung. Es bietet sich nicht offensichtlich an, daraus einen Roman, Literatur zu machen. Aber ich habe es versucht. Der Vorteil für mich, der ich spät angefangen habe, war, dass ich nie das Syndrom der weissen, leeren Seite hatte. Es scheint als hätte ich einen unerschöpflichen Vorrat an inneren Bildern und erlebten Situationen. Der Nachteil des späten Beginnens ist, dass man nicht getragen wird von einer Generation von Autorinnen und Autoren, die die gleichen Anliegen haben und so den Mainstream der Literatur formen. 

Wenn man in der Schule die Geschehnisse um die Französische Revolution auswendig lernt, scheint Geschichte eine logische Folge verschiedener Kausalitäten. Genau das widerlegt „Die rote Mütze“. Und nicht zuletzt ist Geschichtsschreibung stets eine Frage der Perspektive. Gerade heute wird „Geschichtsschreibung“, auch jene der aktuellen Geschichte, immer mehr in Frage gestellt. Müssen wir akzeptieren, dass sich Historie und Objektivität auf ewig streiten?
Es gibt die offizielle Geschichtsschreibung, die von den Herrschenden geschrieben wird und den Figuren der Macht folgt. Darum kann die Geschichte erzählt werden wie ein Loblied der Macht, wie eine Erfolgsstory oder eine Mythologie. Für mich muss die Literatur die Geschichte von unten her erzählen, um sichtbar zu machen, wie das Individuum, der einzelne Mensch die Geschehnisse, welche ihm durch das Handeln der Mächtigen quasi aufgezwungen wurde, erlebt hat. Das Problem, das sich im Zusammenhang mit dem Söldnertum stellt, ist, dass das Leben der Offiziere und der Inhaber der Regimente wohl gut dokumentiert ist, über das Leben der einfachen Söldner aber keine Dokumente vorhanden sind. Die Literatur muss diese Leben wiederbeleben, sogar erfinden. Historiker können sich nicht mehr mit den grossen Schlachten begnügen oder mit dem Beitritt der Kantone zur Eidgenossenschaft nicht mehr zufrieden geben. Jedes noch so kleine Leben und seine persönliche Erzählung zählt, was die voreiligen Synthesen in Frage stellt. Die Literatur lässt den Leser, die Leserin eintauchen, mittels Empathie, in die Details einer persönlichen Geschichte, die eine Epoche mindestens ebenso erfahrbar und verständlich machen wie die Liste der Französischen Könige. 

„Die rote Mütze“ ist auch die Geschichte Vertriebener, Heimatloser. Etwas, was man sich als satter Schweizer nur schwer vor Augen halten kann, obwohl das Weltgeschehen millionenfach solche Geschichten schreibt; kleine Leute, die durch die Machtgier weniger mit dem Tod im Rücken durch die Zeit gehetzt werden. Sie rütteln und schütteln uns mit Ihrem Schreiben. Packt Sie nie der Zweifel?
Ich habe mich entschieden, die Schweiz von unten zu erzählen. So habe ich auch die Geschichte der Schweizer Söldner erzählt («Die rote Mütze»). Es gab deren zwei Millionen über die Jahrhunderte. Ein Viertel davon ist nie in die Heimat zurückgekehrt. Ich erzähle auch aus der Schweiz während des 19. Jahrhunderts, gezeichnet durch die erzwungene Auswanderung («Zehn unbekümmerte Anarchistinnen»). Ich erzählte die Atom-Saga («Die menschliche Simulation») und die Geschichte der Gründung des Kantons Jura («Staatsräson»). Oder dann die Geschichte meiner Generation während der Zeit des kalten Krieges («Ein Sonntag in den Bergen»). Jedes Mal frage ich mich, wofür das gut sein soll. Aber sobald meine Bücher publiziert sind, freue ich mich zu sehen, dass sie meine Mitbürger, auch ausserhalb eines gewissen, ausgesuchten literarischen Kreises, interessieren. 

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.

Maria Hoffmann-Dartevelle, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre u.a. als freiberufliche Übersetzerin tätig.

Rezension von «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Wenn die Nacht in Stücke fällt» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Brief an meinen Vater» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Sarah Elena Müller «Bild ohne Mädchen», Limmat #SchweizerBuchpreis 23/09

Sarah Elena Müllers Debütroman „Bild ohne Mädchen“ scheint LeserInnen genauso zu verunsichern wie die Literaturkritik, in der über das Unausgesprochene im Roman eifrigst geschrieben wird, über Pädophilie, Kindsmissbrauch. Nicht dass das Thema nicht wichtig wäre. Aber der Roman der jungen Autorin ist weit mehr als die Auseinandersetzung mit einem Tabuthema, das sonst eigentlich eher sprach- und fassungslos macht.

Sarah Elena Müllers Roman ist schwere Kost. Zum einen, weil er von mir einiges abverlangt, weil die Autorin der Kontur ihrer Figuren, dem Geschehen ganz langsam von einem traumhaft nebulösen Aussen gegen ein traumatisches Innen folgt, zum andern, weil es der Autorin nicht darum geht, dort den Täter als lüsternes Monster und hier das Mädchen als hilfloses Opfer zu zeichnen. Sarah Elena Müller geht es um die Zwischenräume. Zum einen um die fluide Welt eines Mädchens, das sich selbst überlassen ist, zum andern um die kaputte Welt eines Mannes, der die Bodenhaftung gänzlich verloren hat im Gravitationsfeld abgefahrener Gedankenwelten und den Untiefen seiner verlorenen Seele. Die Autorin schafft es, das Unsägliche zu beschreiben, die Verlorenheit einer Gesellschaft, die sich aus wahrhaften Beziehungen verabschiedet hat, in der die Zentrifugalkraft der Individualisierung aus dem Einzelnen einen einsamen Komet macht. Sie beschreibt Bilder aus den Grenzregionen zwischen Realität und Traum, zwischen den Feinheiten von Empfindungen und düsterem Alp.

Sarah Elena Müller «Bild ohne Mädchen»; Limmat, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-051-5

Ein Bergdorf irgendwo. Der Grossvater des Mädchens ist gestorben, die Grossmutter die einzige, die dem Mädchen ein Gesicht zeigt. Die Mutter, eine verstiegene Bildhauerin, der Vater Biologe und Umweltaktivist, beide auf ihre Art nie da, selbst dann, wenn sie das Wort an das Mädchen richten. Das Mädchen bleibt mit sich allein. Allein mit einem Engel, allein mit ihrem Nachbarn, einem schrulligen Medienmann, einem ehemaligen Professor aus Berlin, mit Bildschirmen, Computern und allem möglichen Filmequiment, bei dem sie tun darf, was ihr zuhause verwehrt bleibt, zum Beispiel Bildschirmkonsum. Ege gibt ihr die Aufmerksamkeit, die ihr zuhause fehlt. Dort spielt sich Welt ab, hat selbst der Engel, den das Kind begleitet, eine Stimme. Das Mädchen hat keinen Namen, ganz im Gegenteil zu Ege und seiner Partnerin Gisela, die eigentlich genau spürt, was in den Kellerzimmern ihres Hauses geschieht, aber die Bilder von sich wegwischt.
Selbst das Bettnässen des Kindes, die schulischen Schwierigkeiten, das Fehlen von Freunden, das Schwänzen – nichts alarmiert die so sehr mit sich selbst beschäftigten Eltern, dass irgendetwas sie zum Handeln zwingen würde. Das Mädchen, mit seinem einzigen ernsthaften Gegenüber, dem Engel, mit dem sie Zwiegespräche führt, ist sich selbst überlassen. Was zu Beginn des Romans wie eine Welt in leicht zunehmender Schieflage erscheint, wird mit der Dauer des Romans immer mehr zu einer dunklen Fahrt in die Untiefen menschlichen Verlorenseins. Die Kapitel, überschrieben mit „das Kind – das Mädchen – die Tochter – die junge Frau“ begleiten ein Leben, in dem ein Trauma zum Koloss wird. Eine Erfahrung, die die Autorin in umfangereichen Recherchen mit dem Schreiben dieses Romans nachempfinden wollte. Es geht der Autorin weder um Schuldzuweisung noch um Verurteilung. Wir leben in einer Welt, in der man die Nähe zueinander verloren hat, in der Wegschauen zur Überlebensstrategie wurde. Alle in Sarah Elena Müllers Roman sind Verlorene – und vielleicht ist das das letztlich Schwere an diesem Roman; dass mich Sarah Elena Müller nicht in eine wiedergefundene Ordnung entlässt – ganz im Gegenteil.

Der eigentliche Protagonist dieses Buches ist der Sound, die Sprache. „Bild ohne Mädchen“ ist ein tiefer schwarzer Brunnenschacht, an dessen Rand man in die Tiefe lauscht und weiss, dass da unten seltsam dunkle Gesänge tönen.

Als einzige Frau unter den Nominierten des Schweizer Buchpreises ist «Bild ohne Mädchen» alles andere als ein Aussenseiter. Vielleicht repräsentiert Sarah Elena Müller unter den fünf Nominierten «das Experimentelle», zusammen mit «Der graue Peter» von Matthias Zschokke die Phalanx der Mutigen!

Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF ­engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. Sarah Elena Müller war 2023 Stipendiatin und Gast im Literaturhaus Thurgau.

Webseite der Autorin

Illustrationen © leale.ch

 

Schweizer Buchpreis 2023: Die 5 sind da! #SchweizerBuchpreis 23/02

Das beste Buch soll ermittelt werden? Das eine kann ich nach Bekanntgabe der fünf Nominierten unterstreichen: Auch wenn wie jedes Jahr Bücher auf der Liste der Nominierten fehlen; die fünf ausgewählten, nominierten Bücher lohnen sich alleweil zur Lektüre. Und alle haben das Zeug, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Es waren fast 100 Bücher, die die Jury bis dato zu lesen hatte. Sieglinde Geisel, freie Kritikerin und Schreibcoach, Laurin Jäggi, Buchhändler, Inhaber der Buchhandlung Librium in Baden, Michael Luisier, Literaturredaktor SRF, Joanna Nowotny, Literaturwissenschaftlerin, Mitarbeiterin am Schweizerischen Literaturarchiv und freischaffende Journalistin und Yeboaa Ofosa, Kulturwissenschaftlerin und Literaturexpertin lasen sich durch die Bücherberge und tragen die inhaltliche «Verantwortung» für die diesjährige Liste der Nominierten.

Mit Christian Haller und Matthias Zschokke, zwei Eckpfeilern der CH-Literatur und Sarah Elena Müller, Damian Lienhard und Adam Schwarz, drei, die alle bereits ihren Platz in der Szene haben und in vielen privaten Bücherregalen beheimatet sind, ist kein Debüt, kein Erstling dabei. Also lauter Namen mit Schweif, die einen lang, die anderen etwas kürzer. Nicht dass es keine preiswürdigen Debüts gegeben hätte. Aber zum einen steigt bei solchen der Rechtfertigungsdruck und sehr oft bleibt ein schaler Nachgeschmack, wenn DebütantInnenromane mit solchen gestandener SchriftstellerInnen gemessen werden.

Was heisst schon gemessen werden! Ein Buchpreis ist kein Wettbewerb, auch wenn er sich als solcher gibt und der eine oder andere Autor sich präventiv aus diesem «Rennen» nimmt, weil man sich wegen dieses «Wettlaufs» echauffiert. Ein Buchpreis ist eine grosse, fünfstrahlige Bühnenshow, mit viel Pomp und überdurchschnittlicher Medienaufmerksamkeit, bei der sich die fünf Scheinwerfer im November auf das eine Buch, die eine Autorin oder den einen Autoren bündeln.
Ich bin hoch zufrieden mit der Liste. Fünf gute Bücher, fünf wichtige Geschichten und fünf Sprachkunstwerke!

 

«Sich lichtende Nebel» (Luchterhand) von Christian Haller
Kopenhagen 1925: Ein Mann taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet wieder im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Den Beobachter dieser Szene, Werner Heisenberg, führt sie zur Entwicklung einer Theorie, die im weiteren Verlauf ein völlig neues Weltbild schaffen wird: die Quantenmechanik. Der Mann im Dunkel selbst hingegen weiss nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat – er versucht, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten und seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Christian Haller, der diese beiden durch den Zufall verknüpften Lebenslinien weiter erzählt, macht daraus ein hellsichtiges literarisches Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt.

Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

«Mr. Goebbels Jazz Band» (Frankfurter Verlagsanstalt) von Damian Lienhard
Berlin, Frühjahr 1940. Auf Beschluss von Joseph Goebbels wird für den Auslandsradiosender Germany Calling eine Big Band gegründet, die als Mr. Goebbels Jazz Band internationale Bekanntheit erlangt. Die besten europäischen Musiker, darunter auch Ausländer, Juden und Homosexuelle, spielen im Dienst der NS-Propaganda wortwörtlich um ihr Überleben – ausgerechnet mit Jazz, der als »entartet« galt. Bis zu 6 Millionen britische Haushalte täglich lauschen den Swing-Stücken mit anti-alliierten Hetztexten und dem Star-Moderator William Joyce alias Lord Haw-Haw, der nach seinem Aufstieg in der British Fascist Union aus London nach Berlin geflohen war. Joyce soll den Erfolg »an der Front im Äther« literarisch dokumentieren lassen. Der dafür ausgewählte Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler findet sich im Zuge seines Auftrags, einen Propagandaroman über die Band zu schreiben, in verruchten Berliner Clubs und illegalen Jazzkellern wieder, trinkt zu viel Cointreau, verzettelt sich in seinen Recherchen und muss nicht nur die Skepsis der Musiker überwinden, sondern auch seine gefährlichen Auftraggeber über das schleppende Vorankommen seines Unterfangens hinwegtäuschen. Demian Lienhard erzählt die ungeheuerliche (fast bis ins Detail wahre) Geschichte von Mr. Goebbels Jazz Band und des berüchtigten Radiosprechers William Joyce. In furiosem Tempo jagt Lienhard seinen Figuren von New York nach Galway, London, Manchester, Zürich, Danzig und Berlin nach und stellt den menschenverachtenden Zynismus des NS-Staats ebenso bloß wie die Perfidie der Nazi-Propaganda. Gezeigt wird das Scheitern künstlerischer Produktion im Dienste einer Ideologie, wobei auch die eigene Erzählung verschmitzt unterwandert wird, bis hin zum überraschenden Paukenschlag.

Demian Lienhard, geboren 1987, aus Bern, hat in Klassischer Archäologie promoviert. Für sein Romandebüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» (2019) wurde er mit dem Schweizer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Lienhards Roman «Mr. Goebbels Jazz Band», für den er u. a. Stipendien von Pro Helvetia, dem Literarischen Colloquium Berlin, der Stadt Zürich und dem Aargauer Kuratorium erhielt und Rechercheaufenthalte in Galway, London und Berlin absolvierte, erschien im Frühjahr 2023 in der Frankfurter Verlagsanstalt. Demian Lienhard lebt und arbeitet in Zürich.

«Bild ohne Mädchen» (Limmat) von Sarah Elena Müller
Die Eltern des Mädchens misstrauen dem Fernsehen, aber beim medienaffinen Nachbarn Ege darf es so lange schauen, wie es will. Eges Wohnung steht voller Geräte, und er dreht Videos, die nie jemand sehen will.
Die Eltern sind überfordert mit dem Kind, das sein Bett nässt und kaum spricht. Der Vater ist Biologe und wendet sich lieber bedrohten Tierarten zu. Die Mutter bildhauert und ist mit ihrer Kunst beschäftigt. Ein Heiler soll helfen. Das Mädchen sucht Zuflucht bei einem Engel, den es auf einer Videokassette von Ege entdeckt hat. Und wirklich, der Engel hält zu ihm.
Durch dieses Kabinett der Hilf- und Sprachlosigkeit nähert sich Sarah Elena Müller dem Trauma einer Familie, die weder den Engel noch die Gefährdung zu sehen imstande ist. Und von der Grossmutter bis zum Kind entsteht ein Panorama weiblicher Biografien seit dem grossen Aufbruch der Sechzigerjahre.

Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF ­engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. 

«Glitsch» (Zytglogge) von Adam Schwarz
Pools, Plastikpalmen, Polarsonne: Léon Portmann durchquert auf einem Kreuzfahrtschiff die ganzjährig eisfreie Nordostpassage. Klimakatastrophentourismus mit Schlagerprogramm und Analogfisch auf der Speisekarte inklusive.
Eigentlich wollte seine Freundin Kathrin die Reise allein machen, doch er hat sich ungefragt angehängt. Dabei sind die Risse zwischen den beiden offenkundig. Als Kathrin spurlos verschwindet, macht Léon sich auf die Suche nach ihr. Er taucht immer tiefer in den Schiffsbauch ab und gerät unter Verdacht, ein blinder Passagier zu sein. Weder Kathrin noch er stehen auf der Bordliste. Nach der Beziehung erhält auch die Wirklichkeit Risse: Gibt es Kathrin überhaupt? Und was haben ein neuseeländischer Philosoph, obskure Internetforen und ein 15 Jahre altes Videospiel damit zu tun?
«Glitsch» ist der Trennungsroman zum Ende der Menschheit. Ein abgründiger Abgesang auf die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, packend und klug in Szene gesetzt.

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe. Im selben Jahr wurde er mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia ausgezeichnet und war für den Literaturpreis «Aargau 2050» des Aargauer Literaturhauses nominiert. Zudem erhielt er ein Aufenthaltsstipendium vom Literarischen Colloquium Berlin. 

«Der graue Peter» (Rotpunkt) von Matthias Zschokke
Eigentlich müsste Peter ein unglücklicher Mensch sein, aber der Zufall, oder eine gütige Vorsehung, haben dafür gesorgt, dass ihm ein »Empfindungschromosom« fehlt. Schon seine Eltern kamen ihm vor wie fremde Wesen, und seine Frau, vermutet er, wird er bis an sein Lebensende nicht verstehen. Ihr erstes gemeinsames Kind ist bei der Geburt gestorben, und eines unscheinbaren Tages betritt eine Polizistin Peters Verwaltungsbüro, um ihm zu sagen, dass sein zweiter Sohn von einem Lastwagen überrollt wurde.
Sein Leben geht weiter, man schickt ihn nach Nancy, um eine belanglose Grußbotschaft zu überbringen. Als auf der Rückreise eine unvorhergesehene Fahrplanänderung angekündigt wird, vertraut eine verzweifelte Mutter Peter ihren Sohn an. Zéphyr, so heißt der Junge mit der orangefarbenen Schwimmweste, werde in Basel von seinem Onkel abgeholt. Auf der Fahrt versucht Peter dem fremden Jungen ein fürsorglicher Begleiter zu sein. Spontan steigen die beiden in Mulhouse aus, um Zéphyrs Tante (und ihre Carrerabahn) zu besuchen. Stattdessen landen sie in einem winterlich kalten Bach, einem 5-D-Film, der Zéphyr den Magen umdreht, einer Umkleidekabine und für die Nacht in einem Hotelzimmer. Von Unwägbarkeit zu Unwägbarkeit wird Peters Hilflosigkeit Zéphyr gegenüber zarter, ja zärtlicher. Eine schwer fassbare, in Momenten irritierende Beziehung entwickelt sich zwischen den beiden, bis sie doch noch in Basel ankommen und die Reise ein abruptes Ende nimmt.

Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, ist Schriftsteller und Filmemacher und lebt seit 1979 in Berlin. Für seinen Debütroman «Max» erhielt er 1982 den Robert-Walser-Preis. Später wurde er u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Grossen Berner Literaturpreis, dem Eidgenössischen Literaturpreis, dem Gerhart-Hauptmann- und dem Schillerpreis geehrt – und, als bislang einziger deutschsprachiger Autor, mit dem französischen Prix Femina étranger für «Maurice mit Huhn».

19. November 11 Uhr: Preisverleihung Schweizer Buchpreis 2023
Zum sechzehnten Mal vergibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV zusammen mit LiteraturBasel den Schweizer Buchpreis. Zur feierlichen Preisverleihung 2023 im Foyer des Theater Basel sind Sie herzlich eingeladen. Der Eintritt ist gratis, Tickets können Sie ab Mitte Oktober über die Webseite des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel beziehen.

Illustrationen © leale.ch

Sarah Elena Müller beschenkt das Sommerfestpublikum im Literaturhaus Thurgau mit einem literarischen Höhepunkt!

Sarah Elena Müller, 1990 in Amden geboren, ist vieles. Sie bewegt sich in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Performance. Sie tritt im Spoken Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf, fungiert als Beatmakerin für die kongolesische Rapperin Orakle Ngoy und ist Mitbegründerin des feministischen Autor*innenkollektivs RAUF.

2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem und seit 2019 leitet sie das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2021 erschien der Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag der gesunde Menschenversand und heuer, von viel medialer Aufmerksamkeit begleitet, ihr Debütroman «Bild ohne Mädchen» beim Limmat Verlag.


In einem Interview erklärt Sarah Elena Müller, dass die Motivation, sich den Themen dieses Buches literarisch, erzählerisch zuzuwenden zu einem grossen Teil mit dem Umstand zu erklären sei, dass es in vielen Biographien zwischen 20 und 30 von aussen nicht erklärbare Brüche gäbe. Themen, weil es in ihrem Roman «Bild ohne Mädchen» um weit mehr als „nur“ Kindsmissbrauch geht. Es geht um Tabuisierung, um Schuldzuweisungen, die nicht relevant sind, um Einsamkeit mitten in der Familie, um Ausblenden und Wegschauen. 

Eigentlicher Protagonist ihres Romans ist die Sprache. Sarah Elena Müller erzählt nicht einfach die Geschichte eines Mädchens, das zur jungen Frau wird. Es ist als würde die Schriftstellerin alle Zwischenräume zwischen den Figuren malen, die Stimmungen, die Atmosphären, die Leeren, die Geister, das Fluide. Würde man nicht wissen, dass es ein Debüt ist, würde man denken, da schreibt jemand, der viel mehr will, als ein Buch schreiben, eine Geschichte erzählen.


In diesem kleinen Ort in den Bergen wohnen Aussteiger, Kulturflüchtige; die Mutter des Mädchens eine Künstlerin, der Vater Biologe und Aktivist, Ege, der Nachbar, einst Professor in Berlin. Sie alle Aussteiger auch in Sachen Verantwortung, denn für das Mädchen Verantwortung zu übernehmen, dafür macht sich niemand stark.

Kindsmissbrauch, Pädophilie – das sind Verbrechen, die in der Gesellschaft ebenso heftige wie schwer erklärbare Reaktionen hervorrufen. Es schwingt eine seltsam überdimensionale Betroffenheit mit, ebenso der Wunsch, lieber nicht damit konfrontiert werden zu wollen, sind doch die meisten Täter mitten in Familien oder im näheren Umkreis zu finden. 
Weder Vater noch Mutter geben dem Mädchen Antworten auf ihre Fragen. Höchstens ein immaginärer Engel, der das Mädchen begleitet, neben der Grossmutter das einzige Gegenüber, das sich dem Mädchen stellt. Das Mädchen macht sich ihre Welt selbst. Und dort, bei Ege, dem älteren Nachbarn, bei dem sie fernsehen darf, scheint sich das Tor zu eben jener Welt, die sich sonst verschlossen zeigt, zu öffnen. Und Ege zeigt ihr, wenn auch schmerzhaft, seine Form der Zuwendung.


Das Mädchen gibt durchaus Zeichen, die die Eltern hätten lesen können, wenn sie es denn gewollt hätten. Das Mädchen zieht sich zurück, ist Bettnässer, Einzelgängerin in der Schule. Aber die Eltern wollen nicht sehen.

Ein erstaunliches Buch, das das Publikum unter dem Dach des Literaturhauses bannte!

„Heiss und fiebrig war es, unterm Dach. Und getan haben wir, was die Menschen tun: fächeln und zuhören und was die Kängurus tun: die Unterarme nässen und sich der Hitze hingeben. Danke für dieses stimmungsvolle Sommerfest in Gottlieben, die Gastfreundschaft und die grünen Keckse, deren Ursprung im Spinat lag oder auch im Moos.“ Sarah Elena Müller 

Sarah Elena Müller und Ruth Loosli

Sommerfest 2023 in und ums Literaturhaus Thurgau

Über dem aktuellen Programms des Literaturhauses Thurgau steht ein Zitat der Dichterin Lisa Elsässer, die Anfang Mai Gast in Gottlieben war: „Vielleicht braucht es für die Genauigkeiten die totale Reduktion der inneren Betriebsamkeit.“

Lorenz Zubler, Präsident der Bodman-Stiftung

Lesen ist Reduktion. Schreiben ist Reduktion. Und mit Sicherheit ist eine Lesung, eine Darbietung, ein Sprechstück, Musik oder jegliche Performance eine Reduktion, eine Reduzierung auf das Wesentliche. Ob AkteurIn oder BesucherIn, ich fokussiere mich nicht nur auf das eine, das Geschriebene, Gehörte, Gesehene, Gesagte, ich reduziere meine Wahrnehmung auf das eine, vergesse mich.
In genau dieser Reduktion verbergen sich die grossen Tore des Seins, jene Tore, die keiner Zeit, keiner Distanz, nichts unterworfen sind, begrenzt nur durch die Fantasie, die eigene Innenwelt. Lesen und Hören, das wissen alle, die sich in den Sog eines Kunstwerks hineinlassen können, aber vor allem das Lesen, öffnet uns in der Reduktion Welten, die uns sonst verborgen blieben.

Darum lesen wir. Darum lassen wir uns von Sprache und Dichtung so gerne be- und verzaubern, weil es Tore sind in eine Seinsebene, die auftut, die letztlich konfrontiert und niederreisst, was uns sonst die Sicht vernebeln oder gar verhindern würde.
Darum braucht es Häuser wie das Literaturhaus Thurgau, ein Haus, das Räume aufschliesst, wie alle Orte, an denen sich Kunst manifestiert.
Von Betriebsamkeit, innerer Betriebsamkeit, sind wir nicht gefeit. Schon gar nicht in den Vorbereitungen zu einem solchen Fest, dem traditionellen Sommerfest unseres Literaturhauses.

Ruth Loosli mit ihrem Gedichtband «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» mit Quirin Oeschger am Hackbrett

«Der Abend am Sommerfest im Literaturhaus Gottlieben war heiss! Er war umfassend schön. Wir haben geschwitzt, gelacht, uns der Sprache (und der Musik! dem Klang auf dem Hackbrett von Quirin Oeschger) ergeben: beim Zuhören, beim Text sprechen, beim Austausch (dort waren wir spontan, voller Interesse für das Gegenüber). DANKE für diese wunderschöne Einladung, für die umfassende Gastfreundschaft; auch an Monika Fischer … Das Haus an diesem Ort, an diesem Fluss, der hier „Seerhein“ genannt wird, ist magisch. Der ganze Abend (nach uns die Lesung von Sarah Elena Müller im Gespräch mit Gallus) geht in die Schatztruhe unvergesslicher Erinnerungen.» Ruth Loosli

Es braucht ein solches Fest. In all den Veranstaltungen übers Jahr wird die Literatur, das Wort, die Kunst gefeiert und mit ihr all die Tapferen, die sich in ihrer Kunst durch fast nichts entmutigen lassen.
An einem solchen Fest feiern wir das Literaturhaus selbst, das seit über zwei Jahrzehnten dem geschriebenen Wort Stimmen gibt, wo sich KünstlerInnen und LeserInnen begegnen, wo vom Erdgeschoss bis unters Dach der Sprache eine Heimat gegeben wird.
Wer die Liste all jener durchschaut, die einst in diesem Haus lasen oder für eine gewisse Zeit in der Gästewohnung lebten und schrieben, ist beeindruckt, wie sehr dieses sonst so stille Haus von Bedeutsamem durchflutet wurde.

Sarah Elena Müller und ihr Debüt «Bild ohne Mädchen»

Letzthin besuchte mich hier in Gottlieben eine Schriftstellerin, mit der ich bislang nur schriftlich Kontakt hatte, die ich aber immer wieder eingeladen hatte, diesem magischen Ort einen Besuch abzustatten. So holte ich sie am Bahnhof ab und spazierte mit ihr bei schönstem Sommerwetter zum Literaturhaus. Sie warf nur einen einzigen Blick auf die Fassade des Hauses und war gebannt. Ich zeigte ihr das Haus und wir machten einen Spaziergang bis nach Konstanz. «Gibt es einen schöneren Ort?», fragte sie. Sie war hingerissen und versprach, alles daran zu setzen, bald möglichst in diesen Mauern als Gast leben und schreiben zu dürfen.

Dass dieses Haus in einer Zeit von Optimierung, vielfältigen Bedrohungen, von Sparrunden und Verunsicherungen funktioniert, gedeiht und bis weit über die Landesgrenzen hinaus wirkt, ist all jenen Menschen zu verdanken, die sich für dieses Haus einsetzen: allen voran die Bodman-Stiftung mit ihrem Präsidenten Lorenz Zubler, den spendablen Gönnerinnen und Gönnern, dem Kanton und ganz speziell der Geschäftsstellenleiterin Monika Fischer und der guten Seele im Haus, der Handbuchbinderin Sandra Merten.

Eigentlich erstaunlich, wie wenig Besatzung dieses Schiff durch all die Stürme segelt!

Sarah Elena Müller «Bild ohne Mädchen», Limmat

Sarah Elena Müller zu Gast im Literaturhaus Thurgau

Sarah Elena Müllers Debütroman „Bild ohne Mädchen“ scheint LeserInnen genauso zu verunsichern wie die Literaturkritik, in der über das Unausgesprochene im Roman eifrigst geschrieben wird, über Pädophilie, Kindsmissbrauch. Nicht dass das Thema nicht wichtig wäre. Aber der Roman der jungen Autorin ist weit mehr als die Auseinandersetzung mit einem Tabuthema, das sonst eigentlich eher sprach- und fassungslos macht.

Sarah Elena Müllers Roman ist schwere Kost. Zum einen, weil er von mir einiges abverlangt, weil die Autorin der Kontur ihrer Figuren, dem Geschehen ganz langsam von einem traumhaft nebulösen Aussen gegen ein traumatisches Innen folgt, zum andern, weil es der Autorin nicht darum geht, dort den Täter als lüsternes Monster und hier das Mädchen als hilfloses Opfer zu zeichnen. Sarah Elena Müller geht es um die Zwischenräume. Zum einen um die fluide Welt eines Mädchens, das sich selbst überlassen ist, zum andern um die kaputte Welt eines Mannes, der die Bodenhaftung gänzlich verloren hat im Gravitationsfeld abgefahrener Gedankenwelten und den Untiefen seiner verlorenen Seele. Die Autorin schafft es, das Unsägliche zu beschreiben, die Verlorenheit einer Gesellschaft, die sich aus wahrhaften Beziehungen verabschiedet hat, in der die Zentrifugalkraft der Individualisierung aus dem Einzelnen einen einsamen Komet macht. Sie beschreibt Bilder aus den Grenzregionen zwischen Realität und Traum, zwischen den Feinheiten von Empfindungen und düsterem Alp.

Sarah Elena Müller «Bild ohne Mädchen»; Limmat, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-051-5

Ein Bergdorf irgendwo. Der Grossvater des Mädchens ist gestorben, die Grossmutter die einzige, die dem Mädchen ein Gesicht zeigt. Die Mutter, eine verstiegene Bildhauerin, der Vater Biologe und Umweltaktivist, beide auf ihre Art nie da, selbst dann, wenn sie das Wort an das Mädchen richten. Das Mädchen bleibt mit sich allein. Allein mit einem Engel, allein mit ihrem Nachbarn, einem schrulligen Medienmann, einem ehemaligen Professor aus Berlin, mit Bildschirmen, Computern und allem möglichen Filmequiment, bei dem sie tun darf, was ihr zuhause verwehrt bleibt, zum Beispiel Bildschirmkonsum. Ege gibt ihr die Aufmerksamkeit, die ihr zuhause fehlt. Dort spielt sich Welt ab, hat selbst der Engel, den das Kind begleitet, eine Stimme. Das Mädchen hat keinen Namen, ganz im Gegenteil zu Ege und seiner Partnerin Gisela, die eigentlich genau spürt, was in den Kellerzimmern ihres Hauses geschieht, aber die Bilder von sich wegwischt.

Selbst das Bettnässen des Kindes, die schulischen Schwierigkeiten, das Fehlen von Freunden, das Schwänzen – nichts alarmiert die so sehr mit sich selbst beschäftigten Eltern, dass irgendetwas sie zum Handeln zwingen würde. Das Mädchen, mit seinem einzigen ernsthaften Gegenüber, dem Engel, mit dem sie Zwiegespräche führt, ist sich selbst überlassen. Was zu Beginn des Romans wie eine Welt in leicht zunehmender Schieflage erscheint, wird mit der Dauer des Romans immer mehr zu einer dunklen Fahrt in die Untiefen menschlichen Verlorenseins. Die Kapitel, überschrieben mit „das Kind – das Mädchen – die Tochter – die junge Frau“ begleiten ein Leben, in dem ein Trauma zum Koloss wird. Eine Erfahrung, die die Autorin in umfangereichen Recherchen mit dem Schreiben dieses Romans nachempfinden wollte. Es geht der Autorin weder um Schuldzuweisung noch um Verurteilung. Wir leben in einer Welt, in der man die Nähe zueinander verloren hat, in der Wegschauen zur Überlebensstrategie wurde. Alle in Sarah Elena Müllers Roman sind Verlorene – und vielleicht ist das das letztlich Schwere an diesem Roman; dass mich Sarah Elena Müller nicht in eine wiedergefundene Ordnung entlässt – ganz im Gegenteil.

Der eigentliche Protagonist dieses Buches ist der Sound, die Sprache. „Bild ohne Mädchen“ ist ein tiefer schwarzer Brunnenschacht, an dessen Rand man in die Tiefe lauscht und weiss, dass da unten seltsam dunkle Gesänge tönen.

Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF ­engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. Sarah Elena Müller war 2023 Stipendiatin im Literaturhaus Thurgau.

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Anna Ospelt «Frühe Pflanzungen», Limmat

Anna Ospelt ist eine Meisterin der Miniatur. Sie malt mit scheinbar schnellem Strich Bilder, die sich einbrennen und hängen bleiben, öffnet Türen und grosse Fenster, die Verborgenes, Vergessenes, Verlorenes zeigen. Sie schreibt Bilder, die die Kraft des ganz Grossen bergen.

Anna Ospelts zweites Buch nach „Wurzelstudien“, mit dem sie sich mit ihrer Herkunft beschäftigte, eine lyrische Selbstbetrachtung durch die Natur, das Sichtbare hindurch ins Unsichtbare, die Erinnerung, jenem Wurzelgefüge, das das Woher beschreibt, legt die Dichterin mit „Frühe Pflanzungen“ eine eigentliche Fortsetzung vor. Wieder spielt die Natur, spielen Pflanzen, das Leben um sie herum eine wichtige Rolle. Aber in ihrem neusten Buch richtet sich der Blick noch mehr gegen innen. Weil da ein neues Leben wächst, weil ein Leben zu pulsen beginnt, das eine Mutter in einen ganz neuen Zusammenhang verwebt. Weil die Mutter spürt, wie verletzlich diese Zweisamkeit ist.

Ich sticke auf dem Stoff meiner Grossmutter, mit dem Faden meiner Mutter.

Ich bin ein Mann. Und vielleicht trifft mich dieses Buch gerade deshalb auf eine eigenartig empfindliche Weise. Mutterschaft und Vaterschaft unterscheiden sich diametral. Ich kann als werdender Vater ein Dutzend Bücher über Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft lesen. Ich kann unsäglich viele Dokus schauen. Ich bleibe aussen vor. Diese Erfahrung der Weltverbundenheit streife ich bloss. Ich bin Begleiter, Mittragender, Verbündeter. Meine Rolle als Vater ist nicht jene des Werdenden. Ich muss meine Rolle erobern, mich darum bemühen. Vielleicht ist die Lektüre von Anna Ospelts Buch deshalb so bewegend, weil mir dieser literarische Zugang zum Mutterwerden und Muttersein einen Blick eröffnet, der mir als Begleiter, Mittragender, Verbündeter sonst in dieser Intensität verborgen bleibt.

Es fehlt mir an Selbstsicherheit. Diese Frau mit dem Kind muss ich erst kennenlernen. Sie wurde ja gerade erst Mutter.

Anna Ospelt «Frühe Pflanzungen», Limmat, 2023, 96 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03926-052-2

Anna Ospelts Miniaturen sind das Hineinhören selbst. Aber kein verklärtes, kein erklärendes oder wertendes und schon gar kein klagendes, auch wenn man sehr wohl spürt, wie viel Kraft und Zeit absorbiert wird, wie schwer es sein und werden kann, wenn frau sich im Alltag die Momente abstehlen muss, in denen sie sich Zeit gibt, das zu dokumentieren, festzuhalten, was als beschreibende, zeichnende, malende Stimme nach Form sucht.

Heuer ist kein Eicheljahr.
Und doch eines in Erzählkapseln.

In „Frühe Pflanzungen“ schreibt Anna Ospelt auch von „Wasserkindern“. Von Fehlgeburten, einem eigentlichen Unwort, denn nichts an solchen Kindern ist Fehler, gefehlt oder verfehlt. Der japanische Ausdruck für Fehlgeburten beschreibt „Kreaturen, die nie den ersten Ozean verlassen“. Anna Ospelt lauscht jenen Ungeborenen, „Nicht-werden-wollenden“, lauscht dem Schmerz der Machtlosen. Verknüpft mit Pflanzen- und Naturbetrachtungen schreibt Anna Ospelt in Bildern, die bei mir als Leser Verbindungen provozieren, die mich mit einer ganz eigenen Art des Sehens, Fühlens, Spürens konfrontieren.

Sehe wunden Wald.
In den Himmel gebäumtes Wurzelwerk.

Vielleicht müsste man sich jeweils zwei dieser Bücher kaufen. Eines, das ich lese und eines, das ich in Schnipsel zerreise, die ich überall dort hinterlasse, wo mich das Bleiben zum Denken zwingt. Anna Ospelts Notate verbergen hinter Banalem Hallräume. Viele dieser Miniaturen sind Auseinandersetzungen, solche mit dem Ich, mit einem wachsenden Du, mit der Zeit, mit Herangetragenem, Aufgeschnapptem, Mitgenommenen. 

Interview

Momentan liest man viel über Mutterschaft, Familie, das Nebeneinander von Elternschaft und künstlerischer Arbeit. Verweise über ihre Lektüre solcher Bücher in ihrem eigenen Buch gibt es manche. Und doch ist ihr Zugang zu diesem Thema ein geanz anderer. Sie fächern nicht auf, zerlegen nicht, breiten nicht aus. Sie konzentrieren, fokussieren. Vordergründig scheint ihre Art des Schreibens auch ein situationsbedingter Zwang zu sein. Gleichzeitig aber auch eine ganz eigene Art des Sehens, Spürens und Fühlens. Wie tauchen solche Miniaturen aus dem Einerlei des Alltags auf?

Sie tauchen leider nicht einfach so auf. Das weiss ich, da sie, die Miniaturen allzuoft untertauchen (und mit ihnen die Sprache). In den letzten rund vier Monaten habe ich zB. nicht geschrieben, mir haben der Schreibanlass, der Rahmen, der aufgeräumte Raum, die fokussierte Zeit gefehlt. Nun hab ich wieder eine Richtung eingeschlagen und versuche, täglich zu schreiben. Seit ein paar Tagen rollt es wieder, aber davor musste ich die Buchstaben regelrecht am Nacken packen und sie haben sich nur gesträubt, sodass ich sie erstmal sein liess. 

Aber zurück zur Frage: Damals, als ich den Stoff des Buchs schrieb, habe ich mehr oder weniger täglich geschrieben. In der Schwangerschaft versuchte ich, ein tägliches Haiku zu verfassen. Danach, im Wochenbett, habe ich schlicht notiert. Mal mehr, mal weniger, aber eigentlich täglich, bereits zwei Tage nach der Geburt. (ja, dort wahrscheinlich etwas zwanghaft, aber ein sehr wohltuender Zwang, es war mein Zugang zu der denkenden Anna, deren Körper im Moment hauptsächlich gefragt war.) 

Und nach dem Wochenbett schrieb ich wieder öfters Elfchen. Die Haiku haben da nicht mehr so gut gepasst, waren zu streng in ihrer Form. Da kleine Babys öfters am Tag ein kurzes Schläfchen machen, war das eigentlich der ideale Rahmen zum Schreiben. (nicht nur, natürlich, aber oft) Du spazierst, das Kind schläft ein, du zückst dein Lesebuch oder Notizbuch, wenn das Kind aufwacht, spazierst du wieder heim (es war in meinem Fall ein sehr milder Frühling, ein schöner Sommer).

Wir katologisieren und schubladisieren dauernd. Vielleicht rührt meine Betroffenheit bei der Lektüre Ihres Buches auch darin, dass ich mich als Mann mitgenommen und für einmal nicht getadelt fühle. Öffnen Sie bewusst? Wollen Sie es?

Spontan dachte ich: darüber habe ich mir nicht gross Gedanken gemacht.
Das stimmt allerdings nicht, im Nachhinein wirkt alles so leicht und man vergisst die Arbeit am Text, das Sitzleder, das er erfordert, eingefordert hat. 
Aber tatsächlich: über Männer habe ich gar nicht soooo viel nachgedacht. ☺ Es hätte den Rahmen des Buchs gesprengt, wäre wohl ein Thema für sich. 
Wo ich sehr vorsichtig war, war bei folgendem Thema: Es passiert oft, dass man andere, insbesondere Eltern von gleichaltrigen Kindern, «schubladisiert», sich automatisch mit ihnen vergleicht und vorschnell wertet. Das tue ich genauso wie jeder und jede andere, wenngleich ich versuche zu reflektieren. 
Im Text habe ich das besonders in Bezug auf Mütter versucht aktiv zu vermeiden. Im Text soll sich jede und jeder aufgehoben fühlen, egal, wie man seinen Alltag in Bezug auf Rollenbild, Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung etc gestaltet. In unserer Gesellschaft wird da oft zu eindimensional gedacht und man wird als junge Eltern sowieso andauernd in Frage gestellt (nicht zuletzt von sich selbst) – das wollte ich nicht auch noch tun. 

Ich beschäftige mich derzeit, beginnend erst, mit Fragen zum Thema Zeit. Zeit im Gegensatz zur Geschwindigkeit und finde diese Frage sehr politisch, auch im Zusammenhang mit Care-Arbeit, über die Elternschaft hinaus. (Care Arbeit für Mitmenschen, Care Arbeit für die Umwelt usw.)
Ich habe also nicht gegen Männer angeschrieben, sondern gegen das Idealbild der sich aufopfernden Mutter. Das in unserer Gesellschaft konstant reproduziert wird. Und gegen gesellschaftliche Strukturen, die uns alle, ob Eltern oder nicht, viel zu sehr stressen. Wie Zitronen auspressen. 

Ihre Miniaturen erinnern an Aphorismen, eine literarische Gattung, die kaum mehr eine Rolle spielt. Viele ihrer Notate würden selbst isoliert und aus dem Zusammenhang genommen Wirkung erzeugen. Überprüfen Sie die „Wirksamkeit»?

Da viele der Notate ursprünglich Haiku oder Elfchen waren, macht ihr Eindruck viel Sinn. Viele der Notate sind in die Länge gezogene Kürzestgedichte, zu Sätzen zurückgeformte Gedichte, die mal für sich standen und in einem zweiten Schritt erst Teil von etwas Grösserem wurden. 
(Ich hatte nie vor, ein Buch zu machen. Auch wenn es kokett klingt, habe ich erstmal einfach nur geschrieben, dem Schreiben zuliebe. Das Buch als Buch hat sich, als ich meine Notizbücher durchging, regelrecht aufgedrängt.) 

„Frühe Pflanzungen» ist eine sehr sinnliche Auseinandersetzung mit Mutterwerden und Muttersein, diesem langsamen Hineinwachsen in einen „anderen» Zustand. Ist Ihr Buch eine Art Selbstbefragung?

Ich finde es interessant, durch das Schreiben meine Welt für mich lesbar zu machen. Sie zu übersetzen, mich zu übersetzen. 

Muss ich mir Anna Ospelt mit einem Kinderwagen oder Tragetuch vorstellen, wie sie irgendo auf weitem Feld oder mitten im Wald stehenbleibt, ihr Notizheft zückt, eine Weile am Stift «kaut» und dann festhält, was ihr zufliegt?

Ja tatsächlich, allerdings habe ich nicht am Bleistift gekaut ☺ Ich hatte in diesem ersten Jahr mit Kind, in dem ich täglich stundenlang spaziert bin, immer die Schreibsachen dabei und habe Notizen gemacht, sobald die Kleine eingeschlafen ist. Ihre Schläfchen (im ersten Jahr gibt es ja viele davon, kurze) waren meine Schreib- und Lesezeit. 
Übrigens hat meine «Freundin aus Ankara» (die im Text auch vorkommt) beobachtet, als sie im Herbst bei uns war und meine Tochter ihre ersten Wörter sprach, dass sie bei jedem Buch, das sie sieht, «Mama» sagt. Sie ist wohl hunderte Mal aufgewacht und hat als erstes ihre Mutter mit Buch gesehen.
 

Anna Ospelt, geboren 1987 in Vaduz. Studium der Soziologie, Medien- und Erziehungswissenschaften in Basel. Sie publiziert Lyrik und Kurzgeschichten in Literaturmagazinen und Anthologien. Für «Wurzelstudien» erhielt sie u. a. ein Stipendium der Stiftung Kunst + Kultur im Rahmen des Deutschen Preises für Nature Writing und war für den Clemens-Brentano-Preis nominiert. «Frühe Planzung» ist derzeit für den Europäischen Literaturpreis EUPL nominiert. Anna Ospelt lebt in Vaduz.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Usama Al Shahmani «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt», Limmat

Dafer Schiehan ist aus dem Irak geflohen und in der Schweiz angekommen. „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“, Usama Al Shahmanis dritter Roman, erzählt, was der Titel seines Buches meint, vom Dazwischen, vom Zweifel, dem Erkennen, von Ängsten und der Befreiung des Ankommens.

Usama Al Shahmani hat im vergangenen Herbst nicht nur seinen dritten Roman veröffentlich. Seit dem Erscheinen seines ersten Romans “In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, mit seinen ausgedehnten Lesereisen, dem grossen Echo, der Tatsache, dass man ihn gerne einlädt und mit ihm einen emphatischen, leidenschaftlichen und kompetenten Gesprächspartner gewinnt, dass seine Anwesenheit auch in nationalen Medien bemerkbar ist, nicht zuletzt als fixes Mitglied in der KritikerInnenrunde beim SRF-Literaturclub, scheint Usama Al Shahmani unaufhaltsam ins kollektive „Kulturbewusstsein“ der Schweiz hineinzurutschen. Seine Romane überzeugen Leserinnen und Leser wegen ihrer orientalischen Erzählkunst, der Perspektive weit über persönliche Betroffenheit hinaus und der positiven Grundhaltung allen Widrigkeiten und Traumata zum Trotz. Vielleicht auch, weil Bücher und Person eine Einheit bilden, weil Usama Al Shahmani genau das repräsentiert, was er beschreibt; den Suchenden, den Wandernden, den Fragenden, den Dankbaren.

In „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ schildert Usama Al Shahmani das Wegfliegen und Ankommen von Dafer Schiehan, der wegen eines regimekritischen Theaterstücks den Irak verlassen muss und trotz eines negativen Asylbescheids in der Schweiz eine Aufenthaltsbewilligung erhält. Nach vielen Stationen, Zeiten in Durchgangsheimen, in Zimmern mit vielen anderen Flüchtlingen zusammen, bewohnt Dafer eine kleine Wohnung im thurgauischen Weinfelden. Der Sprachwissenschaftler hat Arbeit in einem Restaurant am Bodensee gefunden, als Tellerwäscher, weit weg von seiner Heimat, seiner Familie, weit weg von einer Gewissheit, in einem Dazwischen.

„Dafer fragte sich, ob er wirklich etwas verloren hat, als er seine Heimat verliess. Oder ist Heimat bloss eine grosse Lüge, die wir gerne glauben?“

Usama Al Shahmani «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt», Limmat, 2022, 176 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03926-042-3

Dafer erzählt in Rückblenden von seiner Kindheit in einer kleinen Stadt, seiner Familie und seinen Verwandten, von seiner ledig gebliebenen Tante Aschuak, die eines Tages das Land für immer verliess und er als Kind nicht verstehen konnte. Von seiner Grossmutter, die ihm die Welt mit Geschichten erklärte. Von den Zeiten, als auf dem Teheraner Flughafen jener bärtige, alte Mann einem Flugzeug entstieg und in eine jubelnde Menge tauchte, das ganze Land in Aufruhr versetzte und mit einem Mal alles ganz anders war, Jungs nicht mehr in die Nähe von Mädchen kamen und man nur noch auf dem Boden sitzend ass. Von seinem Umzug nach Bagdad, seinem Studium, der gewonnenen Freiheit und den perfiden Bedrohungen eben dieser Freiheit. Wie er mit KommilitonInnen in die Welt des Theaters eintauchte, weil das Theater ein offenes Feld für Lebensentwürfe zu werden begann. Bis Saddams Sicherheitapparat dem Aufbruch im Kleinen ein abruptes Ende setzte und der Inhalt eines Theaters aus seiner Feder Henkersseil zu werden drohte. Dafer musste fliehen, alleine, einer Zukunft beraubt, voller Ängste, zuerst mit der Absicht, nach England zu gelangen, schlussendlich in der Schweiz gestrandet.

„Kultur war verdächtig, mit ihr wurde man für die Familie zur Last, zur Gefahr.“

In der Schweiz ist Dafer nicht nur die Sprache fremd. Aber er spürt, dass es die Sprache ist, die ihm die Tür zu Land und Menschen sein wird. Er beginnt zu lernen. Über die Sprache hinaus die Gebräuche der Einheimischen. Langsam entschlüsselt er die Rätsel der Einheimischen, selbst die überdeutlichen Signale von Fremdenfeindlichkeit und offensichtlicher Ablehnung.
Und als Saddam im Irak gestürzt wird und ein Besuch in seiner Heimat wieder möglich ist, muss er wie viele andere Geflüchtete erfahren, dass der Vogel an jenem Ort, den er verliess, fremd geworden ist. „Wärst du hier geblieben, so wären viele schlimme Dinge in dieser Familie nicht passiert“; sagt ihm seine Mutter.

„Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ ist der Roman eines Angekommenen. Vielleicht nach „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“ und „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ so etwas wie der letzte Teil einer Trilogie. Dafers Blick auf das Land, in dem er angekommen ist, ist der eines Dankbaren – wenn auch mit einem ordentlichen Schuss entlarvender Erkenntnis. Drei Worte beschreiben die Schweiz: Zuverlässigkeit, Toleranz und Jammern; „Jammern gehört zu den erlesensten Genüssen ihres Lebens.“

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasirija), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Er übersetzt ins Arabische, ist seit 2021 Literaturkritiker beim «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens SRF. Sein erster Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» wurde mehrfach ausgezeichnet und war u. a. für das «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels» nominiert. Usama Al Shahmani lebt in Frauenfeld. 

Rezension zu «Im Fallen lernt die Feder fliegen» auf literaturblatt.ch

Essay „Wo die Diktatur beginnt, liegt die Kultur im Sterben – Eine Kindheit zwischen dem Krieg und dem bewaffneten Frieden“ auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Caroline Minjolle

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Oktober bis Dezember 2022

Liebe Besucherinnen und Besucher, Freundinnen und Freunde, Zugewandte und grundsätzlich Interessierte

Zwischen Oktober und Dezember 2022 knistert es im Literaturhaus Thurgau: Dramatische Verwandlungen in dystopischer Kulisse, Kunst und Familie im Schreiben vereint, ein Sommer mit Geschichte, ein Schicksal aus der Mitte heraus, eine Virtual-Reality-Reise, eine Widerstandsgeschichte vom Ufer des Bodensees und ein AutorInnenkollektiv, das sich stellt:

Mehr Informationen auf der Webseite des Literaturhauses

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau