Evelina Jecker Lambreva „Im Namen des Kindes“, Braumüller

Dass sich Kinderwunsch und Kindeswohl mehr als nur streiten können, wie zerstörerisch Kräfte freigesetzt werden und alles auf eine nicht abwendbare Katastrophe hinausläuft, davon erzählt Evelina Jecker Lambrevas aktueller Roman „Im Namen des Kindes“.

Die Welt tut, als wäre die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind gottgegeben. Ebenso heuchlerisch ist die Selbstverständlichkeit, Kinder müssten ihre Eltern lieben. Dass das Familiengeflecht filigran ist, wie sehr Fallgruben, Untiefen und ein labyrinthischer Unterbau jene kleinste Zelle der Gesellschaft zu einem immerwährenden Mysterium werden lassen, lehrt uns nicht nur die Psychologie. Die griechische Sagenwelt ist voller innerfamiliärer Grausamkeiten. Der Begriff Familie suggeriert Geborgenheit, Liebe, Heimat. Die Liste der Begriffe, die sich mit Familie kombinieren lassen, ist ebenso lange wie die Möglichkeiten des Entgleisens, die sich hinter wohlgehüteten Fassaden ereignen können.

Evelina Jecker Lambreva erzählt in ihrem Roman „Im Namen des Kindes“ von einer solchen Katastrophe, einer sich durch ein ganzes Leben hinziehende, nicht enden wollende Katastrophe. Davon, dass Kinderwunsch und Familienträume nicht unweigerlich in jenes Idyll resultieren, dass an sonnigen Sonntagen allerorten präsentiert wird. Davon, dass aus trautem Familienideal auch ein Gefängnis werden kann, Einzelhaft ohne Fluchtmöglichkeit, ein Martyrium ohne Ende.

Evelina Jecker Lambreva „Im Namen des Kindes“, Braumüller, 2022, 280 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-99200-327-3

Eine junge Frau verschwindet. Polizei und Therapeutinnen sind sich nicht sicher, ob die Frau nur untergetaucht ist oder sich gar etwas angetan hat. Maya, ehemalige Sozialarbeiterin und Mitarbeiterin einer Opferberatungsstelle kennt die junge Frau, sass ihr mehrmals gegenüber, gewann das Vertrauen der jungen Frau, die zwar nicht von Angesicht zu Angesicht aus den Tiefen ihres Lebens berichtete, aber in langen Briefen. Von einer narzistischen Mutter, der sie schon als kleines Kind nichts recht machen konnte, von immerwährenden Streitereien zwischen Mutter und Vater, von Gewalt und schrecklichen Drohungen, von Ängsten und Verunsicherungen. Vom Tod ihres Vaters und der absoluten und absurden Konzentration einer Mutter auf ihr einziges Kind. Einer tiefen Hassliebe beider und der Unmöglichkeit, selbst mit der Volljährigkeit der Tochter durch Distanz einen Riegel vorzuschieben.

Rebecca haut ab, taucht unter, besucht die einzige Frau, von der sie als Kind jene Liebe bekam, die man hätte Mutterliebe nennen können – Herminija. Sie nimmt den Zug über Mannheim bis nach Amsterdam.
In der gleichen Zeit geistern zwei Schreckensmeldungen durch die mediale Tagesaktualität: Zwei Ärzte sterben unerklärlich, der eine unter einem Zug, der andere durch Messerstiche.

Was der Polizei erst nach und nach klar wird, wird auch mir als Leser erst langsam klar, auch wenn man sich beim erneuten Lesen des Buches die Augen reibt, weil man sich bei der Lektüre nie von der schlimmst möglichen Variante leiten lässt.

„Im Namen des Kindes“ hätte ein Krimi werden können, ist er aber nicht. Evelina Jecker Lambreva schrieb als noch immer praktizierende Psychiaterin und Psychotherapeutin auch keine literarisches Fallbeispiel einer problematischen Tochter-Mutter-Beziehung und ihrer katastrophalen Auswirkungen. „Im Namen des Kindes“ ist Auseinandersetzung! Nicht jedes Leben ist automatisch ein Geschenk. Die Medizin kümmert sich mit künstlicher Befruchtung um potenzielles Mutter- und Familienglück. Ob jenes vermeintliche Glück automatisch das Glück jenes Kindes ist – davon erzählt dieser Roman. Davon, wie chancenlos jeder Ausbruchsversuch aus einem krankhaft besitzergreifenden Muttergriff sein kann. Wie bodenlos jenes Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Evelina Jecker Lambreva schildert das Leiden von der ersten Seite weg. Und von der ersten Seite weg ist klar, dass es nur die Flucht nach innen geben kann. Eine Flucht, für die Rebecca einen hohen Preis bezahlen muss, eine Flucht, bei der es keine Rettung geben kann. „Im Namen des Kindes“ ist deshalb nichts für zart Besaitete, weil man den Roman nicht als Krimi gut unterhalten weglegen kann. „Im Namen des Kindes“ ist viel mehr.

Interview

Gegenwärtig setzen wir uns in allerlei Diskursen heftig mit Rollenbildern auseinander. Auch in der Familie gibt es Rollenbilder, die sich über Jahrhunderte in unserem Bewusstsein oder auch Unterbewusstsein eingraviert haben. Die fürsorgliche, liebende Mutter, das folgsame, dankbare Kind. Wäre dieses Rollenbild nicht beinahe genetisch verankert, würden doch nicht Heerscharen von jungen Menschen noch immer ins Abenteuer Familie starten!
Inzwischen verändert sich das Rollenverständnis der Frau bei den Frauen selbst und in der Gesellschaft zunehmend. Ich beobachte diesen Prozess der Veränderung seit 15-20 Jahren. Heute gibt es immer mehr Frauen, die offen dazu stehen, dass sie keinen oder nur einen schwach ausgebildeten Kinderwunsch haben, und zwar derart, dass sie sich ein Leben auch ohne Mutter zu sein vorstellen können. Sie verbinden ihr Frau-Sein nicht mehr zwangsläufig mit einem Mutter-Sein. Es gibt auch viele junge Paare, die sich aus verschiedenen Gründen freiwillig gegen einen Kinderwunsch entscheiden. Zwar ist der gesellschaftliche Druck der Rollenerwartungen auf Frauen noch immer hoch, in entsprechend traditionellen Rollenbildern zu leben, aber immer mehr junge Frauen entziehen sich diesem Druck. Wenn sich zwei Menschen heute entscheiden, eine Familie zu gründen, machen sie es immer häufiger aus Überzeugung, und nicht um familiäre und/oder gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen.

Ein Dürrenmatt-Zitat im Vorsatz zu Deinem Roman heisst „Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat.“ Dürrenmatts Kriminalromane beschreiben genau dies, eben genau im Gegensatz zu all den Tatortfolgen, die einem eine stets sauber aufgeräumte Geschichte präsentieren. Rebecca, die junge Frau in deinem Roman, übt Selbstjustiz. Gerechtigkeit ist keine Norm. Ist Gerechtigkeit die Befriedigung eines Wunsches?
Gerechtigkeit ist zwar keine Norm, aber sie hat Bezug zu moralischen und ethischen Verhaltensnormen. Das Problem, das ich sehe, ist, dass in der narzisstischen Wunscherfüllungs-Gesellschaft der Postmoderne die Individualnorm, das heisst die Norm des Einzelnen (oder die Norm von kleinen Gruppen) zunehmend das Verhalten in der Gesellschaft prägt und immer mehr Platz einnimmt. Ich befürchte, dass inzwischen je länger je mehr die Vielfalt individueller Normen und individueller Wertmassstäbe, die Vielfalt der Auffassungen von Gerechtigkeit bestimmt. Somit öffnet sich natürlich auch die Tür für mehr Selbstjustiz. Ob in diesem Sinn Gerechtigkeit die Befriedigung eines Wunsches ist, bleibt für mich völlig offen.

In einer kurzen Korrespondenz hast Du verraten, dass Du Dich sechs Jahre mit diesem Buch auseinandergesetzt hast, dass es unsäglich viele Fassungen davon geben musste, bis Du die finale gefunden hast. Was hat Dich bewogen, nicht einfach den Bettel hinzuschmeissen?
Im Verlauf der jahrelangen Arbeit am Text habe ich Rebecca und Maya viel zu sehr liebgewonnen, um sie aufgeben zu wollen. Im Schreibprozess habe ich die beiden immer besser kennengelernt und immer mehr in sie hineingehorcht. Rebecca und Maya wollten unbedingt, dass ihre Geschichten vor einer Leserschaft in Erscheinung treten. So war das.

Rebecca ist in einem Gefängnis eingesperrt, aus dem kein Weg führt, schon gar nicht jener über die Justiz. Kliniken, Spitäler, Praxen sind voller Menschen, die sich nur schwer oder gar nicht befreien können. Sind PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen GefangenenwärterInnen?
Das ist doch das Ziel einer jeden Psychotherapie: dass es dem betroffenen Menschen mit therapeutischer Hilfe gelingt, sich innerlich und äusserlich weitgehend zu befreien – von den Dämonen der Vergangenheit, von der inneren Gefangenschaft in sich selbst, von selbstdestruktiven Gedanken und Handlungen, von verinnerlichten Elternbildern, die einem im Weg stehen, die man aber trotzdem nicht gehen lassen kann, von Ängsten, die das Individuum daran hindern, sich weiter zu entwickeln und als gleichwertiger Mensch, zusammen mit den anderen Menschen im Leben fortzuschreiten. In diesem Sinn hat die hilfeleistende Aufgabe von PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen nichts mit GefangenenwärterInnen zu tun. Selbst dann, wenn eine Fürsorgerische Unterbringung nötig wird, wird diese zum Schutz des Patienten vor sich selbst oder zum Schutz von Drittpersonen ausgeführt. Und diese Unterbringung dauert nur so lange, bis keine Gefahr für das eigene Leben des Betroffenen oder für das Leben anderer mehr droht. Aber auch in solchen extremen Situationen ist der leidende Mensch nicht einer psychiatrischen Institution hilflos ausgeliefert. Er kann sich auf rechtlichem Weg gegen die Fürsorgerische Unterbringung wehren.

Rebeccas Mutter ist eine Narzisstin. So wie sie die Familie terrorisiert, terrorisieren auch all die Narzissten auf der grossen Bühne der Weltpolitik das Gros all jener, die ihnen ausgeliefert sind, die sich nicht wehren können. Warum ist Rebecca ihrer Mutter gegenüber wie gelähmt? Warum schaffen es Narzissten, durch Propaganda ganze Völker stramm brav und willenlos zu schalten?
Oft kann die bewusste oder unbewusste Ambivalenz, die wir unseren Eltern gegenüber empfinden, sehr lähmend sein. Je stärker diese Ambivalenz ist, desto lähmender wirkt sie sich auf die Beziehung zu den Eltern aus, insbesondere auf die Beziehung zu diesem Elternteil, von dem man für sein unmittelbares Überleben abhängig ist. So ist es auch bei Rebecca, die ihre Mutter nicht nur hasst, sondern auch liebt. Dazu kommt, dass NarzisstInnen oft sehr charmant sind, eine starke Anziehungskraft besitzen, und ihren Charme geschickt und manipulativ zu ihren Vorteilen zu nützen wissen.

Auf der grossen Bühne der Weltpolitik schaffen es grandiose Narzissten nicht nur durch Propaganda, «ganze Völker stramm brav und willenlos zu schalten». Das Zusammenspiel zwischen einem narzisstischen Landesführer und dem Volk, das er regiert, ist viel komplexer. Landesführer mit grandiosem Narzissmus sind oft eine hervorragende Projektionsfläche für kindliche Wünsche nach Schutz, Sicherheit, Versorgung und Ordnung. Solche regressiven Wünsche flackern bei Erwachsenen wieder auf, wenn diese mit einer hochkomplexen, verwirrenden und widersprüchlichen Realität überfordert sind. Man sehnt sich dann nach strengen, konsequenten Elternfiguren, die wissen, wo es lang geht und die einen durchs Leben führen können. Natürlich ist man ihnen gegenüber auch ambivalent, vor allem, wenn sie grausam, sadistisch und erbarmungslos sind, aber man verzeiht ihnen alles, denn auch die schlimmsten Eltern sind besser als gar keine, wenn es ums Überleben geht. Gewalttätige Machthaber können genauso geliebt und gehasst sein wie gewalttätige Eltern auch. Dieses Muster ist häufig bei Völkern zu treffen, die Jahrhunderte lang in Unfreiheit, Unterdrückung, Angst und masochistischer Unterwerfung gelebt haben. In solchen meistens vom Patriarchat total vereinnahmten Gesellschaften werden unter diesen Umständen grandios narzisstische Landesführer zu einer Art projektiven elterlichen (vor allem väterlichen) Autoritätsfiguren, die sowohl protektiv als auch repressiv, gleichzeitig haltbietend und sanktionierend agieren. Denen unterwerfen sich dann gehorsam ganze Völker, indem die Menschen zu den narzisstischen Machthabern mit der gleichen lähmenden Ambivalenz aufschauen, die sie aus ihrer Kindheit kennen.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband «Unerwartet» vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014), «Nicht mehr» (2016) und «Entscheidung» (2020).

Lyrik von Evelina Jecker Lambreva aus ihrem Band «Niemandes Spiegel, Chora Verlag 2015

Beitragsbild © privat

Evelina Jecker Lambreva «Niemandes Spiegel», Plattform Gegenzauber

Sonnenaufgang

Winde fegten dich hinweg,
Regenschauer verwischten deine Spuren.
Die Zeit – dieses einsame Meer – riss dich entzwei
und schleppte dich fort
aus dem Fegefeuer meiner Erinnerungen.
Jetzt frag ich mich,
ob es dich überhaupt je gab
oder ob ich dich mir ausdachte
trotzig,
als meine Träume Fleisch wollten,
mein Fleisch nach Liebe schrie – und einem Weg,
als ich zuende träumte
die Einsamkeit des Vogels am frostigen Himmel
und in deinen Augen sah, wie die Sonne aufging.

 

Rückkehr nach Elena

Meine Heimatstadt, in der ich aufwuchs,
mich verliebte, liebte, in der mein Lachen
wie ein Wasserfall vom Hügel herab über die Plätze rann,
kennt mich nicht mehr.

Stumm geworden ist der schmale Bach,
ein alter Nachbar lächelt von der Todesanzeige,
auch die Eingangstüre vor mir schweigt,
der kleine Balkon, auf dem Efeu rankt.

Wann ist diese Welt nur so verödet,
die noch gestern aus vollem Halse zur Gitarre sang?
Oder ist es nur die Hölle, als Fremder heimzukehren
und Tod lebendig als Erinnerung zu erfahren?

 

Niemandes Spiegel

Ich möchte niemandes Spiegel sein,
obwohl ich ständig jemandem den Spiegel vorhalte.

Ich möchte kein Wächter von Illusionen sein,
obwohl ich stets die eigenen wahre,
– wenigstens bis sie mich im Korridor erschrecken
und ihren wahren Namen verraten.

Ich möchte nicht der beißende Rauch
über dem fälschlich angezündeten Strohbündel sein,
obwohl meine Fußsohlen angeschmort sind
und ich schon einer Feuertänzerin ähnele.

Ich will auch kein Haustierchen sein –
keine faule Katze, kein Kanarienvogel im Käfig
und kein Fisch in der Aquariumslandschaft.
Doch wenn ich mich einmal nicht erkennen sollte,
dann ist ganz sicher der Spiegel daran schuld.

 

Meine Mutter

Meine Mutter –
eine mitternächtliche Geige,
die den Mond zum Schlafen bringt.

Meine Mutter –
eine wütende Sense im Sommer,
wenn der Klee seine Blätter entfaltet.

Meine Mutter –
die harte Hand des Lebens,
die mich über knarrende Stege führt.

Meine Mutter –
eine Trauerweide über dem Fluss:
ihre Augen laufen aus,
dem Wind hinterher
mit dem geschulterten Bündel Erinnerungen.

Meine Mutter –
eine Begonienblüte,
die ihren Kopf hängen lässt im Herbst,
wenn die Schwalben fortfliegen.

Meine Mutter . . . Wer ist diese Frau?

 

Ausgedachte Welt

In ihr werde ich dich verstecken,
damit du mir öffnen kannst,
wenn die da draußen
mir blutige Wunden schlägt
wie das zu klein gewordene Schuhwerk
die Füße eines Mädchens, das
partout nicht groß werden will . . .
Eine Linde will ich dir pflanzen,
Jasmin und Flieder,
dir eine Sonne gebären,
eine Quelle dir weinen
in der Abenddämmerung,
wenn der Tag seine eisernen Tore
hinter meinem Rücken zuschlägt,
der Regen seine Metallzapfen
in mein Gesicht bohrt,
wenn mich ganze Scharen ersticken
mit ihrer selbstzufriedenen Ausdünstung
nach Wohlstand und Erfolg,
wenn ich mich frage,
ob ich noch ich bin
und du noch auf mich wartest
in meiner ausgedachten Welt
in der ich dich unbedingt
eines Tages verstecken will,
damit du mir in Erinnerung rufst,
dass es mich noch gibt.

 

(alle Gedichte aus «Niemandes Spiegel»)

Evelina Jecker Lambreva «Niemandes Spiegel» Gedichte (bulgarisch-deutsch), Übersetzung aus dem Bulgarischen von Evelina Jecker Lambreva und Thomas Frahm.
Chora Verlag, 2015, 156 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-929634-65-5

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband „Niemandes Spiegel“ sowie der Erzählband „Unerwartet“ vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: „Vaters Land“ (2014) und „Nicht mehr“ (2016), «Entscheidung» (2020)

Rezension «Nicht mehr» auf literaturblatt.ch

Rezension «Entscheidung» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Alexander Jecker

Über Eva und Lilith in „Schwestern wie Tag und Nacht“ von Margrit Schriber

Natürlich könnte man Margrit Schribers Roman «Schwestern wie Tag und Nacht» vordergründig als literarischen Kriminalroman lesen. Oder als eine Erzählung über Geschwisterrivalitäten, wie sie häufig in Familien mit mehr als einem Kind vorkommen. Man könnte es ebenso als eine Geschichte über Neid und Niedertracht, von Glück und Pech im Leben, von Aufstieg und Untergangverstehen.

© Evelina Jecker Lambreva

Gasttext von Evelina Jecker Lambreva

Alice Zaugg, eine der angesehensten Frauen im Dorf, ist verschwunden. Martha, die «niemand für ihre Schwester hielt», hatte sie zuletzt gesehen – an ihrem traditionellen «Schwesternverwöhntag». Nun wird Martha auf dem Polizeiposten befragt. Frau Irene – oder die «Haselmaus», wie Martha sie bezeichnet – ermittelt. Martha erzählt von Schwesternliebe und Abhängigkeit, von Bewunderung und Eifersucht, von Schwestern wie Tag und Nacht. Die selbstbewusste, ehrgeizige Alice ist verstrickt in Dorfintrigen, ihre Lebensgeschichte und ihr Aufstieg sind das Abbild einer Gesellschaft, die Erfolg über Menschlichkeit stellt. Doch weshalb ist Alice verschwunden? Margrit Schriber erzählt die spannungsgeladene Beziehungsgeschichte von zwei ungleichen Schwestern, von Liebe und Loyalität, aber auch von Enttäuschung und Verachtung. Raffiniert verpackt sie den Stoff in die Erzählform eines Kriminalromans, der in zwischenmenschlichen Abgründen nach der Antwort auf die Frage sucht: Was ist mit Alice Zaugg geschehen?
(Klappentextzu «Schwestern wie Tag und Nacht», ProLibro Verlag Luzern, 2015)

Der Roman ist so vielschichtig wie die in der Erde verborgene Zwiebel einer prächtigen Pflanze, deren herrliche Blüten wir bewundern dürfen. Zwischen den Zeilen geht es jedoch um viel mehr als bloss um die meisterhafte Darstellung einer komplizierten Hass-Liebe-Beziehung zwischen zwei Schwestern, die eine zielstrebig und erfolgreich, während die andere ein passiv-abhängi-ges Schattendasein im Schutz der Powerfrau führt.
Eigentlich, so könnte man sagen, geht es jedoch im Roman gar nicht um zwei Frauen. Es geht um DIE FRAU und zwei sich ewig widersprechende und widerstreitende Seiten der weiblichen Seele, die eine – Abbildung von Lilith, die andere – von Eva, literarisch eingebettet in die Figuren der beiden Schwestern Martha und Alice.

Was haben Lilith und Eva mit Alice und Marta zu tun?
Nach dem deutschen Psychiater Hans-Joachim Maaz, stellen die mythischen Frauenfiguren Lilith und Eva zwei gegensätzliche Grundprinzipien des Frau- seins dar, zwei sich feindselig gegenüberstehende Formen von Weiblichkeit, die unversöhnlich im Kampf miteinander verstrickt sind und mehr oder weniger in jeder Frau verborgen leben. In seinem Buch «Der Lilith Komplex» (2005, DTV) erläutert Maaz, dass nach der jüdischen Überlieferung Gott Lilith als die erste Frau Adams schuf, in gleicher Weise wie er Adam entstehen liess. Lilith aber verweigerte, sich Adam unterzuordnen, sie war nicht zur Selbstunterwerfung bereit, stellte den Anspruch auf Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung, waren doch nach ihrer Auffassung beide, Adam und sie, aus derselben Erde gemacht und ins Leben gerufen worden. Ihre Haltung verunsicherte und verärgerte Adam, es kam oft zu Streit. Schliesslich flüchtete Lilith vor Adam und aus dem Paradies. Sie wurde von Gott bitter bestraft und verurteilt, ein Dasein als wollüstige Verführerin und Kindsmörderin an den elendesten Orten der Welt zu führen. Aus Erbarmen mit Adam, der nicht allein leben wollte, schuf Gott dann Eva – aus Adams Rippe. Eva war für Gehorsam und Unterwerfung vorgesehen. Als weibliche Grundeinstellung und Lebensprinzip symbolisiert Eva also Passivität, Aufopferungshaltung, Unterordnung, Gehorsam, Fürsorge, Selbstaufgabe, Keuschheit, Treue, Mütterlichkeit. Lilith hingegen zeichnet sich aus durch Aktivität, Initiative, Eigenständigkeit, Lustbetontheit, Leidenschaft, Verführungsfähigkeit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit. Mutterschaft und Mütterlichkeit lehnt sie ab.

Margrit Schriber «Schwestern wie Tag und Nacht», ProLibri, 2014, 220 Seiten, CHF 34.00, ISBN 978-3-905927-45-0

Diese zwei Seiten der weiblichen Seele werden in «Schwestern wie Tag und Nacht» beeindruckend und gekonnt dargestellt: Marta verkörpert in der Tat die Anteile von Eva, Alice diese von Lilith. Marta ist anspruchslos, selbstunsicher und kleinmütig. Sie kocht, putzt, geht einkaufen, kümmert sich fleissig und still um den Haushalt, um das Wohlbefinden ihrer Schwester, sie ist für die peanuts im gemeinsamen Leben zuständig. Alice, die «New Yorkerin», «die Frau von Format» ist ehrgeizig, mutig, eigensinnig, zielstrebig, lust- und genussbetont, sie weiss, was sie will, wie ihren Willen durchzusetzen, und sie ist eine erfolgreiche Unternehmerin.

Beide weibliche Seiten bilden in der Art eine Einheit, dass Lebenslust und Zurückhaltung, Leidenschaft und Gehemmtheit, Ehrgeiz und Unsicherheit, Selbstbewusstsein und Selbstzweifel, Enthusiasmus und Befangenheit – obwohl sie alle miteinander in einem Dauerkonflikt stehen – dennoch Hand in Hand durchs Leben gehen, um es exemplarisch zu meistern. Und sie schaffen es, denn sie fordern sich gegenseitig heraus, erfahren Herausforderung als Motor einer jeden Fortentwicklung.

In Margrit Schribers Roman haben wir es mit einem Weiblichkeitsmodell zu tun, bei dem sich zwei innere Frauenbilder gleichzeitig bekämpfen und ergänzen. Ein Weiblichkeitsmodell also, bei dem das traditionelle Frauenrollenbild gleichzeitig ein neues Rollenverständnis der Frau stützt, hält, quasinährt, mütterlich umsorgt und anregt. Das moderne Frauenbild jedoch möchte sich, je erfolgreicher es in seiner Selbständigkeit und finanziellen Unabhängigkeit wird, desto schneller von den Altlasten der Tradition befreien und jegliche herkömmlichenweiblichen Verhaltensweisen abstreifen.

So organisiert Alice gegen Ende des Romans hinter dem Rücken von Marta stillschweigend deren Platzierung ins Asyl. Logisch wäre nun zu erwarten, dass Marta ihr Schicksal gehorsam hinnimmt und ins Asyl umzieht, dass Lilith Eva schliesslich definitiv besiegt und in die Vergessenheit versenkt hat. Doch es passiert genau das Umgekehrte. Eva tötet Lilith – und dies ist das grosse Rätsel des Romans: Was hat diese unerwartete Entwicklung zu bedeuten? Dass Tradition letztlich doch über allem steht und alles überlebt? Dass das mutige Überschreiten von Grenzen kein weibliches Privileg sein kann und deshalb nie unbestraft bleibt? Dass es Grenzen gibt, die sogar für Lilith gelten?

«Was ist mit Alice Zaugg geschehen?» So endet der Klappentext des Romans «Schwestern wie Tag und Nacht». Dieses paradoxe Schicksal der Frau, die gefangen in ihrem ewigen inneren Kampf zwischen Eva und Lilith sich ständig weiter entwickelt, um sich dann doch selbst zu limitieren, die unaufhörlich wächst, um sich anschliessend wieder ungeschehen zu machen, die fortlaufend siegt um sich letztendlich selbst zu zerstören, dieses typisch weibliche Phänomen wird vermutlich weiter ein Mysterium bleiben.

Mit «Schwestern wie Tag und Nacht» ist Margrit Schriber eine literarisch hervorragende und psychologisch äusserst präzise Sektion der weiblichen Seele gelungen, die die Autorin den Leserinnen und Lesern mit dichterischer Feder vor Augen führt.

Margrit Schriber wurde 1939 als Tochter eines Wunderheilers in Luzern geboren. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Rezension von «Die vielgeliebte meines Mannes» auf literaturblatt.ch

Rezension zu «Glänzende Aussichten» auf literaturblatt.ch

Evelina Jecker Lambreva «Entscheidung», Braumüller

Bulgarien fehlt im Fokus Europas. Selbst drei Jahrzehnte nach der Wende, nach Glasnost und Perestroika zählt Bulgarien zu den „fehlerhaftesten“ Demokratien, obwohl das Land seit 2007 Mitglied der EU ist. Evelina Jecker Lambrevas neuer Roman „Entscheidung“ erzählt von den Jahren des Umbruchs in diesem Land, dem letzten unter kommunistischer Führung, den leisen Hoffnungen einer Öffnung und dem bösen Erwachen im Kampf machtgieriger und verzweifelter Parteieliten.

Anja ist eine junge Ärztin, die direkt nach dem Studium in einen kleinen Ort in der bulgarischen Provinz geschickt wird. Mit Bestnoten aus ihrem Studium und voller Pläne reist sie an und taucht in eine Welt, die in maximaler Entfernung dessen vor sich hinvegetiert, was in den Plänen ihrer Zukunft Gestalt annehmen möchte; ein Häuschen, durch das der Wind pfeift, eine Medizinische Dienststelle, in der das Notwendigste fehlt, ein schäbiger Notfallkoffer, abgelaufene Medikamente und ein Krankenwagen, der allerhöchstens transportiert.
Neben ihren Aufgaben als Landärztin ist sie auch für das örtliche Heim mit Dorfschule zuständig, einen schlimmen Ort, wo Erziehung allein durch Strafen vollzogen wird und wo aus Kindern ohne Vergangenheit Menschen ohne Zukunft geprügelt werden.
Auch die Honoratoren des Dorfes, Genosse Nakov, Mitglied der Staatssicherheit oder der Bürgermeister begegnen der jungen Ärztin mit einer Mischung aus Misstrauen, politischem Kalkül und der Selbstverständlichkeit alteingesessener Machtstrukturen. In einem Land, in dem Korruption, Denunziation und kollektive Angst zum Instrumentarium eines Systems gehören, spürt auch die junge Ärztin Anja, dass ihr Tun und Lassen unweigerlich zu der einen, drohenden Entscheidung führen wird.

Einzige Lichtblicke im Leben der jungen Frau ist die Freundschaft zu Dora, einer jungen, mutigen Lehrerin aus dem Dorf, zu Maria, einem verstörten Mädchen aus dem Heim, das jeden Tag auf ihre Mutter wartet, eine junge Katze, die Maria mit ins Haus der Ärztin bringt und ihre Liebe zu Michail, den sie während des Studiums kennen und lieben lernte. Sie schreibt Michail Briefe, weil ihre Arbeit sie beide fest im Griff hat, weil sie Trost und Rat braucht bei einer Arbeit, die ihr wohl gefällt, in der sie Erfüllung erfährt, die sie aber oft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führt. Sei es, dass sie medizinische Entscheidungen trifft, die sie mit niemandem besprechen kann, sei es weil sie immer wieder mit ganz intimen Katastrophen konfrontiert wird, sei es weil sie Genosse Nakov mit Versprechungen in den Dienst der Staatssicherheit locken will.

Eines Tages sitzen sich Nakov und Anja in seinem Haus gegenüber. Nakov verspricht ihr eine glanzvolle Zukunft mit den Privilegien der Elite, wenn Anja sich zur aktiven Spionage im In- und Ausland verpflichten lässt. Und weil Anja spürt, dass sie mit einem solchen Deal mehr als nur die Selbstachtung verliert, entscheidet sich die junge Frau gegen das Angebot, gegen den Staat, gegen die Obrigkeit, gegen eine Zukunft als Frauenärztin in der Stadt, gegen die Aussicht, sich dereinst im Ausland weiterbilden zu können. Statt dessen wird sie zur potenziellen Verräterin. Und als Dora ihre Freundin sich ins Ausland absetzt und man ihr Mithilfe zu ihrer Flucht unterstellt, als die Liebe zu Michail in die Brüche geht und man die Katze erschiesst, scheint sich die Dunkelheit in Anjas jungem Leben endgültig wie in einem Sack eingeschlossen einzunisten. Wäre da nicht der Welten Lauf, jener politische Virus, der sich aus dem maroden Sowjetsystem über den ganzen Ostblock ausbreitet.

«Anjas Haus in meiner Phantasie», © Evelina Jecker Lambreva

„Entscheidung“ ist ein geradlinig erzählter Roman von einer Schriftstellerin, die am eigenen Leib erfuhr, was in Bulgarien in den späten Neunzigern passierte. „Entscheidung“ gibt Einblick in einen Staat, in ein System, ein Dorf, das aus der Entfernung von drei Jahrzehnten unsäglich weit erscheint, zumindest aus mitteleuropäischer Sicht. Eine spannend und mit viel Empathie geschriebene Geschichte über den Kampf einer jungen Frau in den Wirren der Geschichte. Ein Roman, der mir bewusst macht, wie gross das Geschenk ist, in einem demokratischen Land geboren worden zu sein. Ein Plädoyer dafür, dass es nicht sein kann, dass man sich jenen Menschen verschliesst, die vor Verfolgung, politischer Willkür und Hoffnungslosigkeit ins vermeintliche Paradies fliehen wollen.

Ein Interview mit Evelina Jecker Lambreva:

Sie selbst sind 1963 in Bulgarien geboren und 1996 in die Schweiz gekommen. Dora, die Freundin Anjas, setzt sich ins Ausland ab und droht mit ihrer Flucht, andere mit sich in den Generalverdacht des Verrats hineinzuziehen. Ein Umstand, der vielen Flüchtenden das Gewissen plagt, sei es damals aus dem Ostblock oder Flüchtenden heute, die Familien und Freundschaften zurücklassen. Warum blieb und bleibt Bulgarien nie im Bewusstsein Mitteleuropas, weder politisch, noch kulturell, heute nicht einmal als Feriendestination?

Bulgarien war politisch schon immer für Mittel- und Westeuropa völlig uninteressant, da es nicht als Instrument zur Erreichung von diversen politischen Zwecken und Interessen eingesetzt werden konnte und kann. Es passiert und bewegt sich zu wenig in diesem Land, da die Bulgaren ein äusserst duldsames, gehorsames und überangepasstes Volk sind. Dies liegt in der Geschichte des Landes verwurzelt: Die 500 Jahre osmanische Herrschaft haben tiefe Spuren in der Mentalität und im kollektiven Verhalten der Bevölkerung hinterlassen. Kaum war Bulgarien 1878 durch Russland von der türkischen Herrschaft befreit worden und begann seinen Platz in Europa mit einem deutschen König zu suchen, kam nach nur 66 Jahren europäischer Orientierung die Sowjetische Herrschaft des Kremls für weitere 45 Jahre. Überhaupt begab sich das Land – seit dem Fall unter den Osmanen 1396 – immer wieder in Abhängigkeit von irgendeinem mächtigen Staat, verhielt sich passiv und passte sich den Umständen an, so wie es übrigens auch in einem bulgarischen Sprichwort heisst «Ein gebeugtes Köpfchen wird von keinem Schwert geköpft». Bulgarien verhielt sich über Jahrhunderte – so würde ich es aus meiner Sicht als Psychiaterin sagen – wie ein vergewaltigter Mensch: gefügig, still, eingeschüchtert, voller Scham-, Schuldgefühlen und Angst. Die Jahrhunderte andauernder Unterdrückung kultivierte brave, folgsame Individuen, die sich die Überangepasstheit als Überlebensstrategie aneigneten. Und von solchen Ländern schaut man im Mittel- und Westeuropa einfach weg.

Evelina Lambreva als Landärztin, © Evelina Jecker Lambreva

Kulturell hat Bulgarien einiges zu bieten, jedoch interessieren sich westeuropäische Medien kaum dafür. Dies ist meines Erachtens so, weil das Land einerseits politisch uninteressant ist und andererseits, da die Sehenswürdigkeiten in Bulgarien sehr schlecht vermarktet sind. Auch in der Schweiz hört man selten etwas über das Land. Nach wie vor wird Bulgarien mit Rumänien, und die Hauptstadt Sofia mit Rumäniens Hauptstadt Bukarest verwechselt. Sogar darüber, dass die Stadt Plovdiv für das Jahr 2019 immerhin zur Kulturhauptstadt Europas gewählt worden war, hat man hierzulande wenig gehört.

Als Feriendestination würde sich Bulgarien sehr gut eignen, wäre da im Tourismus an der Schwarzmeerküste und in den Bergen nicht die alte Einstellung aus kommunistischen Zeiten geblieben: «Wenn du einen Touristen siehst, schinde ihm die Haut! Ob er morgen wiederkommt, ist egal, Hauptsache, du kannst bei ihm heute abkassieren.» Obwohl die jetzige Regierung sehr viel für die Verbesserung der Infrastruktur im Lande tut, ist das noch immer nicht ausreichend, um aus Bulgarien eine beliebte Feriendestination zu machen. Aber es ist grosses Potential vorhanden, das in den nächsten Jahrzehnten sicher genützt wird. Zumindest ist das meine Hoffnung.

In den Jahren, in denen die Geschichte um Anja spielt, waren sie selbst ziemlich genau so alt wie die Protagonistin. Trotz aller Härte jener Zeit, der Armut und den archaisch anmutenden Verhältnissen schienen sich die Menschen, wenn die Angst vor dem Staat aussen vor blieb, nur zaghaft nahe zu kommen. Die Macht des Staates mischte bis in Liebesbeziehungen, Freundschaften und Familien. Heute ergeben wir uns freiwillig der Macht der Grossen, sei es Google oder Amazon, sei es Facebook oder sonst ein Globalplayer. Schöne heile Welt?

Heil war die Welt noch nie, und sie kann es auch nicht sein. Aber schön ist sie, die neue Zeit. Weil wir die Wahl haben, ob wir uns dafür entscheiden und wenn ja, welcher Macht wir uns ergeben wollen. Wir dürfen jetzt selbst darüber bestimmen und werden zu nichts gezwungen. Die individuelle Freiheit gibt uns jede Menge Möglichkeiten, ob und in welchem Ausmass wir uns freiwillig in welche Abhängigkeit begeben wollen.

Jeweils am 24. Mai feierte man im Dorf Kyrill und Method, die Begründer der kyrillischen Schrift. Ein Fest mit Reden, Tanz und einem Meer aus Blumen. Kyrill und Method waren aber zwei christliche Missionare aus dem 9. Jahrhundert. Typisch für die Manipulation von Geschichte, wenn es um politische Zwecke geht. Damals nicht anders wie heute. Wie weit ist Anjas Geschichte eine Geschichte um den Kampf gegen Manipulation?

Der Krankenwagen, © Evelina Jecker Lambreva

Dass Kyrill und Method zwei christliche Missionare aus dem 9. Jahrhundert waren, wurde im Kommunismus ganz bewusst verschwiegen. Diesem Aspekt wurde nie Aufmerksamkeit geschenkt. Denn Glaube und Religion waren verboten. Anders als in anderen osteuropäischen sozialistischen Ländern, führten Kirchenbesuche in Bulgarien zum Verlust der Arbeitsstelle oder des Studienplatzes und zu erheblichen politischen Schwierigkeiten. Einzig die Besichtigung von Klöstern war erlaubt, da diese als kulturelles Gut betrachtet wurden. Aber schon das Anzünden einer Kerze in der Klosterkirche galt als politisches Verbrechen, auf welches die Staatssicherheit stets ein waches Auge hielt, um dann das Vergehen sofort im Dossier des Betroffenen schriftlich festzuhalten. Diesem Aspekt habe ich in meinem Romandebüt «Vaters Land», (Braumüller Verlag, 2014) einen besonderen Platz eingeräumt.

Kyrill und Method wurden einzig als Erfinder der Kyrillischen Schrift sowohl vom Staat als auch von der Bevölkerung geliebt, gefeiert und verehrt. Der 24. Mai, der Tag der Kyrillischen Schrift, war und ist ein Fest der Buchstaben, der Bücher, der Literatur, der Kultur, Bildung und des Wissens geblieben. Bis heute ist und bleibt der Tag von Kyrill und Method mein Lieblingsfest in Bulgarien mit seiner Pracht aus Buchstaben, geschriebenem Wort und Frühlingsblüten. Deshalb kann ich den 24. Mai in keinster Weise in Verbindung mit Manipulation bringen.

Kaum zeichneten sich in Bulgarien durch Perestroika und Glasnost umfassende Veränderungen ab, begann ein „Krieg“ auf der Strasse. Bandenkriege und die Verzweiflung eines sterbenden Dinosauriers drohten das Land ins Chaos zu stürzen. Perestroika und Glasnost waren alles andere als eine sanfte Revolution. Hat sich ihr Blick auf diese Zeit in den Jahrzehnten danach verändert?

Das Kinderheim

Der sterbende Dinosaurier, wie Sie ihn nennen, hat nicht nur das Land durch die Bandenkriege und die schreckliche Angst vor deren Anführern, den sogenannten «Fratzen» (ehemaligen Geheimdienstlern, entlassenen Angestellten aus der Volkspolizei Milicija, Sportlern aus dem Ring- und Kampfsportbereich), ins Chaos gestürzt, sondern er hat dank diesem Chaos sogar bis heute überlebt. Heute sind diese Leute Oligarchen und regieren das Land durch die Macht ihres Geldes. Durch Bulgariens Pallastrevolution vom 10. November 1989 konnten sie ihre ideologisch-politische Macht ungestört in Wirtschaftsmacht umwandeln, und dies unter dem nachsichtigen Blick des Westens. Es gibt keine erfolgreichen sanften Revolutionen. Sanfte Revolutionen führen nur zu kosmetischen, nicht aber zu fundamentalen Veränderungen. Deshalb hat in Bulgarien keine echte Wende stattgefunden, sondern nur ein Prozess, der als «Alter Wein in neuen Schläuchen» bezeichnet werden muss. Noch immer sind 10’500 ehemalige Angehörige der bulgarischen Staatssicherheit (und das macht ca. 10% aus) in führenden staatlichen Positionen angestellt und besetzen öffentliche Ämter. Eine Durchleuchtung, die Lustration, die sich viele von uns erhofften, hat nie stattgefunden, die Vergangenheit wurde nicht aufgearbeitet und bleibt somit bis heute unverarbeitet. Zum Glück wurde Bulgarien im Jahr 2007 in die EU aufgenommen. Es hat diese einmalige Chance gepackt und kann nun zuversichtlich vorwärtsblicken, auch wenn die unverarbeitete Vergangenheit das Land in seiner Weiterentwicklung stark bremst. Für die kommenden Generationen wird aber Bulgarien dennoch zu einem Land, in dem man gerne leben wird. Vorausgesetzt, es gibt keinen neuen Krieg in Europa und insbesondere auf der Balkanischen Halbinsel.

Anja wird in die Isolation gezwungen. Ihre Freundin flieht, ihre Liebe scheitert, ihre Aufgabe droht ihr zu entgleiten. Selbst Maria, das Mädchen aus dem Heim ist nicht zu retten. Sie sind Psychotherapeutin. Isolation ist ein Phänomen, damals wie heute. Anja ist stark. Aber nicht alle Menschen finden die Kraft. Was kann die Literatur?

Ich denke, Literatur kann viel bewirken. Sie kann aufklären, zum Nachdenken anregen, sie kann helfen, das Leben und den Menschen in ihren Widersprüchlichkeiten besser zu verstehen, sie kann die Introspektionsfähigkeit des Einzelnen fördern. Literatur kann seelische Kräfte und Ressourcen mobilisieren, selbst grausamen Diktatoren wie Stalin war das bekannt. Vergessen wir nicht, dass Stalin während der Blockade von Leningrad der aushungernden Bevölkerung den Roman „Krieg und Frieden“ von Lew Tolstoi verteilen liess und sie aufforderte, den Roman zu lesen, um ihren Selbsterhaltungstrieb anzuregen, um die Widerstandskraft und die Moral der Bevölkerung zu stärken. Literatur kann ohne Zweifel in schwierigen Zeiten Kraft und Trost spenden. Durch Austausch von Gedanken und Meinungen über Bücher kann sie Freundschaften schaffen und somit helfen, Isolation und Einsamkeit zu überwinden. In der Welt der Bücher kann man sich kaum einsam fühlen. Denn durch die Flucht in diese Welt und ins Lesen kann man unerträgliche Realitäten erträglicher machen. Literatur verbindet, sie schafft Brücken zum uns Fremden und Unbegreiflichen. Sie besitzt sogar eine Art heilende Kraft, was sich aus der Arbeit mit Bibliotherapie deutlich zeigt.

© Evelina Jecker Lambreva

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband «Unerwartet» vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014) und «Nicht mehr» (2016).

Rezension von «Nicht mehr» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

literaturblatt.ch macht ERNST

Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

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Evelina Jecker Lambreva «Nicht mehr», Braumüller

Gertrud hatte es versucht. Doch beim Vorstellungsgespräch hiess es: «Ich bitte sie, wie sie aussehen.» Kilian ordert man auf acht Uhr in den Konferenzsaal zwei, um ihm nach zehn Jahren Arbeit nach fadenscheinigen Sätzen mitzuteilen, innerhalb 30 Minuten sein Büro zu räumen.

Es sind die Schicksale von Gertrud, einer älteren, einsamen Frau. Von Linus und Jasmin, einem Paar, das sich aus den Augen verlor. Und von Nicole und Kilian, sie überforderte Mutter, er tyrannisiert vom infernalen Scheppern Tausender Münzen in seinem Kopf. Evelina Jecker Lambreva erzählt langsam, schildert die Enge, die Unerträglichkeiten, die Geschichten bis tief in die Vergangenheiten dieser Handvoll Personen, dessen Verbindungen sich erst mit Fortdauer des Lesens erschliessen.. Sie alle sind fest eingespannt in die Widrigkeiten des Lebens, die einen traumatisiert von tiefen Verletzungen in ihrer Kindheit, andere aus dem Leben ausgeschlossen, hinauskatapultiert.

Der Roman «Nicht mehr» beginnt mit Gertrud. Gertrud quält sich durch ihren Alltag. Eine bescheidene, ältere Frau, die sich aus lauter Rücksicht entschliesst, sich selbst zu beseitigen. Eine Frau, der man zu verstehen gibt, dass sie nicht mehr ins Räderwerk der Zeit passt. Zurückgeworfen auf sich selbst, enttäuscht, sich selbst zerfleischend, steigt sie eines Morgens in den Müllcontainer vor dem Haus und wartet auf das Geräusch der Müllabfuhr. «Bald würde sie erlöst sein von der unzumutbaren Last ihrer grausamen Tage und der höllischen Qualen ihrer gespenstischen Nächte.» Aber während sie im Gestank des Containers noch einmal mit geschlossenen Augen ihr Leben Revue passieren lässt, landet im gleichen Container ein Paket, das sich bewegt. Ein Paukenschlag? Ein Schlag in den Magen. Eine Frau in der Gesellschaft zu viel, wirft sich weg, um vom Zufall mitten ins Leben zurückgeworfen zu werden.

Ein anderer dicker Faden im Beziehungsgeflecht des Romans ist der junge Kilian. Ein Banker, der in seiner Kindheit hoch sensibel gerne Pianist geworden wäre. Aber Gehorsam und Strenge machten einen Kravattenmann im Glaspalast aus ihm. Einen Mann, der in seiner beruflichen Pflicht alles gibt und dafür in seinem Kopf permanent das Klingeln von abertausend Münzen mit sich herumträgt. Ausgerechnet jetzt, wo massenhaft  Kunden ihre Gelder abziehen, wo der Arbeitgeber Negativschlagzeilen wegen unlauterer Devisengeschäfte macht. Kilian nimmt eine Auszeit, in einer Burnoutklinik für Privilegierte, findet zaghaft zurück zu sich selbst, um dann noch viel tiefer zu stürzen.

So sehr sich «Nicht mehr» gesellschaftskritisch gibt, so sehr ist der Roman ein Buch über Familie. Was macht dieses labile Gefüge zu einer Familie? Warum entspringt dort für den einen Kraft und Halt und wird für andere versteinert zum Klotz, zur lebenslangen Hypothek? Was braucht Familie, um dem Glück wenigstens eine Chance zu geben? Warum schlägt der Wunsch, es einmal besser als die eigenen Eltern zu machen, so leicht in eine falsche Richtung um?

Evelina Jecker Lambrevas zweiter Roman, ein Buch über die Erschöpfungszustände der westlichen Gesellschaft ist spannend und entwickelt einen erstaunlichen Sog. Auch wenn der Roman an Themen zu überfrachtet ist, sich sie Konstruktion zu oft an all zu grosse Zufälle hält, ist der Roman ein grosses Lesevergnügen. Ein Buch mit grossen Fragen, ein Buch über eine Gesellschaft, die sich nach Idylle und Muse sehnt, sich aber hyperaktiv von einem Stress in den nächsten jagt, immer auf der Suche nach dem vermeintlich Besseren.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als nieder­gelassene Psychiaterin und Psycho­therapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband ­»Unerwartet» vor. Zuletzt erschienen «Vaters Land» (Braumüller, 2014).