„Nicht die Vergangenheit ist das Bedrohliche, es ist das Vergessen.“ Hansjörg Schertenleib las ein letztes Mal – an den Weinfelder Buchtagen!

Hansjörg Schertenleib ist ein Unermüdlicher. Seit mehr als vier Jahrzehnten reiht er Buch an Buch, schreibt Theaterstücke, übersetzt und scheut sich nicht, eine leidenschaftliche Diskussion darüber zu führen, was Literatur ist, was gute Literatur ist. Hansjörg Schertenleib schreibt von den zarten Dingen in einer äusserst starken Sprache, beschreibt Innenwelten und Aussenwelten mit kräftigen Farben und macht mir bewusst, das Schreiben eine Form des Sehens ist.

Vor bald dreissig Jahren wanderte Hansjörg Schertenleib nach Irland aus, in den Nordwesten, nach Donegal, in eine archaische Gegend, dem Wetter ausgesetzt, in ein freistehendes Schulhaus auf einem sanften Hügel. Mehr als zwei Jahrzehnte lebte er dort, schrieb und erlangte irgendwann gar die irische Staatsbürgerschaft.

Sein neustes Buch erzählt von dieser Zeit, auch wenn die Handlung fiktionalisiert ist und es die Geschichte eines Mannes ist, der allein sein Leben in Donegal beginnt. „Schule der Winde“ ist die Geschichte eines Mannes, der neu beginnen will, nicht weil sein altes Leben gescheitert wäre, sondern weil ihn ein Leben lockt, dass so ganz anders sein soll, als jenes in seinem beengenden Heimatland.

Er zieht in ein Haus mit Geschichte. Zum einen ein Schulhaus, zum andern ein Wohnhaus, gekauft von einem Ehepaar, das fast alles in dem Haus zurückliess. In ein Haus, das Geschichten erzählt, an einen Ort, an dem der Wind Geschichten zum Haus trägt. Ein Ort, der ihn öffnet, der ihm das Schreiben leicht macht.

„Wird ihm das Leben in der Fremde helfen, irgendwann zu wissen, was er sieht, statt zu sehen, was er weiss?“

Hansjörg Schertenleibs Buch ist kein Roman, entzieht sich einer Gattung, ist ganz und gar nicht plottorientiert. Aber „Schule der Winde“ ist voller Geschichte und Geschichten. Hansjörg Schertenleib schreibt nicht nur von dem Mann, seinen Erkundungen nach innen und aussen. Er schreibt von den Geschichten, die ihm das Haus erzählt, Lebensgeschichten von ehemaligen Schülerinnen und Schülern, Dialogen aus den Pubs der Umgebung, Erlebnisse mit Nachbarn, auch wenn es solche gibt, die ihn nie in ihr Leben einlassen. Hansjörg Schertenleib taucht in die Geschichte eines Landes ein, das über Jahrzehnte und Jahrhunderte von blutigen Konflikten zerrissen wurde. Er erkundet Menschen, Landschaft, die Sprache, die Tiere ums Haus, z. B. Krähen, aber auch die Landschaften, Räume und die Sprache in ihm selbst.

Der eigentliche Protagonist des Buches ist die Sprache. Überaus sinnlich, glasklar, nie verklärend, nie aufbauschend und effekthaschend. Ehrlich und poetisch, musikalisch und präzis.
Hansjörg Schertenleib beschreibst äusserst stimmungsvoll. Man sieht nicht nur, man fühlt mit, man riecht, schmeckt und hört. Wahrnehmungen, die so nur dem Buch vorbehalten sind. Trotzdem ist es, als ob man in seinem Buch durch eine Ausstellung grossformatiger, gemalter Bilder geht, Bilder, die Geschichten erzählen. Aber da sind auch Texte eingeflochten, die der Erzähler im Schulhaus schreibt, ziemlich düstere Zukunftsvisionen, Miniaturdystopien, als wolle das Unterbewusstsein des Autors der für ihn überwältigenden Schönheit Donegals entgegenwirken.

Ich danke der Organisation der Weinfelder Buchtage für die Begegnung mit Hansjörg Schertenleib. Vor allem auch deshalb, weil er während dieser Veranstaltung verkündete, es würde seine letzte Lesung sein.

Rezension «Schule der Winde» auf literaturblatt.ch

Hansjörg Schertenleib «Schule der Winde», Kampa

Ein Mann um die vierzig beginnt ein neues Leben in der nordwestirischen Abgeschiedenheit, einem ehemaligen Schulhaus, das er mit den Einnahmen eines Romans kaufen konnte. Ein Mann, der nach innen und nach aussen lauscht, was ihm die Winde erzählen und was jenen Stimmen antworten will.

Hansjörg Schertenleib ist ein grosser Erzähler. Ein Erzähler, der weder schlagkräftige Plots braucht noch raumgreifende Erzählgesten. Er schreibt von einem Mann, der die Enge seiner Heimat hinter sich lässt und auf der Suche nach einem Ort ist, der ihm jene Geschichten erzählt, die in der Vergangenheit durch alle (un)möglichen Einflüsse bedroht wurden; eine zerbrochene Beziehung, ein Literaturzirkus, dem er sich in keiner Weise mehr verbunden fühlte, ein Leben, das ihm den Atem nahm. Auch wenn Hansjörg Schertenleib nicht einfach seine ersten Jahre in Donegal nacherzählen will und dem Mann, der noch im ausgehenden Jahrtausend ein freistehendes ehemaliges Schulhaus zu seinem neuen Refugium macht, jene Chance gibt, die ihm damals verwehrt blieb, ist sein Roman „Schule der Winde“ ganz in der Tradition von „Palast der Stille“, ein sehr persönliches Buch über eine Zeit, die den Mann und Schriftsteller bis ins Mark prägte. In „Palast der Stille» waren es die Jahre an der US-amerikanischen Ostküste und nun die zwanzig Lebens- und Schreibjahre in der Region Donegal im Nordwesten Irlands.

«Irgendwann ersetzen unsere Erzählungen über das, was wir erlebt haben, unsere Erinnerungen daran.»

Hansjörg Schertenleib «Schule der Winde», 2023, 208 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-311-10051-5

„Schule der Winde“ ist aber nicht nur das verschriftlichte und verdichtete Nachspüren einer Zeit, die selbst jetzt, Jahre später noch immer in ihm nachhallt. Es ist auch nicht die Geschichte eines Entflohenen. „Schule der Winde“ ist ein Stück Leben eines Mannes, der neu beginnen will, der einen Ort gefunden hat, der Resonanz gibt. Von einem Mann, der ankommen will, nicht mit dem Anspruch, einer der I(h)ren zu werden, aber von den Menschen dort als der genommen zu werden, der er sein will. Erkannt zu werden. Wer sich wie er oder wie der Protagonist in seinem Roman Zeit gibt, wer den Menschen dort Respekt zeigt und sich nicht aufdrängen will, wer ihnen Zeit gibt, genauso wie der Landschaft, dem Wetter, den hörbaren und unhörbaren Stimmen, der schafft den langen Weg in die Herzen der Einheimischen; dem erzählt man Geschichten.

Ich begleite ihn auf seinen Spaziergängen am Meer, in die Pubs der Umgebung, lausche mit ihm den Gesprächen, den Stimmen im alten Schulhaus, den Krähen im Garten, der Musik an den Festen und dem Schmerz in den Erzählungen jener, die in den blutigen Jahren des offenen Kriegs der Konfessionen nicht nur Leben verloren, sondern ein tiefwurzelndes Trauma eingepflanzt. In jenes Haus auf dem Hügel, einst ein Schulhaus für Kinder einer ganzen Gegend, ein Haus voller fremder Möbel und Gegenstände, Mauern und Zimmer, die er erobern musste. Ich lese von einem Mann, der sich selbst zurückerobert, seine Ruhe, seine Kraft, seine Stimme, sein Schreiben.

«Nicht die Vergangenheit ist das Bedrohliche, es ist das Vergessen.»

Ich staune über die Poesie seiner Sätze, wie sich der Nachhall seiner Stimmen in mir festsetzt. Wie Hansjörg Schertenleib mit grosser Kunstfertigkeit Bilder erzeugt, die mich mitten ins Beschriebene versetzen, tief in eine Wahrnehmung, die mich zu seinem Verbündeten macht. Da sind aufgeschnappte Dialoge aus den Pubs, nacherzählte Lebensgeschichten von ehemaligen Schülerinnen und Schülern, die die Schulbank der Four Masters National School drückten, dystopische Geschichten eines Schriftstellers, der die Augen nicht verschliesst, Rückblenden in die blutige Geschichte eines Landes, das dem Mann ans Herz gewachsen ist und die Schilderungen eines Lebens in und um den in die Jahre gekommenen Schriftsteller, die bezeugen, wie sehr man eintauchen kann.

Dieses kluge Buch ist Balsam.

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller «Das Zimmer der Signora» und «Das Regenorchester» wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt auf die Bühne gebracht. Schertenleib lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 im Burgund.

Rezensionen der Bücher von Hansjörg Schertenleib: «Im Schilf«(2023), «Die grüne Fee» (2022), «Offene Fenster, offene Türen» (2021), «Palast der Stille» (2020), «Die Hummerzange» (2019), «Die Fliegengöttin» (2018)

Beitragsbild © David Clough

Hansjörg Schertenleib «Im Schilf», Atlantis

Väter und Mütter sucht sich niemand aus. Was sie einem mitgeben, lässt sich sehr oft erst nach Jahren umschreiben. Manchmal bleibt Dankbarkeit, manchmal der Wunsch, es besser zu machen und viel zu oft vernarbte Verletzungen, verschorfte Seelen und die permanente Angst, es würde etwas aufbrechen, was nicht mehr zu schliessen wäre.

Zwischen Schilf, noch in den Morgenstunden im Ruderboot erhält Viktor einen behördlichen Anruf; sein Vater sei gestorben. Was bei anderen Trauer auslöst, ist für Viktor eine Befreiung. Auch wenn er sich von seinem Vater vor Jahrzehnten losgesagt hatte, war die Gleichzeitigkeit beider Leben ein permanenter Vorwurf. Mit vierzehn stellte ich mir zum ersten Mal vor, er sei tot, mit fünfzehn brachte ich ihn zum ersten Mal in Gedanken um, mit sechzehn zog ich von zu Hause aus. Aber weil man sich von Vätern und Müttern wohl lossagen kann, nie aber gänzlich befreien, bleibt der Alp und die Nachricht vom Tod seines Vaters Anlass genug, dass Erinnerungen aufploppen, denen sich Viktor nicht entziehen kann. Viktors Vater war nie der Vater, der er hätte sein sollen – und er nie der Sohn, den sich der Vater gewünscht hatte. Aus gegenseitigem Unverständnis, den Erwartungen, die ausgesprochen und unausgesprochen nie Wirklichkeiten wurden, entstand eine Mauer, deren Mörtel sich mit blankem Hass mischte.

Viktor erinnert sich an Max, den Vater seiner geschiedenen Frau. Von Max erbte er das kleine Angelhäuschen am See und das Boot. Und von Max bekam er damals das Gefühl, das es auch ganz anders hätte sein können. Zusammen mit Max erlebte er Tage und Stunden, die in väterlicher Freundschaft den Schmerz darüber nicht verkleinerten, was Familie hätte sein können. Viktor erinnert sich an den Anruf seiner Ex-Frau Charlotte, die ihm vor ein paar Jahren am Telefon mitteilte, er müsse sie ans Sterbebett ihres Vaters nach Irland begleiten. Max hätte keine Ahnung, dass sie beide kein Paar mehr seien. „Es wird dir leichtfallen, nur zu spielen, mit mir verheiratet zu sein.“

So fliegt man zusammen, arrangiert sich für dieses eine Mal, als wäre das Zusammensein vertraglich festgelegt, emotional distanziert und zeitlich befristet. Aber weil schnell klar ist, dass da Altes wieder aufgekocht wird, man alten Mustern nichts entgegenzusetzen weiss, wird die Reise ans Sterbebett des alten Mannes eine ungewisse Reise in zwei Leben, die sich längst verabschiedet hatten. Was wird, wenn sich zwei, die sich einst liebten und für immer brachen, in der Not zusammenfinden?

Hansjörg Schertenleib «Im Schilf», Atlantis, 2023, 176 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-7152-5025-0

Während sich die beiden auf dieser Reise immer mehr dem einen Ziel nähern, die Zeit am Sterbebett von Max aber nur ganz kurz wird und man sich dort auch noch mit Renate herumschlagen muss, der Frau, mit der Max seine letzten Lebensjahre teilte, als man über die Art und Weise seiner Bestattung zu streiten beginnt, werden Viktors Bilder und Fragen immer drängender. Viktor erinnert sich. Und weil man in dem Gefüge, was seine Familie hätte sein sollen, nie erzählte, keine Fragen stellte und Nähe in keiner Form zuliess,  erinnert sich Viktor auch an eine Vergangeneheit, die hätte sein können. An einen Vater, den er sich herbeizeichnet, den er zu verstehen versucht, weil Viktor weiss, dass Erinnerungen zu Mühlsteinen werden, die ihn in Abgründe reissen können.

Hansjörg Schertenleibs Roman ist viel mehr als ein Erinnerungsbuch eines Versehrten. Viktor macht sich auf. Das alleine beschreibt den Unterschied zu den meisten anderen, die die zerstörerische Wucht der Vergangenheit geschehen lassen. Da geht einer auf eine Reise, weil er weiss, dass es nur wenige Chancen gibt, die Dynamik der schmerzhaften Erinnerung zu brechen. „Im Schilf“ ist ein zärtliches Buch, weder Abrechnung noch Aufarbeitung, aber die Geschichte eines älter werdenenden Mannes, der die Richtung seiner letzten Jahre selbst bestimmen will. Die Geschichte eines Mannes, der sich stellt und in den Trümmern seiner Vergangenheit das sucht, was ihm seine Ruhe zurückgeben kann.

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller «Das Zimmer der Signora» und «Das Regenorchester» wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt gezeigt. Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 bei Autun im Burgund. Im Kampa Verlag sind bislang erschienen: «Die Fliegengöttin«, «Palast der Stille» und «Offene Fenster, offene Türen» sowie die Maine-Krimis «Die Hummerzange» und «Im Schatten der Flügel».

Betragsbild © leafrei.com

Hansjörg Schertenleib «Die grüne Fee», Kampa

Ein schmaler Roman – aber alles andere als schmalbrüstig! Hansjörg Schertenleibs neuster Streich ist starke Kost, sprachlicher Hochgenuss und „herrliches“ Vergnügen. Ein dunkel irisierendes Kammerstück in einem abgelegenen Landhaus im Norden Irlands. 

Eigentlich sind Feen gute, freundliche und doch mächtige Wesen. Dass Absinth, jene grün schimmernde Spirituose, „grüne Fee“ genannt wird, kann nur mit deren Wirkung in Verbindung gebracht werden, auch wenn die grüne Fee keine Wünsche, ausser ganz kurzfristige, zu erfüllen vermag. Und trotzdem passt der Titel zu Hansjörg Schertenleibs neuem Sprachkunstwerk, denn der Rausch, den eine Flasche Absinth hervorrufen kann, ist wie der Sprachrausch, in den sich Hansjörg Schertenleib geschrieben hat und in den man Seite an Seite mit ihm in die Geschichte um Freundschaft abtauchen kann – nur hier garantiert ohne schlechte Nebenwirkungen, ohne morgendlichen Kater.

Arthur Dold ist Sonderling und Einzelgänger, ohne Familie, ohne Verwandtschaft. Schon längst im Pensionsalter handelt er noch immer mit dem, womit er schon ein Leben lange sein Geld verdiente; alte Landkarten, Atlanten und Globen. Er tut es, weil es sein Leben ist, weil es nichts anderes gibt. Zu den wenigen Menschen, zu denen er in seinem Leben Freundschaft fand, zählte Christian Aplanalp, den er während ihrer gemeinsamen Schulzeit kennenlernte, den er zwar immer wieder einmal aus den Augen verlor, vor allem als er als Maler, Künstler berühmt wurde, in die Staaten zog und Stoff für Boulevardblätter lieferte. Aplanalp ist tot, schon lange, ein Jahrzehnt. Die Umstände seines Todes waren damals mysteriös und sind es geblieben, haben sich tief ins Bewusstsein Arthur Dolds eingegraben. Weil er damals dabei war. Weil sein Freund ihn damals zu seinem Sechzigsten eingeladen hatte. Weil Dold bis heute nicht weiss, was in jenen Tagen in einem abgelegenen Landhaus im irischen County Donegal passiert sein musste.

Hansjörg Schertenleib «Die grüne Fee», Kampa, 2022, 128 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-311-12558-7

Dold erhält zehn Jahre später ein Päckchen mit einem Brief von Bernadette, Aplanalps damaliger Haushälterin. Ein Brief und ein Päckchen, das Arthur zwingt, sich noch einmal mit den Geschehnissen jener Tage, die ein Jahrzehnt zurückliegen, auseinanderzusetzen. Christian Aplanalp lebte damals schon eine Weile nicht mehr in den Staaten, hatte sich in den einsamen Norden Irland zurückgezogen, in ein Haus, das er geerbt hatte.
Arthur Dold hatte ganz unerwartet einen Brief mit einer Einladung zu Aplanalps sechzigsten Geburtstag bekommen, machte sich kurz entschlossen auf den Weg, um noch einige Autostunden entfernt vom Haus seines Freundes festzustellen, dass er nicht von Aplanalp selbst am Bahnhof erwartet wurde, sondern von einem Mann, der ihm einen Brief übergab, sich Seamus nannte und ihn mit einem Vauxhall zum Haus seines Freundes fuhr. Ein grosses Haus, das 1857 erbaut wurde, irgendwo im nirgendwo, weit ab von der nächsten Ortschaft. Arthur Dold muss feststellen, dass er der einzige Gast zum Geburtstag seines Freundes ist, eines Freundes, der ihn zuerst einmal einen Abend warten lässt und er mitten in der Nacht aus Dolds Träumen aufgewacht in aller Realität neben seinem Bett im Dunkeln sitzt.

Es treffen sich zwei. Zwei Sonderlinge. Zwei Sechzigjährige, die das Lebe zu Sonderlingen machte. Hansjörg Schertenleibs Roman erzählt jene schicksalshafte Begegnung so, als wären die beiden Protagonisten zwei erkaltete Monde, deren Gravitation sie unaufhaltsam auf eine Kollision zutreiben lässt. Zwei ergraute Männer, die sich in einem grossen Haus verlieren, das von der nicht mehr jungen Bernadette am Leben erhalten wird, deren Mutter schon in den Diensten Aplanalps Vorfahren stand. Aplanalp hat als Künstler den Faden verloren, zeichnet wohl noch mit Grafit grossvormatig, genauso düster wie die vielen geheimnisvollen Ecken, Winkel, Räume und Gänge des Hauses. Schertenleib versteht es meisterlich, eine Doyle’sche Stimmung zu erzeugen, was wohl auch den Grund gab, warum Schertenleibs Roman mit „Gespenstergeschichte“ untertitelt ist. Gespenster gibt es in jedem Leben, nicht ausgeleuchtetes Leben, das in der Gegenwart mitspielt. Schatten aus der Vergangenheit, Falltüren, die man lieber nicht mehr öffnen will. Aplanalp ist aus dem Tritt geraten. Dold so etwas wie ein Vollstrecker dessen, was Aplanalp selbst nicht ins Rollen bringt.

Es gibt AutorInnen, die eigentlich immer die gleiche Geschichte erzählen, in immer noch einer Variation. So wie Malerinnen das immer gleiche Bild aus unterschiedlicher Perspektive. Hansjörg Schertenleib fasziniert, weil er sich mit jedem neuen Roman neu positioniert, nicht in seiner Virtuosität, aber mit Themen und Stimmungen. „Die grüne Fee“ ist starker Stoff. Kann gut sein, dass man dazu oder danach einen kräftigen Schluck trinken muss.

Und ganz nebenbei: Ein wunderschön gestaltetes Buch!

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller «Das Zimmer der Signora» und «Das Regenorchester» wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt gezeigt. Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 bei Autun im Burgund. Im Kampa Verlag sind bislang erschienen: «Die Fliegengöttin«, «Palast der Stille» und «Offene Fenster, offene Türen» sowie die Maine-Krimis «Die Hummerzange» und «Im Schatten der Flügel».

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Hansjörg Schertenleib «Offene Fenster, offene Türen», Kampa

Hansjörg Schertenleib wagt einiges: Ein Lehrer, der sich zu Sex mit einer Schülerin hinreissen lässt. Ein Video, der den heftigen Akt dorthin trägt, wo der Mob nur lüstern darauf wartet und eine junge Frau, die sich ihrer Macht mit jeder Faser ihres Körpers bewusst ist. Ein Roman, der nicht in die Gegenwart zu passen scheint – und deshalb genau richtig ist!

Was muss passieren, bis man das Leben führt, das man eigentlich in sich trägt? Ist man dann erst reif und erwachsen genug? Caspar Arbenz ist Schlagzeuger, fünfundfünfzig und Lehrer an einer Musikschule, verheiratet, leidlich glücklich und Vater eines Sohnes, der als Arzt all das erreichte, was der Vater bislang nicht schaffte; Konstanz und Souveränität. Juliette ist neunzehn, studiert Gesang und ist für wenige Lektionen Rhythmik sogar die Schülerin von Arbenz. Nicht dass sie verliebt gewesen wären, weder Juliette noch Arbenz. Aber an jenem Abend an der Jazzschule, nach einem Konzert, zuerst an der Bar, dann in den Gängen, am Schluss in einem vollgestellten Proberaum, in dem sie sich alleine glaubten, setzte sich fort, was wie ein Spiel begonnen hatte; ein Spiel von Macht, Rausch und Fatalismus.

Aber als am nächsten Tag in den Sozialen Medien ein zweiunddreissig Sekunden lange Film auftaucht, der unmissverständlich zeigt, was im Halbdunkel geschah, mehr als deutliche Bilder der jungen Frau und ihres Lehrers zeigen, kippen zwei Welten. Beide heisst man vorerst von der Schule fernzubleiben, Arbenz Frau verlässt Wohnung und Ehe, es droht Suspendierung und Kündigung. Juliette spürt das Beben zuerst in ihrer WG und dann mit voller Kraft dort, wo sich bislang ein ganzes grosses Stück ihres Lebens abspielte; im Netz. Der sensationsgeile Mob stürzt sich auf die beiden, macht sie gleichermassen zu Opfern und Tätern. Man urteilt und richtet, als hätte der reisserische Mob nur darauf gewartet, sich aus der Coronaerstarrung auf jene zwei Leiber zu stürzen, die taten, was in einer heuchlerischen Gesellschaft gut getarnt schon längstens plattgemachte Tatsache ist.

Hansjörg Schertenleib «Offene Fenster, offene Türen», Kampa, 2021, 256 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-311-10064-5

Man mag sie beide nicht. Aber muss man Protagonist:innen mögen? Die junge Frau, die selbstverliebt genau weiss, wie sie mit ihrer Macht spielen kann, wie sie jedes Spiel zu gewinnen glaubt? Den alternden Lehrer mit Lederjacke und ausgetragenen Jeans, der ebenso an seine Unwiderstehlichkeit glaubt, sowohl musikalisch wie als Mann? Beide weigern sich, sich der Konsequenzen ihres Tuns bewusst zu sein. Juliette ist bas erstaunt, dass man sie zur Schlampe erklärt, Arbenz, dass die eine Affäre mehr genügt, dem Arrangement seiner Ehe die Luft abzudrehen. Und doch mag ich sie, weil Hansjörg Schertenleib die Menschen in seinem Roman zeigt, wie Menschen wirklich sind. Wie naiv zu glauben, man müsse ausgerechnet in der Literatur, in der Kunst, den Lesern schmeicheln. Manchmal sehne ich mich nach Autoren wie Thomas Bernhard, die sich am Höhepunkt ihrer Popularität nicht scheuten, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, schamlos zu zeigen, was wirklich ist. Arbenz muss das Leben mit allem ins Gesicht schlagen, um ihm sein verkorkstes Leben vorzuführen. Und Juliette gerät gnadenlos in einen Cyberstrudel, der sie zu Gedanken zwingt, die sie sich nie gemacht hätte, hätten jene zweiunddreissig Sekunden nicht zurückgeschlagen. Beide flüchten, Arbenz in die alte Werkstatt seines Vaters am Rande eines Dorfes und Juliette ins Burgund, wo ihr Vater ein kleines Hotel trotz Corona am Laufen zu halten versucht.

Dienstag, 26. Oktober, 20 Uhr, im Kultbau St. Gallen, Konkordiastrasse 27: Hansjörg Schertenleib liest aus seinem Roman «Offene Türen, offene Fenster». Kollekte, Anmeldung unter kultbau.org
© Milena Schlösser

Aber was den Roman zu einer Perle macht, ist seine Sprache, die ungeheure Intensität seiner Beschreibungen, die Nähe zu seinen Protagonist:innen. Alle die filigranen Kleinigkeiten, die nicht zufällig in den Roman eingestreut sind, so wie immer wieder einmal ein toter Vogel oder eine alte Obdachlose mit sybillischem Dialog. Und all die Fragen, die der Text ganz leise stellt, die mich als Leser nicht loslassen. Ob man jene kennt, die einem am nächsten sind. Ob wir den richtigen Fährten folgen. Hansjörg Schertenleibs Roman ist ein starkes Stück Literatur, eingetaucht in den Sound der Gegenwart. Ehrlich und direkt!   

Und so ganz nebenbei: Ist doch gut, dass es bei Kampa neben den vielen Krimis auch noch Platz für Feinkost hat!

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller «Das Zimmer der Signora» und «Das Regenorchester» wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt gezeigt. Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 bei Autun im Burgund. Im Kampa Verlag sind auch «Die Fliegengöttin«, «Palast der Stille» und die Maine-Krimis «Die Hummerzange» und «Im Schatten der Flügel» erschienen.

«Der Stich» Kurzgeschichte von Hansjörg Schertenleib auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © DavidClough

«Werden sollst du nichts, aber tun musst du etwas.» Hansjörg Schertenleib las im Literaturhaus Thurgau

Hansjörg Schertenleib war Gast im Literaturhaus Thurgau. Ein überaus inspirierender Abend im Licht eines Autors, an dem alles pure Leidenschaft ist.

Sein Onkel Leopold riet ihm einst: „Werden sollst du nichts, aber tun musst du etwas! Etwas das dir Freude bereitet und ein Feuer in dir entfacht.“ Das Feuer brennt noch immer, fürs Schreiben und die Literatur lichterloh. Ich mag seine Leidenschaft, in der eine Prise Zorn mitmischt. Seine Ehrlichkeit, die kombiniert mit seiner Leidenschaft Stürme entfachen kann. Das Quantum Eitelkeit, das ihn nicht zum Übermenschen macht. Die noch immer jugendliche Kraft, die seinen Blick beseelt und ihn zu einem stolzen Ritter der Literatur macht.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Sein Buch «Palast der Stille», das im vergangenen Frühling bei Kampa herauskam, ist weder Roman noch Erzählung, auch keine Novelle. Wohl am ehesten ein erzählerisches Essay. Erstaunlich, wo doch Verlage fast alles daran setzen, unter den Titel des Buches das Begleitwort „Roman“ zu setzen, in der Überzeugung, das Buch verkaufe sich dann besser.

Schon im ersten Kapitel nimmt Hansjörg Schertenleib Bezug auf den amerikanischen Dichter Henry David Thoreau (1817 – 1862) und seinen Selbstversuch „Einsamkeit“ und das daraus entstandene Buch „Walden“.  Der Besuch am Ort an dem «Walden» geschrieben wurde, war Initialzündung für Sätze wie „Er will nicht länger effizient sein, strebsam, zwanghaft optimistisch und erfolgsorientiert…“
Ein Mann sehnt sich und wählt die Einsamkeit. Die Frau merkt das und sagt: „Ich weiss, dass du wegmusst.“
So wird ein Cottage, ein kleines Haus am Meer auf Spruce Head Island in Maine, das er in der gleichen Sehnsucht kaufte, wie er vor Jahren einst den Ort besuchte, wo Henry David Thoreau seine Blockhütte baute, sein Sehnsuchtsort. Schertenleib ist ein Suchender. Und das kleine Haus in Maine mit Blick aufs Meer sein ganz eigener, real gewordener Sehnsuchtsort. 

57 m2. Wohnküche, Schlafzimmer, Bad. Seine Katze, der Mann und ein bisschen Auslauf rundherum. Einzelne Gegenstände werden so wichtig, dass Hansjörg Schertenleib in seinem Buch regelrechte Dingreisen unternimmt, um zB. die Geschichte eines, des Tisches zu erzählen. Oder die Geschichte seiner Kindheit, keiner leichten Kindheit, seiner Familie, seines Vaters, seiner ersten Liebe, seines Suchens und Findens. 

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Hansjörg Schertenleib bleibt in seinem Schreiben, seinem Erzählen, seinem Erinnern nicht nur bei sich selbst. Er springt förmlich aus sich heraus und wechselt die Perspektive, nicht nur zwischen er und ich, sondern auch in der Zeit, im Ort, in der Person. So wie in der Erinnerung an Aura Kadric, den 4. März 1993, während der brutalen Belagerung von Sarajevo oder zur Fluchtgeschichte eines Afrikaners und später Betrachtungen über seine erste Hermes 2000. Sein Haus des Erzählers hat einen gläsernen Boden!

Dabei hat sein Buch nichts Exhibitionistisches, strömt Stille aus, fast Beschaulichkeit. Und wenn sich die Dramaturgie des Buches am Schluss dann doch noch aufbäumt und der 4. September 1980 im Leben des Schriftstellers mehr als einen Bruch zugefügt wird, schliesst sich der Kreis und die müssige Frage, warum es Maine sein musste.

Hansjörg Schertenleib und der Stipendiat der Kulturstiftung Thurgau, der Schriftsteller Jens Steiner © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Hansjörg Schertenleib «Palast der Stille», Kampa Gatsby

Hansjörg Schertenleib veröffentlichte seinen ersten Erzählband «Grip» 1982, mit 25 Jahren. Seither ist die «Bibliothek Schertenleib» auf eine stattliche Länge gewachsen, der Autor ein Eckpfeiler der CH-Literatur. Aber keines seiner Bücher ist ihm selbst so nah wie sein jüngstes, «Palast der Stille», eine Perle aus der Gatsby-Reihe des Kampa Verlags.

Mag sein, dass die Lektüre dieses Buches für all jene ein ganz anderer Genuss ist, die seine Bücher und den Autor kennen. Mag sein, dass es für die NeueinsteigerInnen in den schertenleibschen Kosmos ein Erinnerungsbuch eines in die Jahre gekommenen Schriftstellers ist, ein Begleitbuch durch einen eiskalten Wintertag in Maine USA, wo der Autor seit ein paar Jahren zusammen mit seiner Frau ein kleines Cottage direkt am Meer mit Sicht auf einen kleinen Hafen mit Lobsterbooten von Hummerfischern bewohnt. Ein Tag von vielen, ganz allein mit sich selbst, um sich der Stille hinzugeben, aus der das Schreiben erwachen soll. Dann ist dieses Buch ein Spaziergang durch das Leben des Autors, als wäre ich Zeuge davon, wie Bilder im Kopf des Autors aufploppen; Erinnerungen, Ideenfetzen, Gedanken, Erklärungen, manchmal ganz nach innen gerichtet, manchmal mit cineastischem Geschick an die grosse Leinwand gemalt.

Wer Hansjörg Schertenleib kennt, dem begegnet in diesem Buch der Autor unmittelbar, als würde er mich an der Hand nehmen. Als wolle er mir zeigen, wie es sich schreibt, irgendwo zwischen Realität und Ideal. In diesem kleinen Haus am Meer auf Spruce Head Island, das er in der gleichen Sehnsucht kaufte, wie er vor Jahren einst den Ort besuchte, wo Henry David Thoreau seine Blockhütte baute und sein heute berühmtestes Werk «Walden. Oder das Leben in den Wäldern» zu schreiben begann. Schertenleib ist ein Suchender. Und das kleine Haus in Maine mit Blick aufs Meer ein real gewordener Sehnsuchtsort. Vorläufiger Endpunkt einer langen Reise, die immer auch Flucht war, vom ersten Moment seines Schreibens weg. Keine Flucht vor sich selbst, aber stets eine aus der Enge heraus in die Sehnsucht noch Offenheit, Weite und Unabhängigkeit.

Hansjörg Schertenleib «Palast der Stille», Kampa, 2020, 176 Seiten, CHF 24.50, ISBN 978-3-311-21013-9

Es schneit fast ununterbrochen und das Thermometer ist tief in den Minusgraden. In dem kleinen Haus mit Wohnküche, Schlafzimmer und Arbeitszimmer knacken Birkenscheiter im Ofen. Die Katze schleicht um seine Füsse, er liest, sinniert, packt sich ein, um sich einen Weg zur Garage freizuschaufeln. Ich gehe mit, wenn ihn seine Gedanken in seine Kindheit am Fusse des Uetliberg in Zürich tragen, in die Enge seiner Familie, aus der er nur in seinen Streifzügen mit seinen Freunden ausbrechen konnte. Wie aus dem geselligen Jungen plötzlich ein Einzelgänger wird, der erst spät zu lesen beginnt, dann aber unheilbar von diesem Virus befallen wird. Wie er nach einer Schriftsetzerlehre im Rausch zu schreiben beginnt und von seinem Idol Urs Widmer ermuntert wird, wie ihn die Zürcher Unruhen 1980 aus Zürich vertreiben, später für vierzehn Jahre in ein altes Schulhaus in Irland, bis in seinen Palast der Stille, den Ort, der ihm alles gibt, was sein Schreiben und Leben braucht, in maximaler Distanz.

Er verrät mir die Geschichte seines kleinen Schreibtischs, jene seiner ersten Liebe, die Geschichten seines österreichischen Onkels, der den Weltkrieg nicht abzuschütteln vermochte. Er nimmt mich mit in sein Schreiben, das permanente Reflektieren eines Künstlers, den Kampf gegen die Rechtfertigung von Müssiggang und Distanzierung in einer Welt, die nach Effizienz und Aufmerksamkeit geifert. Er nimmt mich mit und ich bin stiller Gast in seinem Haus in Maine.

Dabei hat sein Buch nichts Exhibitionistisches, strömt Stille aus, fast Beschaulichkeit. Und wenn sich die Dramaturgie des Buches am Schluss dann doch noch aufbäumt und der 4. September 1980 im Leben des Schriftstellers mehr als einen Bruch zugefügt wird, schliesst sich der Kreis und die müssige Frage, warum es Maine sein müsse.

Ich mag seine Leidenschaft, in der eine Prise Zorn mitmischt. Seine Ehrlichkeit, die kombiniert mit seiner Leidenschaft Stürme entfachen kann. Das Quantum Eitelkeit, das ihn nicht zum Übermenschen macht. Die noch immer jugendliche Kraft, die seinen Blick beseelt und ihn zu einem stolzen Ritter der Literatur macht.

© David Clough, Kampa Verlag

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, ist gelernter Schriftsetzer und Typograph. Seine Romane wie der Bestseller «Das Regenorchester» wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Zwanzig Jahre lang lebte Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, in Irland. Heute pendelt er zwischen der Schweiz und Spruce Head Island in Maine, USA. Der Transport seiner Bibliothek und Plattensammlung über den Atlantik dauerte per Containerschiff mehrere Monate. Aber literarisch sass Schertenleib in seiner neuen Heimat dennoch nicht auf dem Trockenen: The Lobster Lane Book Shop mit schätzungsweise 100 000 Büchern liegt nur eine Meile von seinem Haus entfernt.¨

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Beitragsbild © Lea Frei

Hansjörg Schertenleib «Die Hummerzange», Kampa

Eigentlich war der Plan, zusammen in Maine den Lebensabend zu verbringen, sie die ehemalige Polizistin Corinna Holder und ihr Mann Michael. Aber nach einem schrecklichen Polizeieinsatz, einem Ausraster und dem plötzlichen Unfalltod ihres Mann ist nichts mehr so, wie es sein sollte.

Eigentlich lese ich keine Krimis. Krimis müssen mir förmlich ans Herz gelegt werden, damit ich zu lesen beginne. Geschichten, bei denen es bloss um ein rätselhaftes Verbrechen geht, in dem genüsslich geschändet und gemordet wird und ich als Leser zum Voyeur werde, interessieren mich nicht. Ebenso wenig die schrulligen Kommissare, die sich nach der Pensionierung in polizeiliche Ermittlungen einmischen und mit markigen Sprüchen den Plot weichklopfen.

Obwohl auch Hansjörg Schertenleibs Krimi Klischees bedient, zolle ich ihm grossen Respekt, denn der Krimi spielt sich viel mehr in und um die Figur der Ermittlerin Corinna Holder ab, als um ein brutales, rätselhaftes Verbrechen.

Corinna Holder ist nach einem traumatischen Polizeieinsatz von der Aargauer Polizei freigestellt. Erst recht, als sie sich in aller Öffentlichkeit von einer Männergruppe provozieren lässt und handgreiflich wird. Seither hat sich etwas in ihr verschoben, noch mehr, weil ihr Mann Michael im Streit um ihre Alkoholprobleme von ihr wegfuhr und im Auto auf der Autobahn den Tod fand. Das Haus in Maine, in das sie sich zusammen mit ihrem Mann einst verliebte, das sie kauften und ausbauen liessen, in dem sie ihren gemeinsamen Lebensabend verbringen wollten, wird zum Fluchtpunkt, zusammen mit Xanax, Psychopharmaka mit grossem Suchtpotenzial, das sie hinter Albert Camus› «Die Pest» im Bücherregal versteckt. Sie ist sich selbst ausgesetzt, ihren Träumen, ihren Ängsten, ihrer Trauer.

Bis sie in einer stillen Bucht beim Schwimmen auf die Leiche eines Ermordeten stösst, der im Wasser treibt, die Griffe einer Hummerzange durch die Augen bis tief ins Hirn gestossen. Sie kennt den Mann. Jeder auf er Insel kennt den Mann; Norman Dunbar, ein Investor und Radikalsanierer in Schieflage gekommener Unternehmen, ein ominöser Geschäftsmann und Frauenverbraucher, einer, dessen Tod auf vielen Wunschlisten ganz oben gestanden hätte. Corinne Holder macht sich an die Ermittlungen, nicht zuletzt darum, weil sie ihrem Leben wieder Richtung geben.

«Die Hummerzange» liest sich bis zur letzten Seite spannend, wie es ein Krimi sein soll. Aber die Geschichte lebt ebenso von der Person, einer Frau, die den Halt, den sicheren Stand verloren hat, die dem Leben nicht mehr traut und schon gar nicht sich selbst. Er lebt vom Lokalkolorit, der nicht aufgesetzt und recherchiert ist. Hansjörg Schertenleib erzählt vom Ort, an dem er mehrere Monate im Jahr lebt, von den Menschen, den Gerüchen, den Dörfern und Felsen dort. Vom Meer, dem Licht und den zwei Seiten einer Insel, die man gerne fotografiert. Handwerklich perfekte Unterhaltung, ein gelungener Versöhnungsversuch für ein von mit sonst so verschmähtes Genre.

Während ich schreibe, sitzt Hansjörg Schertenleib auf Spruce Head Island ebenfalls hinter seiner Tastatur, an seinem neuen, zweiten «Maine-Krimi». Ich freue mich!

Hansjörg Schertenleib, geboren am 4. November 1957 in Zürich, machte die Ausbildung zum Schriftsetzer/Typographen; Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich. 1981 zog er ins Künstlerhaus Boswil, arbeitete dort halbtags in der Küche und schrieb sein erstes Buch «Grip». Seit 1982 ist er freier Schriftsteller, 1980 bis 1984 und seit 2016 erneut Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift «orte», von 1984 bis 1989 Mitglied im Vorstand im Schweizerischen Schriftstellerverband. Seit 1985 journalistische Tätigkeit für verschiedene Zeitungen und Magazine, in der Spielzeit 1992/1993 Hausautor am Theater Basel unter Frank Baumbauer. Zwischen 1996 und 2016 lebte er in einem ehemaligen Schulhaus aus dem Jahr 1891 im County Donegal in der Republik Irland, seit 2011 zeitweise in Suhr im Kanton Aargau und seit 2016 auf Spruce Head Island in Maine, USA.

Rezension von «Die Fliegengöttin» auf literaturblatt.ch

Kurzgeschichte «Der Stich» auf der Plattform Gegenzauber

Webseite des Autors

Beitragsbilder © Hansjörg Schertenleib

literaturblatt.ch macht ERNST, 3. Streich

ERNST ist ein unabhängiges Kultur- und Gesellschaftsmagazin für den Mann (und die interessierte Frau). In seinen Reportagen, Portraits und Analysen geht die monothematische Publikation nahe ran und stellt politische und gesellschaftliche Fragen zur Diskussion. In seinen Rubriken analysiert das vierteljährlich erscheinende Magazin mit einer Auflage von rund 3500 Exemplaren insbesondere Gleichstellungs-, Geschlechter- und Familienpolitik.

In der neusten Nummer geht es um «Prokrastination». Was nicht anderes bedeutet als aufzuschieben. «Und so tot dieses Wort auch klingen mag, so lebendig sind seine Geschichten», so Adrian Soller, der Geschäftsführer und Redaktionsleiter.

Natürlich freut mich, dass ich mit einer Rezension wieder mit ERNST mitmischen kann:

Webseite des Magazins 

Mit dem Schriftsteller Hansjörg Schertenleib am Tisch

Am Mittwoch, den 13. Februar las und diskutierte Hansjörg Schertenleib mit Gästen am Esstisch an der St. Gallerstrasse in Amriswil über seine Novelle «Die Fliegengöttin». Bei Wein, Käse, Brot und mehr waren Büchermenschen eingeladen, mit dem Autor über sein Buch, das Schreiben, Literatur und das Leben als Schriftsteller zu diskutieren.

«Wir Leser werden weniger, jeden Tag weniger, wer dies bestreitet, lügt sich in die eigne Tasche, färbt schön; wieviele Tage fehlen, bis wir in naher Ferne ein Zirkel sein werden, der sich im Geheimen trifft und austauscht, so, wie es heute schon regelmässig im Hause Frei-Tomic geschieht, wo sich an einer reich gedeckten Tafel Leserinnen und Leser treffen und tun, was viele heute nicht mehr schaffen, es sei denn im trügerischen Schutz der sozialen Medien, nämlich miteinander zu reden, sich auszutauschen, von Angesicht zu Angesicht, gemeinsam zu lachen, zu trinken und zu essen, sich beizupflichten oder mit Respekt zu widersprechen, gar zu streiten. Ein Wunder, das sich Dank Gallus und Irmgard ereignet. Schön, mit Gallus einen Bruder im Geiste zu wissen, einen Verbündeten, der wie ich nicht leben kann und will ohne Bücher, ohne Geschichten, einen, der wie ich brennt für die Literatur. Danke, durfte ich Platz nehmen an besagter Tafel und meine Novelle zur Diskussion stellen.» Hansjörg Schertenleib