Regenbogenlicht – Lubna Abou Kheir und Ivna Žic im literarischen Gespräch

Lubna Abou Kheir kam 2016 aus Syrien in die Schweiz, zuerst eingeladen von hiesigen Theaterveranstaltern, später blieben sie, weil die politischen und kriegerischen Verhältnisse in ihrem Land nicht mehr auszuhalten waren. Zusammen mit ihrer «Künstlerschwester», der Theaterautorin und Regisseurin Ivna Žic lud das Literaturhaus Thurgau zu einem literarischen Gespräch ein.

weiterschreiben-schweiz.jetzt ist eine Plattform für Autor:innen aus Kriegs- und Krisengebieten. Seit Mai 2017 veröffentlichen monatlich 2 – 4 Autor:innen aus Syrien, dem Irak, dem Iran, dem Jemen, dem Sudan, Afghanistan sowie Angehörige der Roma und Sinti Kurzprosa, Gedichte und Erzählungen auf diesem Online-Portal und arbeiten mit bekannten deutschsprachigen Autor.innen im Tandem. Die Texte werden zudem von Künstler:innen aus Kriegs- und Krisengebieten illustriert. Im Rahmen von Literatur- und Musik-Veranstaltungen treten die Autor:innen mit ihren Tandem-Partner:innen auf.

Ziel dieses Projektes ist es, dass renommierte geflüchtete Autor:innen in der Schweiz weiterschreiben können, die literarischen Perspektiven der neuangekommenen Autor:innen im deutschsprachigen Diskurs sichtbarer zu machen, Türen zum hiesigen Literaturbetrieb zu öffnen und einen künstlerischen Austausch zu ermöglichen.

«Schreiben ist ein Versuch, die Freiheit in der Sprache zu entdecken.“ Ivna Žic

Lubna Abou Kheir ist in Damaskus geboren und aufgewachsen. Sie ist Autorin, Theaterwissenschaftlerin und Schauspielerin. Lubna Abou Kheir studierte und arbeitete in diversen Kontexten in Damaskus und Beirut. Seit 2016 lebt Lubna Abou Kheir in die Schweiz, lernt Deutsch und arbeitet als Freelance-Journalistin. Sie schreibt Theatertexte und ist in verschiedene Projekte u.a. am Schauspielhaus Zürich und an der Zürcher Hochschule der Künste involviert. Im August 2018 brachte sie ihr Kurzstück «Damaszener Café» in Zusammenarbeit mit Isabelle Menke und Barbara Peter im Theater Tuchlaube Aarau zur Premiere. Es folgten im September Aufführungen in der Kaserne Basel, Anfang Februar wurde es auf dem Festival «Moussem Cities» in Brüssel gezeigt. Am Theater Neumarkt kam 2019 ihr Stück «Gebrochenes Licht» in der Regie von Ivna Žic zur Uraufführung.

«Wer schreibt, ist in erster Linie Autor oder Autorin, egal, aus welchem Land er oder sie stammt. Die Herkunft eines Menschen darf kein Grund sein, dass ihm das Schreiben und das Publizieren verunmöglicht wird.» Peter Stamm

«Wenn wir sprechen, sprechen wir Gegenwart– so hat sich der Abend gestern im Bodmanhaus angefühlt, gemeinsam durch Sprachen, Länder und Zeiten wandernd– du, lieber Gallus, mit Lubna und mir. Danke für deine genauen Frage und die schöne, intensive Atmospähre, die dadurch entstanden ist. Danke fürs Hinhören, Zuhören. Ja, vielleicht sind Arabisch und Deutsch wie Wasser und Öl im Glas. Aber sie können sich im gleichen Raum bewegen und sich gegenseitig in Bewegung bringen. Dafür danke ich Lubna und Weiterschreiben Schweiz.» Ivna Žic

 

«Weil Groll am Scheideweg schön ist», Lubna 2012–2021

Erster Brief an Ivna
4. Januar 2021, Montag,

5. Februar 2012, Sonntag,

Nein, einen Moment …

Immer wieder verrät mich die Erinnerung …

Damit das Bild genauer wird: Das ist passiert an allen Tagen und es ist los, und wird immer wieder passieren, vielleicht in anderen zehn Jahren Krieg, und es ist: ein Gefühl.

Ein Gefühl, das aus dem Darm kommt und durch den Magen geht,
übt Druck auf das Zwerchfell aus und bildet Kurzatmigkeit.

Der Brustkorb wird flach wie eine Plastiktüte ohne Luft (Vakuumbeutel).

Alles wird eng, auch das Feld der leichten leuchtenden Schmetterlinge (biolumineszierende Insekten) erstickt, das Feld, das Vergnügen ausstrahlt und in Liebessituationen den Magen kitzelt.

Vom Arsch wird der Befehl erteilt, das Denken und die Logik vom Kopf zu nehmen, und alles wird zusammengedrückt und geschrumpft, so dass das Blut im Gehirn langsamer zirkuliert und der Körper zusammenbricht und auf die Erde prallt.

Der Strom der Tränen schliesst sich diesem Karneval des Schmerzes an und drückt seine Meinung darüber aus, was passiert und fliesst und fliesst.

Die Diagnose lautete: «Abwesenheit der Logik».

Also, liebe Ivna, der Groll am Scheideweg ist schön.

Die Liebe zum Aufbruch, die Anziehungskraft zum Bleiben

Zweiter Brief an Ivna

03.2020

Ich öffnete meinen roten Koffer, dreissig Kilo schwer. Er war voller Spielzeug und sehr kleiner Dinge. Es gab keine Bücher, keine Kleidung, nur Bilder und Details …
Ja, die Details … Wie oft am Tag sterben wir wegen der Details?

Details: Gerüche, Augenblicke, Staub auf den glänzenden Schuhen,

dunkle Flecken auf weissen Oberflächen folgen Löchern in den schönen, teuren Markensocken, und wir folgen rechten Winkeln und Dreiecken in den Badezimmerfliesen.

Diese Details gehören zu bestimmten Orten, Orten, die, wenn sie von ihren Details ausgeschlossen werden, fremd sind.

Am 03.03.2020 fing ich an, den Koffer auszupacken.

Er war voll mit kleinen Plastiksoldaten aus Russland. Mein Onkel brachte sie uns mit, als er dort war, und ich weiss nicht, was es bedeuten soll, uns Soldaten zu schenken.

Im Koffer gibt es eine Tasse, in die wir Buntstifte und Bleistifte gesteckt haben

Es gibt einen Glaskuh-Salzstreuer

Es gibt Notizbücher mit Gedichten voller vulgärer Liebe

Es gibt Seifenblasen

Es gibt Stühle und Holztische und Cafés

Es gibt Männer, die von der Liebe und der Religion zerstört wurden

Es gibt die Langeweile des Freitags

Er gibt und gibt und gibt.

Meine liebe Ivna, all diese Details haben ihren Platz in unserem Haus in Syrien. In meiner neuen Wohnung habe ich versucht, einen Platz für sie zu bauen, und bin gescheitert, der Platz hat sich nicht dem Wunsch der Erinnerungen gebeugt.
Also legte ich mich in den Koffer hinein und stülpte ihn wie eine schmutzige Socke um, deren Reinigung tausend Umdrehungen in der Waschmaschine erfordert.

Die Zerbrechlichkeit der Details beherrschte mich so, dass ich gehen wollte, aber die Schwerkraft zwingt mich, hier zu bleiben.

Liebe Ivna: Das Schreiben ist manchmal eine Alternative zur Psychotherapie.

Wenn wir sprechen, sprechen wir Gegenwart

13. August 2021, Europa
Liebe Lubna,
kürzlich wurde ich gefragt, ob mein Name ein Tippfehler sei.

Namen sind Lose, las ich einst und schreibe es nach, schreibe es fort, in diese lose Lücke hinein. Begegnungen sind ebenfalls Lose, wenn sie bleiben, füllen sie etwas auf. Manchmal eine Lücke, von der wir davor nichts wussten, die wir nicht in uns ahnten. Doch ist der neue Mensch da, ist die Begegnung eine Kette, die bleibt, fragen wir uns nach dem Davor und wollen die fehlende Zeit, die nicht die gemeinsame war, so schnell es geht nachholen. Das ist Beziehung. Unerwartete Sehnsucht nach gemeinsamer Geschichte. Beziehung ist Erzählung.

Namen sind Lose, so auch der Ortsname unserer Geburtsstadt, der Grossmuttername, verdeckt durch die Heirat mit einem Mann, der Strassenname des Elternhauses, der Name des ersten Kusses, der Name der ersten Beleidigung, die wir erfahren – und schliesslich auch der Stadtname, der heute unseren Wohnort benennt und unsere Begegnung mitschreibt.

Liebe Lubna,
deine fünf Buchstaben und meine vier, rätselhaft verschlungen, freundschaftlich tanzen sie durch Gassen, die von ihnen davor nicht gehört haben. Wir verbinden uns mit Strassennamen, die uns nun auch umgeben, die ohne unsere Geschichten lange standen und nun in Erwartung dieser zuhören.
Liebe Lubna, wenn wir sprechen, sprechen wir Gegenwart. Du und ich auch. Nicht gleich, eher anders, manchmal unerwartet ähnlich, nur manchmal, doch gegenwärtig zusammen. Findest Du das auch?
Unsere Geschichten schwingen und verästeln sich, umschlingen andere Buchstaben, Worte, die wir suchen, die wir finden.
Manchmal fragen sie uns: Ist das ein Tippfehler?
Und wir sagen, klar und ehrlich: Nein.
Nein, das ist unsere Sicht- und Hörweise, das ist unser Geschmack, unsere Mundbewegung in dieser Sprache, das ist unser Rhythmus, so tanzen wir in diesen Strassen – das ist unsere Verbindung, in der wir Gegenwart mit schaffen. In der wir Raum schaffen, ihn vergrössern, in dem wir alle leben. So hören und fühlen wir.
Und wir fragen euch: Kommt ihr dazu?
Und wir bitten euch, höflich, aber ebenso klar und ehrlich, uns neue Fragen zu stellen.
Herzliche Grüsse

Deine Ivna

Lubna Abou Kheir studierte dramatisches Schreiben an der Hochschule in Damaskus. Seit 2016 lebt sie als Autorin, Theaterwissenschaftlerin und Schauspielerin in Zürich. Als Theaterautorin debütierte sie in der Schweiz mit dem Stück «Damaszener Café» im Theater Tuchlaube in Aarau. Seitdem folgten weitere Engagements u. a. in der Kaserne Basel und am Theater Neumarkt in Zürich.

Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Für ihren Debütroman «Die Nachkommende» wurde sie 2019 sowohl für den Österreichischen Buchpreis als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. 2020 erhielt sie den renommierten Anna Seghers-Preis. Žic lebt in Zürich und Wien.

Der Verein «Weiter Schreiben Schweiz» will Autor:innen, die aus Kriegs- und Krisengebieten in die Schweiz fliehen mussten und in ihren Heimatländern nicht mehr veröffentlichen können, das Weiterschreiben in der Schweiz ermöglichen, sie mit der Schweizer Literaturszene vernetzen und den öffentlichen Diskurs für diese Stimmen öffnen.

Das Projekt verbindet dafür Exil- und in der Schweiz etablierte Autor:innen in Tandems. Die Exil-Autor:innen veröffentlichen literarische Texte in der Originalsprache und auf Deutsch auf www.weiterschreiben-schweiz.jetzt und präsentieren ihr Werk auf Lesungen im ganzen Land. Das Projekt startete in der deutschsprachigen Schweiz, 2022 und 2023 folgen dann die französisch- und die italienischsprachige Schweiz.

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

12. Sankt Galler Literaturfestival Wortlaut

Vom 26. bis 29. März 2020 erwartet die Besucherinnen und Besucher eine grosse Auswahl wortlauter Kunst in den vier etablierten Programmreihen Luise, Laut, Lechts und Rinks. Die vier Reihen strukturieren das Programm und fordern zu literarischen Grenzüberschreitungen auf. Insgesamt bietet das Sankt Galler Literaturfestival an vier Tagen 25 Veranstaltungen an den unterschiedlichsten Orten der Stadt, allesamt fussläufig erreichbar. Ab heute (06. Februar) ist das Gesamtprogramm des Literaturfestivals auf der neu programmierten sowie neu gestalteten Webseite wortlaut.ch abrufbar.

Buchvernissage mit Laura Vogt
Was bedeutet es in der heutigen Zeit, Mutter zu sein? Was ist Weiblichkeit? Welche Beziehungen sind ­möglich und wie bleibt man darin selbstbestimmt?  Zusammen mit dem Basler Zytglogge Verlag feiert Wortlaut die Buchvernissage von Laura Vogts neuem Roman «Was uns betrifft«. Die Ostschweizer Autorin liest am Donnerstag, den 26. März, um 19:30 Uhr im Raum für Literatur. Musikalisch begleitet wird sie von Andi Bissig. Die Moderation übernimmt der Literaturvermittler Gallus Frei-Tomic.

Eröffnungsveranstaltung und Dialekt-Poetry-Slam
Zur Eröffnungsveranstaltung im Palace wird erst einmal eine Partie «Print-Pong» gespielt. Das ist sowas wie Ping-Pong nur ohne Ball und mit Worten. Wer das Kleinkunst-Duo «Ohne Rolf» kennt, wird diese Spielart bereits lieben gelernt haben. Sie ist gespickt mit seitenweise überraschenden Momenten. Was als Strassenaktion vor eineinhalb Jahrzehnten begann, tourt vier abendfüllende Programme und einige Preise später erfolgreich durch den ganzen deutschsprachigen Raum. Wortlaut präsentiert das sehens- und hörenswerte Künstler-Duo Christof Wolfisberg und Jonas Anderhub am Freitag, den 27. März, um 19 Uhr. Eine kurze Begrüssungsrede hält die Wortlaut-Festivalleiterin Rebecca C. Schnyder.

Am gleichen Abend, um 21 Uhr, findet in der Grabenhalle, nur einen Steinwurf vom Palace entfernt, der schweizweit einzigartige Dialekt-Poetry-Slam (Säg rächt!) statt, bei dem Mundarten aus der Schweiz und dem angrenzenden deutschsprachigen Raum aufeinandertreffen.

Tour littéraire in den vier Reihen
Vier Reihen strukturieren das Wortlaut-Programm und fordern insbesondere am Wortlaut-Samstag, dem 28. März, zu literarischen Grenzüberschreitungen auf: Comic-Autorinnen lassen ihre Zeichnungen zu Wort kommen, es reden und singen Kabarettisten, Spoken-Word-Poetinnen performen die Sprache und Autoren lesen aus ihren aktuellen Werken.

In der Reihe Luise stellt zum Beispiel die Autorin Karen Köhler ihr Romandebüt «Miroloi» vor. Das Buch stand im letzten Herbst auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Ähnlich wahrgenommen bzw. rezipiert wurde das Buch «Die Nachkommende» von Ivna Žic. Mit ihrem Erstling war sie u.a. für den Schweizer Buchpreis 2019 nominiert. Die Moderation der Lesung übernimmt die Schriftstellerin Tabea Steiner, die im letzten Jahr ebenfalls für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Mit einem bildstarken, und vor kurzem mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichneten Debüt, zeigt Eva Maria Leuenberger, welche eigene Kraft Lyrik entfalten kann. Sie liest am Samstag, um 14 Uhr, im Raum für Literatur.

Einen Webteppich aus Kurztexten und Celloimprovisationen (Hommage an John Cage) präsentieren Christine Fischer (Text)  und Brigitte Meyer (Musik) am Sonntag, 16 Uhr, im Museum of Emptiness.

Ostschweizer Bühne: Neben weiteren Autorinnen und Autoren aus dem deutschsprachigen Raum betreten am Wortlaut-Samstag vier Literaturschaffende aus dem Literaturnetz Ostschweiz die Bühne im Splügeneck. Ab 13 Uhr treten auf:  Tobias Bauer, Liv Naran, Mathias Ninck und René Oberholzer. Es moderiert Tamara Hostettler.

In der Reihe Lechts stellt das Festival bekanntlich Werke aus dem Bereich «Comic und Graphic Novel» vor. Veranstaltungsort ist das Palace. Dieses Jahr wird neben der Hamburger Illustratorin Orphea Heutling, dem Cartoon-Kollektiv «Pause ohne Ende» und dem Comic-Künstler Frank Schmolke («Nachts im Paradies»), der Illustrator Nando von Arb mit seinem Buch «Drei Väter» zu Gast sein. Ihm verdankt Wortlaut das aktuelle Plakatmotiv, das in enger Kooperation mit dem Büro Sequenz entstanden ist. Ab heute, den 06. Februar, hängen die grossformatigen Wortlaut-Plakate an den Kultursäulen der Stadt.

Die Reihen Laut und Rinks werden divers bespielt: So wird in der Reihe Laut neben «Ohne Rolf» auch Lisa Christ ihren Auftritt mit dem Programm «Ich brauche neue Schuhe» haben. Sie präsentiert ihr einstündiges Programm ab 21 Uhr in der Kellerbühne. Bei Rinks stellt u.a. der Slam-Poet Nektarios Vlachopoulos sein zweites Bühnenprogramm mit dem Titel «Ein ganz klares Jein» vor. Mal geht’s dabei um Rechtspopulismus, mal um mitgebrachte Rotweingläser bei der Studentenparty, mal um die Liebe, mal um morphogenetische Spektralbarometer. Weitere Spoken-Word-Künstler an diesem Samstag werden sein: Rolf Hermann/Trio Chäslädeli, Jan Rutishauser, Cruise Ship Misery, Diana Dengler und Marcus Schäfer (Gassenhauer). Nähere Infos dazu finden sich auf wortlaut.ch oder im Wortlaut-Programmheft.

Festivalzentrum mit Illustrationskiosk
Die Buchbeiz ist zentrale Ticket-Verkaufsstelle. Hier können Tagespässe erstanden, reservierte Tickets abgeholt und sich über das aktuelle Programm informiert werden. Achtung: Tickets für einzelne Veranstaltungen können nur an den jeweiligen Kassen in den Lokalitäten erworben werden.

«Wir weben den Teppich den Teppich des Lebens, fliessen ineinander. Alles ist miteinander verbunden.» gezeichnet von Jana Siegmund

Illustrationskiosk: Angehende Illustratorinnen und Illustratoren zeichnen für Besucherinnen und Besucher des Festivals: Textpassagen werden in Zeichnungen übersetzt – überraschend, vielfältig, kreativ. Ab 13 Uhr, Eintritt frei, Kollekte. Speis und Trank.

TeilnehmerInnen Wortlaut 2020 – nach Programmreihen
Luise (Lesungen und Gespräche): Laura Vogt (musikalische Begleitung: Andi Bissig), Tobias Bauer, Liv Naran, Eva Maria Leuenberger, Mathias Ninck, Ivna Žic, René Oberholzer, Andreas Neeser, Lorenz Langenegger, Karen Köhler, Richard Butz und Nathalie Hubler (Literatur in der Stadt), Christine Fischer (musikalische Begleitung: Brigitte Meyer)

Laut (Musik- und Sprechkabarett): Ohne Rolf (Christof Wolfisberg und Jonas Anderhub), Lisa Christ

Lechts (Comic und Graphic Novel): Orphea Heutling, Frank Schmolke, Nando von Arb, Pause ohne Ende

Rinks (Slam Poetry und Spoken Word): Säg rächt! Dialekt-Poetry-Slam mit: Teresa Reichl (Regensburg), Emil Kaschka (Tirol), Jan Rutishauser (St.Gallen), Sven Hirsbrunner (Thurgau), Remo Rickenbacher (Thun), Valerio Moser (Langenthal), Diego Häberli (Schaffhausen) und Simon Libsig (Baden), Spoken Word: Nektarios Vlachopoulos, Rolf Hermann/Trio Chäslädeli, Jan Rutishauser, Cruise Ship Misery, Diana Dengler und Marcus Schäfer (Gassenhauer)

Der Wortlaut-Pass: das ideale Kulturgeschenk zu Weihnachten

Wer ein eindrückliches Geschenk zu Weihnachten sucht, wird in diesem Jahr bei Wortlaut fündig. Das im kommenden März zum 12. Mal stattfindende Sankt Galler Literaturfestival bietet allen Kulturinteressierten den preislich reduzierten Wortlaut-Festival-Pass für 65 Franken (Normalpreis: 70 Franken). Damit können Besucherinnen und Besucher die gesamte Festivalzeit, sprich: volle vier Tage, an allen 25 Kulturveranstaltungen der Reihen Laut, Luise, Lechts und Rinks teilnehmen.

Da Wortlaut das gesamte Festivalprogramm erst Anfang Februar bekannt geben wird, sollen an dieser Stelle lediglich ein paar geladene Künstlerinnen und Künstler genannt werden: Da ist zum einen die junge Ostschweizer Autorin Laura Vogt, die bei ihrer Buchvernissage im Raum für Literatur aus ihrem zweiten Roman mit dem Titel «Was uns betrifft» lesen wird. Zum anderen der Grafiker und Illustrator Nando von Arb, der mit seinem originellen Comic «Drei Väter» zu Wortlaut eingeladen wurde. Die zuletzt für den Schweizer Buchpreis nominierte Autorin Ivna Žic wird in der Kellerbühne ihr Buch «Die Nachkommende» vorstellen. Das Mundart Pop Duo Cruise Ship Misery präsentiert in seiner Show «Urteil» eine unbeschönigte und bunte Palette an Berichten rund um die physischen und mentalen Gefangenschaften des Lebens. Nicht zuletzt plant Lisa Christ, ihres Zeichens schweizweit bekannte Slam Poetin, einen fulminanten Auftritt in der Reihe Laut.

Der Wortlaut-Pass als Weihnachts-Kultur-Geschenk und Gutschein kann direkt über die Mailadresse info@wortlaut.ch bestellt werden. Die Veranstalter garantieren die postalische Zusendung des schön gestalteten Gutscheins rechtzeitig vor Weihnachten.

Ganz speziell lädt literaturblatt.ch am 6. März 2020, 19:30 Uhr, Raum für Literatur, St. Gallen zur Buchvernissage von «Was uns betrifft» im Rahmen des St. Galler Literaturfestival «Wortlaut» ein. Moderiert wird die Buchtaufe von Gallus Frei-Tomic.

«Manchmal träume ich von Lücken»
Ein Haus auf dem Land, ein Mann, ein Kind – ist es das, was Rahel sucht, als sie hochschwanger zu Boris zieht und ihre Karriere als Jazzsängerin aufgibt? Nichts für mich, findet ihre Schwester Fenna, die eines Tages vor der Tür steht, um auf unbestimmte Zeit zu bleiben. Während sich Fenna an ihrer leidenschaftlichen und schwierigen Beziehung zu Luc abarbeitet und die Schwester mit ihrer ganz eigenen Sicht auf die Welt konfrontiert, kämpft Rahel seit der Geburt ihres zweiten Kindes mit einer postnatalen Depression und den Erinnerungen an ihre Kunst sowie an ihren Vater, der die Familie längst verlassen hat. Als auch noch die kranke Mutter an- und Boris mit den Kindern abreist, scheint Rahel den Boden unter den Füssen ganz zu verlieren.

Was bedeutet es in der heutigen Zeit, Mutter zu sein? Was ist Weiblichkeit? Welche Beziehungen sind möglich, und wie bleibt man darin selbstbestimmt? Ein kluger zweiter Roman der Ostschweizer Autorin Laura Vogt.

Laura Vogt, geb. 1989 in Teufen (AR), studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, davor einige Semester Kulturwissenschaften an der Uni Luzern. Sie schreibt neben Prosa auch lyrische, dramatische und journalistische Texte und ist als Schriftdolmetscherin und Mentorin tätig. 2016 erschien ihr Debütroman ‹So einfach war es also zu gehen›. Laura Vogt lebt im Kanton St. Gallen.

Webseite Wortlaut Literaturfestival

Webseite Laura Vogt

Die Würfel sind gefallen! #SchweizerBuchpreis19/12

Ich gratuliere Sibylle Berg als Schweizer Buchpreisträgerin 2019. Ich gratuliere ihr zu ihrem Buch, ihrem Schreiben, weil sie es durch Sprache und Erzählen schafft, viel mehr als bloss Geschichten zu transportieren. Ich gratuliere ihr zu dieser Kraft, die aus dem Buch entströmt, dass sie sich mit jedem Buch neu erfindet, ihrem Bestreben, mit ihrem Schreiben nicht nur sich selbst und ihren LeserInnen schmeicheln zu wollen.

© Lea Frei

Nun ist der Preis aber auch schon wieder Geschichte. Andere Preise in der Literatur hallen noch immer nach, wenn auch nicht durch die prämierte Literatur, sondern in der Wirkung, die sie auslösen. Es ist zu bezweifeln, dass durch die Schlacht, die nach der Nobelpreisverleihung medial ausgetragen wurde, jemand beginnt, die Bücher von Peter Handke zu lesen.

Vergiften Wettbewerbe die Literatur? Oder den Literaturbetrieb? «Literatur bewegt!», meinen die einen. «Kunst ist nicht deren Wirkung!», mahnen die andern.
Wie sollen Bücher mit anderen gemessen werden? Wie soll aus der schieren Menge an Veröffentlichungen, nach welchen Kriterien auch immer, ein einziges auf ein Podest gehoben werden, um dieses als Sieger zu küren?

Sibylle Bergs Roman «GRM Brainfuck» steht auf diesem Podest. Ivna Žic, Tabea Steiner, Simone Lappert und Alain Claude Sulzer blieben bei der Preisverleihung in der ersten Reihe sitzen, mehr oder weniger gefasst. Gerechtfertigt? Ist «GRM Brainfuck» nun der beste Roman, der irgendwie mit der Schweiz in Verbindung gebracht werden kann? Es ist müssig darüber zu diskutieren. Die Jury hat entschieden, Sibylle Berg ihr Preisgeld und den Blumenstrauss, ihren Platz in der illustren Liste der PreisträgerInnen und die Gewissheit, dass dieses eine Buch sich dank der medialen Aufmerksamkeit besser verkaufen lässt. Besser verkaufen? I wo! Wer bei Verlagen nachfragt, staunt!

Lässt sich Kunst vergleichen? In einen Wettbewerb setzen? Niemand vergleicht den Maler Gerhard Richter mit Fischli / Weiss. Niemand Anne-Sophie Mutter mit Nora Jones, Brad Pitt mit Martina Gedeck. Wer glaubt schon wirklich, den besten Film des Jahres zu sehen, wenn man der Oscarjury folgt.
Wer mit Ambitionen wettkampfmässig schwimmt, will Bestzeiten, im Wettbewerb gewinnen. Aber Literatur wird nie in ein Raster passen, in dem «objektiv» verglichen werden kann. Literatur muss sich nicht in einem Wettbewerb beweisen, bloss durch Relevanz. Und diese wird nicht durch Wettbewerbe bewiesen, nicht einmal durch die Verkaufszahlen eines Buches. Literatur muss nichts, nur überzeugen, schon gar nicht «besser» sein. Literatur ist Sprache. Und alles, was in Sprache messbar sein könnte, verflüchtigt sich, wenn einem bewusst ist, dass SchriftstellerInnen, DichterInnen KomponistInnen sind: an Sprache, an Klang, Dramaturgie und Konstruktion, Raffinesse und Überraschung.

Sibylle Berg hat ihn verdient, ihr Roman hat mich überzeugt. So wie mich in diesem Jahr alle Bücher auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises in ihrer ganz speziellen Art überzeugten. Ein guter Jahrgang.
Aber niemand kann so sehr auf einen solchen Wettbewerb verzichten, wie die Literatur selbst.

Ist ein solcher Wettbewerb «Leseförderung für Erwachsene»? Verkaufsförderung für den Buchhandel? Publizität für gewissen Köpfe im Literaturbetrieb (meiner eingeschlossen)? Reicht es, die Webseite schweizerbuchpreis.ch zu starten, einer Jury die Bücher zuzuschanzen, die ShortlistautorInnen auf Lesereise zu schicken? Eine medial unterstützte Show im Foyer des Theaters in Basel mit Musik, Blumen, vollen Gläsern, Häppchen und wohl gewählten Worten zu organisieren? Wieviel ist uns eine «Schweizer Literatur» wert? Gibt es diese überhaupt?

© Benjamin Koechlin

Ich gratuliere Sibylle Berg zu ihrem Titel als Schweizer Buchpreisträgerin, für ihr Buch. Aber vielmehr für ihren Fleiss, ihre Akribie, ihre Frische, ihren Mut und den ganz eigenen Sound.
Aber noch mehr all den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Dichterinnen und Dichter, die mir mit jedem Buch, mit jeder Veröffentlichung beweisen, dass Welt nicht nur an Oberflächen passiert. Den Verlagen, vor allem den kleinen, die unerschrocken, tapfer, selbstlos und voller Enthusiasmus Buch um Buch auf die Verkaufstische zu bringen versuchen, jedes Mal davon überzeugt, eine Perle aus der Muschel gebrochen zu haben. Den unabhängigen Buchhandlungen, die weit mehr sind als Verkaufsstellen, die sich mit Herzblut und grossem Wissen um das Kulturgut Buch bemühen.

Kennen Sie die Kurzprosa von Christine Fischer im Orte Verlag? Die Prosa von Dragica Holzer Rajćić im Verlag Der gesunde Menschenversand? Die kunstvollen Betrachtungen des literarischen Schwergewichts Felix Philipp Ingold im Ritter Verlag? Oder die sagenhaften Geschichten von Tim Krohn im Kampa Verlag?
LESEN sie! Lesen macht Eindruck (und das meine ich mehrdeutig)! Lesen macht klug! Lesen bereichert! Lesen rettet die Welt!

Rezension von «GRM Brainfuck» auf literaturblatt.ch

Ivna Žic «Die Nachkommende», Shortlist #SchweizerBuchpreis19/10

Die junge, 1986 in Zagreb geborene und in Zürich aufgewachsene Ivna Žic schrieb mit „Die Nachkommende“ einen Roman, der nicht in erster Linie eine Geschichte erzählen will. Ivna Žic erzählt Bilder, die sie aus Vergangenheit und Gegenwart mit sich trägt, Bilder, die mit dem Lesen zu Geschichten werden. So wie ein Grossvater mit einem Mal zu malen aufhört und nie eine Antwort dafür gibt, warum er den Pinsel weglegte, so taucht Ivna Žic als Prosamalerin auf und malt beeindruckend.

© Lea Frei

Eine junge Frau bewegt sich hin und her, von Zürich nach Zagreb, von Zagreb zurück, nach Paris. Aber nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich. Zurück in Bildern aus ihrer Kindheit, noch weiter in das familiäre Bewusstsein einer ganzen Sippe. An die Seite eines Mannes, den sie liebte, der sie liebt, aber eine Liebe, die von beiden Seiten nicht hielt, was sie versprach. An die Seite ihrer Grossmutter, der sie als Kind das Wasser in Kübeln vom Meer auf die Veranda brachte und die ihre Füsse darin badete, ohne je einmal wieder mit ans Meer zu kommen. An die Seite des Grossvaters, des rauchenden Deda, der einmal malte, sich in die Erinnerung der Erzählten malte, tief ins Bewusstsein und nie enträtselte, warum er zu malen aufhörte.

„Warum hast du aufgehört zu malen? Es gibt anderes, sagte er dann, irgendwann, immer wieder…“

Ivna Žic erzählt vom Unterwegssein, der Unmöglichkeit, wahrhaftig an einem Ort zu sein oder an der sicheren Seite eines Menschen. Alles wandelt sich, nichts bleibt, wie es ist. Wer dort ist, soll da sein. Sie erzählt vom Verlust von Heimat, der Suche nach ihr, den Verpflichtungen und Rufen einer Sippe, dem Wunsch, ein eigenständiges Leben zu führen, ungebunden und doch irgendwo zuhause zu sein, der Sehnsucht all jener, die sich nach inneren Bildern sehnen, die von der Gegenwart vergessen sind. Die Sehnsucht, sich nahe zu kommen und die Ernüchterung darüber, dass zum andern und gar zu sich selbst unüberwindbare Distanz bleibt.

„… Geschichten der letzten Generationen, die an meinem Körper kleben, dranhängen, als wären sie vergessen, und doch pochen sie jeden Tag, wandern sie jeden Tag mit…“

Die Erzählerin sitzt und liegt nachts im Zug und die ganze Sippe setzt sich im Dunkel des ratternden Gefährts an die Seite der jungen Frau, flüstert, ruft und erzählt. Die Erzählerin sitzt im Bus, 12 Stunden zurück in die Schweiz nach Zürich, ganz nah all den andern, die Geschichten und Bilder mit sich herumschleppen. Von einem Ort zum andern, wie Generationen zuvor, als Kriege und Grenzen Reisen von Süden nach Norden zu Fluchten machten. Von einem Land, das in diesem Jahrhundert mehrfach von Kriegen, verschiedensten Regimen gebeutelt wurde, in ein Land der „eingeschlafenen Körper“.

Die Protagonistin reist hin und her, getrieben von ihr selbst, von unbeantworteten Fragen, verschwiegener Geschichte, dem Gefühl nirgendwo zuhause zu sein. Unvereinbare Welten, die sie auseinanderzureissen drohen. Auf der Grossmutterinsel die stete Frage, wann sie wiederkomme und in der Stadt, in der sie wohnt, die dauernde Frage, ob sie von hier sei.

Ivna Žic erzählt und webt ein Netz in die Landschaft, dessen Bänder sich mit jedem Erzählstrang mehr und mehr zu einem grossen, ganzen Bild zusammenfügen. Sie erzählt wie ein Maler malt, nicht von links oben nach rechts unten, sondern Pinselstrich für Pinselstrich auf der Leinwand der Zeit. Zugegeben, Ivna Žics Prosa entschlüsselt sich nicht von selbst. Sie verlangt von Lesenden einiges ab. Aber wer sich auf die Musik in der Sprache der jungen Schriftstellerin einlässt, die Intensität ihrer Sprache, der wird reichlich belohnt.

«Ein Interview»:

In Ivna Žics Roman „Die Nachkommende“ stellt die namenlose Protagonistin ein paar Fragen an den Schalterbeamten Herr Zlatko.
Fragen, die ich der Autorin stellte:

Warum sind Sie gerade hier und nicht anderswo?
Jetzt gerade bin ich hier, in Zürich, und nicht anderswo, weil ich das Stück GEBROCHENES LICHT am Theater probe. Das schöne am Medium Theater ist: Man muss da sein, hier sein und kann nicht anderswo, es geht nicht digital oder per Mail, es geht nur hier und jetzt.

Warten Sie auf etwas?
Momentan nicht wirklich, die Tage sind voll, wir sind mitten in Endproben und die Première rückt von Stunde zu Stunde näher.

Was oder wer fehlt Ihnen?
Etwas Ruhe zum  Schreiben.

Haben Sie Zeit?
Ich nehme sie mir, jeden Tag aufs Neue.

Hassen Sie?
Nein.

© Lea Frei

Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Für ihren Debütroman »Die Nachkommende«  wurde sie 2019 sowohl für den Österreichischen Buchpreis als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. Sie lebt in Zürich und Wien.

Illustrationen © Lea Frei

Die Shortlist ist da! #SchweizerBuchpreis19/3

5 Namen, 5 Bücher. 4 Frauen, 1 Mann. 2 Debütromane, 1 «Zweitling», 2 Werke in langer Reihe. Vom Kleinräumigen ins Grossräumige, von rissiger Idylle bis zur Endzeitstimmung. Die Shortlist des Schweizer Buchpreises 2019 hat es in sich und überrascht. Wie immer. Was sie auch tun soll.

© Lea Frei

Freuen sie sich! Der kleine Strauss an Büchern könnte unterschiedlicher und vielseitiger nicht sein. Wer sie alle liest, wird staunen, wie breit sich Literatur lesen lässt, dass sich sowohl Inhalte wie Erzählweisen diametral voneinander unterscheiden können. Lesen Sie nicht nur die Bücher, sondern nutzen sie die vielen Möglichkeiten, die Autorinnen und den Autor auf ihrer langen Lesereise zu begegnen (z. B. am 25. Oktober im Literaturhaus Zürich oder an der BuchBasel vom 8. – 10. November).

Für den Schweizer Buchpreis 2019 hat die Jury über 70 Titel aus 45 Verlagen geprüft. Der Jurysprecher Manfred Papst sagt zur Wahl: „Die Bandbreite an Themen und Herangehensweisen war gross, und es gab viele interessante junge Stimmen. Die Jury hat sich für fünf eigenwillige und überraschende Texte entschieden:

Jury: In ihrem Roman «GRM.Brainfuck» treibt Sibylle Berg den entfesselten Neoliberalismus auf die Spitze und attackiert eine moralisch verkommene Zwei-Klassen-Gesellschaft mit ihrer eigenen entfesselten Phantasie. Dieser Entwicklungsroman ist eine Mind Bomb von emotionaler Wucht.»

Sibylle Berg ist ein Eckpfeiler in der deutschsprachigen Literatur, Garantin dafür, dass Literatur Leserinnen und Leser an die Grenzen der Wohlfühlzone bringt – zuweilen auch darüber hinaus. Sibylle Berg schreibt keine Literatur fürs Nachttischchen. Wenn man dann doch vor dem Schlaf liest, kann sich das Gelesene durchaus störend in den Schlaf schleichen.

© Lea Frei

«GRM.Brainfuck»
Vier Kinder in einer heruntergekommenen Stadt in Grossbritannien, in einem kaputten Staat, der auf Überwachung setzt. Sibylle Berg (*1962) verlängert in «GRM.Brainfuck» (Kiepenheuer & Witsch, 2019) eine brutale Gegenwart in eine gnadenlose Zukunft.

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Jury: «Im vielschichtigen Roman «Der Sprung» zeigt die Autorin Simone Lappert in einem raffiniert konstruierten Geschichtenmosaik, wie ein einziger dramatischer Moment auf verschiedene Einzelschicksale einwirkt.»

Simone Lappert überzeugte schon 2014 mit ihrem Debütroman «Wurfschatten». Mit «Der Sprung» gelang ihr aber weit mehr Aufmerksamkeit – mit Recht! Und seit dem vergangenen Internationalen Lyrikfestival in Basel im Januar dieses Jahres freue ich mich auch auf Simone Lapperts ersten Lyrikband. Die junge, umtriebige Schriftstellerin ist ein grosses Versprechen für die Zukunft!

© Lea Frei

«Der Sprung»
Eine junge Frau steht auf dem Dach eines Mietshauses und weigert sich herunterzukommen. Das bringt den Alltag verschiedener Menschen aus dem Gleichgewicht. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt Simone Lappert (*1985) in «Der Sprung» (Diogenes, 2019) von Halt und Freiheit.

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Jury: «Der Traum vom Familienidyll auf dem Land erweist sich in Tabea Steiners Debütroman «Balg» als trügerisch. Der Alltag mit Kind ist für Antonia und Chris anstrengender als erwartet, zur Isolation und Überforderung gesellt sich eine zunehmende Entfremdung. Diese Entwicklung zeichnet Tabea Steiner in einer einfachen, lakonischen Sprache mit glasklaren Bildern nach.»

Tabea Steiner, schon lange tätig als Organisatorin verschiedener Literaturfestivals (Literaare in Thun oder Aprillen in Bern), als Moderatorin, Literaturvermittlerin lebt ganz in der Literatur. Dass ihr jetziger Verlag Edition Bücherlese zusammen mit ihr ins Rennen um den Schweizer Buchpreis geschickt wird, freut mich sehr.

© Lea Frei

«Balg»
Timon, ein «Problemkind», steht im Zentrum des Debütromans «Balg» (edition bücherlese, 2019) von Tabea Steiner (*1981). Aus wechselnden Perspektiven erzählt sie von Überforderung und Ausgrenzung in einem Dorf, das nicht zur Idylle taugt.

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Jury: «Alain Claude Sulzer erzählt in seinem Roman «Unhaltbare Zustände» die Geschichte eines gewissenhaften alternden Angestellten. Der Autor schildert in einer Sprache, die sich und uns Zeit lässt, eine so vielschichtige wie anrührende Figur.

Seit Alain Claude Sulzers Roman «Urmein», der vor mehr als 20 Jahren bei Klett-Cotta erschien, bin ich treuer Begleiter des Basler Schriftstellers. Ein Autor, der es versteht, aus der Normalität den Glanz des Speziellen herauszufiltern, der mir das Gefühl gibt, an etwas Besonderem teilzuhaben.

© Lea Frei

«Unhaltbare Zustände»
Die Schaufenster des Dekorateurs Stettler sind legendär, über viele Jahre pilgern die Leute zum Warenhaus, um sie zu sehen. Doch dann kommt Stettlers Leben ins Wanken. Alain Claude Sulzer (*1953) beleuchtet in «Unhaltbare Zustände» (Galiani, 2019) die gesellschaftlichen Umbrüche der 1968er Jahre auf ungewöhnliche Weise.

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Jury: «Ein Zug zwischen Paris und Zagreb, eine junge Frau zwischen den Ländern und Sprachen ihres Lebens: «Die Nachkommende» von Ivna Žic ist ein Debüt von grossem Sprachbewusstsein und sinnlicher Intensität.»

Ivna Žic, eine neue Stimme, «wie aus dem Nichts» schreibt der Tages Anzeiger, eine frische Art des Erzählens. Eine Lesereise, bei der ich als Leser oder Leserin mit einsteige, weg und hin – oder hin und weg. Ihr Erstling «Die Nachkommende», erschien beim renommierten Wallstein Verlag.

© Lea Frei

«Die Nachkommende»
Ivna Žic (*1986) verbindet in ihrem Debütroman «Die Nachkommende» (Matthes & Seitz, 2019) die Geschichte einer jungen Frau, die unterwegs zu ihrer Familie in Kroatien ist, mit einer Liebesgeschichte in Paris. Eine vielschichtige Spurensuche zwischen damals und heute.

Und seien sie weiterhin dabei, wenn litertaturblatt.ch seinen Senf dazu gibt!

Sämtliche Illustrationen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)