Urs Mannhart mit Rapacitanium und einer Kuh im Literaturhaus Thurgau

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in eine Erzählgegenwart, in der mit Extremen dramatisiert werden muss, um mit den Extremen der Gegenwart die Gegenwärtigen zu rütteln. Urs Mannhart zu Gast im Literaturhaus Thurgau!

Als ich Urs Mannhart am Bahnhof Tägerwilen/Gottlieben abholte, erklärte er, er fühle sich gar nicht richtig „ausgestiegen“, irgendwie „durch den Wind“, denn eben habe er das zweiseitige Interview mit ihm in der NZZ gelesen. Er habe wohl damit gerechtet, habe man ihm doch den Text zum Gegenlesen zugesandt. Aber es sei doch irgendwie unwirklich, für ein Buch an dem er ein paar Monate mit aller verfügbaren Intensität geschrieben habe, nun derart viel und prominente Aufmerksamkeit zu erfahren. An seinem Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ habe er mehrere Jahre geschrieben, ein mehrfaches an Energie investiert und die Resonanz lasse sich nicht vergleichen.

So waren beide Bücher des Autors auf dem Tisch, auch wenn er nur das eine mitgenommen hatte; sein Roman über einen Mann, der sich an den Fronten seines alltäglichen Kampfes verliert, dem die Erde buchstäblich unter den Füssen wegbricht und das Essay über Lentille, eine Kuh im Stall jenes jurassischen Kleinbauern, bei dem er zwei Tage in der Woche zweimal 10 Stunden arbeitet. So unterschiedlich die beiden Bücher in ihrer Erzählweise und Schauplätzen sind, das eine in der Welt eines teslafahrenden Kravattenträgers, das andere in einer, die nach Stall und Tieren riecht, so zeugen beide von der unbändigen Lust eines Schriftstellers, sich ganz in eine Welt hinein zu begeben. „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in die Schublade von Ökoromanen, ist aber ebenso Gesellschaftskritik wie das Essay „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“. Beides sind Bücher, die mich zur Selbstreflexion zwingen ohne jemals einen moralischen Zeigefinger zu schütteln. Beides sind Bücher, die sanft darauf hinweisen, dass wir uns in einer Zeitenwende befinden, dass es naiv ist, weiterhin mit der Überzeugung zu leben, alles sei möglich.

Pascal Gschwind, der Protagonist aus dem Roman, ein Mann der eigentlich alles hat, eine neue Stelle in einem erfolgreichen Rohstoffkonzern, ein sattes Salär, eine Villa am Thunersee, das teuerste Teslamodell in der Garage und bald auch ein neues Boot, ein bisschen grösser als jenes seines Nachbarn, eine attraktive Frau, die sich mit Yoga verwirklicht und einen Sohn, der bislang stets tat, was man von ihm erhoffte, muss feststellen, dass sich die Erde nicht in jene Richtung dreht, die stets der Sonne zugewandt ist. Alles wankt. Das Beben erschüttert nicht nur ihn, sondern alles, was ihn ausmacht. 

Urs Mannhart, der an gleich zwei Veranstaltungen im Literaturhaus Thurgau mit seinem Schreiben im Zentrum stand, verstand es, in seiner ehrlichen und unmittelbaren Art, die BesucherInnen in seinen Bann zu ziehen. Zuerst im Format „Literatur am Tisch“, in einer kleinen Runde, die alle seinen Roman bereits gelesen hatten, die sich in einer Auseinandersetzung mit dem Buch bis in die Feinheiten seines Schreibens vorwagten. Und danach in einer klassischen Lesung im Scheinwerferlicht, vor einem Publikum, das dem Autor in äusserster Konzentration hinein in seine Geschichte folgte.

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“
„Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“

Beitragsbilder © Philipp Frei

Urs Mannhart «Lentille. Aus dem Leben einer Kuh», Matthes & Seitz

Lentille, eine junge Kuh, die ihr erstes Kalb erwartet, liegt im Stall und brüllt. Urs Mannhart arbeitet dort, wenn er nicht schreibt. Aber wenn er schreibt, brüllt die Kuh auch in seiner Schreibstube im Städtchen. Urs Mannhart erzählt von seiner Liebe, jener zu den Tieren in dem jurassischen Stall und jene zu der Art, sich Fragen zu stellen.

Urs Mannhart war am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad diesen Sommer mit seinem Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ in den Walliser Bergen eingeladen. Wie allen hätte man ihm die Spesen für eine Reise mit dem Zug von La Chaux-de-Fonds nach Leukerbad und zurück mit aller Selbstverständlichkeit bezahlt. Aber Urs Mannhart kam mit dem Fahrrad. Circa 200 Kilometer, angekommen mit den ersten Regentropfen eines infernalen Gewitters, am nächsten Tag bereits wieder wie aus dem Ei gepellt bereit für die „Literarische Wanderung“ von Guttet über Albinen bis nach Leukerbad. Urs Mannhart ist ein Tausendsassa, nicht nur was seine körperliche Fitness betrifft und seinen Willen, Dinge mit letzter Konsequenz zu tun, sondern auch als Schriftsteller, Reporter und Landwirt.

Und wenn Urs Mannhart die unabdingbare Fähigkeit eines Schriftstellers, sich in ein „künstliches Gegenüber“ versetzen zu können, Empathie wie Tasten und Stift zu einem Werkzeug macht, wenn er sich so ganz in sein Tun und seine Überzeugung hineingeben kann, ist es auch nicht verwunderlich, dass der Biobauer Urs Mannhart eine Kuh zu seinem Gegenüber machen kann, ohne Pathos, ohne Verklärung.

Urs Mannhart „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“, Matthes & Seitz, Reportagen, 2022, 151 Seiten, CHF 21.90, ISBN 978-3-7518-0809-5

„Menschen, die sich zu viel Arbeit und zu viele Termine aufhalsen, sollten ärztlich angewiesen werden, eine Kuh aufzusuchen, um ihr nahe zu sein, wenn sie wiederkäut.“

Urs Mannhart ist zwei Tage in der Woche Mitarbeiter auf einem kleinen Bauernhof unweit von La Chaux-de-Fonds. Im Stall stehen nur wenig Kühe; Susi, Ambre, Galia, Amina und Lentille. Urs und Michaël, der Bauer, melken sie von Hand, jeden Tag zweimal, morgens und abends. Wer so eng mit Tieren zusammen ist, seien es Haus- oder Nutztiere, wer mit ihnen lebt, an ihrem Leben teilnimmt, wer den Tieren Namen gibt, der wird auf die Frage, ob Tiere eine Persönlichkeit besässen, mit Verwunderung reagieren. Die Frage ist nicht, ob Tiere eine Persönlichkeit besitzen, viel mehr, ob sie Persönlichkeiten sind. Ob sie zu Gefühlen fähig sind.

Urs Mannhart erzählt in seiner essayistischen Reportage von einer Kuh, von Lentille. Ganz zu Beginn des Buches kämpfen Michaël und der Tierarzt an der Seite Lentilles um ihr erstes Kalb, während Urs sich sonst irgendwie nützlich zu machen versucht, während das tiefe Brüllen der Kuh die Ruhe des sonst stillen Hofes zerreisst. Das Kalb kommt tot zur Welt. Michaël legt es neben die Mutterkuh. Sie stupst es sanft mit den Hörnern. Empfindet eine Kuh Trauer nach einer solchen Todgeburt? Urs Mannhart schildert die Begegnungen mit der Kuh danach, versucht sie zu verstehen, krault und streichelt ihr Fell, beobachtet sie auf der Weide. Urs Mannhart nimmt Lentille gedanklich mit nach Hause, an seinen Schreibtisch in seiner kleinen Wohnung in La Chaux-de-Fonds. 

Urs Mannhart setzt sich nicht nur mit seiner Arbeit auseinander. Das mit Farbfotos illustrierte Buch ist Zeugnis einer tiefen Befragung, darüber, ob all das, was in europäischen Ställen geschieht noch in irgend einer Weise etwas mit Tierwohl gemein hat, oder ob sich eine perfekt organisierte Fleisch- und Milchindustrie das Tier nicht längst zum reinen Objekt und Lieferanten herangezüchtet hat. Ob eine Gesellschaft, die frag- und kritiklos in Bergen eingeschweisster Billigfleischangebote wühlt noch weiss, was es bedeutet, einer Kuh den Schmerz anzusehen, wenn sie mit ihrer feuchten Schnauze den toten Körper ihres Kalbs berührt. Wir haben uns entfernt. Urs Mannhart ist ganz nah. Er erzählt in seiner Auseinandersetzung mit ethischen Fragen von seiner Liebe zum Tier, mitunter gar von seinem Werben um sie.

„Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“ ist keine Kampfschrift gegen den Verzehr von Fleisch- oder Milchprodukten, nicht einmal gegen Massentierhaltung. Das Buch zwingt mich zur Auseinandersetzung, zur Selbstbefragung. Darüber, dass ich mich viel zu selten frage, was ein Tier empfindet, wo wir ihnen doch zugestehen, dass sie zu Kommunikation fähig sind. Wie sehr wir uns die Welt zurechtbiegen, um sie „untertan“ zu machen; einsperren, abschneiden, kupieren, schleifen und veröden. „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“ ist eine Liebeserklärung.

Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Biolandwirt in der Schweiz. Er hat Zivildienst geleistet bei Grossraubwildbiologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik und der Philosophie abgebrochen, ist lange Jahre für die Genossenschaft Velokurier Bern gefahren, war engagiert als Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die landwirtschaftliche Ausbildung. Mannhart beschäftigt sich mit Tierphilosophie, dem bedingungslosen Grundeinkommen, mit Suffizienz und entschleunigter Mobilität. Für sein literarisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen, darunter den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis 2017. Im selben Jahr war er zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen; sein Text stand auf der Shortlist.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Gina Folly

Das Literaturfestival Leukerbad stellt sich den schweren Zeiten.

Man muss sich warm anziehen am 26. Literaturfestival in Leukerbad. Nicht nur wegen der zum Teil garstigen Temperaturen und des Wetters, das sich effektvoll über dem Tal inszeniert, sondern wegen der Themen, die sich unüberhörbar einmischen!

Nichts, aber auch gar nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass sich auch das Literaturfestival in schwierigen Zeiten befindet. Da kann der Himmel noch so blau sein, die Kulisse noch so imposant, die Namen im Festivalprogramm noch so prominent und das Programm selbst den Zeiten angepasst.
 Sinnbildlich dafür war ein Gespräch im grossen Festivalzelt zwischen der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk («Blauwal der Erinnerung», Kiepenheuer & Witsch 2019) und dem deutschen Historiker und Russlandkenner Karl Schlögel («Der Duft der Imperien», Hanser 2020). Während sich die beiden in einem Gespräch versuchten, das immer mehr zu einem verzweifelten Aufruf gegen das Vergessen und die gegenwärtige Gewöhnung eines nicht fassbaren Ausnahmezustands wurde, braute sich über dem Zelt ein infernalisches Gewitter zusammen. Während Tanja Maljartschuk von ihrer kollektiven und ganz persönlichen Verzweiflung berichtete und Karl Schlögel klarzumachen versuchte, dass die Katastrophe nicht erst am 24. Februar dieses Jahres begonnen hatte und das Land, dass im Bombenhagel eines Diktators und Geschichtsverdrehers in eine Trümmerwüste mit Millionen Vertriebener verwandelt wird, seit bald einem Jahrhundert zwischen den Fronten zerrieben wird, entlud sich das Gewitter, prasselte der Regen auf das Stoffdach, krachte der Donner. Man musste sich im Zelt warm anziehen, so wie sich ein ganzer Kontinent in den kommenden Monaten und Jahren warm anziehen muss, weil nichts mehr so sein wird, wie es einmal war – auch weit weg vom Krieg in der Ukraine.

Marie NDiaye

Schwierige Zeiten für die Literatur und ein Literaturfestival, wenn man sich nur noch mit Vorbehalt, einer gewissen Hemmung und latent ungutem Gewissen dem reinen Sprachgenuss hingeben kann. Taugt Literatur noch zum ungehemmten Genuss? Vielleicht ist deshalb Leukerbad genau der richtige Ort für ein solches Festival, denn der Ort Leukerbad selbst kann nicht leugnen, dass wir uns auf einem „absteigenden Ast“ befinden, dass punktuelle Korrekturen nicht mehr reichen, um das in Schieflage geratene Schiff auf Kurs zu halten. Schriftstellerinnen wie Hiromi Ito („Dornauszieher“, Matthes & Seitz 2021), die in Japan zu den wichtigsten literarischen Stimmen gehört oder die aus Frankreich angereiste Emmanuelle Bayamack-Tam („Sommerjungs“, Secession 2022) oder Marie NDiaye („Die Rache ist mein“, Suhrkamp 2021), eine Grande Dame der französischen Gegenwartsliteratur erzählen vom Schlachtfeld Familie, von den grossen und kleinen Katastrophen, die sich unter den Oberflächen abspielen und hervorbrechen. Schwierige Zeiten, weil neben dem Selbstverständnis Familie auch das Selbstverständnis Geschlecht zu wanken beginnt, weil Ordnungen permanent in Frage gestellt werden, Krusten durchbrochen, Ketten gesprengt und gewissen Fragen endlich zugelassen werden.

Alois Hotschnig

Vieles am diesjährigen Literaturfestival in Leukerbad setzte sich mit scheinbaren Wahrheiten, scheinbaren Ordnungen auseinander. Während man sich beim Bachmannwettlesen in Klagenfurt wundert, dass das blosse Erzählen nicht mehr reichen will, wird klar, dass die Literatur wie keine Kunstrichtung sonst in die Pflicht genommen wird, sich mit den aktuellen Fragestellungen der Gegenwart zu stellen. Kein Wunder, dass es die leiseren Stimmen sowohl am Festival wie auch auf den medialen Bühnen der Literatur überall schwerer haben, sich an ihrem Platz zu behaupten. So waren die Lesungen des Österreichers Alois Hotschnig („Der Silberfuchs meiner Mutter“, Kiepenheuer & Witsch 2021) oder des in Rom lebenden Schweizers Pascal Janovjak („Der Zoo in Rom“, Lenos 2021) Stimmen, die sich mit der Vergangenheit und Innenwelten beschäftigen. Sie beschäftigen sich mit den Spuren eines Lebens, mit Geschichten in der Geschichte, mit filigranen Erzählstrukturen, Fragestellungen, die mir als Leser aber gleichwohl gestellt werden, existenziellen Auseinandersetzungen, die mich mitnehmen, wenn ich bereit bin, mich ihnen zu stellen. Erzählt in einer Sprache, sie sich nicht am Effekt orientiert.

Das Literaturfestival Leukerbad stellt sich den schweren Zeiten.

Beitragsbilder © Internationales Literaturfestival Leukerbad

Lola Randl «Angsttier», Matthes & Seitz

Jede Lawine beginnt klein, jede Katastrophe unscheinbar, auch jene Unaufhaltsamen in den Menschen. Lola Randl hat mit „Angsttier“ einen Roman geschrieben, der dauernd kippt zwischen Fiktion und Realität, zwischen Wahn und Ernüchterung, zwischen Verwilderung und Idylle.

Auch wenn das Setting der Geschichte zu Beginn nach einem Aussteigerroman riecht; ein junges Paar, Friedel und Jakob, sie schwanger, er voller Tatendrang, weg von der Stadt, hinein ins Abenteuer Landleben, entpuppt sich Lola Randls neuer Roman viel mehr als Höllentripp in die Psyche eines Mannes, der sich in der Auseinandersetzung mit sich und seiner nächsten Umgebung in einem Gewirr aus Träumen, Ängsten, sich verschiebenden Wahrnehmungen verliert. Ein Roman, der sich bei der Lektüre förmlich in mein Bewusstsein bohrt. Ein Roman, der sich wie eine Kippfigur immer wilder du drehen beginnt, der mich schwindlig macht, nicht nur in seiner Erzählweise, sondern auch in seiner Sprache, die sich mir mit Dauer der Lektüre ebenso kunstvoll entzieht wie die Geschichte selbst. „Angsttier“ liest sich wie ein Literatur gewordener Alp. Dass auf dem Cover des Romans ein Teppich aus Nachtfaltern abgebildet ist, diesen pelzigen Wesen mit erstaunlich bunten Flügeln, die doch eigentlich nur nachts und in der Dämmerung aktiv sind und sich im Verborgenen halten, ist das Programm des Romans selbst. Eine Idylle entpuppt sich. Imagination wird traumatisch.

Friedel und Jakob wollen ihr Kind auf dem Land grossziehen. Aber weil die Grundstück- und Immobilienpreise an den Stadträndern unerschwinglich geworden sind, müssen die beiden mit ihrem alten Volvo schon eine Weile fahren, bis Kaufen bezahlbar wird. Und weil sie beide in ihrer Arbeit ortsungebunden sind, werden die Fahrten immer weiter, bis auf die andere Seite unsäglich weiter Kiefernwälder, in Dörfer, in denen die Wende noch nicht angekommen zu sein scheint. Sie finden ein Haus, einen Makler, jene Idylle, von der sie sich Glückseligkeit versprechen und mit den Eltern von Friedel auch die finanzielle Potenz, die dem jungen Paar sonst niemals für einen Kredit bei der Bank reichen würde.

Lola Randl «Angsttier», Matthes & Seitz, 2022, 180 Seiten, CHF 24.50, ISBN 978-3-7518-0060-0

Aber schon bei der Überschreibung beim Notar kommt es zum Eklat, macht sich bemerkbar, dass nicht nur im werdenden Familienglück ein Stachel steckt. Begleitet von Friedels Eltern, die das Geld einspritzten, wird bei der Unterzeichnung klar, das Jakobs Unterschrift nicht gefragt ist, obwohl Jakob der Überzeugung war, man hätte es anders besprochen. Jakob flieht. Jakob suhlt sich in seiner deutlich gewordenen Ungerechtigkeit. Friedel nimmt es hin.

Aber das Haus ist da. Und weil sie sich in den Sommermonaten gleich mal ins Abenteuer Hausbesitzer stürzen wollen, obwohl im Haus noch der Grossteil der Einrichtung der Vorbesitzerin steht und schon bei der Besichtigung klar geworden war, dass einige Umbauten unerlässlich sein würden, richten sie sich behelfsmässig ein, wenn auch immer mit dem Blick zum Nachbarhaus, aus dem ihnen Misstrauen und Ablehnung, zumindest aus Jakobs Sicht, entgegenschwappt. Aber Jakob nimmt den Kampf auf, den Kampf an vielen Fronten, jenen gegen den Zahn der Zeit, jenen gegen die Ablehnung der „Eingeborenen“, jenen gegen die schriftstellerische Flaute in seinem Kopf, jenen gegen das innerfamiliäre Abstellgleis und jenen gegen die Geister aus seiner Vergangenheit.
Jene Idylle, die er seiner Familie, seinem werdenden Kind wünscht, hatte er in seiner Familie nicht. Da war keine Familie, eine Mutter im sozialen Elend, ein nicht existierender Vater.

Jakob wird heimgesucht. Nachts von Geräuschen, die ihn in die Dunkelheit treiben, von Tieren angegriffen, auf der Flucht verletzt, von der Nachbarin bedrängt, ihrem Sohn gelinkt, von seiner Frau vergessen. Es beginnt sich ein Karussell aus Wahn und Angst zu drehen, dem sich Jakob nicht mehr entziehen kann, ein Karussell, dessen Zentrifugalkräfte ihn in die umliegenden Wälder stossen, die alles aus den Fugen reissen, sein Leben zerfetzen.

„Angsttier“ greift nach Existenziellem. Der Roman entwickelt einen ungeheuren Sog, flirrt und hat das Zeug, sich in die Traumwelt der Lesenden zu schleichen!

Lola Randl, 1980 in München geboren, arbeitet als Drehbuchautorin und Regisseurin für Kino und Fernsehen. Zuletzt entstanden die Fernsehserie «Landschwärmer» (2014) und der Kinofilm «Von Bienen und Blumen» (2019). Mit ihrem Roman «Der Große Garten» war sie für den Deutschen Buchpreis 2019 nominiert. Randl lebt in einem kleinen Ort in der brandenburgischen Uckermark.

Anne Weber «Heldinnenepos», Matthes und Seitz

Noch lebt Anne Beaumanoir. 2023 wird sie hundert Jahre alt. Anne Beaumanoir wurde wegen ihres Einsatzes für Juden im besetzten Frankreich nach dem Krieg als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet, eine Auszeichnung, die nur nichtjüdischen Personen für ihren Einsatz ein Denkmal setzen will. Anne Weber erschrieb Anne Beaumanoir ein weiteres, diesmal literarisches Denkmal.

Anne Weber lernte Anne Beaumanoir kennen, sprach mit ihr und erzählte ihr von ihrer Absicht, über ihr Leben ein Buch zu schreiben. Aber wie erzählt man über eine noch lebende «Heldin» ein Buch, das ihre Geschichte erzählen soll, das ganz nahe an der Geschichte bleiben soll, ohne die Handlung mit Fiktionalem aufzublasen? Wie soll man Dialoge gestalten, wenn die Person, über die man schreibt, noch lebt und man sich in der Pflicht fühlt, authentisch zu bleiben? Wie soll man so eine Geschichte schreiben, die nicht blutleer und leblos wirken soll? 

Als der Nationalsozialismus nach Frankreich überschwappte und grosse Teile des Landes mit der Hauptstadt Paris Teil eines Tausendjährigen Reiches werden sollte und die noch nicht einmal zwanzigjährige Anne Beaumanoir Medizin studierte, schlug sich die junge Studentin auf die Seite des Untergrunds, der Résistance und rettete Juden aus eigener Initiative vor dem sicheren Tod. Nach dem Krieg nahm Anne Beaumanoir ihr Medizinstudium wieder auf und ergriff in den 50ern Partei für die nach Unabhängigkeit strebenden Algerier, die sowohl in Frankreich selbst wie in ihrem Herkunftsland unter der Herrschaft Frankreichs zu leiden hatten. Eine Herrschaft, die sich zu oft an jenen Machtmitteln vergriff, gegen die sich die junge Anne Beaumanoir im besetzten Frankreich zur Wehr setzte. Es muss ein tief verwurzeltes Gerechtigkeitsempfinden gewesen sein, dass es der Medizinerin unmöglich machte, das an den Algeriern verübte Unrecht hinzunehmen. Zusammen mit ihrem Mann beteiligte sie sich an Geldbeschaffungsaktionen für den Algerischen Widerstand (FLN), wurde verraten, festgenommen, schwanger eingesperrt und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Anne Beaumanoir allerdings entzog sich der Haft spektakulär, schlug sich allein bis nach Algerien durch und beteiligte sich dort nach der Unabhängigkeit am Aufbau eines funktionierenden Gesundheitswesens. Nach dem Putsch der damals noch durchaus liberalen Regierung floh Anne Beaumanoir in die Schweiz, wo sie in einer Klink als Neurophysiologin bis zu ihrer Pensionierung arbeitete. Bis in die Gegenwart engagierte sie sich gegen Faschismus und Rassismus, hielt Vorträge und besuchte Schulen. 

Anne Weber «Annette, ein Heldinnenepos», Matthes & Seitz, 2020, 208 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-95757-845-7

Während des 2. Weltkriegs war Anne Beaumanoir auf der Seite jener, die man nach dem Krieg zu Helden erklärte. Mit Recht. Ihr Kampf an der Seite der FLN, die sich bis heute als treibende Kraft in Algerien aber alles andere als liberal zeigt und zu einer korrupten Einparteienregierung mit Unterstützung des Militärs wurde, bekommt aus heutiger Sicht ein ganz anderes Licht. Was als Unabhängigkeitskampf gegen eine Kolonialmacht begann, kochte zu einem zähen Machtapparat ein, der sich weit von dem entfernte, was einst das Ziel gewesen war: ein liberaler, demokratisch funktionierender Staat.

Anne Beaumanoir folgte ihrer inneren Stimme, ob als Mitglied der Résistance, als Mitstreiterin im Algerienkrieg oder als Ärztin in einer Klinik. Mag sein, dass der Begriff einer Heldin heute kein unproblematischer mehr ist. Erst recht in einer Gegenwart, in der Film und Kino ein Heldenbild konstruiert, dass so gar nicht dem einer Anne Beaumanoir entspricht. Aber wie kann man heute von so einem Menschen erzählen, von einer Frau, die noch immer lebt, während man schreibt. Anne Beaumanoir ist eine Heldin mit Selbstzweifeln, dauernd zerrissen von Gefühlen zwischen Liebe und Hass. Anne Weber erzählt von einer Frau, die immer wieder Zweifel an ihrem eigenen Leben hegt, für die der Kampf für die Freiheit zu einer Kontinuität eines langen Lebens wurde.

Dass Anne Weber für ihr Erzählen die Form des Held(inn)enepos gewählt hat, zeigt, wie sehr die Form den Inhalt zu verstärken vermag. So sehr Anne Beaumanoirs Leben ein Experiment war, das immer wieder hätte scheitern können, das alles riskierte und dabei Leben schenkte, so sehr ist die Form dieses Buches ein Experiment, haben doch Epen eine Tradition zurück bis Homer. Eine Lebensgeschichte «Heldinnenepos» zu nennen, war ein Wagnis. Eines, das im vergangenen Jahr zu Recht mit dem Deutsch Buchpreis belohnt wurde.

Beitragsbild: Anne Weber nach einer Lesung im Kunstmuseum St. Gallen mit der Leiterin des St. Galler Literaturhauses Wyborada Anya Schutzbach

Dragica Rajčić Holzner im Kunstmuseum

Nicht ohne Grund ist dem aktuellen Roman «Liebe um Liebe» ein Zitat aus Ingeborg Bachmanns Roman «Malina» vorangesetzt. So wie der Roman der grossen literarischen Schwester ein Emanzipationsroman ist, so ist es auch  jener von Dragica Rajčić Holzner; die Geschichte eines Auf- und Ausbruchs.

Die Lesung hätte schon vor eineinhalb Jahren stattfinden sollen. Dank der Kooperation mit dem Kunstmuseum Kartause Ittingen, ihrer grosszügigen Unterstützung und der unkomplizierten Zusammenarbeit mit dem Team des Kunstmuseums konnte nun endlich die Lesung der Trägerin des Schweizer Literaturpreises 2021 durchgeführt werden. Dragica Rajčić Holzner, die 1959 in Split geboren wurde und kroatisch sprechend und schreibend ihre ersten Texte veröffentlichte, lebt seit 1978 mit Unterbrüchen in der Schweiz, wo sie sich neben ihrem lyrischen und erzählerischen Schreiben auch in der Bildung und in soziokulturellen Projekten engagiert. Wie sehr sie von Leidenschaft und Engagement getragen und geleitet wird, erfuhr auch das Publikum im Kunstmuseum, wo die Autorin neben ihrer Lesung den Gästen einen tiefen Einblick in ihr Denken gewährte.

Dragica Rajčić Holzner mit Moderatorin Cornelia Mechler

«Liebe um Liebe» ist die Geschichte einer jungen Frau, die Geschichte von Ana. Dragica Rajčić Holzner machte Ana schon mehrfach zu einer ihrer Leitfiguren, als Theater, dann als lyrische Prosa und mit «Liebe um Liebe» als Roman. Eine Leitfigur, mit der sie nicht ihre eigene Geschichte, aber die ihr ganz eigene Geschichte erzählt. Die Geschichte einer jungen Frau, die auszubrechen versucht, gleich mehrfach und daran zu scheitern droht. Ein Roman über die vielfachen Formen der Gewalt, des Übergriffs. Und doch ist «Liebe um Liebe» die Geschichte einer Liebe, ein Logbuch der Liebe. Ein Buch über die Suche nach der Liebe, über die Spur all jener Erinnerungen, die Ana auf ihrem beschwerlichem Weg durch ihr Leben, durch all die Befreiungsversuche hinter sich zurücklässt. Über eine Frau, die sich nicht nur in ihrem Leben sucht und versucht, auch in ihrer Sprache, die eine Sprache, eine Stimme finden will, mit der sie mehr als bloss schildern will. Sie will dichten, ihr Leben verdichten. 

«Liebe um Liebe» ist keine Autobiographie, auch wenn nicht vermeidbar ist, dass vieles zu Verbindungen lockt. Aber wohl nur, weil wir in einer Zeit leben, in der alles mit dem Etikett «Nach einer wahren Begebenheit» deklariert werden muss, um Verkaufszahlen zu steigern. Ausgerechnet in der Literatur, in der nicht die Wahrheit, dafür umso mehr die Wahrhaftigkeit und die Wahrnehmung zentrale Rollen spielen sollten.

«Die Verschiebung der Buchpremiere von „Liebe um Liebe“, einige nennen es Taufe, obwohl nicht geklärt ist, ob ungetaufte Bücher beim Sterben dann auf der Erde bleiben statt in den Himmel oder in die Hölle zu wandern, fand mit einen Jahr Verspätung doch noch statt. Der Ort hat sich auch geändert; statt das Bodmanhaus in Gottlieben wie durch Zauberhand verwandelt in Kloster Kartause Ittingen, ins Thurgauische Kunstmuseum.
Der Herbsttag auf dem Weg von Frauenfeld nach Ittingen zeigte den Thurgau so vergoldet, wie ich es noch nie gesehen habe, auch wenn ich vor jeder Lesung umkomme. An diesem Tag lohnte sich, sehend zu leben.
Die Kunst draussen, die angeschriebenen Pflanzen, die Rosen, am Boden liegen gelassene Äpfel, alles begleitete mich auf dem Weg ins Hotel. Der Kubus inmitten des Zimmers hat wahrscheinlich Huodini ausgedacht. Unerwartet tauchen Gegenstände aus ihm auf, dort eine Schublade, dort ein Kühlschrank, am nächsten Tag sprach ein Fernseher aus dem Wand. Die Architekten hatten ihr Agatha-Christie-Flair voll ausgelebt. Wenn noch ein paar Leselampen eingebaut gewesen wären, wäre man sich in einer Zuckerberg’schen Enterprise vorgekommen, mega oder Meta ohnehin.
Die Lesung im Keller möchte ich nicht beschreiben, weil mich die Bühne jedes Mal sterben lässt und ich glänze wie diese Blätter am Wind, um wenigstens den Kopf vorübergehend gerettet zu haben. Die Moderatorin Cornelia Mechler und der Gastgeber Gallus Frei-Tomic waren so warm und herzlich, dass ich sie hier untertrieben meine Engel nennen könnte.
Beim anschliessenden Signieren hatte ich eine Begegnung mit einem Leser, welcher mich an eine Radiosendung von Radio Aktuell St.Gallen erinnerte und deshalb nach dreissig Jahren zu mir kam, um sich bei mir zu bedanken. Einen langen Augenblick lang schauten wie uns in die Augen. Ich begriff den Moment als Essenz der Macht der Wörter. Wir umarmten uns wie zwei Eingeweihte, nicht nur in ein literarisches, sondern auch in ein seelisches Geheimnis.
Über Wild und Rotkraut, über Wein und Gespräche am Tisch sage ich nur so viel: Es war köstlich, beides, genau so wie das Morgenessen, Weltliteraturgespräch mit Gallus Frei-Tomic. Wie der Leiter des Thurgauer Kunstmuseums Markus Landert am Abend davor richtig gesagt hatte; man kann freischaffende Künstler nicht genug verwöhnen für das, was sie von sich der Gesellschaft geben.
So war es! Es war mehr als Verwöhnung, es war Herzensangelegenheit.
Danke!» Dragica Rajčić Holzner

«Dragica Rajčić Holzner erzählt nicht ihre Geschichte. Nicht ihr Schicksal, schon gar nicht ihre eigene Biographie, aber das Leben der Vergessenen, all jener Frauen, die mit einem unendlich scheinenden Reservoir an Hoffnung und Liebe scheitern.»

Rezension von «Glück» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Liebe um Liebe» auf literaturblatt.ch

Joachim Sartorius «Eidechsen», Naturkunden, Matthes & Seitz

Was entstehen kann, wenn sich Buchkunst, Poesie, Wissenschaft und Leidenschaft treffen, das beweisen die Herausgeberin Judith Schalansky in ihrer Reihe „Naturkunden“, der Verlag Matthes & Seitz in Berlin und der Dichter Joachim Sartorius, der seit Jahrzehnten zu den Eminenzen der deutschen Dichtkunst zählt.

Vor nicht langer Zeit war ich im Tessin in den Ferien, in einem kleinen Steinhaus über dem Tal, umgeben von Steinmauern, die über Generationen angelegt wurden, um die Hänge der Täler nutzbar zu machen. Dort, wo ich sass, lag und las, sonnten sich auch Eidechsen. Und manchmal auch die grosse Schwester der häufig anzutreffenden Zauneidechse, die grün schimmernde, um einiges grössere Smaragdeidechse. Die Tiere faszinieren. Nicht nur wegen ihrer Eleganz, der Schnelligkeit ihrer Bewegungen und der Verwandtschaft mit den faszinierendsten Tieren der Gegenwart und Vergangenheit wegen, sondern weil die kleinen überaus wendigen Echsen Bindeglied zu einer Welt sind, die in Geschichte, Mythen und Märchen Echsen zu symbolreichen Tieren machen. Sei es die Faszination, die Dinosaurier auslösen, die Mythen und Legenden um feuerspeiende Drachen, die Geheimnisse um ihre Nähe zur Unterwelt. Sei es die Kühle ihrer Haut, die Fähigkeiten, sich Extremen anzupassen, selbst einen Körperteil abzuwerfen – Eidechsen sind Geschöpfe, die mit anderen Ebenen verbinden, Zeugen einer dies- und jenseitigen Existenz.

Joachim Sartorius, Judith Schalansky (Hg.) «Eidechsen
Ein Portrait», Naturkunden, Matthes & Seitz, 2019, 136 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-95757-791-7

Und wenn sich für einmal kein Wissenschaftler an das Wesen eines Tieres annähert, auch kein Journalist, kein Lehrbuchautor, wenn sich ein Dichter, ein Künstler an dieses filigrane Wesen heranwagt und es mit ebenso filigraner Sprache zu zeichnen vermag, dann entsteht ein Kunstwerk, ein Kleinod, das seinesgleichen sucht, dass die Lektüre zum multiplen Genuss macht. So sehr man in der Vergangenheit Echsen mit Schlangen ud Kröten in einen Topf warf und ihnen einen Platz auf der Arche Noah absprach, sie in den Dienst des Bösen und Üblen schob, so sehr gibt Joachim Sartorius den Eidechsen jenen Platz zurück, der ihnen gebührt.

Joachim Sartorius malt mit grosser Geste bis ins kleinste Detail, ohne je nur ansatzweise zu langweilen. Weil ich als Leser in jeder Seite die Leidenschaft des Autors und die Akribie der Herausgeberin spüre, wird die Lektüre dieses Buches zum Hochgenuss. Inhaltlich sowieso – aber in Vollendung auch haptisch: ein geprägter Einband, ein farblich passender Schnitt, schwarze Fadenheftung, sorgfältig vielfarbig illustriert und ediert!

Wer in seinem Bücherregal noch keine kleine Bibliothek der „Naturkunden“ begonnen hat, der sei gewarnt: Wie kaum eine andere Reihe birgt diese Reihe den Zwang zu Vollständigkeit – durchaus Suchtcharakter!

Joachim Sartorius, geboren 1946 in Fürth, wuchs in Tunis auf und lebt heute, nach langen Aufenthalten in New York, Istanbul und Nicosia, in Berlin und Syrakus. Er veröffentlichte acht Gedichtbände, die sich immer wieder mit der Levante und ihren Kulturen befassen. Joachim Sartorius ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2019 erhielt Sartorius den August Graf von Platen Literaturpreis.

Judith Schalansky, die Herausgeberin der Buchreihe «Naturkunden», 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr «Atlas der abgelegenen Inseln» als auch ihr Bildungsroman «Der Hals der Giraffe» wurden von der Stiftung Buchkunst zum »Schönsten deutschen Buch« gekürt. Für ihr «Verzeichnis einiger Verluste» erhielt sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe «Naturkunden» heraus.

Falk Nordmann, Zeichner und Illustrator, lebt und arbeitet in Berlin. Ab 2007 Umschlaggestaltungen und Autorenportraits, seit 2013 Tierillustrationen der Reihe Naturkunden für Matthes & Seitz Berlin.

Beitragsbild: Joachim Sartorius am Literaturfestival Leukerbad 2015 im Gespräch mit Christine Lötscher © Literaturfestival Leukerbad

Zwei Höhepunkte vom 16. Thuner Literaturfestival Literaare 2021

Hätte es einen spür-, sicht- und hörbaren roten Faden durch die meisten der Veranstaltungen des diesjährigen Thuner Literaturfestivals gegeben, dann wäre einer davon die Frage nach Herkunft und der eigenen Geschichte gewesen. Ob Monika Helfer mit „Vati“, Andrea Neeser mit „Alpefisch“, Zora del Buona mit „Die Marschallin“ oder selbst Levin Westermann mit seinem poetischen Essay «Ovibos moschatus“, aus allen sprach die Macht, Kraft und Last des Vergangenen.

Monika Helfer, die mit ihrem neusten Roman „Vati“ das 16. Literaare-Literaturfestival eröffnete, ist schon lange im Geschäft, schreibt seit Jahrzehnten, heimst Preise noch und noch ein und lebt zusammen mit ihrem ebenfalls schreibenden Mann Michael Köhlmeier Familie. Sie ist eigetaucht in Geschichte, Geschichten, ihre eigene Geschichte. Kein Wunder schreibt sie Familienfrau über das, was ihr am nächsten ist; über ihre Familie, über eine Monika Helfer, die aus einer Familie im Vorarlbergischen stammt. Im Roman „Die Bagage“ erzählt sie von ihrer Grossmutter und Mutter, in „Vati“, der dieses Jahr erschien, von ihrem Vater. Und im Herbst dieses Jahres soll es ihr Bruder Richard sein, der mit 30 den Freitod wählte. Ein Buch, das „Löwenherz“ heissen soll.

Monika Helfer «Die Bagage», Hanser, 2020, 160 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-446-26562-2

In „Die Bagage“ ist es eine ganze Familie ohne den Schutz des Vaters, die, eh schon gebrandmarkt, durch die Geschichte und die Schönheit der Mutter an den Rand der Gesellschaft und darüber hinaus gedrängt wird. Der Mann einer jungen Frau, der Vater der Kinder wird in den ersten Weltkrieg eingezogen. Kaum aus dem Dorf wird der jungen, schönen Frau nachgestellt. Ausgerechnet der Bürgermeister des Ortes, jener Mann, den der Soldat um den Schutz seiner Familie bat, wird zum Aufdringlichsten und einer ganzen Reihe Ereignisse, die beinahe mit einem Schuss aus einem Gewehr enden. Von Maria, der Grossmutter jener Monika Helfer, die von männlicher Gier bedrängt wird, selbst in der Anwesenheit ihrer Kinder, mit unverhohlenen Drohungen, Avancen, die sich wie Schlingen um den Hals der jungen Frau ziehen und die Kinder in die Flucht schlagen. „Die Bagage“ wären Halbwilde, hätten nicht einmal elektrischen Strom. Denen sollte man die Kinder wegnehmen. Sätze, die auch heute noch über Menschen und Familien ausgesprochen werden, die aus reiner Not sind, was sie sind. Menschen, die man nicht mitnimmt, die man nicht haben will. Von Menschen ausgesprochen, die in der Überzeugung leben, ihre Privilegien seien verdient, gottgegeben, Teil einer grossen Ordnung. Von Menschen, die die scheinbare Schwäche anderer gnadenlos ausnützen und genau wissen, dass ihnen nichts entgegenzustellen ist, weil sie oben, weil sie vorne, weil sie darüber stehen.

Man müsse sich erinnern, sagt Monika Helfer. So wie sie sich erinnert, sollen sich Leser:innen erinnern, weil in allen Familien Geschichten vergraben und aktiv vergessen werden. Alles ist bloss Abbild von Wirklichkeit, verändert, verzerrt, verschoben und vernebelt. Dass das Erinnern Schärfe, Licht und Durchsicht schenkt, wenn sich die Gegenwart nicht mehr einmischt.

Monika Helfer «Vati», Hanser, 2021, 176 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-446-26917-0

Monika Helfers Romane sind Offenbarung, sprachlich wie inhaltlich. Weil sie nie mit grellem Licht ausleuchten, weil Monika Helfer erzählt wie eine Mutter, alles in Liebe taucht, selbst die gestrengen Worte, den Tadel hinein in das, was geschah. Nicht mit dem Verständnis für jene, die zu Täter:innen wurden, aber für all jene, denen man keine andere Chance liess, als jene, zu Opfern zu werden.

In „Vati“ kommt ein Versehrter zurück aus einem Krieg, ihr Vater zurück aus dem verlorenen 2. Weltkrieg, von einem Schlamassel in einen anderen Schlamassel, mit nur mehr einem Bein. Die Mutter hatte damals den Mann mit Prothese, den hageren Versehrten geheiratet, um dann ein Leben lang das Gefühl mit sich herumzutragen, nur gebraucht worden zu sein.

Kevin Westermann «bezüglich der Schatten», Matthes & Seitz, 2019, 158 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-95757-781-8

Ein Höhepunkt für mich am diesjährigen „literaare“ war der Auftritt von Levin Westermann. Levin Westermann erzählte, er habe ein „Erweckungserlebnis“ in seiner Vergangenheit gehabt. Danach wurde „Schreiben“ zum übermächtigen Drang seines Lebens. Aber Levin Westermann ist kein Vielschreiber, sondern ein Suchender. Ob als Leser und Schreiber sucht Westermann nach dem vollendeten Satz, jenem vielstimmigen Klang, der Ober- und Untertöne mitschwingen lässt. Und wenn Westermann schreibt, seien dies nun Gedichte oder Essays, dann spüre ich als Leser diesen Strom der Leidenschaft, der durch sein Tun wirkt.

 

Levin Westermann «Ovibos moschatus», Matthes & Seitz, 2020, 202 Seiten, CHF 26.90,
ISBN: 978-3-75180-002-0

Westermanns Lyrik ist alles andere als verkopft, ist erzählender Prosa viel näher als übersinnlich entrückter Lyrik. Westermann erzählt auch, wie sehr er um Sätze ringt, wie das Schreiben alles andere als ein Entleeren, ein Hinschreiben, ein Wurf sei, sondern harte Auseinandersetzung und das lange Suchen nach dem richtigen Sound. Davon erzählt auch das titelgebende Essay in seinem neuen Buch „Ovibos moschatus“, was übersetzt „Moschusochse“ heisst. Westermann verwebt die Geschichte dieses Tiers, das als einziges grosses Säugetier arktische Winter übersteht und von Menschen gnadenlos dezimiert wurde, mit dem Prozess des Schreibens. So wie das Schreiben ein feinsinniger, feinstofflicher Prozess ist, ist für ihn auch der Umgang mit Tieren zu einer Auseinandersetzung geworden, die das Tier weit wegträgt vom reinen Rohstofflieferanten. Schreiben ist Dichten, ein Schärfen des Bewusstseins. Levin Westermann, ein Beispiel dafür wie umfassend und tiefgreifend das eigene Tun werden kann, wenn sich sämtliche Sinne miteinander verbinden.

Der Zeichner Elias Nell hat Philosophie und Soziale Arbeit in Fribourg studiert sowie in Philosophie, Soziologie und Hermeneutik einen Master an der Universität Zürich abgelegt. Heute arbeitet er im Sphères in Zürich als Buchhändler und für die Veranstaltungen verantwortlich. In seiner freien Zeit ist Elias Nell immer mit Stift und Pinsel unterwegs, um alle Cafés, Restaurants und Take-outs von Zürich und der Welt zu zeichnen. Sein Instagram-Account: @sensatio_nell #zurichbysketch

Zeichnungen © Elias Nell / literaare

Beatrix Langner «Der Vorhang», Matthes & Seitz

Man stösst völlig unerwartet auf sie. Und sie entpuppen sich als Perlen, als Edelsteine, glänzen in warmem Licht, leuchten aus allem heraus. Nicht weil sie bisher verborgen waren, sondern weil man blind an ihnen vorbeiging, nicht von ihnen wusste. Und dann hält man diese Schätze in Händen, reibt sich die Augen ob der Strahlkraft, die sie besitzen. „Der Vorhang“ von Beatrix Langner ist ein solcher Schatz!

Wäre ich in der Jury irgend eines Buchpreises, dann würde ich für dieses Buch die Fahne schwenken. Ein Buch in überraschender Sprache, einem Sound, der mich betört, mit Sätzen, die mich berauschen und einer Konstruktion, die fasziniert. Ein Buch mit vielen Ebenen, Schichten, die sich dem oberflächlichen Lesen entziehen, mit Bildern, die in ihrer Intensität bewegen, einer Bedeutsamkeit, die weit über den Nabel der Schriftstellerin hinausgeht. Ein Buch, das gleichermassen erzählt und Fragen stellt, das mich auf ganz verschiedenen Ebenen mitnimmt und nicht zuletzt von erhellender Klarsichtigkeit und dem brennenden Wunsch, die Welt zu verstehen.

„Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie lächelt mich an. Sie lockt mich, sie schneidet mir Grimassen, sie lallt und flüstert, erinnere dich, stammelt sie, damit du vergessen lernst.“

Beatrix Langner erzählt von einer Familie im Nachkriegsdeutschland, irgendwo in der Provinz, wo alle versuchten, ein Stück des Aufschwungs, des Wirtschaftswunders zu ergattern. Sie erzählt von verschwundenen Landschaften, nicht nur jenen, die in den Seelen der Menschen durch den Krieg zerstört wurden, sondern wortgewaltig von jenen Landschaften und Landstrichen, die der Kohletagebau im Dienste des Fortschritts Schicht für Schicht wegfrisst und riesige Löcher hinterlässt. Von Wäldern, Dörfern, Friedhöfen, kleinen Ortschaften, die untergingen, sich in Nichts auflösten, von den grossen Löchern geschluckt wurden. Von den Sedimenten der Zeit, die nicht verbergen können, die nichts verbergen können, die einem im Bewusstsein durch die Landschaft gehen lassen, dass da viel zurückgelassen wurde; Leben, Liebe, Leidenschaft. Dass alles, was uns umgibt, von dem durchsetzt ist, was von all den Leben zuvor übrig geblieben ist.

Beatrix Langner «Der Vorhang», Matthes & Seitz, 2021, 192 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-7518-0019-8

Die Erzählerin steht am Rande eines riesigen Lochs, jenes, das die Ereignisse in ihr Leben gerissen haben und jenes, das sich durch den Braunkohleabbau Hambach in die Landschaft gefressen hat. Sie sieht zurück in ihre Kindheit, als ihre Familie aus der DDR in den Westen floh, der Vater im Westen ein Kaufhaus gründete und dann doch Opfer des Wirtschaftswunders wurde, in eine Vergangenheit in der westdeutschen Provinz, katholisch und abweisend, einen Ort, an dem man als Familie trotz grösster Anstrengung nie ankommen sollte. Die Erzählerin steht auch an einem anderen Loch, dem Loch in der Gegenwart, dem Loch, das Krankheit und Gebrechlichkeit ins Leben ihrer Mutter gefressen hat. Einer Mutter, die zur Pflege liegt, einer Mutter, deren Erinnerung sich verflüchtigt. Die Tochter besucht die Mutter im Spital, im Glauben, sie werde sterben, später dann in der „Residenz“, wo nicht die Mutter der Tochter Geschichte erzählt, sondern die Tochter der Mutter. Erinnerungen verflüchtigen sich, verschwinden. Beatrix Langner stemmt sich gegen das Vergessen, das Verschwinden der Erinnerung, gegen die Maxime „Der Zweck heiligt die Mittel“.

„Nichts geht verloren, alles ist aufgeschrieben im grossen Buch der Erde, was Wasser und Steine in die Erde geschrieben haben.“

Das Hambacher Loch ist Symbol für die Regentschaft des Kommerz. Beatrix Langner steht fassungs- aber ganz und gar nicht sprachlos am Rande dieses Lochs und füllt es auf mit ihrem Erzählen, ihrem Erinnern. Die Sedimentschichten an den Flanken des Lochs fächern eine globale Chronik auf, sind Schriftbild für das Bewusstsein, dass nichts einfach so verschwinden kann.

Und dann diese Sprache, die einem rauschig macht!

Interview

Auf dem Vorsatzpapier, nicht auf dem Cover, steht unter dem Titel Ihres Romans „Eine (beinahe) wahre Geschichte“. Warum war Ihnen dieser Untertitel so wichtig? Sind Geschichten, die erzählt und geschrieben sind nicht alle nur fast wahr?
Sie haben Recht! Das Geschichtenerzählen ist immer ein Balanceakt, und um so mehr, als wir mittlerweile im digitalen Zeitalter leben. Die Grenzen zwischen wahren und erfundenen Geschichten werden immer durchlässiger. Vielen Leuten fällt es schwer, zwischen verifizierbaren Fakten und Fiktion in medialen Inhalten zu unterscheiden. Das sieht man derzeit auch an der  erstaunlichen Beliebtheit des autobiografischen Erzählens. Ich habe den Eindruck, viele Leserinnen und Leser haben noch einen sehr naiven, unreflektierten Begriff von Wahrheit. Autobiografisches Schreiben bedeutet ja, aus sich selbst eine Kunstfigur zu formen, eine Auto-Fiktion sozusagen.  Und genau darauf wollte ich mit der Umschreibung «beinahe wahr» hinweisen, indem ich verschiedene Formen des Erzählens mische, um zu zeigen, wie viele Arten von «Wahrheit» es gibt.  Ist die Begegnung von Stalin und Churchill auf Jalta wirklich so gewesen wie Churchill sie in seiner Autobiografie beschreibt (und ich sie kolportiere), nur weil sie Teil der europäischen Geschichte geworden ist? Und ist sie darum wahrer als die Beschreibung einer Reise durch die Erdgeschichte oder eine Traumszene? 

Und ganz am Schluss Ihres Romans schreiben Sie in einem Nachsatz, dass das Beben vom 19. Januar 2019 unter der Stadt Elsdorf am Hambacher Tagebau kein geologisches, sondern ein menschengemachtes Beben war. Kann Literatur zur Waffe gegen die Profitgier von Konzernen und ihrer ExponentInnen werden, auch wenn sich diese manchmal wie Heilsbringer und Retter gebärden?
Ich würde das Wort „Waffe» nicht benutzen, denn Waffen bedeuten Gewaltanwendung. Aber ja, Literatur kann und muss den Gesetzen der kapitalistischen Ökonomie ihre Grenzen zeigen – viel mehr, als es derzeit geschieht. Sie kann das, weil sie nicht mit Gewinnmargen und Daxwerten, sondern mit Bewusstseinszuständen operiert, weil sie den Menschen mit sich selbst bekannt macht und Menschen miteinander verbindet, während die Ökonomie uns vereinzelt und anonymisiert. Und sie muss das, weil es nicht reicht, dass Kinder auf der Strasse Transparente gegen die Verseuchung von Luft und Wasser herumtragen. Es ist ein Generationenproblem. Wir brauchen eine neue literature engagée!

Ihr Roman ist ein Roman gegen das Vergessen. In einer Zeit, in der das Vergessen, das Ausblenden angesichts der globalen Wirklichkeiten zur Überlebensstrategie wird. Die Tochter in ihrem Buch muss die Mutter genauso loslassen wie ihre Verzweiflung dem kollektiven Vergessen gegenüber. Mahnen Sie?
Ich bin mir beim Schreiben bewusst gewesen, dass das Thema «Naturzerstörung», zumal in Verbindung mit einer tragischen Mutter-Tochter-Geschichte, schon ein gewisses moralisches Pathos in sich trägt. Der kranke Planet, die kranke Mutter etc., das sind bleischwere Metaphern, die einen Roman auch erdrücken können. Moralismus oder gar Mahnung im Sinne innerer Läuterung war aber nicht mein Ziel. Natürlich, es geht auch um das Vergessen historischer Schuld, um Gewissenlosigkeit in ökologischen Fragen, um den berühmten blinden Fleck im eigenen Auge, doch nicht unbedingt im philosophischen oder gar globalen Sinn. Es ist einfach so, dass in Deutschland die Dinge ein wenig anders liegen als bei unsern europäischen Nachbarn. Ich vertrete die These, dass die deutsche Teilung von 1949 den zivilen Widerstand und die Mitbestimmung bei politischen  oder ökonomischen Prozessen, sei es in der Umwelt- Europa- oder Wirtschaftspolitik, über Jahrzehnte geschwächt hat – sowohl im Osten wie im Westen; auch noch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sprechen wir immer noch nicht mit einer Stimme, wenn es darum geht, die Regierenden zu kontrollieren. 

Die Erzählerin besucht einmal in der Woche das verlassene Haus ihrer Mutter. Alles sieht aus, als würde sie zurückkehren. Vor mehr als einem Jahrzehnt besichtigte ich als interessierter Mieter das Haus einer alten Frau, die nur wenige Wochen zuvor in ein Altersheim eingeliefert werden musste. Ein ganz spezieller Gang. Auf dem Tisch im Wohnzimmer lag noch der Einkaufszettel mit Stift. Was einmal Bedeutsamkeit hatte, sackt mit einem Mal in die Bedeutungslosigkeit weg. Wertvoll wird wertlos. Im Kleinen wie im Grossen. Ist sie nicht urmenschlich, diese Sehnsucht nach Bedeutung?
Sicher, die meisten Menschen haben den Wunsch, sich mit den alltäglichen Gegenständen, mit denen sie sich umgeben, zu identifizieren, in dem Sinn, dass sie sagen: das ist MEIN Rasenmäher, MEINE Kaffeetasse, MEIN Auto. Sie adoptieren die Dinge sozusagen und leihen ihnen dadurch eine Bedeutung, die auf Projektion beruht. Umgekehrt färbt dann der Geldwert ihres SUVs scheinbar auf den Besitzer ab. Man lebt in Symbiose mit den Dingen. Verlassen von ihren Besitzern, zeigt sich dann deren rapider Wertverfall, der einen schon melancholisch machen kann. That’s it! 

Das „Hambacher Loch“, das Loch, das Kriege reissen, das Loch des Vergessens. Sind Erinnerungen das, was Löcher auffüllen kann?
Erinnerungslöcher sind ja erstmal nichts anderes als harmlose Gedächtnislücken in unserm Bewusstsein. Aber sie funktionieren wie die schwarzen Löcher im Universum: sie sind Zentralen des Nichts. Sie reissen alles in ihren dunklen Schlund, was ihnen zu nahe kommt. Das Problematische ist doch, meiner Erfahrung nach, dass das Gedächtnis in Schichten aufgebaut ist, wie Eschersche Treppen etwa. Aber um beim Hambacher Loch zu bleiben: Kurz vor Ausbruch des  2. Weltkriegs wurde ihm Rheinischen Becken unter dem Hambacher Forst ein Braunkohletiefbergwerk errichtet, um Rohstoff für Benzin zu gewinnen, mit dem dann die Panzer und U-Boote und Kriegsschiffe betankt wurden. Der Betreiber war juristisch ein Vorgänger des heute dort tätigen Energiekonzerns. Zigtausende Zwangsarbeiter aus Italien und Osteuropa starben dort bis 1945. Vergisst man den Wald, vergisst man die Dörfer, die seit den 1980er Jahren der Braunkohle weichen mussten, dann vergisst man auch die Toten unter dem Wald. Und vergisst man diese, dann vergisst man auch ihre Mörder, und vergisst man die Mörder, dann vergisst man den Krieg 1939 – 45 und vergisst man diesen, dann vergisst man den Holocaust und Versailles und Bismarcks Sozialistengesetze…

Gibt es ein Buch, das Sie in letzter Zeit lasen, das sie mit Vehemenz empfehlen möchten?
Ich lese gerade «Die Situation» von Peter Weiss, den deutschen Dramatiker und grossen Stilisten, dessen «Ästhetik des Widerstands» uns in der DDR 1974 begeistert hat und dessen Stück «Die Ermittlung» über die Auschwitzprozesse ein Höhepunkt des politischen Theaters in Deutschland war. Sein nachgelassener Roman «Die Situation» wurde 1956 geschrieben, fand aber damals keinen Verlag. Fast schon unglaublich, wie modern dieser Roman in seiner Erzählweise ist, wie freizügig in der Beschreibung männlicher Sexualität, und  – obwohl er in Schweden spielt, seiner Exilheimat – wie extrem anders doch seine 1950er Jahre waren im Vergleich mit der Zeit, die ich als Kind in jener bigotten, verlogenen, dumpfen rheinischen Kleinstadt erlebte. So ist das eben mit der «Wahrheit» (siehe erste Antwort), man kriegt sie nicht zu fassen!

Beatrix Langner, 1950 geboren, ist promovierte Germanistin, Autorin und Literaturkritikerin und lebt in Berlin. Seit 1990 zahlreiche Rundfunk-Features und Kulturreportagen für DeutschlandRadio Berlin sowie Feuilletons und Kritiken für Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Deutschlandfunk Köln u.a. Sie veröffentlichte eine Biografie über Jean Paul (C. H. Beck), für die sie 2013 den Gleim-Literaturpreis erhielt, und ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

Dragica Rajčić Holzner «Liebe um Liebe», Matthes und Seitz

Ana sucht einen Ausweg aus patriarchischen Strukturen in einem kroatischen Dorf namens Glück. Sie verliebt sich in Igor, flieht aus der steinernen Umklammerung und strandet weit weg über dem Meer an einem eigentlichen Sehnsuchtsort, ernüchtert und desillusioniert in einem Frauenhaus, geschlagen nicht nur von ihrem Mann.

«Liebe um Liebe» ist das romangewordene Pendant zu ihrem vorletzten Buch «Glück», das aus einem Theaterstück entstand und mit dem gleichen Personal die Geschichte einer grossen Enttäuschung erzählt. Die Geschichte von Ana Jagoda, einer jungen Frau, die in sich den grossen Drang verspürt, den Drang zu schreiben, Welten zu erschaffen, die aber eingeschnürt ist und wird, von einer Umgebung, aus deren Fesseln sie sich nicht befreien kann. Ana wächst in einem kleinen Dorf in den kroatischen Bergen auf, einem Dorf namens «Glück». Aber Glück ist nicht ihr Glück. So wie ihr Leben nicht jenes Leben ist und wird, das sie eigentlich mit sich trägt. In einem Dorf, das von absolut patriarchischen Strukturen regiert wird, aber ebenso vom Alkohol, der Armut und der Aussichtslosigkeit, wird die noch junge Ana ungewollt schwanger. Sie verliebt sich in Igor, ihre Rettung. Aber was nach gemeinsamen Leben aussah, nach Perspektive, wird zu dem, was sich im Dorf Glück als Nährboden unweigerlich einstellt: Alles muss seinen vorbestimmten Platz einnehmen. Auch wenn dieser Platz zum Martyrium wird.

Ana treibt das Kind in ihrem Bauch ab. Ana verlässt Glück. Ana heiratet Igor und flieht mit ihm in den Norden der USA. Aber ihr krankhaft eifersüchtiger und aufbrausender Ehemann macht den Sehnsuchtsort zum Kampfgebiet. Ana leidet. Ihr Leben besteht nur aus Reaktion, lässt auch auf der andern Seite des Ozeans nie zu, was sie eigentlich gerne möchte; ihr Glück im Schreiben. Ana flieht weiter in ein Womanirrhaus. Dorthin, wo alle stranden, die nicht Frau über ihr eigenes Leben werden.

Auch wenn es die Autorin gar nicht will, Pauschalverurteilungen oder Pauschalurteile über den «bösen Mann» zu provozieren, ging es mir bei der Lektüre sehr nah, wie sehr Männer- und Frauenwelten auseinanderdriften können. Dragica Rajčić Holzner bewegt sich im vollen Bewusstsein zwischen Verständnis und Widerwillen aller Verurteilung gegenüber.

Dragica Rajčić Holzner «Liebe um Liebe», Matthes & Seitz, 2020, 167 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7518-0000-6

Dragica Rajčić Holzner beschäftigt sich schon seit 35 Jahren mit der Geschichte Anas. Der Stoff sei ihre Rettung gewesen, ihr Schiff, ihre Kontinuität, mit der sich die Autorin über Wasser hielt. So wie es das Dorf Glück mit seinen gemeisselten Strukturen gibt, noch immer gibt, so gibt es Ana, Frauen, Menschen, die ihr Glück nicht finden, obwohl die Sehnsucht und die Liebe sie wegtreibt. Anas Leben ist Realität. Aber noch viel mehr Realität ist die Sprache, die direkt unter die Haut geht, die mich als Leser erschaudern lässt. Eine Sprache, die all die Frauen sprechen lässt, die keine Stimme und keine Kraft mehr besitzen, stumm bleiben, die sich so sehr einschüchtern lassen, dass nichts ihr Leben aufregen lässt. Dragica Rajčić Holzner erzählt nicht ihre Geschichte. Nicht ihr Schicksal, schon gar nicht ihre eigene Biographie, aber das Leben der Vergessenen, all jener Frauen, die mit einem unendlich scheinenden Reservoir an Hoffnung und Liebe scheitern.

Auf die Frage, warum der Roman nicht mehr in der ihr so eigenen Grammatik einer «Exilantin» geschrieben und gedruckt ist, erklärt Dragica Rajčić Holzner; Männern würde man diesen Umstand ihrem künstlerischen Ausdruck zugestehen, als Teil ihres schöpferischen Tuns, ihres Ausdrucks. Frauen hingegen als Ausdruck ihres Unvermögens. Die Bücher zuvor verunsicherten jene, die Orthographie wie die steinernen Strukturen einer patriarchischen Gesellschaft unumstösslich betrachten. «Liebe um Liebe», bei Matthes & Seitz in Berlin erschienen und schon durch den traditionsreichen Verlag geadelt, nun «einwandfrei» orthographisch, schreckt all jene auf, die vermissen, was bisher verunsicherte. Allen Leuten recht getan!

In Dragica Rajčić Holzners Roman spüre ich die unsägliche Kraft der Poesie, die Kraft der Worte, die die Bahnen der Geschichte oft überstrahlen. Wenn die Geschichte durch die Sprache fast in den Hintergrund rückt und sich der Text wie das Echo der Geschichte anhört, die eigentliche Resonanz. Beeindruckend!

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Dragica Rajčić Holzner wurde für ihren Roman «Glück» der Schweizer Literaturpreis 2021 verliehen: «In «Glück» erzählt Dragica Rajčić Holzner von einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Liebe, die weder in der Erinnerung, noch in der räumlichen Entgrenzung Halt findet. Die Autorin zeigt eine Welt voller Zumutungen, die dem Leben ihrer Protagonistin mit jedem Schritt aus dem Heimatort hinaus mehr Möglichkeiten nimmt.
Die Autorin tut das in einer eigenwilligen, drängenden Sprache, die selbst auch Grenzen überschreitet und in der Enge der beschriebenen Lebensläufe unerwartete Freiheitsräume eröffnet.»

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Dragica Rajčić Holzner, 1959 in Split geboren, wuchs in Kroatien auf, bevor sie in die Schweiz zog. 1988 kehrte sie nach Kroatien zurück, arbeitete als Journalistin und gründete die Zeitung «Glas Kaštela». 1991 floh sie während der Jugoslawienkriege mit ihrer Familie in die Schweiz, wo sie sich in der Friedensarbeit engagierte. Zu ihrem Werk zählen auf Kroatisch und Deutsch verfasste Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke. Heute lebt Holzner in Zürich und Innsbruck. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis 1994.

Rezension von «Glück» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau