Hansjörg Schneider „Spatzen am Brunnen“, Diogenes – ein Geburtstagsgeschenk an seine LeserInnen

„Spatzen am Brunnen“ ist nicht das erste Alterswerk des Schriftstellers Hansjörg Schneiders, das zurückschaut, hineinschaut und dabei weit mehr als in der klein gewordenen Welt eines alten Mannes bleibt, stets ehrlich und äusserst sympathisch. Hansjörg Schneider interpretiert nicht. Er ist und bleibt ein feiner Erzähler – und feiert heute seinen 85. Geburtstag!

Seit einem halben Jahrhundert veröffentlicht Hansjörg Schneider Romane, Theaterstücke, Hörspiele. Seit der Verfilmung seiner Hunkeler-Krimis mit dem 2015 verstorbenen, unverwechselbaren Hunkeler-Darsteller Mathias Gnädinger, kennen ihn auch jene LeserInnen, denen das breite Werk des Schriftstellers bisher verschlossen blieb. Für Theaterbegeisterte unvergessen bleibt Hansjörg Schneiders Stück „Sennentuntschi“, das 1981 als Theaterübertragung im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde und zu einem Skandalstück wurde. Ebenso unvergessen bleibt der Film „Der Erfinder“ mit dem Schauspieler Bruno Ganz in der Hauptrolle, ein Spielfilm, der auf dem gleichnamigen Theaterstück Hansjörg Schneiders basiert. In den Jahren nach „Sennentuntschi“ und „Der Erfinder“ galt Hansjörg Schneider nach Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch zu den meistgespielten Dramatikern der Schweiz.

2020 erschien der zehnte und bislang letzte Hunkeler-Krimi unter dem Titel „Hunkeler in der Wildnis“. Nicht dass es danach ruhig um den Schriftsteller geworden wäre, Hansjörg Schneider veröffentlicht munter weiter, aber ganz offensichtlich hat das literarische Bewusstsein eines Landes bloss ein Kurzzeitgedächnis und man vergisst schnell, wer einst im Land die Literaturszene aufmischte und mit seinem breiten Œuvre durchaus das Zeug hätte, dass man wenigstens einen Platz in seinem Geburtsort oder seinem Wohnort nach dem Schriftsteller benennen könnte.

Hansjörg Schneider «Spatzen am Brunnen», Diogenes, 2023, 208 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07241-9

In Coronazeiten begann Hansjörg Schneider ein Tagebuch zu führen. Nicht aus einer Not und schon gar nicht als Auseinandersetzung mit der Pandemie. Vielleicht weil ein Mann von über 80 Jahren unvermittelt spürt, dass jeder Tag zu einem Geschenk wird, der mitansehen und miterleben muss, wie einstige Freundschaften durch Krankheit, Sterben und Tod ein Ende finden. Ganz bestimmt, weil das Schreiben für Hansjörg Schneider längst zu einer Lebensnotwendigkeit geworden ist, weil Schreiben seine Form der Auseinandersetzung mit seiner Welt, seinen Erinnerungen, seinen Träumen und Befürchtungen geworden ist.

„Sprache als ordnende, rettende Kraft.“

Hansjörg Schneiders Tage sind still, verlaufen langsam. Seine täglichen Spaziergänge gehören zu seinem Schreiben. Gehen, Sitzen, Kaffee trinken, Beobachten, und sei es auch nur das gesellige Treiben der Spatzen am Brunnen – das braucht der Autor, um später am Küchentisch seinen Stift in die Hand zu nehmen und wie seit Jahrzehnten stets Heft um Heft damit zu füllen. Schreiben bestimmt seinen Tag. Schreiben ist seine Art des Sehens, des Erinnerns, seine Auseinandersetzung mit einer Welt, die nicht nur ihm immer fremder und unzugänglicher wird. „Spatzen am Brunnen“ ist ein Füllhorn an Kleinstgeschichten, Anekdoten, kleinen Denkmälern für Persönlichkeiten aus Literatur, Film und Theater, Menschen, die aus dem kollektiven Bewusstsein zu verschwinden drohen, eine Welt, die mit dem Autor ins Vergessen rutscht.

„Es gibt für mich nur die erhellende Klarheit der Sprache. Sprache wirft Licht in die Welt, auf das Leben, auf das Sterben.“

Ich liebe Hansjörg Schneiders unaufgeregten Blick auf das, was passiert, selbst auf die Auswirkungen der Pandemie, die ihn in seinem Leben nur rudimentär betreffen. Um den Autor ist es ruhig geworden, auch wenn sich die Gedanken im Autor sebst manchmal zu Stürmen auftürmen, nicht zuletzt dann, wenn er sich unverstanden fühlt, sei es als Autor, als Zeitgenosse oder als Rädchen im (Kultur-) Getriebe. Trotz allem spricht keine Bitterkeit, kein Weltschmerz. Hansjörg Schneiders Fenster zur Welt wird wohl kleiner, die Tiefenschärfe aber nimmt zu. Und mich selbst ermuntert sein Buch, sein Tagebuch, meinen eigenen Blick zu weiten, weg von meinem Nabel, meinen Befindlichkeiten, dem Unveränderbaren.

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken, darunter «Sennentuntschi» und «Der liebe Augustin», war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine «Hunkeler»-Krimis führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.

Beitragsbild © Philipp Keel Diogenes

Nadja Niemeyer «Gegenangriff. Ein Pamphlet», Diogenes

Alles ist eine Frage der Zeit. Wohl auch das Ende der Menschheit. Dieses schmale, unscheinbare Buch, dass daherhommt, wie eines der unzähligen Katzenbücher, die sich auf Büchertischen ausbreiten, seziert mit messerscharfer Klinge und Spitze am noch lebenden Objekt. „Gegenangriff“ ist das Protokoll eines Untergangs.

Nadja Niemeyer ist ein Pseudonym. Angesichts dessen, womit mich die Schreibende konfrontiert, verstehe ist diesen Schritt. Sie wolle nicht an Debatten teilnehmen, habe dem Buch nichts hinzuzufügen. Ich hätte ihr gerne ein paar Fragen gestellt, vielleicht auch nur, um nach der Lektüre ihres Buches meine Fantasie zu beruhigen. Ihr Pamphlet hat nichts Beschwörendes, ist weder Drohung noch Warnung, vielleicht nicht einmal als Gedankenspiel zu verstehen. Nadja Niemeyer beschreibt mit aller verfügbarer Sachlichkeit nicht weniger als das baldige Ende der Spezies Mensch, das schnelle Ende eines Schädlings, der sich über die Jahrtausende wie ein Geschwür über diesen einen Globus ausbreitete.

Ameisen leben in riesigen Gemeinschaften. Wälder sind nicht bloss Ansammlungen von Bäumen und Gesträuch, sondern Pflanzengemeinschaften, die miteinander verbunden sind. Pilze ebenfalls. Wie irrig zu glauben, diese Art von kollektiver Intelligenz wäre der unsrigen weit unterlegen, zumal man beim Menschen in keiner Weise von einer kollektiven Intelligenz sprechen kann. Was den Menschen ausmacht, seine Individualität, hat durchaus das Zeug, das Gift für seinen Untergang zu werden. Die Geschichte und die Gegenwart macht überdeutlich, wie sehr die Menschen in den Würgegriff eines einzelnen Individuums geraten können, wie leicht die Intelligenz seiner Untergebenen in soldatischen Gehorsam ausgelöscht werden kann. Indizien gibt es genug, dass das Horrorszenario, das Nadja Niemeyer beschreibt, einen bedrückenden Anteil Wirklichkeit in sich trägt.

Nadja Niemeyer «Gegenangriff. Ein Pamphlet», Diogenes, 2022, 176 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-257-07183-2

Bis vor zweihundert Jahren waren es die Menschen, die sich in Städten einschlossen, um sich vor der Natur zu schützen. Besiedlung war ein Kampf gegen die Tücken der Natur. In der Gegenwart ist es die Natur, die man vor den Menschen und ihrer aggressiven Ausbreitung schützen muss, mit Stacheldraht und Mauern. Warum sollte sich der Rest, der geblieben ist, die kollektive Intelligenz, über die das Tier- und Pflanzenreich verfügt, nicht mit einem Mal kurzschliessen, um sich in einem finalen Kraftakt gegen jene Spezies zu stemmen, die alles unternimmt, um diesen Planeten für restlos alle und alles unbewohnbar zu machen?

Zuerst sind es die Ratten in den grossen Städten, zum Beispiel in New York. Es gibt Millionen von ihnen, kampferprobt. Sie zerbeissen Stromleitungen. Das genügt nicht nur, um das Leben in der riesigen Stadt zum Erlahmen zu bringen; die U-Bahn bleibt stehen, Menschen verhungern in Aufzügen, selbst Notstromaggregate können nicht verhindern, dass Menschen in Spitälern reihenweise sterben, auch das Internet regt sich nicht mehr. Alle Informationsströme sind gekappt, Panik bricht aus.

Ich glaube ebenso an eine kollektive Intelligenz der Natur wie an die grenzenlose Naivität und Dummheit der Menschheit. Solange wir mit einem SUV zum Einkaufen fahren, zum Shopping nach New York fliegen, Kleidungsstücke wie Souvenirs kaufen und unser Geld in Bitcoins investieren, statt in direkte Projekte, die sich um den Fortbestand eines friedlichen Miteinanders von Menschheit und Natur bemühen, solange der Mensch dem Untertan Natur noch mit dem immer gleichen Prinzip der Unterwerfung und Ausbeutung an den Kragen geht, sind Szenarien, wie denen von Nadja Niemeyer nur wenig entgegenzuhalten. Und wenn sich die Autorin durch ein Pseudonym vor all den Entschuldigungen, Beteuerungen und Verniedlichungen schützen will, verstehe ich das sehr wohl. Nichts desto Trotz ist „Gegenangriff“ absolut lesenswert, auch wenn das Buch mit den zwei niedlichen Kätzchen auf dem Cover das Zeug hat, sich in Alpträume zu mischen!

Die Autorin schreibt absolut sachlich, ohne jeden Pathos, schildert das Fallen der Dominosteine. Irgendwann wird es wieder ruhig auf dem Planeten, denn die eigentliche Ausrottung der Menschheit übernimmt der Mensch selbst – Männer.

Nadja Niemeyer heisst in Wirklichkeit anders. 

Beitragsbild © Sandra Kottonau

«so viel gefüll» Simone Lappert und Andreas Bissig, eine Performance

Es sollte ein Abenteuer sein, ein Experiment. Ein solches könnte scheitern, das Abenteuer in einem Fiasko enden. Aber da ich sowohl die Lyrikerin Simone Lappert wie den Musiker und Komponisten Andreas Bissig kannte, beide schon erlebt hatte, wusste ich, es würde klappen.

Ich hörte Simone Lappert mit ihrem ersten Gedichtband am Internationalen Lyrikfestival 2022 in Basel. Ich hatte mir ihren Gedichtband «längst fällige verwilderung» schon länger besorgt, wollte mit der Lektüre aber so lange warten, bis ich den Sound ihrer Stimme in meinem Kopf haben würde. Ich wusste, Gedichte und Stimme würden sich unauslöschlich miteinander verzahnen. Was dann auch wirklich geschah, was noch immer geschieht, wenn ich ihren Gedichtband zu Hand nehme und darin lese. Jetzt noch viel mehr, nach mehrmaliger Lektüre, nach einer Performance mit der Bassisten Martina Berther an den Solothurner Literaturtagen 2022 und nun nach der einen im Literaturhaus Thurgau mit dem Saxophonisten Andreas Bissig.

Eindrücke aus dem Prozess:

Simone Lappert beweist, dass Lyrik weit weg sein kann von vergeistigter, intellektuell verstiegener Wortkunst, die sich mehr verschliesst als offenbart. Simone Lappert Gedichte sind Sinn-Bilder, sinnlich im wahrsten Sinne des Wortes, atmosphärisch dicht, mit Worten und Sätzen gezeichnet, die sich wie Fahrten durch innere und äussere Landschaften anfühlen, manchmal gar in Breibandmanier, durch die Waagrechten der Zeit und die Senkrechten des Seins. Bilder voller Leidenschaft, Liebeserklärungen an Sprache, Klang, das Bild, den Moment und das Gefühl.

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

 

lieblingsmensch

ich stürze mich in deinen brombeerblick,
will wurzeln schlagen hinter deinen ohren,
wo du nach katze riechst und sommerfell,
ich will moosraufen und mohnwälzen mit dir
und ohne adresse hausen am hang.
ich will all deine schatten streicheln,
in deinen dunklen ecken singen,
ich will dir sämtliche monde kaufen,
eine veranda und einen schaukelstuhl,
ich will dich einatmen und aussprechen,
mich rau reden an dir.

Die beiden KünstlerInnen Simone Lappert und der Saxophonist Andreas Bissig kannten sich bis zur Begrüssung am Morgen dieses gemeinsamen Tages nicht. Es gab wohl die eine oder andere Absprache. Aber als ich die beiden nach einem Begrüssungskaffee am Seerhein in ihre Arbeit entliess, war es ein Abenteuer, ein Weg ins Unbekannte. 

Andreas Bissig verstand es vorzüglich, den Text mit seiner Musik zu unterstreichen. Sie beide, Simone Lappert und Andreas Bissig, sind keine KünstlerInnen der lauten Töne, sehr wohl aber der feinen Zwischentöne, der Untermalungen, der filigranen Klang- und Wortkasskaden.

«Auszug aus meiner Improvisations-Partitur für den gemeinsamen Auftritt mit Simone Lappert vom 8. Juli 2022: Zeit, dunkel, knacken -> Auto-Groove -> leise, zerzaust, warm -> (stop) -> Moon-Raggae -> Glühmotten -> […] -> Rückblende, optimistisch -> (stille) -> AUSRASTEN […] Herzlichen Dank an alle für die inspirierenden Begegnungen.» Andreas Bissig

 

2013

es ist nur noch ein leises da:
hinter dem zaun das haus und die geschrumpften zimmer,
die hierarchie der birken leicht verschoben,
zwischen den zweigen lücken, die es damals schon gab.
die gerüche im hausflur zerzaust erhalten,
und was kümmert den Hasel sein wachsender schatten,
was die hagebutte der fortgang der zeit,
zwischen den halmen, im flickwerk der felder,
fläzen kinderjahre auf der abgespielten haut.

 

Simone Lappert «längst fällige verwilderung», Diogenes, 2022, 80 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-257-07189-4

«In Simone Lapperts Lyrik vermoosen Gedanken und leuchtet der Mond siliziumhell. Die Liebe schmeckt nach Quitte, die Katastrophe nach Erdbeeren, und die Dichterin fragt sich, fragt uns: sag, wie kommt man noch gleich ohne zukunft durch den winter? Gedichte über Aufbrüche, Sehnsüchte, Selbstbestimmung und die fragile Gegenwart. Alle Sinne verdichten sich, aller Sinn materialisiert sich in diesen Texten voller Schönheit, Klugheit und Witz.»

literaturblatt.ch und das Literaturhaus Thurgau danken der Autorin und dem Diogenes Verlag herzlich für die Erlaubnis, zwei Gedichte aus dem Band «längst fällige verwilderung» veröffentlichen zu dürfen.

Beitragsbilder © Sandra Kottonau, Gallus Frei / Literaturhaus Thurgau

„längst fällige verwilderung“ Die Dichterin Simone Lappert und der Musiker Andreas Bissig in einem Experiment

Freitag, 8. Juli, 19.30 Uhr – die Performance im Literaturhaus Thurgau

„Simone Lapperts erster Lyrikband legt einen brodelnden Untergrund frei.“

Simone Lappert (1985) war mit ihrem letzten Roman „Der Sprung“ 2019 auf der Shortlist zum Schweizer Buchpreis. Schon bei den Lesungen zu diesem Roman machte sie auf den Literaturbühnen im In- und Ausland klar, dass es ihr bei der Präsentation ihrer Spracharbeit nicht um blosse Wiedergabe geht. Simone Lappert macht ihre Sprache zu Ausdruck, zu Gestik, zu Lautmusik. Da bringt eine junge Frau Atmosphäre zum Wabern!Schon alleine deshalb konnte man nur gespannt sein auf ihren aktuellen Lyrikband „längst fällige verwilderung“. Und was Simone Lappert schreibt, euphorisiert!

Zusammen mit Andreas Bissig (1985), der sich als Musiker, Komponist, Sound- und Gamedesigner profiliert und seit 2017 an der Hochschule Luzern unterrichtet, experimentieren die zwei einen ganzen Tag im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Sie steigen, ohne je miteinander gearbeitet zu haben, in dieses Unternehmen ein und präsentieren abends die Performance! Ein Abenteuer!

«Eine transdisziplinäre Kooperation ist für mich immer auch eine Begegnung, ein künstlerisches Experiment, ein Dialog zwischen verschiedenen Ausdrucksformen. Im besten Fall neugierig und ergebnisoffen.» Simone Lappert

Simone Lappert, Schriftstellerin und Dichterin ist auch Mitorganisatorin der Basler Lyriktage, an denen jedes Jahr der Basler Lyrikpreis vergeben wird. Simone Lappert weiss aus vielfacher Erfahrung sehr genau, was mit solchen experimentellen Gefässen zu erreichen ist. Allen Gästen an diesem Freitag wird ein einmaliges, nicht zu wiederholendes Kunststück der Extraklasse geboten!

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes

Tell revisited

In seinem neuen Roman Tell kreiert Joachim B. Schmidt eine alternative Erzählung des Tellmythos, die mit dem Altbekannten nur wenig zu tun hat. 

Gastbeitrag von Sophie Waldner
Sophie Waldner studiert an der Universität Basel Deutsche Philologie und Mathematik. Literatur und was man mit ihr machen kann, fasziniert sie schon immer. Dieses Seminar war ihre erste Berührung mit Literaturkritik, aber bestimmt nicht ihre letzte.

Düster, eigensinnig, einzelgängerisch, so wirkt Joachim B. Schmidts Wilhelm Tell. Tatsächlich hat seine Version kaum Gemeinsamkeiten mit Friedrich Schillers Werk. Während bei Schiller die Befreiung der Schweiz eine essenzielle Rolle spielt, konzentriert sich Schmidt in seiner Erzählung vielmehr auf die Schicksale der einzelnen Charaktere.

Schiller und Schmidt stimmen bei den Hauptfiguren und der Erzählung des traditionellen Mythos überein. So finden sich bei Schmidt natürlich auch Hedwig, Tells Frau, Walter, ihr Sohn, und Gessler, der Landvogt, wieder. Auch muss Tell einen Apfel von Walters Kopf schiessen, weil er sich nicht vor Gesslers Hut verbeugt und wird anschliessend verhaftet. Er kann sich mitten im Sturm vom Boot retten und rächt sich schliesslich an den Habsburgern.

Doch die Dynamik ist eine neue. Ganz anders als Schillers Helden, meiden die Leute Schmidts Tell. Selbst die Tiere weichen ihm aus, machen einen Bogen um ihn, beobachtet der kleine Walter. Die Menschen fürchten ihn: Es jagt mir jedes Mal einen Schauder über den Rücken, wenn ich diesen Burschen zu Gesicht bekomme.

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes, 2022, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07200-6

Episodenweise beschreibt Schmidt die Gedanken und Motivationen aus der Perspektive verschiedener Figuren. Nach und nach setzt sich ein Bild von Wilhelm Tell zusammen, das wahrlich tragisch ist. Von insgesamt 87 solcher Unterkapitel sind nur drei aus Tells Sicht verfasst, alle seine Gedanken richtet er an Peter, seinen Bruder. Dieser ist auf einer gemeinsamen Wanderung in den Bergen verunglückt. Danach hat Willhelm die Aufgaben seines Bruders übernommen, ist in dessen viel zu grosse Fussstapfen getreten. Dabei geht es in erster Linie um die Arbeit auf dem Tellhof. Zudem kümmert er sich um die bereits schwangere Hedwig und heiratet sie noch vor der Entbindung.

Auch Gessler gleicht kaum dem herrischen, boshaften Landvogt aus Schillers Drama. Die Brutalität meiner Männer stösst mich ab. Er sehnt sich viel mehr nach seiner Frau und seiner Tochter, welche erst nach seiner Abreise auf die Welt gekommen ist.

Der legendäre Apfelschuss ist einzig darin zu begründen, dass Gessler unglücklicherweise gerade anwesend ist, als Tell vor dem Hut stehen bleibt, ohne sich zu verbeugen – also muss Gessler sein Gesicht vor den Soldaten wahren. Nur weil zwei Männer zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sind, nimmt die Geschichte ein tragisches Ende.

Die Sprache ist einfach und unverblümt. So denkt einer der Soldaten bei sich: Er glaubt wohl, der Allvater dieser dreckigen Meute zu sein. So ein Mondkalb!. Schmidt tabuisiert auch nichts. Vergewaltigung und Kindsmissbrauch sowie deren Folgen sind genauso Thema wie der brutale Kampf zwischen Tell und einem von Gesslers Männern.

Die unterschiedlichen Perspektiven erinnern durchaus an Szenenwechsel in einem Blockbuster, mit dem Tell auf dem Einband verglichen wird. Ob dies jedoch tatsächlich ein Gewinn ist, ist fragwürdig.

Zwar lassen die Episodenhaftigkeit und deren Kürze nicht zu, dass während der Lektüre Langeweile aufkommt. Doch die Häufigkeit der Wechsel und die Anzahl der Protagonisten nehmen dem Buch wieder einiges an Schwung. 20 Figuren erzählen aus ihrer Sicht, wobei die Hälfte völlig ausgereicht hätte. Sie alle brauchen eine Hintergrundgeschichte, um ihren Auftritt zu rechtfertigen. Dass die Perspektive alle zwei bis drei Seiten wechselt, macht es des Weiteren etwas schwierig, im Blick zu behalten, welche Sicht gerade eingenommen wird.

Dennoch ist Schmidts Grundidee, Tell als einen von Schicksalsschlägen geprägten Charakter darzustellen, erfrischend. Sie passt hervorragend zum Puls der Zeit: Männer, insbesondere Helden, auch einmal von einer verletzlichen Seite zu zeigen. Tell ist eine geeignete Lektüre für alle, die offen für einen Bruch mit der traditionellen Tellerzählung sind und am Abend mal ein paar Stunden freihaben. Denn das Buch aus der Hand zu legen ist schier unmöglich.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane «Tell» und «Kalmann» waren Bestseller; mit «Kalmann» erreichte er den 3. Platz beim Schweizer Krimipreis und erhielt den Crime Cologne Award. «Tell» war auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Eva Schram

«Schweigen ist keine Option» Sasha Filipenko mit «Die Jagd» im Literaturhaus Thurgau

Der Veranstaltungssaal unter dem Dache des Literaturhauses war bis auf den letzten Platz besetzt. Gewiss, das Thema, die Kulisse, die Geschichte seines neuen Romans «Die Jagd» ist intensiv mit den Geschehnissen des Krieges in der Ukraine verwoben. Aber der Roman macht auch schmerzhaft deutlich, wie sehr Gegenwehr im Abgrund enden kann.

Als ich in der Vorschau des Diogenes-Verlags Ende 2019 den Namen Sasha Filipenko las und die Vorankündigung seines ersten auf deutsch erscheinenden Romans „Rote Kreuze“, war meine Neugier gross: Ein Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber und Fernsehmoderator schreibt einen Roman, der die russische Geschichte eines ganzen Jahrhunderts zum Thema macht. 2020 musste Sasha Filipenko seinen damaligen Wohnort St. Petersburg mit seiner Familie verlassen, Russland verlassen.

Mit seinem zweiten Roman „Der ehemalige Sohn“ traf ich den Schriftsteller mit seiner Familie im Sommer 2021 in den Walliser Bergen am Literaturfestival Leukerbad, als er im idyllischen Garten eines Hotels aus der Geschichte eines jungen Mannes las, der nach 10 Jahren Koma in einer Stadt, einem Land, in Minsk, in Weissrussland aufwacht, das nach immer weiteren Verhärtungen einer undemokratischen Ein-Mann-Regierung immer mehr in die Isolation rutscht. So gar keine Idylle in der Sonne der Walliser Berge.

Dass Sascha Filipenko zusammen mit Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen und Anya Schutzbach Kuratorin des Literaturhauses Wyborada St. Gallen, Gäste auf der Bühne in Gottlieben waren, freut mich ganz besonders. Und dass diese Veranstaltung auf so viel Interesse stiess und das zahlreiche Publikum trotz des literarischen Überangebots an diesem Wochenende im Kanton Thurgaus den Weg ins Literaturhaus fand, freut den Veranstalter gleichermassen wie den Autor, der nicht müde wird im Kampf darum, dass seine Bücher nicht einfach als spannende Geschichten gelesen werden.

So erzählte Sasha Filipenko nicht nur aus seinem Buch, sondern aus seinem wirklichen Leben, das sich in vielem kaum von dem unterscheidet, was das Buch in erschreckender Manier erzählt. Zum Beispiel von seiner Frau, deren Mutter in Russland nicht glauben wollte, das ein Plakat mit der Aufschrift «No war» in einer russischen Stadt zu einer Verhaftung reicht. Also reiste Sasha Filipenkos Frau Masha nach St. Petersburg und stand mit einem Plakat mit der Aufschrift «Meine Mutter hat behauptet, dass man mit einem Plakat mit der Aufschrift NEIN ZUM KRIEG nicht verhaftet wird» – um postwendend von Polizisten abgeführt zu werden.

Ganz besonders bedanken möchte ich mich für die unkomplizierte Kooperation zwischen den Literaturhäusern Wyborada St. Gallen und Thurgau. Anya Schutzbach stürzte sich mit Begeisterung in die Organisation und las an diesem Abend die deutschen Passagen aus dem Roman „Die Jagd“. Grosser Dank gebührt Ulrich Schmid, der sich mit Sicherheit und grosser Kompetenz in die Doppelaufgabe eines Moderators und Übersetzers gab.

Rezension «Die Jagd» und «Rote Kreuze«

Sasha Filipenko «Die Jagd», Diogenes

Lesung am 19. Mai
im Literaturhaus Thurgau

Russland ist nur ein Beispiel dafür, wozu ein von Propaganda durchsetztes Land fähig ist, was Mächtige alles tun und lassen können, ohne jemals dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sasha Filipenkos Roman „Die Jagd“ liest sich wie eine düstere Dystopie, an der man aber aushalten muss, dass sie längst bittere Realität ist. Warlords führen Kriege, ohne sich an Grenzen zu halten, seien es Landesgrenzen oder irgend welche altbackene Grenzen der Menschlichkeit.

Ein Journalist krallt sich an einer Geschichte fest, die offenbaren soll, wie einer der Allmächtigen im Land die Öffentlichkeit als Patriot an der Nase herumführt, wie er sich nach Lust und Laune durch krumme Geschäfte bereichert und nichts und niemand, schon gar nicht Väterchen Staat, ihn davon abzuhalten versucht. Eigentlich doch die hehre Aufgabe eines jeden Journalisten, der sich der Wahrheit, an seinen Kodex hält. Anton Quint versucht es wenigstens. Versucht es nicht nur als Journalist, auch als Schriftsteller.
Auch weil er Vater geworden ist und nicht zuletzt seiner kleinen Tochter gegenüber die Verpflichtung spürt, den Rausch, für etwas und jemanden da zu sein.

Oligarchen wie Wolodjan Slawin interessieren sich weder für die Wahrheit, noch für das Wohl eines Volkes, auch Menschlichkeit ist höchstens aufgesetztes Instrument. Die Welt ist eine Schlangengrube, in der man sich behaupten muss. Eine Arena, in der der Stärkere gewinnt. Und wenn die Kräfte nicht zu seinen Gunsten verteilt sind, dann soll der Bär an Beinen und Armen gefesselt werden, damit sich die Hunde in ihn verbeissen können. So setzt Slawin ein ganzes Team auf den Journalisten Anton Quint an. Eine unbarmherzige Jagd beginnt mit dem einzigen Ziel, den unbequemen und aufsässigen Journalisten dazu zu bringen, das Land zu verlassen und sich damit vor seinem eigenen Publikum zu diskreditieren.

Sasha Filipenko «Die Jagd», Diogenes, aus dem Russischen von Ruth Altenhofer, 2022, 288 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07158-0

Der Oligarch hetzt Lew und seinen alten Freund Kalo auf den Journalisten. Lew hat Schulden, Kalo hat sich längst den schmutzigen Geschäften seines Chefs verschrieben. Lew kam aus ärmlichen Verhältnissen und wurde Reporter einer bedeutenden Redaktion, bis man ihn sogar zum Chefredaktor erklärte. Ein Amt, Geld, Einfluss, das alles stieg Lew in den Kopf, erst recht, als er die Tochter des Besitzers eben jener Zeitung ehelicht und in seinem Rausch den Boden unter den Füssen gänzlich verliert. Gescheiterte Existenzen, die zurück an die Oberfläche wollen, die genau wissen, dass sie ohne undurchsichtige Hilfe nie mehr zurück an die Sonne kommen, muss alles recht sein, auch wenn zuweilen der Zweifel nagt, ob man mit seinem Tun den Bogen nicht überspannt.

Anton Quint leidet. Ich lese, wie man sich in seine Nachbarwohnung einmietet und ihm und seiner  Familie mit permanentem Lärm den Schlaf raubt, wie man ihn bedrängt und diffamiert, Falschmeldungen in Umlauf bringt, wie man ihn in TV-Talkshows zum Pädophilen erklärt, wie man in seine Wohnung eindringt und nicht nur seinen Computer knackt, wie man einen Mann mit seiner ganzen Familie zu brechen weiss. Ich lese je länger je mehr erschüttert und angeekelt. Nicht so sehr darüber, wie offen Sasha Filipenko das Grauen schildert, sondern wie leicht man den Inhalt als Pageturner aburteilen, wie leicht man Sasha Filipenko vorwerfen kann, sich bekannter Stereotypen zu bedienen, um den Horror der Gegenwart zwischen zwei sich gut verkaufende Buchdeckel zu bringen.

Klar liest man den Roman mit dem Wissen um russische Regimekritiker wie Alexej Nawalnyi oder Juri Dmitrijewdem. Klar passt der Roman vor die Kulisse eines Krieges, der allem, was russisch ist, den Krieg erklärt. Klar suggeriert der Roman Lesenden, sie hätten nach der Lektüre eine Ahnung von dem, was fern von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Russland oder vergleichbaren Staaten abgeht. Aber ich glaube nicht, dass es Sasha Filipenkos› Absicht war, Klischees zu zementieren. „Die Jagd“ ist schonungslos und unversöhnlich, clever und klug komponiert, frei von jeder Illusion, auch von der, dass Geschichten doch irgendwie gut ausgehen müssen.

Man kann „Die Jagd“ wie einen düsteren Thriller lesen, dann verursacht er ein Schaudern. Aber Sasha Filipenkos Roman ist viel mehr. Ein Buch, das den letzten Schleier niederreisst, das mir in die Magengrube schlägt. Sasha Filipenko kann nicht zurück in sein Heimatland, das im Würgegriff seines grossen Bruderstaates ist. Kann nicht zurück, weil er mit Gewalt rechnen muss gegen sich und seine Familie. Ist es da verwunderlich, dass man zur einzigen Waffe greift, die einem zur Verfügung steht? Der Literatur?

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fussballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er hat Russland verlassen und hält sich derzeit an wechselnden Wohnorten in Westeuropa auf.

Ruth Altenhofer, geboren 1979, studierte Slawistik in Wien sowie in Rostow am Don und Odessa. wurde 2012 und 2015 für Übersetzungen von Marina Zwetajewa/Boris Pasternak und von Wjatscheslaw Pjezuch mit dem Übersetzerpreis der Stadt Wien ausgezeichnet.

Rezension von «Rote Kreuze» auf literturblatt.ch

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes

Sie kennen die Geschichte. Ein Mann, ein Pfeil, ein Apfel. Seit ich denken kann, prangt auf der grössten Schweizer Münze das Konterfei jenes Helden, den man zum kollektiven Bewusstsein eines ganzen Staates, von Generationen wackerer Eidgenossen machte. Joachim B. Schmidt hat sie neu erzählt. Wirklich neu. Und wie!

Noch bis vor ein paar Jahren wurden Kinder in Schweizer Schulen mit heroischen Gefühlen regelrecht geimpft, dem Glauben, von jenen wackeren Recken abzustammen, die sich mit stolzer Brust gegen den übermächtigen und erdrückenden Feind zu wehren wussten. Erst in den letzten Jahrzehnten bröckelte dieser Mythos und selbst in den Lehrmitteln von Schulen werden jene Geschehnisse vor mehr als 700 Jahren an den Ufern des Vierwaldstättersees relativiert, nur noch als Gründungssagen erzählt. Und doch, ein Rest bleibt. Mit den wackeren Treichlern, den stämmigen Verweigern gegen eine Obrigkeit, den tapferen Ureidgenossen, die sich durch nichts und niemanden ihre Freiheit nehmen lassen. Man fotografiert sich wieder stolzer unter dem strammen Mann mit seinem tapferen Sohn auf dem Denkmal auf dem Markplatz des Urner Hauptortes.

Der Mythos Tell ist eine Schlagader des helvetischen Selbstbewusstseins, und nicht zuletzt einer ganzen Tourismusmaschinerie. Nicht auszudenken, wenn Schiller damals diesen Stoff nicht zu einem Theater gemacht hätte und die Geschichten nur ein paar Seiten im Weissen Buch von Sarnen geblieben wären. Als ich in der Ausbildung war, spielten wir Schillers Wilhelm Tell, der vor 200 Jahren in Weimar zum ersten Mal aufgeführt wurde und seither zum genetischen Code einer ganzen Nation gehört. Damals spielte ich Walter Fürst, einen der drei Eidgenossen, die an den Ufern des Vierwaldstättersees den Eid gegen die verhasste Obrigkeit über den See riefen: „Auf Tod und Leben!“

Zu ihnen drang auch die Geschichte dieses einen Helden, den man zwang, mit einer Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schiessen, den man dann trotzdem fesselte, der den Soldaten auf dem Schiff entkam und mit einem Bolzen den verhassten Vogt Gessler erschoss. Schiller machte die Geschichte zu einem Heldendrama, bot mit seinem Theater eine Breitseite, um den heroischen Akt wirkungsvoll zu inszenieren.

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes, 2022, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07200-6

Erstaunlich genug, dass sich ein Ausgewanderter traut, den Stoff neu zu erzählen. Eine Geschichte, an der man sich eigentlich nur die Finger verbrennen kann. Ein Bündner in Island inszeniert die Geschichte ganz neu, nimmt ihr (fast) allen Pathos, lässt sie mit Blut und Schweiss auferstehen, entschlackt bis auf die Geschichte einer Familie, die sich an den bewaldeten und felsigen Flanken jenes Sees gegen die Willkür einer übermächtigen Besatzungsmacht und das ewige Verlieren zu wehren versucht. Ich bewundere den Mut des Schriftstellers, der sich auch einen unverfänglicheren Stoff hätte aussuchen können, zumal es aus einem Land schreibt, das an Mythen reich ist. 

In Joachim B. Schmidts „Tell“ kämpft ein Jäger und Bauer gegen ein mehrfaches Trauma, jenes als Knabe in den pfarrherrlichen Gemächern, als junger Mann mit dem mitverschuldeten Verlust seines Bruders und als erwachsener Mann mit dem Bewusstsein, nicht der zu sein, der er sein sollte. Tell ist ein Gepeitschter, ein Getriebener, einer, der eigentlich nur seine Ruhe haben will, den das Schicksal aber immer wieder zu Entscheidungen zwingt, denen er sich nie freiwillig stellen würde. Sein Leben ist ein Kampf, ein Kampf, den er irgendwann bezahlen muss.

Ich habe das Buch atemlos gelesen. Obwohl ich die Geschichte kenne. Somit kann es nicht an der Handlung liegen. Joachim B. Schmidt switcht in seinem Roman von Person zu Person, erzählt von Walter, Tells Sohn, seiner Frau Hedwig, die einst mit seinem Bruder verheiratet war, von Tells Mutter, Hedwigs Mutter, von Gessler, dem Vogt und Harras, seinem wilden Vasallen und vieler anderer, die in dem Drama rund um die aufkeimenden Uruhen, die an den Gestaden jenes Sees ihren Anfang nehmen. Tell kämpft am meisten gegen sich selbst. Gessler gegen die Rolle, die man ihm aufzwingt und Harras gegen die Ahnung, nie das zu werden, was er sich als Mann zuschreibt. Schmidts „Tell“ ist aber in seiner Spiegelung auch die Geschichte der Frauen dieser drei Gestalten; Tell mit seiner Frau Hedwig und seiner Mutter, die die Familie gleich mehrfach vor ihrer Vernichtung retten, Theresa, Gesslers Frau, die in der Ferne auf ihren Gemahl hofft und ahnt, dass sie ihn nie ihrer Tochter zeigen kann und all jene Frauen, die sich Harras nimmt, die blutend liegen bleiben, während er sein Gemächt einpackt.

Schmidts „Tell“ trieft, ist bestes Kino, haut einem um, zieht einem ganz nah an ein Geschehen, dass einem schaudern lässt. „Tell“ ist die Geschichte eines vielfach Sterbenden. Vielleicht auch die Sterbegeschichte des Mythos „Mann“, einer Sterbegeschichte, die noch lange nicht zu Ende geschrieben ist.

Tell ist toll – mehrfach!

Interview

Was um Himmels Willen hat dich geritten, als du dich an den Stoff machtest? Braucht es die Distanz „von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“? Warum ausgerechnet die helvetischste Sage?

Die Idee, die Wilhelm-Tell-Geschichte neu zu schreiben, trage ich schon lange mit mir rum. Die Person fasziniert mich, die Geschichte selbst ist grandios. Die Gewissheit, dass ausgerechnet ich sie schreiben muss, ein Auslandschweizer, erlangte ich in Island. Ja, in gewissem Sinne bin ich ausgezogen, um Tell neu zu entdecken und nach Hause zu bringen. Hier, in meiner Wahlheimat gibt es die Isländersagas, uralte Manuskripte über die Zeit der Entstehung des isländischen Volkes, die aber erst 200-300 Jahre später niedergeschrieben worden sind – also eine ähnliche Situation. Bloss: Hier in Island ist man stolz auf die Sagas und deren Helden, man glaubt, dass es sie wirklich gegeben hat, man zelebriert sie. Aber den Ausschlag gegeben hat der isländische Schriftsteller Einar Kárason, der vor wenigen Jahren die etwas komplizierte Sturlunga-Saga neu geschrieben hat, die Wirren des isländischen Bürgerkrieges aus der Perspektive der verschiedenen Mitbestreiter schreibt, womit man sich wunderbar in diese Welt und Situation hineinversetzen kann. Ich habe Einar Kárason getroffen, mich mit ihm über Tell unterhalten, und damit endlich die Form gefunden, in der ich «Tell» erzählen wollte.

In dem Stoff lauern Fallgruben noch und noch. Man könnte sich elend verheddern, nicht nur im Dreieck zwischen Mythos, Geschichtsschreibung und nachgefühlter Realität, sondern auch den Interessen all jener, denen Tell noch immer Leitfigur ist, in Zeiten von Treichlern erst recht.

Bei mir stehen die Geschichte und die Protagonisten im Vordergrund. Die Handlung und das Handeln muss glaubhaft wirken. Unbedingt. Ich habe keine politische Agenda. «Tell» ist keinerlei Propaganda. Wann immer ich am Abgrund dieser Fallgruben gestanden bin, habe ich mich gefragt, was der logischste Weg ist. Ich empfand es zum Beispiel immer als unglaubwürdig, dass Tell – der Bergbauer – der Einzige auf dem Habsburger Boot sein soll, der so ein Boot überhaupt steuern kann. Völlig Quatsch. Im «Lied der Entstehung der Eidgenossenschaft» von den 1470er Jahren, eine der ältesten Tell-Quellen, steht auch, dass die Soldaten den Auftrag bekommen haben, Tell auf dem See zu versenken. So habe ich die Szene neu und logisch interpretiert. Oder dass Tell bewaffnet auf den Markt geht, wo er doch weiss, dass die Habsburger herrschen, grenzt an purer Dummheit und Ignoranz. Es ist viel logischer, dass er ganz einfach nicht mitgekriegt hat, dass er sich vor dem Hut hätte verbeugen müssen. Tell ist überfordert, die Armbrust wird ihm dann in die Hand gedrückt. Aber es ist so: Seit seiner Entstehung ist Wilhelm Tell für politische Zwecke missbraucht worden: Er ist eine Leitfigur, seine Verfasser wollen den Leuten sagen: Wir sind unabhängig, wir sind stolz, und wir sind überlegen. Kämpft! Darum erstaunt es mich nicht, dass sich die Freiheitstrychler mit Wilhelm-Tell-T-Shirt und herausgestreckter Brust gegen die Behörden und die Wissenschaft aufmüpfen. Sie kennen ja nur den Freiheitskämpfer-Wilhelm-Tell, der aus Stolz den Gruss verweigert. Die Rechte missbraucht ihn für ihre Propaganda schon lange. Die Linke versucht, ihn klein zu machen. Mein Tell ist nicht an Politik interessiert. Er ist ein Eigenbrötler. Er kämpft ums Überleben und hat ein Trauma zu verarbeiten. Er ist eine tragische Figur, die in einen Teufelskreis aus Gewalt gerät und sich nicht daraus befreien kann. Und es geht um Vaterschaft. Ein Thema, dass mir viel näher liegt. Darum möchte ich allen sagen: Gönnt dem Tell doch mal eine politische Pause. Er gehört uns allen, und er gehört vor allem sich selbst.

So ganz nebenbei erscheint in deinem Roman Sturla, Sohn des Sighvats, ein Normanne von einer Insel weit im Norden, auf einer Pilgerreise gen Süden. Den Mann gab es (zumindest lese ich das in der grossen Suchmaschine). Ist das nur eine Reminiszenz an deine neue Heimat oder schlummert da mehr?

Sturla ist eine Person aus der Sturlunga-Saga, die auch bei Einar Kárason auftritt. Darum hat sie bei Tell ein Cameo, zumal sie tatsächlich durch die Urschweiz gereist sein könnte auf dem Weg nach Rom. Ich interpretiere hier die Geschichte ganz frech auf meine Weise. Die Historiker sind sich einig, dass Tell seinen Ursprung nicht in Uri hat, sondern möglicherweise in Skandinavien. Der dänische Geschichtsschreiber Saxo hat schon vor dem Obwaldner Landschreiber Hans Schriber, dem Verfasser des Weissen Buches von Sarnen, über den norwegischen Toko geschrieben, der auch einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schiessen musste. Die Geschichte könnte dann mit den Pilgern, die durch die Innerschweiz nach Rom reisten, zu uns gelangt sein, so die Vermutung. Ich drehe hier den Spiess um. Die Tell-Geschichte hat bei uns den Ursprung, und die Pilger haben sie in den Norden getragen. Ich mache das aber mit einem Augenzwinkern und nehme es mit den Jahreszahlen nicht allzu genau. Man verzeihe mir diese Frechheit. Aber ich finde eben, dass unser Wilhelm Tell der Beste von allen ist. Im Sinne von: «Wer hats erfunden?» Ich will, dass wir den Stolz auf diese grausam tolle Geschichte wiederfinden. 

Es sind ein ganzer Strauss von Dramen, die sich in deinem Buch miteinander verstricken. Mit Sicherheit wolltest du das schiller’sche Drama, das sich nur auf Männerseite abspielt, in einer starken Frauenseite spiegeln. Nicht ganz einfach, muss doch angenommen werden, dass die Rolle der Frau damals so gar nicht jener entspricht, die heute selbstverständlich sein sollte.

Mein «Tell» ist, wie gesagt, stark von den Isländersagas beeinflusst. Aus ihnen ist zu entnehmen, dass die Frauen gar nicht so schlecht vertreten waren und durch ihr Handeln auch zu den Geschichten beitrugen, obwohl sie in der Hierarchie nur knapp über den Sklaven waren. Aber es gab sie eben doch, und wahrscheinlich hatten sie mehr Mitspracherecht, als ihnen die männlichen Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts zugestehen wollten. Vor etwa einem Jahr gab es im Landesmuseum in Zürich eine interessante Ausstellung unter dem Namen: Nonnen, starke Frauen im Mittelalter. Es findet ein Umdenken statt. Mir war es grundsätzlich ein Anliegen, eine realistische Welt aufzuzeichnen, und darin gibt es eben auch Frauen. Tell hat also nicht nur eine Ehefrau, sondern auch eine Mutter, eine Schwiegermutter und eine Tochter. Es gibt in «Tell» Nonnen, Bäuerinnen, eine Pfrundsfrau… Trotzdem diente mir Schillers veralteter Wilhelm Tell als Fundament. Auf ihm habe ich meinen aufgebaut. Was mich aber am meisten bei Schiller stört, ist seine Einteilung in Gut und Böse, alles ist schwarz und weiss. Ich habe versucht, nicht bloss Grautöne gemischt, sondern, wenn ich schon dabei war, ein Farbbild.

Hast du mit einer Armbrust geschossen, dich im Dreck mit Riesen geprügelt, in Fell gekleidet im Vierwaldstättersee Wasser geschluckt?

Genau darum bin ich wohl der Richtige für «Tell»! Mit dem Schwung der Isländersagas im Hintern habe ich mich am Schreibtisch zurück in meine alte Heimat begeben. Einer meiner drei Brüder hat früher tatsächlich Armbrüste gezimmert, was nicht ungefährlich war, mit diesen Brüdern habe ich gerungen und wir haben im eiskalten Hinterrhein Wasser geschluckt. Ich bin auf dem klösterlichen Bauernbetrieb in Cazis aufgewachsen, auf dem Julierpass habe ich einige Sommerwochen als Kind und Jugendlicher verbracht, habe dem Senn der Klosteralp helfen müssen, Kühe zu melken, Rinder zu zählen, Käse zu machen. Mit meinem Vater habe ich Bergwanderung gemacht, bin ihm hinterher gekeucht, ich habe Murmeltiere erschreckt, und einmal bin ich fast auf eine Kreuzotter getrampelt. Endlich konnte ich diese wunderbaren Erlebnisse verwerten.

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Er ist Autor mehrerer Romane und diverser Kurzgeschichten, Journalist und Kolumnist. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavik.

Webseite des Autors

Beitragsbilder © Eva Schram

Hansjörg Schneider «Die Eule über dem Rhein», Diogenes

«Die Eule über dem Rhein» vom Grossmeister Hansjörg Schneider ist ein liebender Blick auf die Stadt am Dreiländereck, ein Buch voller Erinnerungen, über das Schreiben, sein Wachsen, die grossen Lieben des Lebens, gegen das Vergessen, ohne Pathos aber mit den Augen eines Weisen.                                    

Es gibt Autoren, an denen ich mich nicht „vorbeilesen“ kann, nur schon deshalb, weil sie mich schon ein ganzes Leseleben begleiten. Noch während meiner Ausbildung las ich Hansjörg Schneiders Roman „Lieber Leo“, von einem der auf sein scheinbar gescheitertes Leben zurückschaut, verwundet, weil ihn seine Liebe ohne Abschied verlässt. Es war der erste Schneider im Regal. Ein Paar Jahre später provozierte Hansjörg Schneiders Theaterstück „Sennentunschi“ nicht nur das brave Theaterpublikum, nach einer Fernsehproduktion auch unsere Familie, weil mein Vater darauf bestand, das Gerät abzuschalten, er dulde keine Pornografie im Wohnzimmer. Und als kurz vor der Jahrtausendwende „Das Wasserzeichen“ erschien, noch immer mein liebstes Schneiderbuch, weil es mich mit seiner Sprache und seiner Geschichte in ganz neue Sphären wegzog, wurde ich endgültig zu einem Schneiderer, schon lange vor all den Hunkelerkrimis, und erst recht bei deren Verfilmungen mit Matthias Gnädinger.

Hansjörg Schneider «Die Eule über dem Rhein», Diogenes, 2021, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-257-07162-7

Mit „Die Eule über dem Rheinknie“ hat Hansjörg Schneider bei Diogenes kurze Prosa veröffentlicht, Kolumnen von 2015 bis 2017 und Betrachtungen über sein Leben. Auf dem Dach des Basler Münsters sitzt eine steinerne Eule. Sie blickt über den Rhein auf „die andere Seite“. Hansjörg Schneider, der mit seiner Familie früh nach Basel zog, blieb immer ein Aargauer, obwohl er längst ein Basler Urgestein ist. Wie die Eule blickt er in seinem Schreiben auch stets leicht erhöht „auf die andere Seite“, auf eine Schweiz, die ihm oftmals eng erscheint, sein Basel, vom Geldadel erdrückt, hinüber ins Elsass, in die Vogesen, wo er auch seinen Ermittler Hunkeler schickte, wenn ihm das Geschehen am Rheinknie auf die Pelle ging. „Die Eule über dem Rheinknie“ ist der Blick eines Mannes, der das Leben aus dem vergangenen Jahrtausend mit ins neue nimmt, von einem, der an den Gewohnheiten festhält, nicht aus dumpfem Trott, sondern weil ihm sein Tun, Denken und Handeln lieb geworden ist. Ein Schriftsteller, der noch immer von Hand schreibt, ein Heft nach dem andern füllt, mittlerweile mehrere hundert, einen Schatz, den er dem Schweizerischen Literaturinstitut übergab. Der sein Geschriebenes noch immer mit einer mechanischen Schreibmaschine abtippt und gleich korrigiert, kürzt oder ergänzt, dem das Tippen als körperliche Handlung ebenso wichtig ist, wie das Geräusch, auf das er nicht verzichten will.

Hansjörg Schneiders Blick schweift, manchmal ganz nah, wenn er von seinen Nachbarn erzählt, von den Alten in seinem Quartier, den Begegnungen im Supermarkt, wie sehr wir uns in unserem Hafen sicher fühlen, wie sehr wir uns an all die Annehmlichkeiten gewöhnt haben. Von seinen Spaziergängen in der Stadt, vorbei an den gestylten Joggern. Dann zurück in die Vergangenheit, in seine Kindheit und Jugend in Zofingen, über den Schmerz, mit seinen Krimis nie an die Solothurner Literaturtage eingeladen worden zu sein, über seine Zeit in Paris als bettelarmer Niemand. Über seine Schriftstellerkollegen Guido Bachmann, Dieter Fringeli, Christoph Mangold und Werner Schmidli, mit ihm ein Basler Pentagon, von denen alle bis auf ihn gestorben sind, die man mehr und mehr vergisst.

Hansjörg Schneider schreibt mit seinem ganz eigenen Witz und Schalk, nicht ohne Kopfschütteln über sich selbst. Er schreibt von einem Mann, der sein Leben und Tun liebt, der mit seinem Schreiben seine zweite grosse Liebe gefunden hat. Der kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn er Schwätzer mit Namen nennt und sich zuweilen Schmerz darüber einschleicht, was alles unwiederbringlich verloren geht. Aber das darf ein Mann von 83 Jahren, dessen Blick fast immer ein liebender und freundlicher ist.

Warum nicht mit der Eule über dem Rhein in den schneider’schen Kosmos einsteigen!

Interview

Ich schreibe Ihnen meine Fragen von Hand auf Papier. Sie schreiben noch immer in Hefte ebenfalls von Hand und tippen es anschliessend in eine mechanische Schreibmaschine. Schwingt da der Wunsch des Haptikers mit, „Spuren“ zu hinterlassen?
Ich schreibe erst von Hand, dann in die Schreibmaschine, weil ich es so gelernt habe und nie einen Grund sah, davon abzuweichen. Ausserdem finde ich meine Handschrift schön, obschon sie offenbar schwer zu entziffern ist. Aber es stimmt schon: Heimlich bin ich stolz auf meine handschriftlich gefüllten Hefte.

Ihr Buch ist eine Liebeserklärung an Ihre Mutter, Ihre Kindheit, den Blick in die Weite, die Stadt Paris und viele Freunde, die nicht mehr sind, darunter auch Werner Schmidli, einen Schriftsteller, von dem ich wie von Ihnen alles gelesen habe, der mir lieb ist, auch wenn er mich einst mit meinem Bücherstapel in Händen zum Signieren ganz an den Schluss der Warteschlange schickte. Fühlen Sie sich manchmal alleine gelassen?
Natürlich finde ich mich alleine gelassen, natürlich sitze ich allein am Tisch. Mit 83 Jahren ist das wohl normal.

Sie arbeiteten wie Peter Bichsel vor mehr als einem halben Jahrhundert als Lehrer. Ich bin es in meinem Brotberuf noch immer, schon 37 Jahre lang. Manchmal leide ich etwas unter dem Sisiphos-Effekt, an den immer gleichen Problemen, die man den Berg hinauf schiebt und rollt. Obwohl ich ein grosser Leser bin und mir das freie Schreiben in der Schule ganz zentral erscheint – nicht bloss Sprachübungen – entmutigt mich die Entfremdung von der Sprache manchmal, die Verflachung und Verarmung. Muss man Angst um die Sprache haben? Wird echte Auseinandersetzung mit Sprache immer seltener, einsamer?
Ich habe mein Germanistikstudium mit Stellvertretungen an aargauischen Bezirksschulen verdient, mit weissem Hemd und Krawatte und lauter Militärköpfen im Lehrerzimmer. Da wollte ich nicht mitmachen.
Heute ist es ganz anders in den Schulen, viel lockerer. Da ich den Lehrerberuf als sehr wichtig erachte, könnte ich mir heute ein Lehrerdasein gut vorstellen. Über die Sprache würde ich mir keine grossen Sorgen machen. Sie lebt, sie verändert sich, wie sie sich immer verändert hat.

Warum zählen Krimis mit einem literarischen Anspruch, so wie Ihre Hunkeler-Krimis noch immer zu minderwertiger Literatur? Zumindest im deutschsprachigen Raum, ganz im Gegensatz zu den „Angelsachsen“?
Die Verachtung des Krimis als Literaturgattung ist völlig idiotisch. Am besten nimmt man sie einfach nicht zur Kenntnis. Für mich ist der Krimi eine wunderbare Gattung. Man kann erzählen, beschreiben, was und wie man will. Schreiben heisst, sich die Freiheit nehmen, die man sich nehmen will.

Sie sind 83. Ihr Werk ist umfangreich, vielfältig und gross. Bald werde ich vor einer Gruppe „Studierender“ stehen und ihnen von der aktuellen CH-Literaturszene erzählen. Lauter Menschen, die davon träumen, dereinst ein Buch mit ihrem Namen in Buchhandlungen zu finden. Was würden Sie den mehr oder minder jungen Hoffenden raten, waren Sie doch auch einmal einer, auf den niemand gewartet hatte.
Selbstverständlich hat keiner auf mich gewartet, als ich jung war. Ich erhielt nur Absagen, von Zeitungen und Verlagen, auch von Theatern. Bis es eben doch geklappt hat, mit viel Glück. Natürlich ist Erfolg etwas Schönes. Aber der Grund, warum man schreibt, ist ja das Schreiben selber.

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken, darunter „Sennentuntschi“ und „Der liebe Augustin“, war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine „Hunkeler“-Krimis, verfilmt mit Matthias Gnädinger, führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.

Beitragsbild © Philipp Keel