Sandra Hoffmann «Jetzt bist du da», Berlin

„Jetzt bist du da“ ist ein Roman über das Mysterium Eros. Claire ist 42 und lebt zurückgezogen in einem kleinen Holzhaus im Wald. Ein Rückzugsort das Haus, ein Rückzugsort der Wald. Und doch holt sie ein, wovor sie sich schützen wollte, was ihr nicht mehr geschehen sollte. Und das mit Janis, einem 16jähigen Schüler.

Claire ist Waldpädagogin und unterrichtet Schulklassen im Wald, versucht ihnen jene Natur nahe zu bringen, von der sich die meisten maximal entfernten. Sie arbeitet nicht nur dort, im Wechsel mit Achim, ihrem Arbeitskollegen, sie lebt auch dort, zusammen mit der zugelaufenen Hündin Nora, eingebettet in ein kleines Stück Welt, das sie einzuschätzen weiss, von der sie Gerüche und Geräusche kennt, vor der sie mit den Jahren die Angst verloren hat. Claire hat sich in ihrem Leben eingerichtet, ist das, was sie sein will, kontrolliert, selbstbestimmt, mit sich und dem kleinen Stück Welt im Reinen.

Janis fiel ihr schon in seiner Klasse auf, als ihnen für ein paar Tage nähergebracht werden sollte, was die meisten Menschen verloren haben, nicht nur jene in den Städten, wie man Feuer macht, im Wald lebt und übernachtet, Tiere und Pflanzen kennenlernt. Janis erinnerte sie an eine Liebe tief in ihrer Vergangenheit. Janis, in seiner fast femininen, androgynen Art, hielt mit jeder seiner Bewegungen dem entgegen, was das laute, aufdringliche, hormondurchtränkte Gehabe seiner Mitschüler ausmachte. Eher zufällig ergab sich eine Berührung; Janis strich ihr mit der Hand über die Wange. Eine Berührung, die Claire aus dem Gleichgewicht brachte, die sie elektisierte und auch nicht losliess, als sich die Gruppe längst wieder in ihren Alltag verabschiedet hatte.

Sandra Hoffmann «Jetzt bist du da», Berlin, 2023, 240 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-8270-1494-8

Und nun, sieben Wochen später, taucht Janis wieder auf, allein. Claire sieht ihn durchs Fenster ihres Häuschens und spürt vom ersten Moment das fatale Potenzial, das mit dem einen ersten Blick nach all den Wochen aufflammt. Alle Sicherheit ist weg. Und noch bevor er vor ihrer Tür erscheint, weiss Claire, dass dies ein Kampf werden wird, der zerstörerische Folgen haben kann. Kein Kampf zwischen Janis und ihr. Der Kampf in ihr selbst. Ein Kampf, bei dem nicht einmal Verstand und Emotion, Kopf und Bauch klar Stellung beziehen. Claire spürt, wie sich Wogen durch ihr Sein peitschen, wie Sehnsüchte und Erinnerungen auftauchen. All die mühsam gewonnenen Ankerseile ihres Lebens drohen ihr entrissen zu werden. Sie öffent die Tür und es beginnt ein kleines Stück Gemeinsamkeit, das verborgen bleiben muss.

Ausgerechnt sie, die alles im Griff zu haben schien, die dort in jenem Stück Wald, in ihrem Häuschen, zusammen mit Nora ihrem Hund, alles manifestierte, was Bodenständigkeit, Natürlichkeit und Souveränitat ausmachte, wird von den Stürmen ihrer Emotionen derart gebeutelt, dass sie sich davor fürchtet, sehenden Auges ins Verderben zu rutschen. Nicht nur weil Janis minderjähig ist, weil sie sich ein Stück Sicherheit aufbaute. Nicht nur weil es nicht den gängigen Klischees entspricht. Nicht nur weil die Begegnung mit Janis Wunden aufreisst, die sie vernarbt glaubte. Claire fürchtet sich, die Kontrolle zu verlieren. Ausgerechnet dieses Gefühl der Angst reisst sie zurück, droht das zu zerstören, was sie nach und nach zu ihrer Welt machte.

So wie Claire sich ihre Angst zähmte, glaubte sie sich unter Kontrolle zu haben. All die Geräusche des Waldes, die Stimmen, die Düfte, die Nächte und das Wetter in den Bäumen – alles schien gebannt. So wie die Geschichten in ihr, abgelegt und geordnet. Janis ist der Sturm, bricht die schwer gewonnene Ruhe.

Was an Sandra Hoffmanns Roman besticht, ist der Kampf, die Dramaturgie der Gefühle, ohne dass der Roman je ins Triviale abdriften würde. Noch viel mehr aber die Sprache, die Feinheit des Beschreibens, als würde sie sich in jede Regung, jedes Bild, jede Stimmung mit ihrem Sprachokular hineinbrennen. Da schreibt jemand, der mit der Haut sieht. „Jetzt bist du da“ ist nicht nur eine Form von Nature Writing. Sandra Hoffman verbindet aufs Erstaunlichste innere mit äusseren Bildern, alle die Feinabstufungen von Nähe, sei es jene aufgeladene zwischen Menschen oder jene getragene zwischen Mensch und Natur. 

Ein erstaunliches Buch, ein mutiges Buch.

Postkarte

Interview

Klar fasziniert einem das beschriebene Knistern, das Unmögliche einer solchen Begegnung. Aber am meisten fasziniert mich die Art Ihres Erzählens, die Genauigkeit, das Feinsinnige. Es ist nicht nur, dass man den Wald durch Ihre Bilder riecht, ihr Erzählen macht Gänsehaut. Verlangte der Stoff nach dieser Art des Erzählens oder entstand sie durch den Ort selbst, verrieten Sie doch in einem Interview, dass Sie grosse Teile des Romans in einem Haus am Wald geschrieben haben?

Vielleicht ist es eine Mischung aus allem. Ich erzähle ja auf 240 dichten Seiten gerade mal achtzehn Stunden. Nicht mal einen Tag. Das heißt, alles was geschieht betrachte ich mit grosser Präzision, egal, ob das nun das Innenleben von Claire ist im ersten Teil des Romans, oder im zweiten Teil die Begegnung zwischen ihr und dem Jungen,  – und immer eben auch den Wald, der ja als Protagonist fungiert. Er ist der Spiegel von allem, und im Spiegel sieht man ja immer alles sehr genau. Und wenn man in einem Zustand der Erregung ist auch. Es ist also notwendig gewesen, dass ich alles so erzähle, der Stoff machte das notwendig. 

Liebesgeschichten zwischen „älteren Frauen“ und Jünglingen sind selten, zumindest in der Literatur. Nicht nur, dass da ein Tabu wirkt. Ich bin überzeugt, dass die weibliche Sexualität noch immer viel misstrauischer beäugt wird, als jene auf den anderen Seiten. Ist das erklärbar durch die Tradition oder vielmehr durch den Umstand, dass wir noch weit, weit weg sind von einer wahrhaften Befreiung?

Wir sind noch weit weg. Ja. Ich habe von einem Mann gehört, der über meinen Roman sagte: wen interessiert schon die Sexualität einer 42-jährigen! Das muss man sich erst mal trauen. Nach Nabokov, Philip Roth, Knausgard – wenn man nur mal jene Autoren betrachtet, (die mir auf die Schnelle einfallen), die ihre Helden umstandslos Sex haben liessen mit Dreizehnjährigen, mit Minderjährigen, mit sehr jungen Frauen. Das mache ich ja nicht in meinem Roman. Sondern ich erzähle eine Frau, die spürt, dass sie diesen einen Jungen zu begehren beginnt, und ich erzähle von einem Jungen, der diese Frau begehrt. Er darf das, er hat sowas wie Welpenschutz. Sie darf es nicht, oder jedenfalls darf sie es nicht ausleben. –  Wie kompliziert das ist, das erzähle ich. Und wie sehr wir eben doch in einem Körper leben, der uns in so einem Moment ganz schön im Weg stehen kann. –

Und ja, ich glaube, es ist notwendig, dass über die weibliche Sexualität und Psyche erzählt wird, da gilt es ein Ungleichgewicht aufzufüllen, und zum Glück tut sich da inzwischen auch einiges vor allem bei den jüngeren Autorinnen. Ich habe Mitte fünfzig werden müssen, bis ich mich traute, diese kleine, aber ich glaube sehr universelle weibliche Erfahrung mit der Sexualität zu erzählen, die Claire nicht mit Janis erlebt, sondern in Rückblenden erzählt und die sie dazu bringt, so zu handeln, wie sie dann schliesslich handelt. Dass sie am Ende nicht als glückliche Frau hinausgeht, oder aus dem Wald hereinkommt. Klar. Aber ohne dass wir den Schmerz spüren, verändern wir uns nicht. Vielleicht müssen das Frauen erzählen, weil Männer erst noch etwas mehr lernen müssen, den Schmerz zu spüren. 

Claire hat sich eingerichtet. Und mit einem Mal wird alles anders. Der Verstand lahmt, Ordnung zerbröselt, Verdrängtes bricht durch. In den meisten Fällen ist Literatur doch der sprachgewordene Versuch, die Vertreibung aus dem Paradies zu erklären.

Ja. So ist es. Ich weiss auch gar nicht, ob Claire wieder zurückfindet. Ich hoffe es aber, also ich wünsche ihr das sehr! 

Der Wald – männlich, der einzige von dem Claire sich noch umarmen lässt. Claire hat sich in ihrer materialisierten Angst eingerichtet, hat Schutzmechanismen aufgebaut. Sie scheint clever, souverän. Janis ist genau von dem schwer beeindruckt. Aber Janis, der in vielem dem offensichtlich Männlichen nicht entspricht, der Claire mit Verschüttetem konfrontiert, viel mehr auslöst, als „nur“ erotisch aufgeladene Gefühle, wird zu einem Schlüssel. Irgendwie scheinen wir doch in unserer perfekt organisierten Welt das wahrhaft Sinnliche aus den Augen verloren zu haben.

Ja, ich glaube das ist so. – Claire lebt ja ein gutes Leben, also sie hat sich entschieden, das sagt sie auch, dass sie das Alleine-Leben gut findet. Und dann kommt dieser Junge, Janis, und Erinnerungen brechen auf, nicht nur sexuelle und komplizierte, sondern auch an Menschen, mit denen es einmal Nähe und Wärme gab, und plötzlich sinkt dieses so gut eingerichtete Leben in sich zusammen: weil sie Sehnsüchte, Wünsche nach Nähe, nach Zugehörigkeit zu Menschen verdrängt hat. Sie hat sich im Reich der Natur eingerichtet: Aber sie ist eben kein Tier. Das muss ihr spätestens klar werden, als sie versucht, nicht ihrem Begehren, das auf Janis gerichtet ist, zu folgen. Im Reich der Natur gibt es anscheinend also nicht alles, was der Mensch braucht. 

Sie hätten Ihre Geschichte sehr leicht aufblasen können. Aber Sie bleiben vorsichtig, erzählen zärtlich. Auch die Nebenschauplätze erzählen sie behutsam und manchmal wenig ausgeleuchtet. Genauso die Geschichte um Nora, den Hund, einen Zugelaufenen. Dabei spiegelt sich Janis Geschichte doch auch in seiner.

Ja. Es gibt ja sehr viele Spiegel in diesem Text. Die Natur als Spiegel von Claire. Janis und Claire sind sich gegenseitig Spiegel. Claire sieht sich von der Hündin gespiegelt. Die Hündin, Nora und Fine, die Schwester von Janis sind auch Spiegelbilder. Und so weiter. – Ich wollte nichts aufblasen: ich wollte diese Menschen verstehen, die sich da begegnen, mit diesem Leben, das sie führen, mit dem Hintergrund den sie haben. Ich schreibe, weil ich mich für das Handeln von Menschen interessiere. Ich wollte diesen Ausschnitt aus derer beider Leben erzählen, diese Begegnung verstehen – auf dem Hintergrund; Das sind diese Menschen jetzt in diesem Augenblick, aber beide haben eben auch eine Geschichte, ein Vorleben. Das prägt sie und daraus lässt sich manches, was sie tun, verstehen, manches vielleicht auch nicht. 

Sandra Hoffmann, 1967 geboren, lebt als freie Schriftstellerin in München und in Niederbayern. Sie unterrichtet literarisches Schreiben unter anderem in Seminaren für das Literaturhaus München und an Universitäten. Sie schreibt für das Radio und Die Zeit. Für ihren Roman „Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist“ (2012) erhielt sie den Thaddäus-Troll-Preis und für ihren Roman „Paula“ (2017) den Hans-Fallada-Preis. Zuvor erschien ihr Roman „Das Leben spielt hier“.

Beitragsbild © Armin Kratzert

«Ein Körper von Erinnerungen», Lesung mit Annina Haab aus ihrem Debüt

Annina Haab las in Gottlieben aus ihrem Debüt «Bei den grossen Vögeln», einer eigentlichen Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und ihrer Grossmutter, von der sie nicht will, dass sie ihre Geschichte, ihre Geschichten mit in den Tod nimmt. Ein Buch über beiderseitiges Loslassen.

Seit 2019 präsentiert die Literaturvermittlerin Judith Zwick unterstützt durch das Kulturamt Konstanz, das Literaturhaus Thurgau, thurgaukultur.ch, die Buchhandlung Homburger und Hepp und den Fonds Neustart Kultur des Deutschen Literaturfonds die Reihe «Debüt. Der erste Roman.» Eine grenzüberschreitende Veranstaltungsreihe, die sich ausdrücklich jenen Autor:innen widmet, denen nicht schon ihr Ruhm vorauseilt.

In ihrem im Frühling erschienenen Roman «Bei den grossen Vögeln» sieht eine junge Frau ihre Grossmutter sterben. Sie will, dass Ali, so heisst sie ihre Grossmutter, weil sie keine Oma und auch keine Grossmutter ist, aus ihrem Leben erzählt. Ali wird sterben. Nur noch nicht jetzt. Sie ist fast 90 Jahre alt und liegt im Krankenhaus – Leberzirrhose. Sie entscheidet sich für das Altersheim. Weil sie es so will. Und der Familie zur Last fallen, das will sie nicht. Aber Ali will nicht erzählen, weil sie sich in ihrem langsamen Sterben viel lieber mit dem Gegenwärtigen beschäftigen will. Und weil sie sich dann doch zum Erzählen drängen lässt, erzählt sie dann eben doch, auch wenn ihr Erzählen manchmal vom Boden abhebt. 

«Was wir erinnern, erinnert an uns.»

Ein Roman, der stark dialogisch gestaltet ist, weder Biographie noch Erinnerungsbuch. «Bei den grossen Vögeln» ist eine Huldigung an das Erzählen. Eine Liebesgeschichte an eine unerschrockene, humorvolle, alte Frau. Eine Frau, die sich immer wieder ihrer scheinbaren Bestimmung verweigerte, wegging, wegfuhr.

Älter werden wir alle, Grossmütter haben wir alle, manchmal nicht lange, manchmal zu lange. Annina Haab erzählt über die Endlichkeit, all die grossen und kleinen Übergänge, die einem erst im Erzählen und damit auch im Lesen bewusst werden. «Bei den grossen Vögeln» ist auch ein Buch, das sich mit institutioneller Alterspflege auseinandersetzt. Kein Abschiedsbuch, aber ein Buch über das Loslassen.

«Zwischen den Balken unterm Dach sprachen wir über das Altern und das Sterben, das Zurückbleiben, während draussen im Novembernebel die Fastnachtsmusik für einen trefflichen Kontrast sorgte. Liebe Judith, lieber Gallus, danke für den schönen Abend und auf ein andermal.» Annina Haab

Rezension von «Bei den grossen Vögeln» auf literaturblatt.ch

Annina Haab «Dass das Wiederkommen nicht geht», Plattform Gegenzauber

Claudia war ein Anker für mich in der Welt. Sie hatte keine andere Wahl, denn ich wusste nichts, woran ich mich sonst hätte festhalten sollen. Sie lachte laut und viel und fiel manchmal vom Stuhl davon, rappelte sich aber wieder auf und ab und zu bestellte sie im selben Atemzug ein Bier, von dem sie dann behauptete, vom ersten bis zum letzten Schluck, es schmecke scheusslich.

Claudia war lang und schön und schielte meist in sich hinein, während sie sprach. Ich dachte oft, ich könnte mitschielen, aber ich konnte es nicht. Bestimmt hatte sie irgendwo Wurzeln geschlagen, tief unten im Meer, das grün in ihren Augen schwappte, als wäre sie gewohnt unter Wasser zu sehen. Sie war die meiner Schwerkraft entgegengesetzte Energie. Und ich fürchtete den Moment, in dem ich ihr zuviel werden würde, zu nah und zu schwer, als dass ihr Auftrieb für uns beide reichte. Doch sie trug mich. Lachte mich so lange aus, bis die Schwerigkeit verschwunden war und ich selber lachen konnte.

Ich wollte immer bei ihr sein, oder genauer, wollte, dass sie immer bei mir war, denn ich konnte die Kälte schlecht aushalten und Claudi sass meistens irgendwo im Freien auf einer Bank oder einer Mauer und atmete, als wolle sie die ganze Welt einsaugen, was nicht geschah. Ich hoffte es aber, hoffte, sie würde mich eines Tages mit einatmen, damit ich in ihr fortdauern und durch ihre Meeraugen sehen könnte. Ich wollte von ihr gelacht und durch die Welt getragen werden. Aber Claudia atmete mich nicht ein, behauptete überdies, dass das gar nicht möglich sei.

Eine Liebeserklärung brauchte sie nicht, denn ich lag offen da, das war Erklärung genug. Für Claudi war ich überschaubar. Ich hielt mich an ihrer Hand und versuchte, dies möglichst unauffällig zu tun, um nicht zu klammern, wenn die Wellen hoch schlugen und auch sonst. Woher sie ihre Sicherheit nahm, wusste ich nie, es schien, sie stelle einfach ihre Füsse auf den Boden und trage den Kopf auf den Schultern. Sie liess sich dabei selten etwas anmerken. Claudia stellte fest. Ich sage, wie es ist, sagte sie.
Ich liebte sie mit unbestimmter Heftigkeit, denn sie war meine Freundin. Wir stahlen zwar keine Pferde aber Gemüse, Bücher, Schlafsäcke und einmal ein Boot, mit dem wir uns auf dem See davontreiben liessen bis zum Morgen.

Und dann war sie weg. Fast kommentarlos. Sie packte ein paar Kleider in einen alten Rucksack und verreiste und mich nahm sie nicht mit. In meinem Herzen schon, sagte sie. Aber das klang mir nach Spott. Es war klar ersichtlich, dass sie mich nicht mitnahm. Aus ihren Briefen rieselte Sand und sie beschrieb mit pedantischer Genauigkeit Dünen, Klippen, Wolken und das Meer, schrieb aber nie, wo sie sich aufhielt. Ich sagte, das kann mir egal sein. Ich sagte, es ist mir egal. Ich versuchte vergeblich, sie zu vergessen, sass zuhause am Fenster und hielt Ausschau, rieb mich an der Unantastbarkeit der Landschaft ohne sie.

Ich trieb in einer uferlosen Trübsal herum und fand keine seichte Stelle, an der ich ihr hätte entsteigen können. Ich wurde abwechselnd böse und reumütig, schrie, wartete, und kotzte, während ich sie herbeisehnte. Irgendwann wusste ich, dass sie nicht wiederkommen würde, weil zu viel Zeit vergangen war, zu viel Sand und Welt gibt es an den Rändern des Meeres, warum hätte sie genau zu mir zurückkehren sollen? Ich verurteilte Claudi in absentia, ihrer Treulosigkeit wegen, und kesselte sie in der Trockenheit meines Herzens ein, dort sollte sie bleiben, beschloss ich.

Als sie plötzlich vor meiner Tür stand, wünschte ich mir, sie nicht erkennen zu können, aber es half nichts. Ich trat zur Seite und bat Claudia herein, fragte, wie es ihr gehe; und sie sagte, dass sie nicht hätte gehen müssen. Sie wolle da nicht weiter drüber reden. Also hielt ich nur ihre Hand, während sie nach draussen starrte. Der Tee wurde in ihrer Tasse kalt, immer bevor sie ihn trinken konnte, sie blies hinein, ich wusste nicht wieso. Traute mich nicht, Claudi zu fragen. Sie schaute trüb aus, zauderte und war beständig müde. Sie hatte sich in Zweifel gezogen, aber nicht wieder heraus. Sogar ich begann sie zu bezweifeln. Sie war kein Anker mehr, sondern ein Boot, in dem wir nicht beide Platz fanden, sie schlingerte auf hoher See.

Ich verstand, dass es nun an mir lag, dass ich ihr Anlaufstelle zu sein vermögen sollte, aber sonst verstand ich nichts. Ich wollte, dass sie etwas benannte. Wollte, dass es da etwas gab, etwas möglichst Grosses, das man benennen und sich danach von ihm abwenden konnte. Einfach umdrehen und davonlaufen. Etwas worauf sich Staub sammelt und das man schliesslich ganz vergisst. Aber es gab nichts. Ich hielt ausufernde Reden, um sie aufzumuntern und selbst die Stille nicht ertragen zu müssen. Manchmal lachte sie leise, als schäme sie sich, dann wollte ich weinen, aber das kam mir fehl am Platz vor. Ich hätte gern, so als wäre nichts dabei, meine Füße auf den Boden gestellt und Claudi auf meinen Schultern getragen, aber ich war zu hager und sie zu groß dafür und ich wusste nicht, wie es geht. Also ließ ich alles sein, wie es war. Claudi blieb bei mir und ich hielt ihre kühle Hand, so gut es ging, wir schauten aus dem Fenster und waren ein wenig verloren.

Annina Haab wurde 1991 geboren und wuchs in Wädenswil im Kanton Zürich auf. Sie studierte Literarisches Schreiben in Biel, Bern und Leipzig und war Artist in Residence am Zentrum für nonkonformistische Kunst St. Petersburg sowie Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. Heute lebt Annina Haab in Basel. «Bei den großen Vögeln» ist ihr erster Roman.

Rezension von «Bei den großen Vögeln» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Florian Wacker «Weiße Finsternis», Berlin Verlag

Florian Wacker zieht mich mit seinem neuen Roman „Weiße Finsternis“ in Schnee und Eis, auf eine lange, lebensgefährliche Reise durch den arktischen Winter, eine Reise um Leben und Tod, eine Reise weit über Grenzen hinaus.

1918 wurden Peter Tessem und Paul Knutsen, zwei junge norwegische Seefahrer, vom Polarforscher Roald Amundsen angewiesen, scheinbar unentbehrliche wissenschaftliche Aufzeichnungen und die Post durch einen arktischen Winter zu tragen. Amundsens Schiff, die Maud, war vom Eis eingeschlossen. Für Peter und Paul sollte es eine Reise ins Ungewisse, eine Reise in die unendliche Weite der arktischen Eis- und Schneewüste, eine Reise ins langsame Sterben werden.

Peter und Paul waren Freunde seit Kindertagen, beide in der norwegischen Hafenstadt Tromsø aufgewachsen, wo sie seit Kindesbeinen grosse und kleine Schiffe ins weisse Abenteuer wegsegeln sahen. Peter wurde Tischler, Paul Seemann. Zu den beiden Jungen gehörte Liv, in Kindertagen Kameradin, in der Jugend Freundin, später von beiden geliebt und umgarnt. Am liebsten hätten sie gemeinsam das Abenteuer gesucht. Aber weil sich Nachwuchs einstellte und Liv für ihre Familie einen sicheren Hafen wünschte, war es Peter, den sie heiratete, mit dem sie ein Haus in Tromsø bezog. Peter, Liv und die beiden Kinder. Und irgendwo Paul, die unruhige Seele, die sich nicht mit einem Leben ohne Bedeutung begnügen wollte. Auch das Meer blieb. Paul kam immer wieder zurück. Und als Roald Amundsen in Tromsø eine neue Crew für seine Forschung Richtung Nordpol suchte, schifften Peter und Paul mit ein, beide getrieben von der Hoffnung, im Schatten des grossen Forschers Ruhm, Ehre und eine sichere Zukunft zu erlangen.

Florian Wacker «Weiße Finsternis», Berlin Verlag, 2021, 304 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-8270-1434-4

Zwei Jahre später, jedoch nicht im arktischen Winter, machte sich eine Gruppe Männer unterstützt durch Einheimische auf die Suche nach den Vermissten. Keine Suche, die auf Leben hoffte, auch wenn ein kleiner Rest Zweifel über deren sicheren Tod geblieben war. Aber eine Suche, die Antworten schaffen sollte und wohl nicht zuletzt ein Tribut des Gewissens den beiden jungen Männern gegenüber war. Man machte sich auf, hoffte auf Zeichen in Eis und Schnee, auf Zeugnisse, die in der weissen Einöde überdauern würden.

Florian Wacker will nachspüren, was es ist, dass Menschen an den Rand der Möglichkeiten und darüber hinaus nötigte. War es wirklich nur die Gier nach Ruhm und Ehre? Die Schlachtfelder des grossen Krieges schluckten die Massen ebenso wie Arbeit, Mühsal und Armut. Paul war schon als Kind vom Entdeckerhunger getrieben und Peter, eigentlich viel ruhiger und besonnener, stets mitgerissen. Dieses Mal würde es der eisige Norden sein, später dann die weissen Flecken auf der Karte Südamerikas. Oder war es einfach die Lust aufzubrechen aus dem Nest Tromsø, dem Einerlei, dem Vorbestimmten?

Aber Florian Wacker geht es nicht bloss um das Nacherzählen einer Geschichte, von der man bis heute vieles nur spekulieren kann. Die beiden jungen Männer waren Freunde, brachen gemeinsam zur Reise auf, liessen ihr Leben aber an verschiednen Orten im Eis. Was geschah zischen den beiden ungleichen jungen Männern? Was trug sich zu, als immer aussichtsloser wurde, was eine Heldentat hätte werden sollen? Und wie muss es Liv ergangen sein, die zurückblieb, die irgendwann aufgegeben hatte zu warten und von Tromsø wegzog, weil es dort kein Leben gab für eine Zurückgelassene. Was bleibt von Freundschaft, wenn man durch die Ketten von Pflichten und Mutterschaft zum Bleiben gezwungen wird? Die Geschichte einer Frau, die sich ihr Leben nicht einfach diktieren lassen wollte!
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien hinter der weissen Finsternis eine Verheissung zu liegen. Eine Verheissung, der viele Menschen ungenannt ihr Leben opferten.

Es wurde mir kalt bei der Lektüre. Florian Wacker ist ein Meister der Atmosphäre!

Interview:

Indirekt stellen Sie mit ihrem Roman die Frage, was Männer wie Roald Amundsen, Robert Falcon Scott oder Ernest Shackleton bewegte, sich mit Mannschaft und Material Gefahren auszusetzen, die aus der Sicht eines Menschen in unserem Jahrtausend halsbrecherisch, tödlich sein mussten. Warum zieht es Menschen auf Mond und Mars obwohl es unwahrscheinlich ist, dass der Nutzen für die Menschheit den finanziellen und menschlichen Aufwendungen entspricht?

Ich glaube, dass Menschen immer nach neuen Herausforderungen suchen, nach neuen Zielen und danach, Grenzen weiter zu verschieben; die Entdeckung Amerikas, die Erkundungen der Pole, die Expedition in die Regenwälder, und als Krönung sicher die Landung auf dem Mond: Menschen suchen die Extreme, die Ausweitung des Bekannten, weil sie neugierig, erfinderisch, kreativ – und auch zutiefst egoistisch sind. Es ging ja auch immer darum, der Erste zu sein, ein Wettrennen zu bestreiten und sich am Ende den Siegeskranz umzuhängen; diesem Ziel wurde alles untergeordnet, und es sind immer nur einzelne Namen, die dann herausstechen – Amundsen, Nansen usw. Die vielen Unbekannten, die diese Wettrennen z.T. mit ihrem Leben bezahlten, von denen spricht heute kaum noch jemand. Auch deshalb erzähle ich in meinem Roman die Geschichte zweier Unbekannter, um den Blick auf sie zu lenken, weg von den strahlenden Helden. Durch sie, diese meist Namenlosen, wurden die Expeditionen und daraus gewonnenen Erkenntnisse erst möglich.

Männer wollten entdecken, machten sich auf über Grenzen, über Bekanntes hinaus. Frauen blieben zuhause, im Hintergrund, die Erwartenden, die Geduldigen. Ist „Eroberung“ männliches Prinzip oder verfängt man sich mit der Frage allein in den Schlingen gefährlicher Argumentationen?

Dieses Prinzip ist historisch gewachsen, ich würde es heute nicht mehr gelten lassen. Früher waren die Verhältnisse so, dass Männer hinaus in die Welt gingen (Arbeit, Reisen usw.) und Frauen zuhause bei den Kindern und Alten blieben. Das wurde nur sehr langsam durchbrochen. Frauen erkämpften sich gegen grosse Widerstände nach und nach ihre Rechte (Wahlrecht usw.), aber das Bild der „sorgenden“ Frau trägt sich bis heute durch, was man gerade während der Pandemie gut beobachten kann, wo es meistens Frauen sind, die zuhause den Laden am Laufen halten, also Sorgearbeit leisten, und dazu noch einer Erwerbsarbeit nachgehen. Das Prinzip männlicher „Eroberung“ halte ich heute für einen Anachronismus, für längst überholt. In meinem Roman beginnt sich Liv auch gegen dieses Prinzip zu wehren, sie will nicht warten, nicht die Rolle spielen, die man ihr zuschreibt. 

Konde, ein Nganasane, ein Polarmann sagt: „Die Leute aus dem Westen und Süden. Sie haben keine Ahnung von den Rentieren, sie können nicht jagen und wissen auch mit der Kälte nichts anzufangen. Aber sie kommen trotzdem und beschweren sich und schimpfen über das Eis, und dann sterben sie. So ist es immer.“ Waren Ignoranz und Arroganz nicht schon bei der Franklin-Expedition 60 Jahre zuvor auf der Suche nach einer Nordwestpassage die Ursache des Scheiterns?

Ja, Ignoranz und Arroganz waren sicher verantwortlich für das Scheitern grosser Expeditionen, wo mit immensem Materialaufwand versucht wurde, ein Ziel gegen alle Widerstände zu erreichen; so ähnlich wie ein trotziges Kind, das mit dem Kopf durch die Wand will. Man hielt sich für überlegen und die Inuit für einfältige Wilde. Tausende sind auf den Schiffen jämmerlich umgekommen, verhungert, erfroren, an Skorbut gestorben. Erst Nansen und Amundsen begannen, sich von den Einheimischen Verhaltensweisen abzuschauen, trugen entsprechende Kleidung, fuhren mit kleinen, wendigen Schiffen, nutzten Schlittenhunde. Aber auch sie waren nicht frei von Arroganz und einem Gefühl der Überlegenheit, sie traten in ihrem Eroberungsdrang nur etwas subtiler auf.

Sie schildern eine Freundschaft, die im Angesicht des Todes zu zerbrechen droht. Weil im Wahn durch Unterernährung, Entkräftung und Hoffnungslosigkeit alles aufbricht. Nicht zuletzt Eifersucht, Enttäuschung und Verdächtigung. Klar, Literatur labt sich an Extremen, selbst wenn Karl Ove Knausgård über die absolute Normalität schreibt. Ist Lesen die Gier nach fremdem Leben?

Ich denke schon, dass wir beim Lesen immer auch etwas vom Anderen, vom Gegenüber erfahren wollen. Da wird dann selbst das „Gewöhnliche“ wie bei Knausgård aufregend; ein gewisser Voyeurismus ist ja beim Lesen immer dabei; der Blick in fremde Leben, in Existenzen, die mit unseren auf den ersten Blick nichts gemein haben. Gute Literatur schafft dann beides: Den Blick auf das Gegenüber, der uns aber immer auch zu uns zurückführt.

„Weiße Finsternis“ spielt in der absoluten Kälte. Ihr Roman zuvor, „Stromland“ in schweisstreibender Hitze. Welches Verhältnis haben Sie zur Extreme? Ist Schreiben ein Zustand der Extreme?

Schreiben ist nur in seltenen Momenten ein Extrem im Sinne eines Rausches; es ist meist monoton, wenig aufregend, man arbeitet sich Tag um Tag durch den Text, schreibt, überarbeitet, schreibt wieder. Da ist viel Routine drin, strukturiertes Arbeiten. Aber klar, manchmal gibt es diese Situationen, in denen es einen plötzlich packt, in denen plötzlich alles stimmt, jedes Wort, jeder Satz und man wirklich in einen rauschähnlichen Zustand gerät. Meist hält der nicht lange, spätestens beim Überarbeiten ist dann Schluss damit. Aber trotzdem, es sind diese Momente, für die ich auch schreibe.

Welches Buch würden Sie unbedingt empfehlen und warum?

Die Romane von William Faulkner, die Texte sind überwältigend, anstrengend, dicht. Aktuell beeindruckt hat mich „Die Dame mit der bemalten Hand“ von Christine Wunnicke, ein schmaler, historischer Roman voller Witz und Poesie, grossartig!

©Melina Mörsdorf Photography

Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, Studium der Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Mehrjährige Tätigkeit in der Kinder-und Jugendpsychiatrie, der Behindertenhilfe und der Jugendhilfe. Er schreibt Prosa, Dramatik und Code und veröffentlicht Texte in FAS, Merian, Frankfurter Rundschau, Junge Welt, BELLA triste, Das Magazin u.a.
Für seine Arbeiten wurden er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Robert Gernhardt Preis, dem Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg, dem Limburg-Preis und dem „Feuergriffel“ für Kinder- und Jugendliteratur Mannheim.

Rezension von «Stromland» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Melina Mörsdorf Photography

Annina Haab «Bei den großen Vögeln», Berlin

Ali ist ihre Grossmutter. Und weil Ali nach einem Krankenhausaufenthalt nicht mehr zurück in ihr Zuhause kann und man sie in einem Altersheim platziert, beginnt ihre Enkelin zu schreiben. Sie will festhalten, was noch lebt, was noch da ist. All die Geschichten aufschreiben, die Ali ausmachen, die Ali mit sich herumträgt, die Ali zu der gemacht haben, die sie ist, auf die sie nicht verzichten kann, die ihr das Sterben und der drohende Tod wegnehmen will.

„Ali ist ein Code, drei Buchstaben, damit ich nicht Oma sagen muss oder Grossmutter.“

Wenn Menschen sterben, schliessen sich Türen endgültig. Was an Abdankungen in ein paar Minuten das Leben eines Menschen umreissen soll, ist nie und nimmer das, was der Tod hat abreissen lassen, was jenes Leben ausmachte. Dann sitzen wir Angehörige in den Bänken, lauschen und wissen, dass vieles unwiederbringlich mit in der Grube zugeschüttet ist. Die Schriftstellerin Annina Haab gibt einer Erzählerin eine Stimme, die sich mit allen Mitteln dem Vergessen und Verschwinden entgegenstellt. Die Enkelin besucht ihre Grossmutter immer wieder, will möglichst viel von dem bewahren, was die innige Beziehung zu ihrer Grossmutter ausmachte, diese beinah kumpelhafte Zweisamkeit, die etwas Verschwörerischen an sich hatte. Aber die Grossmutter verstummt immer mehr. Zum einen schwindet die Kraft, zum andern schliesst sich die Tür zu den Geschichten schon deshalb, weil sich die Grossmutter weigert, ihre eigene Geschichte so ernst und wichtig wie ihre Enkelin zu nehmen.

Annina Haab hat ein ungeheuer zartes und anrührendes Buch geschrieben. Ein Buch, das ganz leicht ins Sentimentale hätte abdriften können. Aber Annina Haab schaffte es mit erstaunlicher Sicherheit, nicht in erster Linie ein Buch über ihre Grossmutter zu schreiben, ein Leben aus der Vergangenheit dem Vergessen zu entreissen, sondern ein Buch über einen Abschied. Über die immer grösser werdende Distanz, die lange vor dem Sterben beginnt. Über Nähe, die ganz langsam verloren geht und darüber, dass das Schreiben vielleicht eine der wenigen Möglichkeiten ist, einem Menschen über seinen Tod hinweg nahe zu bleiben, ihn nicht loslassen zu müssen.

Annina Haab «Bei den grossen Vögeln», Berlin, 2021, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-8270-1427-6

Sie weiss einiges über Ali. Von einer Kindheit auf dem Bauernhof, von der Reise als Jugendliche nach England, nach London in die Dienste von Familien. Ali erzählt von ihrem Leben in der Enge, einem Leben, das fast nur aus Arbeit bestand, ihrem Pelzmantel, den sie monatelang abstotterte, der ihr den Zugang in die „Gesellschaft“, in das Leben dort erleichtern und nicht sofort als Haushalthilfe erkennbar machen sollte, von ihren Ersparnissen, die sie sich von einem Fremden abknöpfen liess und Jahre später wie aus dem Nichts wieder an sie zurück gelangten. Es sind Bruchstücke, das was man erzählt, wenn man sich nahe ist, Zeitinseln aus einem Meer, das unendlich scheint. Die Enkelin will festhalten, weil ihr mit dem Sterben ihrer Grossmutter ein Leben zu entgleiten beginnt, das ihr näher als alle anderen ist.

Sie geht durch die verlassene Wohnung ihrer Grossmutter, als wäre es ein verlassenes, nur vorübergehend verlassenes Leben einer Frau, die nur eben mal schnell weg ist. Sie besucht Ali im kleinen Altersheim, im Zimmer, das sie mit einer anderen Frau teilt, die fast immer unter einem Berg von Decken im Bett am Fenster liegt. Sie lebt mit dem Riss in sich selbst, weil sie ihre Grossmutter am liebsten zu sich nehmen würde, aber an den Realitäten scheitert und in der Zeit zögert, in der es noch möglich gewesen wäre, es Ali aber gar nicht gewollt hätte. Sie hadert mit dem Bewusstsein, dass ihr vieles, alles aus den Händen genommen wird, dass sie zur Zurückbleibenden verurteilt ist.

„Bei den grossen Vögeln“ ist viel mehr als ein Erinnerungsbuch einer jungen Frau über ihre Grossmutter, auch wenn es das auch ist. Der Roman spiegelt, was in der Erzählerin passiert, das Pendeln zwischen Schmerz, Trauer, Ergebenheit und zärtlicher Liebe. Und nicht zuletzt zwingt der Roman mich als Leser zu Fragen an mich selbst: Was will ich in meiner letzten Zeit in meinen Händen behalten? Was soll von mir zurückbleiben? Ist das erzählt, was mich ausmacht oder lasse ich so hilflos zurück, wie es meistens ist? Lebe ich mit dem Bewusstsein, das mein Leben endlich ist?

“Bei den grossen Vögeln“ ist kein grosser, schwarzer Vogel, aber ein Buch, das sich über viele andere zu diesem Thema hinausgehoben hat.

Interview

Der grosse Wiener Liedermacher Ludwig Hirsch schrieb und sang ein Lied mit dem Titel „Komm, grosser schwarzer Vogel“, ein düsteres Lied über Todessehnsucht. Ihr Debüt „Bei den grossen Vögeln“ ist ein Nachgesang über eine grosse Liebe; die Liebe zwischen Enkelin und Grossmutter. So gar kein Buch über den Tod. Auch kein Erinnerungsbuch. War das Buch eine Notwendigkeit? 

Das Lied kenne ich nicht, die Vögel sind für mich auch gar nicht so sehr mit dem Tod assoziiert. Ich denke, dass das Schreiben als Prozess für mich eine Notwendigkeit war. Dass daraus jetzt ein Buch wird, ist für mich eher eine erfreuliche Zugabe. Ich finde es aber durchaus nötig, dass über Menschen, wie die Ali im Text, mehr geschrieben wird, dass also nicht nur Heldengeschichten erzählt werden, sondern auch von jenen geschrieben wird, die sozusagen kleine Geschichten leben. 

Sie sind noch jung. Ich bin bald 60. Sie haben sich beim Schreiben dieses Buches ganz intensiv mit dem letzten Lebensabschnitt auseinandergesetzt, wenn man so will, exemplarisch an Ali der Grossmutter. Hat sich Ihre Sicht auf Ihr eigenes Leben, auch auf Ihr eigenes Sterben verändert? 

Mit meinem eigenen Sterben habe ich mich nicht besonders auseinandergesetzt, für mich war und ist die Auseinandersetzung mit dem Sterben der anderen wichtig, mit der Position derjenigen, die weiterlebt. Es ging mir also eher um den Abschied und den Verlust, aber auch um eine Reflexion verbreiteter Erzählweisen und Darstellungen des Todes.
Die Sicht auf das eigene Leben verändert sich wahrscheinlich zwangsläufig, wenn man sich mit hochbetagten Frauen beschäftigt. Ich bin sehr glücklich, durfte ich so manches von ihnen lernen. 

Ist Ihr Buch auch eine Aufforderung, sich mit dem letzten Schritt eines jeden Lebens mehr auseinanderzusetzen?

Ich denke nicht, dass ich je den Wunsch verspürt habe, mit dem Text irgendwen zu etwas aufzufordern. Ich glaube aber, dass es durchaus sinnvoll wäre, sich mit dem Sterben und dem Tod auseinanderzusetzen. Oft, so scheint mir, wird ein wenig daran vorbeigeschielt oder verhüllend darüber gesprochen. Gerade bei den Darstellungen und metaphorischen Ausdrücken müssen wir sehr genau hinschauen und prüfen, ob sie zutreffend sind oder doch eher Ausflüchte, um in einer gefahrenfreien Zone bleiben zu können. 
Allgemein fände ich es gut, den Tod und die Krankheit, die Gebrechen, die Abweichung von der (ideellen) Norm junger gesunder Körper nicht an den Rand der Gesellschaft oder des Blickfeldes zu schieben, sondern sie sichtbar zu machen und die Diversität der existierenden Körper und Zustände anzunehmen und auch zu verteidigen.

Weil Ihr Buch keine Anekdotensammlung ist, kein Erinnerungsbuch, sondern eine Liebeserklärung, eine Verneigung, eine sprachliche Zärtlichkeit, liest es sich anders; Sie schaffen es, die Spur vorbei an Sentimentalitäten zu halten. War das schwierig?

Danke, das freut mich zu hören. Ja, das fand ich sogar sehr schwierig und in vielen Momenten zweifelte ich auch, ob es denn geglückt sei. Es ist ja ein schmaler Grat, auf dem ich wandeln wollte. Ich bin eine Befürworterin von Pathos und auch hier finde ich es vor allem wichtig, auf der Hut zu sein, um keine Vorurteile weiter festzutreten. Das gilt aber für den Zynismus genauso, eine Haltung, die zwar oft souveräner scheint, es aber nicht unbedingt ist.

Obwohl das Altersheim, in dem Ali die letzte Zeit ihres Lebens verbringt, ein ganz kleines ist, wird sie von „Einsamkeit zerfressen“, etwas, das auch mit vielen Besuchen nicht verhindert werden kann. Das Abgeschnittensein vom alten Leben, vom Leben draussen (etwas, was in Coronazeiten dramatische Züge bekommen hat!), von einem wirklichen Zuhause. Wie wollen Sie alt werden?

Nun ja, am liebsten schon eingebettet in eine soziale Struktur, die mir dieses Zuhause ist, aber wer auf intensive Pflege angewiesen ist, hat oft keine Wahl mehr. Dass noch im familiärsten Heim die Einsamkeit grassiert, verweist auf ein strukturelles Problem; dass von den Pflegenden zu viel verlangt wird, dass kaum Zeit für zwischenmenschlichen Kontakt bleibt, dass sie chronisch überarbeitet aber unterbezahlt sind. Wie müssen unbedingt über die Bedingungen und den Stellenwert von Care-Arbeit reden, und über patriarchale Geschlechterverhältnisse. In erster Linie möchte ich also erleben, dass da ein Umdenken stattfindet, und zwar sofort, bevor ich alt werde. Ansonsten kann ich mir nur wünschen, so humorvoll, offen und unkompliziert wie beispielsweise die Ali zu werden, ich glaube, dann wär ich ganz schön stolz auf mich.

Ganz am Schluss des Buches danken Sie. Da erscheinen gewichtige Namen: Ruth Schweikert, Friederike Kretzen, Zsuzsanna Gahse oder Antje Rávik Strubel. Ein Indiz dafür, dass Schreiben nicht einfach „das stille Brüten im Kämmerchen» ist. Und doch erstaunt die Dichte an grossen Namen. Wie verändert die Auseinandersetzung den Text?

Ich denke, das Bild von der Literatur als einsames Geschäft wird oft und gerne bemüht, weil es vielen Leuten gefällt, sich so darzustellen, und ja, während ich schreibe, bin ich selber auch allein, aber während ich über Texte nachdenke zum Glück nicht. Die „Dichte an grossen Namen“ hat etwas damit zu tun, dass ich in verschiedenen (institutionellen) Kontexten meinen Text besprechen durfte. Mir hat vor allem die konstante Begleitung von Friederike Kretzen geholfen, die sich mit grosser Ernsthaftigkeit auf meinen Text eingelassen hat und auch bereit war, über noch so kleine Details mit mir nachzudenken. Aber auch viele andere haben meinen Prozess beeinflusst. Ich finde es eine grosse Chance und Bereicherung, mit anderen über Texte zu sprechen, die am Entstehen sind, auch einige Freundinnen und Geschwister von mir haben den Text in einer ersten Fassung gelesen und wichtige Anstösse gegeben. Das Einbeziehen anderer Meinungen lehrte mich, dass nichts festgeschrieben ist, dass es sich lohnt, alles noch einmal zu hinterfragen und nur stehen zu lassen, was man begründen kann. Es zeigte aber auch, dass zu jeder Szene zehn verschiedene Meinungen möglich sind. 

Ein Buch, das Sie in den vergangenen Monaten gepackt hat?

«Kassandra» und viel weiteres von Christa Wolf. Und einmal mehr die Reden von Audre Lorde.

Annina Haab wurde 1991 geboren und wuchs in Wädenswil im Kanton Zürich auf. Sie studierte Literarisches Schreiben in Biel, Bern und Leipzig und war Artist in Residence am Zentrum für nonkonformistische Kunst St. Petersburg sowie Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. Heute lebt Annina Haab in Basel. «Bei den großen Vögeln» ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Privat / Piper Verlag

«Während wir feiern» im Literaturhaus Thurgau mit Ulrike Ulrich

Schon der Titel des Buches birgt genug Stoff, um eine Diskussion vom Zaun zu reissen. Ein Fest in der Stadt, eine Party. Leben konzentriert sich auf diesen einen Abend, verschiedenste Leben, jedes getränkt von Erwartungen, geprägt von einer Geschichte. Man kommt zusammen, und doch ist jeder allein. Ulrike Ulrichs neuer Roman spürt vielem nach, was in unserer Gesellschaft offensichtlich und unterschwellig kocht – während wir feiern.

Nationalfeiertag in der Schweiz, sowas wie Geburtstag. Ein Fest für Alexa, wie jedes Jahr, die damit auch feiern will, dass sie sich in diesem Land endlich angekommen fühlt. Mit den Vorbereitungen auf dieses Fest allerdings ist Alexa ziemlich allein, so wie Mrs Dalloway im Roman von Virginia Woolf. Adrian hilft nicht mit. Sie ist nicht einmal sicher, ob er an diesem Abend da sein wird. Ist es doch ihr Abend, ihr Lied, das sie an diesem Abend singen wird, ihr Fest, an dem getanzt, geredet, getrunken und geflirtet werden soll. Und weil neben genügend Männern vieles andere auch noch fehlt, ist Alexa alles andere als gelassen; vergessene Grillkohle, die Kleider, die Tische, die Blumen und das Lied, das Guggisberglied.

Alles an einem Tag, fast alles an einem Ort, die Parallelführung verschiedener Leben, Perspektiven, die sich wie bei einem Stafettenlauf den Stab übergeben, ein Teppich aus verschiedensten Biographien, der von Lesern einiges abverlangt. Eine Partygesellschaft noch ohne Mundschutz und doch alle unsäglich weit voneinander entfernt, gefangen in Ängsten, Abhängigkeiten, Einsamkeit und Isolation, genauso wie in Drogen und Zwängen. Ein Raum, der in der Musik pulst, in dem sich der Dunst von Geschichten, Schweiss und Alkohol ausbreitet. Als Leser sehe ich in die Köpfe und Herzen, sehe aus den Augen derer, die an der Party sind, die einen auf der Jagd, die andern auf der Flucht, vor der Welt oder sich selbst.

Ulrike Ulrich und Moderatorin Cornelia Mechler spürten im Gespräch über das Buch den Fragen der Zeit nach. Fragen, die die Schriftstellerin schon in mehreren Büchern nachging, so wie in der 2018 erschienenen Anthologie «Menschenrechte. Weiterschreiben», in der über ein Dutzend AutorInnen in «vielgestaltigen literarischen Interpretationen dazu ermutigen, die Artikel der Menschenrechtserklärung weiterzudenken und den eigenen Standpunkt zu durchleuchten».
Ebenso waren es die kleinen Details aus dem Leben einer Schriftstellerin. So schreibt Ulrike Ulrich gerne und oft von Hand in Cafés, fast immer morgens, um das Geschriebene nachmittags, ein erstes Mal überarbeitend, in den Computer zu tippen.

… und Ulrike Ulrich singt ganz leise, während sie signiert …

Vielen Dank der Schriftstellerin Ulrike Ulrich, der Moderatorin Cornelia Mechler und der umsichtigen Mitgastgeberin Brigitte Conrad.

Webseite von Ulrike Ulrich

Pierre Jarawan «Ein Lied für die Vermissten», Berlin Verlag

„Yeki Bud. Yeki Nabud“, (Es gab jemanden, es gab niemanden.) damit beginnen persische Märchen. Ein Hakawati ist ein Geschichtenerzähler, der mit seiner Schauspielerei das Erzählte unterstreicht, nichts anderes als der Autor selbst, Pierre Jarawan, der einst deutscher Meister im Poetry Slam war und nun, nach seinem 2016 erschienen Debütroman „Am Ende bleiben die Zedern“ mit „Ein Lied für die Vermissten“ erneut einen atmosphärisch starken Roman vorlegt.

„Ein Lied für die Vermissten“ ist ein Familienroman, ein Roman über Freundschaft, die zerstörerische Kraft des Schweigens und die „verlorene Generation“ eines Bürgerkriegs der während 15 Jahren (1975 – 1990) fast 100 000 Tote, 20 000 Vemisste und unzählige Vertriebene forderte. Ein Krieg, der aus dem Paris des Nahen Ostens, der Orchidee des Mittelmeers ein Trümmerfeld machte. Im Libanon, einem Land, aufgerieben in der Geschichte der letzten 70 Jahre, im Dauerkriegszustand mit Israel, zerfleischt von Milizen, annektiert von der syrischen Diktatur, erschüttert von abertausend Bomben. 

„Unser Land ist ein Haus mit vielen Zimmern. In einigen Räumen wohnen die, die sich an nichts erinnern wollen. In anderen hausen die, die nicht vergessen können. Und oben wohnen immer die Mörder.“

Ob der Bürgerkrieg in Libanon oder die Kriege nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens – für mich waren es „Sofakriege“, denen man sich während der Nachrichten oder beim Lesen der Zeitungen aussetzte, die durchaus Betroffenheit auslösten, aber zumindest für mich im Hintergrund blieben. Eine Tatsache, für die ich mich heute bis zu einem gewissen Grad schäme, denn diese Kriege klopften immer wieder unüberhörbar an meine Tür, sei es durch das Schicksal von Flüchtlingen, die ich kennenlernte oder eben durch die Literatur.

„Erinnerungen waren Pforten, hinter denen sich ganze Reiche auftaten, die ich noch zu entdecken hatte.“

Pierre Jarawan «Ein Lied für die Vermissten», Berlin Verlag, 2020, 464 Seiten, 32.90 CHF, ISBN 978-3-8270-1365-1

Pierre Jawaran erfindet Amin und erfindet ihn nicht. Einen Jungen, der zusammen mit seiner Grossmutter nach dem Tod von Amins Eltern nach Deutschland flieht. 12 Jahre später findet die Grossmutter den Mut, wieder zurück ins Land ihrer Familie, in ihre Heimat zu reisen, um einen Neuanfang zu wagen. Einen Neuanfang als Familie, als Unternehmerin, als Malerin. Amin lernt in seiner neuen Umgebung Jafar kennen, einen Mitschüler aus seiner Klasse, den einzigen, der sich für ihn zu interessieren scheint. Jafar ist anders. Nicht nur weil er als kleiner Junge ein Auge verlor, sondern weil er in seinem Wesen wild und nur schwer fassbar ist, weil er mit Amin durch die Ruinen der Stadt zieht, weil er wie ein Hakawati Geschichten erzählen kann, so gut, dass sich damit sogar Geld verdienen lässt, wenn auch nicht immer zum Vorteil aller.

„Das Schweigen ist tiefer als die Stille. Weil Stille nie wirklich alles verschluckt.“

Amin wächst behütet bei seiner Grossmutter auf, einer Frau, die in der Altstadt Beiruts ein Café eröffnet und Bilder von sich an die Wand hängt. Bilder, die kryptisch von den Schrecken des Bürgerkrieges erzählen, so wie das einzige Bild von Amins Mutter, die als junge Frau als Studentin nach Paris kam, eifrig zu malen und zu lieben begann und schwanger und mit dem Bild „Ein Lied für die Vermissten“ nach Hause kam. Die Grossmutter, die die Wahrheit in Bilder und Geschichten verpackt, verpackt die Wahrheit auch für ihren Enkel. Die Wahrheit um Amins Eltern, um Amins Grossvater, ihren Mann, so wie sich in dem Land zwischen den Fronten alles hinter dem Schweigen zu verbergen scheint.

„Schon ein Sandkorn genügt, um eine grosse Geschichte daraus zu machen.“

Amin lernt, dass nichts von Dauer ist, weder die Liebe noch die Freundschaft, weder der Moment grösstmöglicher Nähe noch das Gefühl von abgrundtiefer Verlassenheit, weder Sicherheit noch Geborgenheit. Er begibt sich auf die Suche, die Suche nach seiner Wahrheit, seiner Geschichte, den verlorenen Momenten, die das Glück versprachen. Pierre Jawarans Schreiben widerspiegelt genau dieses Suchen. Sei es die Suche nach Gerüchen, Augenblicken, Erinnerungen, sei es jene nach dem, was Herkunft ebenso ausmacht wie Zukunft. Pierre Jarawan beschränkt sich aber nicht nur auf die Suchreise eines jungen Mannes. Sein Roman ist die Geschichte eines Landes, eines Sehnsuchtsorts, eine Kampfschrift gegen das Vergessen, Verschweigen und Verdrängen.

© Pierre Jarawan

Interview mit Pierre Jarawan

Irgendwo im ersten Teil Ihres neuen Romans heisst es „Das alte Schiff Beirut. Das Prinzip, das es über Wasser hält, heisst Verdrängung.“ Gilt dieses Prinzip nicht für jedes Schiff, wenn es nicht in den Stürmen untergehen will? Würde dieses Prinzip nicht für jedes Land, jede Stadt, jeden Menschen gelten, müssten wir nicht längst das Steuer herumreissen, was wir auch nach einer Pandemie nicht tun werden?

Ganz sicher ist Verdrängung immer der erste Schritt, bevor es überhaupt eine Form der Aufarbeitung gibt oder geben kann. Verdrängung ist nicht per se negativ, sie kann auch heilsam sein. Und ganz sicher gilt das für alle Länder und Gesellschaftsformen, in denen es Konflikte gab, die eine bestehende Ordnung aufgelöst haben. Ein Schiff kann sich das Prinzip der Verdrängung nicht aussuchen, es ist ein physikalisches Gesetz, so wie sie in Gesellschaften sicher etwas Normales ist, das erstmal passiert. Allerdings darf man Verdrängung und das aktive Verhindern von Aufarbeitung nicht gleichsetzen. Die Figur, die den Satz äussert, bezieht beide Seiten mit ein. Beirut funktioniert, weil verdrängt wird, im Stadtbild, in der Gesellschaft – aber die Frage der Vermissten bspw. wird nicht nur verdrängt, sie wird in ihrer Aufarbeitung mit politischen Mitteln verhindert. 

Wir sollten hier auch nicht zwei unterschiedliche Ebenen vermengen, indem wir die Auswirkungen einer Pandemie mit denen eines Bürgerkriegs vergleichen, zumal wir im ersten Fall diese Auswirkungen noch nicht kennen.

© Pierre Jarawan

Sie selbst sind ein Hakawati, ein Geschichtenerzähler. Aber sie wollen nicht bloss ver- und bezaubern. Sie transportieren. Was steht auf ihrer Fahne ganz oben auf ihrem Mast?

Auch die echten Hakawati, die traditionellen Geschichtenerzähler, wollten nie nur verzaubern oder unterhalten. Ihre Geschichten beinhalteten immer auch eine Art Moral und Aussage über die Gesellschaft. Es ist in meinem Fall nicht so, dass ich programmatisch schreibe, also mit wehender Fahne an den Schreibtisch trete, um eine bestimmte Botschaft loszuwerden. Wenn jemand meine Romane liest, und sie einfach nur spannend findet, und sich gut unterhalten fühlt, dann ist das für mich vollkommen in Ordnung. Im Fall von „Ein Lied für die Vermissten“ war es mir allerdings tatsächlich ein Anliegen, das Thema durch das Erzählen vor dem Verschwinden zu bewahren, denn genau dieses Verschwindenlassen durch Schweigen passiert – der Roman versucht, dem etwas entgegenzusetzen.

© Pierre Jarawan

„Ein Lied für die Vermissten“ erzählt von Beziehungen, Freundschaften, von der Liebe. Sei es die tiefe und gleichsam verletzliche Beziehung Amins zu seiner Grossmutter, die Freundschaft zu Jafar, oder die Liebe zu Zarah oder Soraya. Die Nähe scheint immer flüchtig, instabil. So wie der Frieden im Nahen Osten. Ist jeder/jede letztlich schmerzvoll auf sich selbst zurückgeworfen?

Das ist schwer zu verallgemeinern. Denn in den Gesellschaften des Nahen Ostens spielt das Individuum gar keine so grosse Rolle. Es geht fast immer um eine Gemeinschaft, sei es die Familie, oder eine Art Glaubensgemeinschaft, und dieses Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-sein ist vielleicht eher ein Abgrenzen, das man gegenüber anderen vollzieht. Aber es stimmt schon, Amin erkennt am Ende des Romans, dass sich sein Leben – wie die Region – in einem immer wiederkehrenden Kreislauf abzuspielen scheint, aus Verlust und Wiederfinden, aus Rätselhaftigkeit und Erkenntnis, und so wieder von vorn …

© Pierre Jarawan

Amins Mutter malte. Ihr Mutter, Amis Grossmutter, bei der er aufwuchs genauso. Sie malen auch, wenn nicht mit Pinsel, dann sicher mit Sprache. Findet da manchmal ein Kampf statt zwischen dem Sprachmaler und dem der Historie verpflichteten Erzähler?

Ich empfinde es nicht so. Die Historie ist die Grundlage, die diese Geschichten ermöglicht. Sie wirbelt die Figuren durcheinander, zwingt sie zu unterschiedlichen Handlungen, aber sie bleibt im Hintergrund. Sie ist immer nur das auslösende Ereignis, das etwas in Gang setzt, mit dem die Figuren sich auseinandersetzen müssen. Insofern betrachte ich Historie eher als etwas sehr Fruchtbares für mein Schreiben. Als eine Art Katalysator oder – um in Ihrem Bild zu bleiben – als Leinwand oder Grundierung, auf das dann die Sprache gemalt werden kann.

© Pierre Jarawan

Bleibt der Arabische Frühling ein Frühling, dessen Blühten verdorren oder erfrieren? Wie sehr blutet das libanesische Herz? Ist das der Grund, warum sich ihr Schrieben in ihren ersten zwei Romanen ganz um die Geschichte des Libanons dreht? 

Das ist leider unmöglich pauschal zu beantworten, weil die Revolutionen in den Arabischen Ländern unterschiedliche Ausgangspunkte, Voraussetzungen und Verläufe hatten. Ich habe mich immer an dem Begriff gestört, schon 2011, weil er einerseits zu romantisch ist, angesichts der zahlreichen Menschen, die beim Kampf um grundlegende Menschenrechte ihre Leben verloren haben, andererseits, weil er eine zeitliche Begrenzung suggeriert, die schon damals irreführend war. 

Ich habe den Arabischen Frühling als Endpunkt für den Roman gewählt, weil ich mit diesem Moment der Hoffnung aufhören wollte, der damals zweifellos bestand, und nur aus heutiger Perspektive sind wir in der Lage, diese Hoffnung als tragisches Missverständnis zu entlarven. Und im Bezug auf den Libanon bedeutet 2011 eine Umkehrung von etwas Grundlegendem. Nachdem jahrzehntelang Libanesen in das sichere Syrien fliehen mussten, kehrt sich das plötzlich um, eine alte Ordnung wird in ihr Gegenteil verkehrt.

Es ist nicht so, dass mein libanesisches Herz blutet, auch wenn ich natürlich eine Enttäuschung angesichts unterschiedlicher Punkte verspüre – die Perspektivlosigkeit für die Jugend, der Unwille, die Vergangenheit aufzuarbeiten, aber ich würde nicht sagen, dass das der Grund ist, weshalb die Historie in beiden Romanen eine grosse Rolle spielt – und ich würde sogar widersprechen darin, dass sie sich „ganz um die Geschichte des Libanons drehen“ – da beide Bücher sich für mich um andere Fragen viel zentraler drehen, nämlich um die Leerstellen, die dort entstehen, wo es eben kein Sprechen über Geschichte gibt. Wie oben gesagt: Für mich ist die Historie eher ein Katalysator, um etwas Kleineres im Grösseren zu erzählen, und das Miterzählen von Geschichte erlaubt es, den Lesern Zusammenhänge vor Augen zu führen, die dieses Kleine erklärbar machen.

© Marvin Ruppert

Pierre Jarawan wurde 1985 als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Amman, Jordanien, geboren, nachdem seine Eltern den Libanon wegen des Bürgerkriegs verlassen hatten. Im Alter von drei Jahren kam er nach Deutschland. 2012 wurde er internationaler deutschsprachiger Meister im Poetry Slam. 2013 nahm er an der Weltmeisterschaft in Paris teil. Sein Romandebüt «Am Ende bleiben die Zedern» erschien 2016. Der Roman wurde als bestes deutschsprachiges Debüt beim Festival du Premier Roman in Chambéry vorgestellt. Pierre Jarawan lebt in München.

Webseite des Autors

Ulrike Ulrich «Das Beste an Corona», Literatur für das, was passiert

Das KünstlerInnenkollektiv Literatur für das, was passiert wurde 2015 von den Schriftstellerinnen Gianna Molinari und Julia Weber gegründet, um Menschen auf der Flucht zu helfen.

Seit 2015 gibt es Anlässe, bei denen SchriftstellerInnen an Schreibmaschinen Texte auf Wunsch verfassen. Das können Gedichte, Geschichten, Pamphlete, Liebesbriefe, das kann alles sein. Auch kommen seit einigen Jahren immer wieder ZeichnerInnen dazu, welche die Texte vor Ort illustrieren. Die entgegengenommenen Spenden gehen an Menschen auf der Flucht. Dabei werden Organisationen unterstützt, welche vor Ort (mehrheitlich in Griechenland, Italien und Syrien) tätig sind, die medizinische Hilfe leisten, Nahrungsmitteln, Kleidung verteilen und die Menschen bei der Weiterreise finanziell und rechtlich unterstützen.

Seit 2019 ist Literatur für das, was passiert auch in Deutschland präsent.

Literatur für das, was passiert schreibt für das, was passiert, gegen das, was passiert, schreibt auch für das, was passieren soll. Es wird für oder gegen das geschrieben, was drängt. Literatur für das, was passiert mischt sich durch das Schreiben in gesellschaftliche und politische Diskurse ein.

Ulrike Ulrich schrieb den folgenden Text ist an einer Schreibmaschine in 30 Minuten:

 

Ulrike Ulrich, geboren 1968 in Düsseldorf, lebt seit 2004 als Schriftstellerin in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman „fern bleiben“, dem 2013 der Roman „Hinter den Augen“ folgte, und 2015 der Erzählband „Draussen um diese Zeit“. Mit Svenja Herrmann hat sie Anthologien zum 60. und 70. Geburtstag der Menschenrechte herausgegeben. Mit Axmed Cabdullahi erschien zuletzt „Ein Alphabet vom Schreiben und Unterwegssein“. Ihre Texte wurden u. a. mit dem Walter Serner-Preis 2010, dem Lilly-Ronchetti-Preis 2011 und Anerkennungspreisen der Stadt Zürich ausgezeichnet. 2016 erhielt Ulrike Ulrich ein Werkjahr der Stadt Zürich und 2018 einen Pro Helvetia-Werkbeitrag für «Während wir feiern».

Webseite der Autorin

Literatur für das, was passiert

Willy Vlautin «Ein feiner Typ», Berlin Verlag

Horace, ein «Halbblut», dessen Mutter nichts von ihm wissen wollte, lebt zusammen mit dem alt gewordenen Schafzüchterpaar Reese in den Bergen von Nevada. Obwohl die Reeses nichts lieber täten, als dem fleissigen jungen Mann ihre Farm zu übergeben, obwohl alles auf dem stillen Fleck nach der starken Hand des Jungen Mannes ruft, zieht es diesen in die Stadt. Er will Champion werden.

Willy Vlautin erzählt ganz im Stile der Grossen. Wie John Steinbeck, der in seinen Romanen immer wieder Geschichten um die kleinen Farmer erzählte. Willy Vlautin tut dies unaufgeregt, ohne Geschwätzigkeit, keine Geschichten, sondern einmal mehr jenen des grossen American Dream. Horace will Boxer werden, glaubt fest an seine Bestimmung, die nur daran scheitern kann, es nicht getan zu haben, den Moment versäumt zu haben, auch wenn er weiss, dass er kein Kind des Glücks war, denn weder Vater noch Mutter haben sich um ihn gekümmert.

Mr. und Mrs. Reese züchten seit Jahrzehnten in der kargen Landschaft Nevadas Schafe. Und weil weder die beiden Töchter noch der Sohn das kleinste Interesse zeigten, dereinst die Farm zu übernehmen, der wie vielen anderen in der Gegend wegen fehlender Nachfolge der unweigerliche Niedergang droht, setzt das alternde Ehepaar ganz auf den Ziehsohn. Horace hat nicht nur gute Hände für die Arbeit und die Tiere, sondern ist auch sonst die Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit in Person. Er lebt in einem Trailer, den er peinlich sauber hält und ist mit Tieren genauso fürsorglich wie mit Menschen, selbst dann, wenn sie nichts von dem Respekt zurückgeben.

Aber Horace hat einen Traum. Er will beweisen, dass mehr in ihm steckt, als ein Schafhirt in den Bergen Nevadas, dass er nicht bloss das Resultat einer Katastrophe ist, dass er mit Einsatz und Entschlossenheit ein Champion werden kann, ein Boxchampion. Er steigt in einen Bus und fährt los, obwohl er weiss, dass die Gesundheit von Mr. und Mrs. Reese nicht zum besten steht. Obwohl er weiss, dass es für die beiden zu spät sein könnte, wenn er erfolgreich zurückkehren wird.

Aber die Reise in die Stadt wird trotz Talent, Gutmütigkeit, Entschlossenheit und ganzem Einsatz zu einem Desaster, an dem Horace zu zerbrechen droht. Die Welt draussen, die Menschen in der Stadt funktionieren nicht so, wie sie es tun sollten, dass Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit nicht auf der Strecke bleibt. Horace scheitert an der Verlogenheit und Verkommenheit derer, die in ihm eine Geldquelle sehen. «Ein feiner Typ» genügt nicht in den Stadt- und Menschenwüsten der amerikanischen Gegenwart. Wer den American Dream realisieren will, muss nach den Spielregeln der Zeit kämpfen. Und diese sind innerhalb des Ringes genau die gleichen wie ausserhalb; nur der Stärkere gewinnt. Horace zerbricht. Er zerbricht an der Welt, aber auch an der eigenen Schwäche, der eigenen Lüge, der Unfähigkeit, das zu tun, wonach der Moment ruft, im Bus der Schwangeren mit ihrem Kind zu helfen, die nicht auftaucht, als der Bus mitten im Nirgendwo nach einem Stop weiterfahren soll, dem Mädchen, das ihn liebt, aber in ihrer Not ihrer Liebe nicht folgen kann.

Und auf der anderen Seite Mr. Reese, für den Horace wie ein Sohn ist, der alle Hoffnungen auf den jungen Mann setzt, der weiss, dass seine Tage als Schafzüchter gezählt sind, der keinen mehr findet, der die harte Arbeit in den Bergen mit ihm teilt. «Ein feiner Typ» ist die Geschichte von Freundschaft, von tiefer Verbundenheit, die sich mit dem Traum der Selbstverwirklichung streitet. Man ahnt vom ersten Kapitel weg, dass ein Drama droht. Man sieht tief in die Seele eines geschundenen Landes, einer Gesellschaft von Verlierern, sei es auf dem Land, aber noch viel mehr in den Städten, hinter glitzernden Fassaden, hohlen Versprechungen und den Verlockungen des grossen Geldes. «Ein feiner Typ» ist meisterhaft erzählt, liest sich mit ungeheurem Zug und lässt einem tief blicken.

© Lee Posey

Willy Vlautin (geboren 1967) ist ein amerikanischer Autor, Musiker und Songschreiber. Von 1994 bis 2016 war er Leadsänger, Gitarrist und Songschreiber der Rockband Richmond Fontaine aus Portland, Oregon. Zurzeit ist er Mitglied der Band The Delines. In Reno, Nevada geboren und aufgewachsen hat er seit Mitte der Neunziger Jahre elf Alben mit Richmond Fontaine und seit 2014 drei Alben mit The Delines aufgenommen. Vlautin hat fünf Romane geschrieben: «Motel Life», «Northline», «Lean on Pete», «Die Freien» und «Ein feiner Typ».

Der Übersetzer Nikolaus Hansen (1951), geboren in Hamburg, war Verleger u. a. von Rohner & Bernhard, Rowohlt, marebuchverlag und Arche/Atrium. Er ist Autor, Mitveranstalter des Harbour Front Literaturfestival in Hamburg und Übersetzer, u. a. von Joseph Conrad, Robert Stone, William Kotzwinkle, Deborah Eisenberg, Wallace Shawn, James Salter, Kamila Shamsie und Edward St Aubyn.

Webseite des Musikers und Schriftstellers

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Florian Wacker «Stromland», Berlin Verlag

Der Zwillingsbruder verschwindet. Die Schwester macht sich mit einem Bündel Briefen und ihrem Freund auf die Suche nach ihm. Eine Suche, bei der die Motive der Reise immer mehr ihre klaren Umrisse verlieren. Eine Reise in ein Land, das ebenso viel Sog entwickelt wie Verständnis verweigert. «Stromland» führt mich als Leser weit weg; eine Reise in die Tiefen des brasilianischen Urwalds und in jene menschlicher Abgründe.

«Stromland» ist eines jener Bücher, die niemals nur in stillen Stuben geschrieben wurden. Man spürt der Sprache, der Geschichte und den Konstruktion des Buches an, wie sehr sich Florian Wacker auf ein Abenteuer einliess. Nicht nur geographisch, denn Florian Wacker beschreibt derart bildhaft und sinnlich, dass einem die feuchte Hitze des Urwalds genauso an die Kehle springt wie die modrigen Dämpfe und die Schreie in pechschwarzen Nächten. Florian Wacker beschreibt einen Kontinent, der während mehrerer Jahrhunderte im Würgegriff von Eroberung, Gier, Anarchie und der Suche nach Glück war und ist. Ob im 18. Jahrhundert noch unter dem Banner der Kirche oder in der Gegenwart auf der Suche nach Gold – das, was ein stubenwarmer Europäer (so wie der Schreibende) unter Recht und Ordnung versteht, hat wenig mit dem zu tun, was im Dschungel von Natur, Kultur, Ethnien und der Suche nach dem «Paradies» aufeinanderprallt.

«Der Gedanke, Thomas zu finden, war wie ein Tischtennisball, der einen winzigen Riss hatte und der so jeden Schlag, jedes Aufsetzen zu etwas Zufälligem machte, trudelnde, kreisende Bewegungen, eine eiernde Flugbahn.»

Thomas fahrt im Filmtross von Werner Herzogs Filmequipe ins Amazonasgebiet. Nachdem der Regisseur Werner Herzog 1972 mit «Aguirre, der Zorn Gottes» schon einmal einen Film mit Klaus Kinski im Dschungel des Amazonas drehte, macht sich die Filmcrew zehn Jahre später noch einmal auf den Weg, um unter widrigsten Umständen, den mittlerweile zur Legende gewordenen Film «Fitzcarraldo» zu drehen. Thomas, schon als Jugendlicher vom Film mehr als fasziniert, macht sich auf eine Reise, viel weiter als bloss in einen Dschungel. So wie im Film «Fitzcarraldo» ein Abenteurer davon träumt, in der peruanischen Dschungelstadt Iquitos ein Opernhaus zu erbauen, so sehr träumt Thomas nicht bloss einen Film mitzureden, sondern von Distanz zu seinem steifen Elternhaus und Nähe zu neuen Lebensformen. in der Ferne zu finden. Er verspricht zwar seine Schwester Irina zurückzukehren, taucht aber in Deutschland nie mehr auf. Nach zwei Jahren Ungewissheit macht sich Irina mit ihrem Freund und dem Bündel Briefe ihres Bruders, Lebenszeichen, die mehr Geheimnisse offenbaren als klare Hinweise über sein Verbleiben, auf die Suche nach ihrem Zwillingsbruder.

«Ich weiss, dass Wahnsinn ein anderes Wort für Erkenntnis ist und dass wir überwältigt werden und us zu Tode fürchten vor dem, was wir sehen, hören und riechen.»

Zwillinge spüren mehr. Irina glaubt nicht an den Tod ihres Bruders. Entgegen alles Vernunft und aller Beschwörungen lässt sie nicht locker. Die Reise in den Urwald wird eine Reise in die Tiefen der menschlichen Abgründe, manchmal knapp am Tod vorbei, über die Grenzen von Ratio, in ein Land, das seit Jahrhunderten Traumland ist, Eldorado von Abenteurern, Schatz- und Glückssuchern.
Aber Florian Wacker rapportiert nicht einfach. Der Schriftsteller webt ein Netz, erzählt Familiengeschichten, Geschichten von Niederlagen und Siegen, vom Gegensatz der Kulturen, dem Aufeinanderprallen von Welten.
Seine Erzählweise ist in höchstem Masse sinnlich und durchwachsen von Bildern, die nur durch erlebte Recherchearbeit erzeugt werden können. Florian Wacker malt mit satten Farben, grosszügig und raumgreifend aufgetragen. Wer die Filme «Aguirre, der Zorn Gottes» und «Fitzcarraldo» von Werner Herzog kennt, erfährt bei der Lektüre, wie sehr jene Filme mit den Bildern aus Wackers Roman «Stromland» verwandt sind.

«Jesuiten, Dominikaner, Hidalgos, Glücksritter, Naturforscher, Geologen – sie alle waren dagewesen, hatten sich mit schwerem Gepäck durch den Wald gekämpft, waren gebissen und gestochen worden, hatten sich die Maria geholt, im Fieber gelegen, hatten fantasiert, nach der Mutter gerufen; sie hatten den Wald verflucht und waren doch seiner Schönheit erlegen, sie starben und wurden liegen gelassen.»

Ein vielschichtiges, spannendes, mitreissendes Buch.

Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie der Erzählband «Albuquerque» (2014), der Jugendroman «Dahlenberger» (2015) und der Roman «Stromland» (2018). Zuletzt wurde er mit dem Limburg-Preis (2015), dem Mannheimer Stadtschreiberstipendium für Kinder- und Jugendliteratur (2017) und dem Harder Literatur-Förderpreis (2018) ausgezeichnet. Er lebt in Frankfurt am Main, wo er als Autor und Webentwickler arbeitet.

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