Yusuf Yeşilöz «Nelkenblatt», Limmat

Pina ist jung, fremd im Land, geflüchtet, kennt niemanden. Elsa ist alt, hat ein ganzes Leben in diesem Land gelebt und fürchtet sich nicht vor dem nahen Tod. Pina liess sich vermitteln, soll Elsa auf dem letzten Stück ihres langen Lebens begleiten, im Haus von Elsa leben, helfen, pflegen, in dauerndem Kontakt zu Luzia, Elsas Tochter, die fest eingespannt ist in ein Leben, dass ihr für die Mutter nur wenig Zeit und Freiheiten lässt.

Yusuf Yeşilöz hätte eine Geschichte über eine illegal arbeitende Pflegekraft schreiben können, die es zu Hauf gibt. Tat es aber nicht. Yusuf Yeşilöz hätte einen Roman über die Flucht einer jungen Frau aus einem muslimischen Land, deren immer konservativer werdende Regierung Freiheiten und Öffnungen mit Repression unterdrückt, schreiben können. Tat er so ganz nebenbei, als wäre es ein Unterton. Yusuf Yeşilöz hätte eine reissende Story schreiben können über Ausbeutung, Einsamkeit und Isolation. Wollte er nicht.

«Wasser findet immer einen Bach, in dem es fliessen kann.»

„Nelkenblatt“ ist eine ganz behutsam, beinahe zärtlich erzählte Geschichte zweier Frauen, die man zusammengeführt hatte, eine Schicksalsgemeinschaft auf einem kleinen Stück Lebensweg, auf dem es keine Alternativen mehr gibt. Elsa weiss, dass ihr Leben nicht mehr lange dauern wird und Pina, dass es der einzige Weg ist, eine bezahlte Aufgabe zur haben, ein Stück Sicherheit in einem Land, in dem sie zwar angekommen, aber noch lange nicht zuhause ist. „Nelkenblatt“ ist auch eine Liebesgeschichte zweier ungleicher Frauen, die beide in ihrer Art für die andere da sein wollen, da sein müssen. Während Pina alles tut, um den Vorgaben Elsas gestrenger Tochter Luzia gerecht zu werden, um das ruhig und still gewordene Leben der alten Frau so angenehm wie möglich zu gestalten, findet Elsa in Pina ein Gegenüber, das nicht hetzt, nicht fordert, Zeit hat und zuhört. Elsa und Pina beginnen zaghaft zu erzählen. Pina, weil Elsa sie dazu ermuntert und Elsa, weil sie die Bilder teilen will, die sie auf dem letzten Abschnitt ihres langen Lebens begleiten. 

Yusuf Yeşilöz «Nelkenblatt», Limmat Verlag, 2021, 160 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03926-012-6

Elsa erzählt von ihrem Mann, von dem sie sich trennte, der aber immer Teil ihrer Familie blieb. Von ihren Kindern, jenen, die gingen und jenen, die blieben. Von den guten und den schweren Momenten eines Lebens, das sie abschliessen, das sie auf keinen Fall in die Länge ziehen will, das ihr schwer geworden ist. Pina erzählt ihr von ihrem Zuhause, das sie verliess, dem Land, aus dem sie fliehen musste. Von der Zeit, in der die Familie wegen der kranken Mutter das Dorf, in dem sie gross wurde, verlassen musste, um in die Stadt zu ziehen, den Spitälern, der medizinischen Versorgung näher. Wie sie wegen der Schule in eine andere Stadt ziehen musste und das Sterben ihrer eigenen Mutter nur aus der Ferne mitbekam. Vom Schwert, der sich tief in ihrer Seele einnistete.

Pina und Elsa leben zusammen im Haus der alten Frau, wissend, dass der Tod nah ist, dass es jeden Moment soweit sein kann. Elsa auf Erlösung und Erleichterung wartend und hoffend. Pina in der leisen Angst, auch diesmal nicht am richtigen Ort zu sein.

Yusuf Yeşilöz erzählt in leisen Tönen, als wolle er in seinem Erzählen keine Wirbel erzeugen. Genauso wie Elsa in ihren letzten Tagen und Pina in ihrer Art zu helfen. Yeşilözs Sprache ist der Spiegel des Geschehens, sein Roman wie ein ganz ruhiges Kammerstück zweier Frauen, das nur dann aufgewirbelt wird, wenn Luzia, die Tochter Elsas, die durch Organisation helfen will, Durchzug verursacht, den ruhigen Fluss aufmischt. Aber selbst die Figur dieser Tochter bleibt sympathisch, weil sie Hilflosigkeit und Lähmung zeigt, die angesichts der Unvermeidbarkeit eines Endes auf die Frauen zukommt.

Und nicht zuletzt schreibt Yusuf Yeşilöz in einem Sound, den seine kurdische Herkunft in eine ganze eigene Färbung eintaucht. Die Art seines „Geschichtenerzählens“ taucht Sätze und Szenerien in ein ganz besonderes Licht, ein Licht, das Yusuf Yeşilöz von weit her in dieses Land getragen hat und sich als Schatz erweist!

Interview 

Nelken sind Blumen, die ich mit Beerdigungen, mit Grabschmuck in Verbindung setze. Grossmutterblumen. Was bedeuten sie für dich? Was bedeuten Gartenblumen überhaupt für dich? Bist zu Gärtner? 
Ich bin ein schlechter Gärtner. Der Titel Nelkenblatt ist auf die erste Szene im Buch zurückzuführen. Elsa «checkt» ihre künftige Betreuerin. Als diese sagt, dass ein Herz so zerbrechlich sei wie Nelkenblatt, ist das für Elsa eine gute Referenz, dass ihre Betreuerin zu ihr freundlich sein wird. Diese zarte (auch Gallus beschreibst es so) Atmosphäre sollte das ganze Buch begleiten.

Über Pins Herkunft gibt es Hinweise. 3890 km entfernt und der Name Samhirada. Samhirada scheint im Internet nicht zu existieren. Deine Heimat aber, „Kurdistan“, ist ziemlich genau so weit entfernt. Warum nur Andeutungen? 
Ich wollte hier keine genaue Herkunft nennen. Pina könnte von überall sein, Kurdistan, Iran, Irak oder Jordanien oder Algerien. Es ist eine junge Frau, die du vielleicht auch am Bahnhof in Kreuzlingen oder Amriswil vom weiten sehen kannst. Unter den in die Schweiz Geflüchteten sind auch viele Frauen dabei – im Gegensatz zu früher. Auf dem Weg zu einem selbständigen und gleichberechtigten Leben hat sie für «ihr Ticket» sehr viel bezahlt. Übrigens auch in Westeuropa haben Frauen für Gleichberechtigung lange gekämpft und sie kämpfen noch.

Es sind Gegensätze, die sich auf ganz zarte Weise gegenüberstehen, als wäre es eine Bühne, ein Kammerstück: alt und jung, fremd und schon immer da, abgeschnitten und eingebunden, an einem Anfang und an einem Ende. „Gegensätze“ ist aber durchaus ein Yeşilöz’sches Thema – oder? 
Ja. Ich möchte deine Frage als Antwort formulieren.

„Nelkenblatt“ ist ein Buch über Liebe, Freundschaft, das Zuhause und den Tod. Sterben und Tod lassen wir gerne draussen und beschäftigen uns erst damit, wenn die Konfrontation ansteht, wenn sie unvermeidbar ist. Wenn Literatur eine Aufgabe hat, dann die der Konfrontation. Alles andere ist seichte Unterhaltung. Oder ist Kunst ohne Aufgabe? 
Der Literatur werden viele Aufgaben zugewiesen, manchmal leider zu viele. Für mich ist sie eine Nahrung, etwa der Zucker im Apfel.

Pina ist geflohen, weil sie „erneuern“ wollte. Elsa ist stets geblieben, weil sie bewahren wollte. Wo ist dein Zuhause? 
Mein Zuhause ist dort, wo ich mich wohl und so akzeptiert wie ich bin fühle.

Yusuf Yeşilöz, geboren 1964 in einem kurdischen Dorf in Mittelanatolien, kam 1987 in die Schweiz. Heute lebt er mit seiner Familie in Winterthur und arbeitet als freier Autor, Übersetzer und Filmemacher. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Sein Roman «Hochzeitsflug» wurde 2020 von Gitta Gsell unter dem Namen «Beyto» verfilmt.

Webseite des Autors

«Menschenrechte. Weiterschreiben», herausgegeben von Svenja Herrmann und Ulrike Ulrich, Salis Verlag

Die Menschenrechte werden 70, erreichen das Greisenalter, drohen zu sterben, auch wenn die hohen Hallen der UNO Ewigkeiten ausstrahlen. Svenja Hermann und Ulrike Ulrich, zwei Schriftstellerinnen, die sich vor zehn Jahren schon einmal daran machten, als Herausgeberinnen den Menschenrechten zu einem Jubiläum eine literarische Stimme zu geben, luden zusammen mit Amnesty International und dem Literaturhaus Zürich zur Buchtaufe von „Menschenrechte. Weiterschreiben“ ein.

Art. 1
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Vor 70 Jahren, von den Schrecken eines Weltkriegs gebrannt, im Wissen darum, dass nur Toleranz und Völkerverständnis, gleiche Rechte für alle und ein einigermassen verbindliches Gefühl für Sicherheit eine weitere kriegerische Katastrophe verhindern kann, formulierte man 30 Artikel allgemein gültiger Menschenrechte. Die UNO machte sich zum Hüter des Grals, baute hohe Häuser, hisste viele Fahnen, schützte sich mit blauen Helmen und glaubte daran, dass Dialog der einzige Weg sein müsste, die Welt vor einem erneuten Aufflammen globalen Krieges zu schützen.

Art. 5
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Statt dessen sind Politik und Wirtschaft der Welt der Arroganz wie niemals zuvor ausgeliefert. Wer die 30 Artikel der Menschenrechte liest, schüttelt den Kopf. Nicht über deren Inhalt, sondern über ihre Bedeutungslosigkeit angesichts selbstverliebter Potentaten und allmächtiger Konzerne. Wer sie wirklich liest und sich auf sie einlässt, spürt die Hoffnung, die darin steckt, den Glauben an die Menschheit, den ungebrochenen Glauben an eine menschenwürdige Zukunft, dass Wissen, dass einzig Toleranz und Respekt einer drohenden Katastrophe entgegenwirken können. Das Lesen der 30 Artikel der Menschenrechte schmerzt, tut weh, dieser selbstverständliche, gradlinige Ton, diese Sätze, die offensichtlich und überall mit Füssen getreten werden, sei es von den eigenen Politikern im Land, den umsatz- und wachstumsgeilen Wirtschaftskäpitänen oder selbstverliebten Staatsoberhäuptern diesseits und jenseits der grossen Wasser. Die Distanz und Diskrepanz zwischen formuliertem Recht und globaler Wirklichkeit sind hanebüchen.

Art. 12
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

30 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus allen Landesteilen der Schweiz wurden von den Herausgeberinnen angefragt und durch das Los an einen der 30 Artikel der allgemeinen Menschenrechte zugeteilt. Entstanden sind 30 unterschiedlichste Texte, Geschichten, Gedichte, Gedanken, Essays. Literatur als Trägerin universeller Werte, die durch die Menschenrechtserklärungen verdeutlicht werden. Ein Zeugnis davon, wie weit diese Erklärungen gefasst werden können, wie leidenschaftlich sich die und der Schreibende dazu äussert.

Art. 23
Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.

Das Buch soll zum Nach- und Weiterdenken anregen, beweisen, dass nicht gezweifelt wird an ihrer Relevanz und Stärke. In einer Zeit, in der es 70 Jahre nach der Verschriftlichung nicht mehr um Forderung, sondern um bitternotwendige Verteidigung geht. Menschenrechtskriege, Menschenrechtsverletzungen geschehen nicht nur in der Ukraine, in der Türkei, in den Strassenschluchten amerikanischer Grossstädte und staatlich organisiert an Völkern wie den Uiguren in China. Wer die Menschenrechte liest, und dazu braucht es keiner besonderen Interpretationen, stellt fest, dass es vor der Haustüre brennt, dass man uns selbst in der Schweiz fast jedes Jahr dazu zwingt, an der Urne gegen die gesetzlich verankerte Verletzung anzukämpfen.

„Das Gewissen ist ein Gefäss mit Löchern.“ Gianna Molinari

Autorinnen und Autoren:
(D) Amina Abdulkadir, Sacha Batthyany, Urs Faes, Catalin Dorian Florescu, Lea Gottheil, Petra Ivanov, Daniel Mezger, Gianna Molinari, Werner Rohner, Ruth Schweikert, Monique Schwitter, Eva Seck, Henriette Vásárhelyi, Benjamin von Wyl, Julia Weber, Yusuf Yeşilöz
(F) Odile Cornuz, Isabelle Capron, Daniel De Roulet, Heike Fiedler, Max Lobe, Noëlle Revaz, Sylvain Thévoz
(I) Laura Accerboni, Vanni Bianconi, Francesco Micieli, Alberto Nessi, Fabio Pusterla
(R) Göri Klainguti, Leo Tuor
Svenja Herrmann, 1973 in Frankfurt a. M. geboren, Schriftstellerin, Studium der Germanistik und Rechtsgeschichte, Schriftstellerin (Lyrik), seit vielen Jahren als Begabungsförderin im Bereich Literatur tätig, vor mehr als zehn Jahren hat sie »Schreibstrom« ins Leben gerufen: Ein Projekt für kreatives und literarisches Schreiben für Kinder und Jugendliche in und um Zürich, Lerntherapeutin i.A.  Jüngstes genreübergreifendes Vermittlungsprojekt in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Bettina Eberhard: Video Poem für Jugendliche. Für ihre literarischen Arbeiten wurde Svenja Herrmann mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit einem Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung (2015) und mit einem Werkbeitrag des Kantons Zürich Herbst 2015.
Ulrike Ulrich, 1968 in Düsseldorf geboren, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik. Seit 2002 lebt und arbeitet sie in der Schweiz. 2010 erschien ihr Romandebüt »fern bleiben« im Luftschacht Verlag in Wien. 2008 erschien die Anthologie »60 Jahre Menschenrechte – 30 literarische Texte« im Salis Verlag. Sie ist Mitglied der Literaturgruppe index (www.wortundwirkung.ch). Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie 2010 den Walter Serner-Preis und einen Anerkennungspreis der Stadt Zürich, 2011 den Lilly-Ronchetti-Preis.

literaturblatt.ch macht ERNST

Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

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