literaturblatt.ch macht ERNST, 3. Streich

ERNST ist ein unabhängiges Kultur- und Gesellschaftsmagazin für den Mann (und die interessierte Frau). In seinen Reportagen, Portraits und Analysen geht die monothematische Publikation nahe ran und stellt politische und gesellschaftliche Fragen zur Diskussion. In seinen Rubriken analysiert das vierteljährlich erscheinende Magazin mit einer Auflage von rund 3500 Exemplaren insbesondere Gleichstellungs-, Geschlechter- und Familienpolitik.

In der neusten Nummer geht es um «Prokrastination». Was nicht anderes bedeutet als aufzuschieben. «Und so tot dieses Wort auch klingen mag, so lebendig sind seine Geschichten», so Adrian Soller, der Geschäftsführer und Redaktionsleiter.

Natürlich freut mich, dass ich mit einer Rezension wieder mit ERNST mitmischen kann:

Webseite des Magazins 

Mit dem Schriftsteller Hansjörg Schertenleib am Tisch

Am Mittwoch, den 13. Februar las und diskutierte Hansjörg Schertenleib mit Gästen am Esstisch an der St. Gallerstrasse in Amriswil über seine Novelle «Die Fliegengöttin». Bei Wein, Käse, Brot und mehr waren Büchermenschen eingeladen, mit dem Autor über sein Buch, das Schreiben, Literatur und das Leben als Schriftsteller zu diskutieren.

«Wir Leser werden weniger, jeden Tag weniger, wer dies bestreitet, lügt sich in die eigne Tasche, färbt schön; wieviele Tage fehlen, bis wir in naher Ferne ein Zirkel sein werden, der sich im Geheimen trifft und austauscht, so, wie es heute schon regelmässig im Hause Frei-Tomic geschieht, wo sich an einer reich gedeckten Tafel Leserinnen und Leser treffen und tun, was viele heute nicht mehr schaffen, es sei denn im trügerischen Schutz der sozialen Medien, nämlich miteinander zu reden, sich auszutauschen, von Angesicht zu Angesicht, gemeinsam zu lachen, zu trinken und zu essen, sich beizupflichten oder mit Respekt zu widersprechen, gar zu streiten. Ein Wunder, das sich Dank Gallus und Irmgard ereignet. Schön, mit Gallus einen Bruder im Geiste zu wissen, einen Verbündeten, der wie ich nicht leben kann und will ohne Bücher, ohne Geschichten, einen, der wie ich brennt für die Literatur. Danke, durfte ich Platz nehmen an besagter Tafel und meine Novelle zur Diskussion stellen.» Hansjörg Schertenleib

Hansjörg Schertenleib «Der Stich»

Er sitzt allein an einem Tisch im Biergarten und versucht, sich mit der Hitze zu arrangieren. Überzeugt davon, nicht beobachtet zu werden, lehnt er sich auf dem Stuhl zur Seite und legt die rechte Hand auf den Stamm des Baumes, dessen Blätterdach das Abendlicht filtert. Die vernarbte, stellenweise von tiefen Rissen aufgesprengte Rinde des Baumes fühlt sich an wie die Haut eines uralten Tieres, fällt ihm ein. Er riecht an seinen Fingern und denkt seltsamerweise an Rossseich. Greift Wind in die Äste, blitzen Lichtsicheln über die Tische, das Kies, und die Gesichter der Gäste. Rossseich! Was für ein Wort, er hat es lange nicht mehr gedacht. Er reagiert hektisch, ja panisch auf die Wespen, die über den Gastgarten herfallen, nervös auf- und absteigen, hektisch Runden fliegen, Achten, Ellipsen, oder wie schwankende, schwere Transporthubschrauber an seinem Tisch auftauchen und nicht einmal mit wedelnden Händen vom Kurs abzubringen sind. Gelegentlich schliessen sich die Wespen zu Kampfgeschwadern aus vier, fünf Insekten zusammen, die im Verbund anfliegen, vor seinem Gesicht in der Luft stehen bleiben und nur in die Höhe steigen, abdrehen und ein anderes Glas, einen anderen Teller anfliegen, wenn er mit beiden Händen fuchtelt und laut schimpft. Die Gelassenheit, die Wespen nicht zu beachten, geht ihm ab.  Es gibt nicht viele Tiere, die er nicht mag: Schlangen, Aale, abgerichtete Hunde, Wespen.

Von seinem Tisch geht der Blick über ein aufgebocktes Boot hinweg auf einen Kanal, auf dem manchmal, geräuschlos wie in einem Traum, Paddelboote vorbeigleiten. Am Himmelsausschnitt über seinem Kopf jagen Schwalben, das flaschengrüne Wasser des Kanales spiegelt Büsche, Bäume. Ein Junge steht unter einem Baum am Ufer des Kanals und drischt mit einem Stecken auf die Blätter eines herunterhängenden Astes ein, um sie zu zerfetzen. Warum steht er nicht auf und greift ein? Weil er keine Lust hat auf eine Auseinandersetzung mit dem Mann, wohl der Vater des Jungen, der auf der Treppe sitzt, die zum kleinen Bootshafen des Hotels führt, raucht und das Kind stolz anlächelt. Eine Krähe stösst ihre knarzenden Rufe aus, in irgendeinem der Bäume über ihren Köpfen, höhnisch, anklagend, ein Verbündeter im Geäst? Er lebte mehr als zwanzig Jahren in Irland und hat gelernt, Landsleute treffsicher zu erkennen. Um zu wissen, dass das Paar, es sitzt zwei Tische entfernt von ihm, wie er aus der Schweiz stammt, müsste er deshalb gar nicht hören, welche Sprache sie sprechen. Er bräuchte dem Mann also nicht zuzuhören und tut es doch. Wie viele Männer aus seiner alten Heimat sich doch über ihre Zeit im Militär definieren! Das Gesicht des Mannes strahlt, die Episode aus seiner Rekrutenschule, wie viele Jahre mag sie zurückliegen?, macht sein Gesicht frisch, der schön geformte Mund der Frau dagegen wird schmal, wird Strich. Der Mann, er scheint von Satz zu Satz jünger zu werden, erzählt von einer Velofahrt, die seine Kameraden und er in der drittletzten Woche der Ausbildung durchzustehen hatten, hundertachtzig Kilometer auf dem schweren Waffenrad, ohne Licht, ohne Lärm, die dreissig Kilogramm des Sturmgepäcks am Rücken, Rad an Rad über den Julier, ohne den Hintern aus dem Ledersattel zu heben, denn das war streng verboten. Als sie endlich auf der Passhöhe ankommen, befiehlt ihnen der Major, abzusteigen. Der Russe, behauptet er grinsend, hat Nägel gestreut, was die todmüden Rekruten um die herbeigesehnte Talfahrt betrügt, da sie ihre Velos, um den imaginierten Nägel zu entgehen, den langen Weg talab schieben müssen. Der Mann hat sich ins Feuer geredet, das Gesicht der Frau verrät, sie hat die Erinnerung zu oft gehört, um Bewunderung oder wenigstens Interesse zu heucheln. Der Mann räuspert sich, wirft die Stoffserviette auf den Tisch, steht abrupt auf und verschwindet mit steifem Gang in der Gaststube. Die Welt, sie ist ein Jammertal, denkt er und sieht die Rekruten vor sich, die die Phantasie ihres Majors verfluchen und sich doch danach richten, indem sie verstohlen nach Nägeln Ausschau halten. Die Hitze, die wie eine Glocke über dem Spreewald steht, zwänge meine früheren irischen Nachbaren in die Knie, weiss er, und greift nach der Serviette, um sich den Schweiss von den Unterarmen zu wischen. Dass sich eine Wespe in der Serviette verbirgt, begreift er erst, als er damit über die linke Ellbeuge streicht: es ist mehr als vierzig Jahre her, seit er das letzte Mal von einer Wespe gestochen worden ist; der jähe Schmerz schlägt die Brücke in seine Jugend. Der Stich brennt wie Feuer, wird zündrot, schwillt aber bloss leicht an. Ist er allergisch? Er zerdrückt die Wespe mit der Serviette, beugt den Arm, auf, zu, auf zu, bemüht, ruhig zu atmen und auf keinen Fall in Panik zu geraten. Die Frau am Nebentisch sieht ihn aufmerksam an und gibt seinen Blick erst frei, als er beruhigend lächelt und den Kopf schüttelt. Damals hat er jedenfalls nicht allergisch auf den Stich reagiert; er war barfuss über die Wiese hinter dem Elternhaus seiner Mutter im Salzkammergut gegangen, in der, von Vogelschnäbeln malträtiert, von Wespen umschwirrt, Birnen lagen, und mit dem linken Fuss auf eine Wespe getreten. Er hatte über die Wiese gehen wollen, um Helga zu küssen, das erste Mal überhaupt ein Mädchen zu küssen, Helga, das Nachbarmädchen, das im Dämmerlicht des Schopfes auf ihn wartete, in dem sein Onkel nach Schichtende in der Saline Liebes- und Jagdszenen in Knöpfe und Gürtelschnallen aus Hirschgeweihen schnitt. Helga, das Mädchen, das bellend und abgehackt lachte, als amüsiere es sich über etwas, das überhaupt nicht lustig war, Helga, das Mädchen, das seinen gestochenen Fuss massierte, bevor sie ihm beibrachte, wie man küsst, richtig küsst, auch wenn man sich nicht liebt, Helga, die mit 22 Jahren unter den Zug ging, hundert Meter vom Bahnhof in Bad Ischl entfernt, Helga mit den Sommersprossen und den dicken gelben Zöpfen, nach denen er griff wie nach Seilen, weil sie ihm den Halt gaben, den er sonst nirgends fand. Er hat den süssen Moderduft der faulenden, gärenden Birnen in der Nase, den der Wind nachts in sein Schlafzimmerchen unter dem Dach trug, das er mit seiner Schwester teilte, spürt den damaligen Stich in der Fusssohle brennen, während er den Stich in der Armbeuge, den er eben erhalten hat, massiert. Er glaubt, Helgas Lippen zu spüren, beschliesst, ein weiteres Glas von dem Grauen Burgunder zu trinken und schliesst die Augen, um in der Vergangenheit zu weilen, bis der Kellner an seinen Tisch tritt.

Hansjörg Schertenleib, geboren am 4. November 1957 in Zürich. Ausbildung zum Schriftsetzer/Typographen; Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich. Seit 1982 freier Schriftsteller. Lebte in Norwegen, Wien, London, Boston und Berlin, zwischen 1996 und 2016 in einem ehemaligen Schulhaus aus dem Jahr 1891 im County Donegal in der Republik Irland, seit 2011 zeitweise in Suhr im Kanton Aargau und seit 2016 auf Spruce Head Island in Maine, USA. Besitzt seit 2003 die irische Staatsbürgerschaft.

Rezension mit Interview von «Die Fliegengöttin» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Ich lade Sie ein: Mit Hansjörg Schertenleib an einem Tisch!

Am Mittwoch, den 13. Februar liest und diskutiert Hansjörg Schertenleib mit Gästen am Esstisch an der St. Gallerstrasse in Amriswil über seine Novelle «Die Fliegengöttin». Bei Wein, Käse, Brot und mehr sind sie herzlich eingeladen, mit dem Autor über sein Buch, das Schreiben, Literatur und das Leben als Schriftsteller zu diskutieren. Für 30 Fr. ist Ihnen ein ganz besonderer Genuss gewiss.

Der Abend beginn um 19 Uhr. Eine schriftliche (info@literaturblatt.ch) oder telefonische Anmeldung (071 695 36 69) ist wegen beschränkter Platzzahl unbedingt erforderlich. Der Abend schliesst spätestens um 21.30 Uhr. Vorteilhaft für ein gutes Gespräch; Sie haben «Die Fliegengöttin» gelesen!

«Die Fliegengöttin» bewegt. Hansjörg Schertenleib bewegt. Ein alt gewordenes Paar kämpft sich nach vielen gemeinsamen Jahren durch den Alltag. Er von Zweifeln und Schuld getrieben, sie eingeschlossen in ihre Krankheit. Er an seinen Grenzen, sie verloren weit über Grenzen hinaus. Hansjörg Schertenleib schrieb keine Novelle um die Krankheit Alzheimer, sondern um einen Mann, der an sich und seiner Situation zu zerbrechen droht.

Es geschah schon öfters, dass ich mit meiner Frau bei einem Spaziergang darüber sprach, was mit uns geschehen wird oder würde, wenn jemand von uns beiden erkrankt oder sterben wird. Etwas, was nicht einfach Möglichkeit ist, sondern irgendwann Tatsache wird.

Eilis und Willem sind seit vielen Jahrzehnten ein Paar, gemeinsam alt geworden, nachdem die Kinder aus dem Haus ausgezogen waren. Willem kam als junger Mann in Irland mit dem Schiff an Land, hat ein Leben hinter sich gelassen, eine schwangere Frau, eine Geschichte, die er mit niemandem teilte. Er lernte Eilis kennen, eine Frau, die ihn mit ihrer Bestimmtheit bezauberte, mit der Art, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Es kamen Kinder, Arbeit, Aufgaben, bis Willem erneut gezwungen war, sich mit quälenden Realitäten auseinanderzusetzen, diesmal ohne äussere Flucht, dafür umso mehr mit einer inneren.
Eine Tochter stirbt und ein Sohn stellt sich verkrusteten Konventionen entgegen. Dem einen hat er nichts entgegenzusetzen, dem andern verschliesst er sich, trotz dargebotener Hand seines Sohnes. Willem beginnt sich treiben zu lassen, lässt sich auf eine Beziehung mit der Frau seines besten Freundes ein. Und nun im Alter, nach dem gegenseitigen Versprechen, sich nicht mit einer Krankheit alleine zu lassen und dem anderen ein unwürdiges Dasein zu ersparen, ist Willem allein. Neben Eilis, die sich durch Alzheimer fast ganz aus ihrem Körper verabschiedete. Er spürt seine aufkommende Härte, dass ihm auch hier die Kraft fehlt, zu seiner Realität zu stehen. Wie damals, als er eine Schwangere sitzen liess, wie bei seiner Tochter, die er sterben lassen musste, wie in der verschütteten Beziehung zu seinem Sohn, der Lüge in seiner Liebe zu Eilis und einem Versprechen, dem er nicht standhält.

Eilis und Willems Ehe ist wie ein Haus mit vielen Zimmern. Ein Haus mit Zimmern, die unwiederbringlich geschlossen und verloren sind, ein Haus, aus dem Willem immer mehr verdrängt wird.

Hansjörg Schertenleib Novelle ist von so ergreifender Zartheit und Klarheit, dass man während der Lektüre zum Atemholen gezwungen wird. Hansjörg Schertenleib leuchtet in die Tiefen Willems, beschönigt nicht, obwohl in vielen seiner beschriebenen Szenen genau die Zartheit schimmert. Hansjörg Schertenleib leuchtet nicht aus, lässt Schatten im Verlaufe der Geschichte noch grösser werden, lässt offen, deutet nur an. Es sind die Szenen zwischen Eilis und Willem, die Dialoge, die keine wirklichen mehr sind, die Berührungen, die im Nichts verlaufen, die leeren Gesten, die leeren Sätze von Eilis genauso wie von Willem. Ich als Leser spüre die Ausweglosigkeit, die Verzweiflung in Willems Situation, ohne dass ich während des Lesens mit in die Tiefe gezogen werde. Es ist die Art des Schreibens, Hansjörg Schertenleibs Sprache, die das verhindert, all die überaus starken Szenen, die ein Vielfaches von dem erzählen, was geschrieben steht.

Ein Interview mit Hansjörg Schertenleib:

Ein Mann, der seine an Alzheimer erkrankte Frau bei sich zuhause behält, gegen den Rat fast aller, weil sie sich einst ein Versprechen gaben. „Fliegengöttin“ ist eine Liebesgeschichte über Grenzen hinaus, ein Glaubensbekenntnis an die Kraft der Liebe bei aller Bürde und ein Buch über die Macht des Versprochenen. Sind Versrechen nicht längst antiquiert?Versprechen sind in der Tat antiquiert. Ich bin aber ein altmodischer Autor (und Mensch…) der grossen Wert legt auf Begriffe wie ‹Loyalität›, ‹Moral›, ‹Ehrlichkeit›. Ich mag keine Menschen und keine Erzählfiguren, die sich vor Verantwortung drücken.

Willem und Eilis sind Jahrzehnte zusammen, haben Stürme überlebt, selbst den Tod der einen Tochter. Alzheimer ist Hein Sturm, sondern eine langsam werdende, ewig dauernde Flaute. Wer lange mit jemandem zusammen ist, wer in Partnerschaft alt wird, muss sich irgendwann der Tatsache stellen, dass jemand unheilbar krank werden könnte, der eine zuerst stirbt. Warum glaubt der Mensch, sich den Fragen des Sterbens verschliessen zu können?
Weil der Mensch in der Regel die Tendenz hat, Problemen aus dem Weg zu gehen. Literatur darf dies nicht. Sie muss sich den Problemen stellen, muss sie verhandeln und in Geschichten verwandeln. Wobei es mir gerade bei existenziellen Problemen sehr wichtig ist, das Schwere leicht zu machen und zum Schweben zu bringen. Was im Fall meiner Novelle ‹Die Fliegengöttin› eine nicht eben einfache Aufgabe war. Ich will die Leserschaft mit einem guten Gefühl aus dem Text entlassen, ohne jedoch schön zu malen und Problemen aus dem Weg zu gehen.

Sie schreiben sich ganz nah an das Paar Eilis und Willem. Es ist unvermeidlich, dass ich als Leser glauben muss, sie wären tatsächlich Zeuge gewesen. Es sind die beschriebenen Gesten und vor allem die Dialoge mit der an Alzheimer erkrankten Ehefrau, die die Novelle in anrührender Zärtlichkeit so sehr authentisch machen. Alzheimer ist viel mehr als bloss ein Aufhänger in einer Geschichte um Liebe und Freundschaft. Kann man seinen Personen in einem Roman als Schriftsteller auch zu nahe treten?
So man als Autor seine Figuren mit Respekt behandelt, kann man ihnen nicht zu nahe treten, nein. Wobei es in meiner Arbeit immer auch um die nötige Distanz geht – diese zu finden und dennoch Nähe zu schaffen, ist eine der Schwierigkeiten, die sich am Schreibtisch stellen.

Sie beweisen sich in allen Ihren Büchern als Meister der „Beziehungs-inszenierung“. Es sind nie Nabelschauen. Die Personen werden nie nackt, keine geozentrierte Reflexion. Sie reduzieren das Personal Ihrer Bücher auf das Minimum, auch das, was erzählt werden muss. Wirkt die Landschaft Ihres Schreibortes in Irland?
Selbstverständlich hat mich die Landschaft Irlands – oder Donegals, um genau zu sein – beeinflusst, was meine Sprache, meinen Satzbau, meinen Duktus und den Rhythmus meiner Sätze betrifft. Nach 22 Jahren Irland bin ich nun freilich weitergezogen. Neuer Schreib- und Denkort ist die kleine Insel Spruce Head Island an der US-Ostküste Maines. Auch diese Landschaft wird mein Schreiben ohne Zweifel entscheidend beeinflussen.

Willem trägt viel Schuld mit sich, ungeteilte Schuld. Eine schwangere Frau, die er einst sitzen liess, eine Verantwortung, vor der er floh. Den einen Sohn, dessen Neigungen er nicht akzeptieren will und kann. Seitensprünge mit der Frau seines Freundes. Und mit der Krankheit seiner Frau, bei der er dieser eine Versprechen einzulösen hätte, sein Unvermögen, sein Zögern, die Blicke seiner Frau. Wie entscheidet der Schriftsteller, wie viel er in ein Buch „einpacken“ kann?
Das entscheide nicht ich, der Autor, das entscheidet die Geschichte, die ich erzähle. Handlungen der Figuren müssen motiviert werden, damit sie für die Leserschaft nachvollziehbar sind. Allerdings ist es wichtig, eben diese Handlungen nicht zu stark zu motivieren, da sonst die Gefahr des ‹Holzschnittes› besteht und komplizierte Vorgänge, und das sind alle Vorgänge zwischen Menschen, zu sehr zu vereinfachen. Auch hier muss die richtige Mischung gefunden werden. Was bedeutet, das ich nach der 1. Fassung in den folgenden 2. und 3. Fassungen in erster Linie streiche, streiche, streiche.

Ich danke Hansjörg Schertenleib für das Interview.

© Milena Schlösser

Hansjörg Schertenleib, geboren am 4. November 1957 in Zürich. Ausbildung zum Schriftsetzer/Typographen; Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich. Seit 1982 freier Schriftsteller. Lebte in Norwegen, Wien, London, Boston und Berlin, zwischen 1996 und 2016 in einem ehemaligen Schulhaus aus dem Jahr 1891 im County Donegal in der Republik Irland, seit 2011 zeitweise in Suhr im Kanton Aargau und seit 2016 auf Spruce Head Island in Maine, USA. Besitzt seit 2003 die irische Staatsbürgerschaft.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau

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Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

ERNST 4 / 22

ERNST 3 / 22

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