H. D. Walden (Linus Reichlin) «Ein Stadtmensch im Wald», Galiani

Es ist noch gar nicht lange her, als die Wege in den Wäldern leer blieben und der blaue Himmel ohne einen einzigen Kondensstreifen. Damals glaubte ich naiv an eine neue „Zeitrechnung“, eine Zäsur.  In der Zeit davor wurden Stimmen nach einer Umorientierung im Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten immer lauter und eine junge schwedische Aktivistin faszinierte mit ihrer Unerschrockenheit selbst die Hartgesottenen.

Vom Gefühl des Aufbruchs ist nichts geblieben, dafür einem fatalistischen Gefühl der Resignation gewichen. Warum soll man sich an den Köstlichkeiten der Gegenwart nicht bedienen! Nicht Geiz ist geil, sondern Trotz. Die Wälder sind wieder voll mit Turnschuhen und der Himmel ebenso mit Kondensstreifen Richtung Happytime.

Damals zwang uns ein klitzekleines Virus zu Alternativen. Es zwang uns, Prioritäten zu überprüfen. Genauso wie die Abertausenden von Demonstrierenden, die auf den Strassen lautstark ein Umdenken forderten. Von dem allem ist wenig geblieben. Von Pandemien will sich niemand mehr die Pläne durchkreuzen lassen und den Klimaprotest überlässt man jenen mit Klebstoff an den Händen!

D. H. Walden (alias Linus Reichlin) «Ein Stadtmensch im Wald», Galiani, 2021, 112 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-86971-242-0

Als der Virus wütete, zog sich der Schriftsteller Linus Reichlin in eine Hütte im Wald zurück. Nicht aus Verzweiflung, aber mit Sicherheit, um Abstand vom grassierenden Wahnsinn zu bekommen. In das kleine Haus einer Freundin, in die stille Welt des Ruppiner Wald- und Seengebiets. Ein paar Wochen, nicht wie der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau, der 1854 in seinem Buch „Walden“ zwei einsame Jahre im Wald beschrieb, seinen Versuch, aus einer Welt auszusteigen, in der die Folgen der Industrialisierung und zunehmenden Distanz zu einem wahren, echten und naturnahen Lebens für den Autor immer schwerer auszuhalten war.

Linus Reichlins Buch ist kein Bericht eines Aussteigers, sondern das Protokoll eines Erwachens. Im Wald alleine mit sich selbst beginnt der Autor zu sehen. Der Wald ist nicht mehr nur Kulisse und „Naherholungsgebiet“. Linus Reichlin lernt den Stimmen des Waldes zu lauschen. Tiere sind nicht mehr nur Staffage, sondern Gegenüber. So sehr, dass er Namen geben muss, mit ihnen spricht und zu verstehen versucht. Glücklicherweise ist „Ein Stadtmensch im Wald“ weder Lehrstück noch Anklage, weder Romantisierung noch Überzeichnung. „Walden“ von Henry David Thoreau damals wurde zum Kultbuch einer ganzen Bewegung, in der Literaturgeschichte zu einem Massstab des „nature writings“.

Linus Reichlin beschreibt ohne den Ansporn, in diesem Stück Welt im Wald ein alternatives Leben zu finden. Seine Zeit im Wald ist eine Selbstbesinnung, ein vorsichtiger, manchmal unbeholfener Versuch, sich mit den Regeln und Gesetzmässigkeiten der Natur zurechtzufinden. Auch wenn etwas mehr Auseinandersetzung wünschbar gewesen wäre, weil das Buch so schnell zur netten Nachttischlektüre werden kann, liest sich das illustrierte Büchlein mit Genuss. Vielleicht ist ein solches Büchlein ein Anfang.

Interview

Als Reichlin-Leser ging das Buch zuerst an mir vorbei. Erst als ich für Ihren aktuellen Roman „Der Hund, der nur englisch sprach“ im Netz recherchierte, stiess ich auf „Ein Stadtmensch im Wald“ bei dem aber der Name H. D. Walden auf dem Cover geschrieben steht. Den Link zu „Walden“ von H. D. Thoreau erschloss sich schnell. Aber warum steht nicht ihr Name auf dem Buchdeckel?
Das hängt damit zusammen, dass in derselben Saison ein anderes Buch von mir im selben Verlag erschien. Der Verlag hielt es deshalb für besser, das eine Buch unter Pseudonym zu veröffentlichen. Ausserdem wollten meine Verleger durch die Wahl des Pseudonyms einen Bezug zu H.D. Thoreau herstellen – worüber man sich streiten kann. Denn mein Buch ist ja keine Zivilisationskritik, sondern ein Bericht über eine Naturerfahrung. 

Sie bedienen mit Ihrem Buch eine Sehnsucht vieler; für einmal, wenn auch nur zeitlich beschränkt, aus dem Trott und gewohntem Umfeld ausbrechen. Irgendwie sind Ferien ausserhalb der Wohnung ja auch stets ein solches Experiment. Aber viele nehmen dabei allen erdenklichen Luxus mit, um doch nicht verzichten zu müssen, worauf man glaubt, nicht verzichten zu können. Aber liegt nicht genau in der Reduktion, im Verzicht die einzige Chance, verschlossene Türen zu öffnen?
Wenn man sich die Situation unserer Vorfahren anschaut, über einen langen historischen Zeitraum, sieht man, dass die allermeisten dieser Menschen auf die geringsten Annehmlichkeiten verzichten mussten und unter ständigem Mangel litten. Erst seit etwa 100 Jahren können wir es uns überhaupt leisten, auf die Idee zu kommen, dass Verzicht uns Türen öffnen könnte. Es steht natürlich jedem frei, auf Luxus und fliessendes warmes Wasser zu verzichten in der Hoffnung, dadurch eine nützliche Erfahrung zu machen. Ich hingegen bin der Meinung, dass wir soviel Luxus wie nur möglich so lange geniessen sollten, wie es ihn noch gibt – und ich glaube nicht, dass unser Wohlstand ewig währen wird. Mit meinem Buch wollte ich nicht Verzicht predigen, sondern einen Städter schildern, der die ihm zuvor eher unbekannte Natur kennenlernt – ohne dass er deswegen das Leben in der Natur für erstrebenswerter hält als das Leben in der Stadt.

Es scheint nicht, dass von Beginn weg die Absicht bestand, aus dem coronabedingten Abenteuer ein Buch zu machen. Wenn dem so ist; wann merkt man, wann merken Sie, dass aus einem begonnen Schreibexperiment ein Buch werden will?
Sie haben recht, die Absicht, aus meiner Erfahrung ein Buch zu machen, entstand erst, als ich schon nicht mehr unter Hirschen, Waschbären und Rehen lebte. Die Gründe sind auch ganz unromantisch: Als professioneller Schriftsteller und Journalist lebe ich davon, über meine Erfahrungen zu berichten. Es folgte also zunächst ein Essay für das Magazin des Tages-Anzeigers über das Leben im Wald, und aus dem Essay wurde ein Buch. 

Alle Ihre Romane, auch der aktuelle „Der Hund, der nur englisch sprach“ haben eine starke philosophische Komponente. Ausgerechnet in diesem Buch halten Sie sich aber aus meiner Sicht ganz ordentlich zurück. Thoreau hielt sich bei seiner Kritik an der Gesellschaft gar nicht zurück. Sie wollten auch kein Coronabuch schreiben.
Zu meinen schönsten Erlebnissen im Wald gehörte das Anlegen einer Futterstelle, mit der ich – nebenbei gesagt – die Wildschweine und Hirsche von den Kirrplätzen der Jäger weglocken wollte: Eine kleine, vielleicht naive Rebellion gegen die Auswüchse des Jagdwesens. Jedenfalls gelang es mir, sozusagen ein gutgehendes Waldrestaurant zu eröffnen, wo sich nachts Wildschweinmütter und ihre Frischlinge, Hirsche, Marder, Dachse usw. trafen. Über eine Wildkamera konnte ich diese Tiere beobachten, und sie wuchsen mir mit der Zeit ans Herz. Ja, daran war nichts Philosophisches, das stimmt. Es war einfach nur das, was es war. Ich bin sicher, hätte Thoreau sich wirklich mit der Natur beschäftigt, anstatt – übrigens nicht in der Wildnis, wie immer gesagt wird, sondern in einem bequemen Landhaus ein paar Meilen ausserhalb der nächsten grossen Stadt – sein Buch zu schreiben, wäre er zu einem differenzierteren Urteil über die Zivilisation gekommen.  

Ist jener Linus Reichlin, der mit Sack und Pack in den Wald zog, ein anderer als der Linus Reichlin heute?
Ich glaube, während der Pandemie waren wir alle ein wenig anders? Es war, im Nachhinein betrachtet, eine sehr merkwürdige Zeit, und insofern bin ich heute sicherlich ein anderer als damals. 

Ist nicht jedes Buch, jedes Eintauchen in einen Stoff eine Art Reise in eine unbekannte Gegend, einen Wald mit Stimmen und ganz verschiedenen Bewohnern?
Das ist tatsächlich das für mich Faszinierende am Schreiben: Wenn einem die Wirklichkeit nicht genug ist, kann man sich hinsetzen und sich in einer Geschichte verlieren. Das ist allerdings leider eine Ansicht, die aus der Mode gekommen ist. Früher entführten die Schriftsteller ihre Leser in andere, fremde Welten, und die Leser folgten ihnen neugierig. Mir scheint, dass heute eher die Schilderung der bereits bekannten, alltäglichen Welt verlangt wird. Der Roman als Selfie der Leser, sozusagen. Oder um es etwas überspitzt zu sagen: Komme ich nicht drin vor, interessiert mich der Roman nicht. Also leider das Gegenteil einer «unbekannten Gegend», wie Sie es nannten.  

Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Debüt «Die Sehnsucht der Atome» erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman «Der Assistent der Sterne» wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung) gewählt. Es folgten die Romane «Das Leuchten in der Ferne» (2012), «In einem anderen Leben» (2014), «Keiths Probleme im Jenseits» (2019), «Señor Herreras blühende Intuition» (2021) und zuletzt «Der Hund, der nur Englisch sprach» (2023). 

Rezension «Manitoba«

Beitragsbild © Birgit Juergens

Linus Reichlin «Der Hund, der nur Englisch sprach», Galiani

Linus Reichlin bewegt sich in seinen Romanen entweder ganz und gar in der Wirklichkeit oder wie in seinem neusten Buch in den Zonen knapp darüber  – oder darunter. „Der Hund, der nur Englisch sprach“ ist eine durchaus ernst gemeinte Konfrontation mit einer traumatischen Wirklichkeit.

Meinen Ausführungen zum neuen Roman von Linus Reichlin vorausschicken muss ich, dass ich weder Hunde noch Katzen die meinigen heisse und auch nie die Absicht hegte, mir ein solches Haustier anzuschaffen. Meine Vorbehalte Haustieren gegenüber, die befugt sind, eine Wohnung zu ihrem Lebensraum zu machen, wirken sich auch in meinem Leseverhalten aus. Hunde- und Katzenbücher schaffen es normalerweise nicht in meine Wohnung, schon gar nicht in die Beige jener Bücher, die ich mir fix zur Lektüre ausgesucht habe. Aber weil „Der Hund, der nur Englisch sprach“ von Linus Reichlin geschrieben wurde, gestand ich ihm 50 Seiten zu  – und blieb dann an der Lektüre hängen.

Eine meiner Tanten hatte die Angewohnheit, mit ihrem Dackel, den sie nach jedem Ableben durch einen neuen ersetzte und ihm den immer gleichen Namen gab, zu sprechen, als wäre er ein Kind. Und wenn ich zu Besuch war und sie zu diesem kurzbeinigen Tier sagte „Komm zu Mama“, konnte meine Aversion leichte Übelkeit hervorrufen. Glücklicherweise hat keiner der Dackel geantwortet. Ganz im Gegenteil der Hund in Linus Reichlins Roman.

Linus Reichlin «Der Hund, der nur Englisch sprach», Galiani, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-86971-285-7

Felix Sell hat sich mässig in seinem Leben eingerichtet. Und weil es an der Zeit ist, einen neuen Akzent zu setzen, beginnt er erst einmal bei einem Regal in seiner Wohnung. Ganz überraschend findet er dabei in den Tiefen seiner Plattensammlung einen vergessenen LSD-Tripp, den er auch gleich einwirft. Und kaum beginnt das Zeug zu wirken, kratzt es an der Tür zu seiner Wohnung. Und weil das Kratzen nicht aufhört, öffnet er, meint erst, einer Halluzination zum Opfer gefallen zu sein, bis neben seinen Beinen ein Hund in seine Wohnung schlüpft mit der Aufforderung „I’m all dry. Get me some water.“ Erst sucht Felix nach dem Besitzer der Stimme, bis sich unzweifelhaft die Gewissheit herausschält, dass es der Hund ist, der ihn in seiner Berliner Wohnung Englisch anspricht. Ein Hund! Und weil sich der Hund partout nicht aus seiner Wohnung vertreiben lässt, beschliesst er die Wirkung seines Tripps abzuwarten und zu akzeptieren, dass sich da ein Hund in sein Leben mischt. 

Der Hund weiss ziemlich genau, was es will und fordert hartnäckig, dass Felix ihn nach Florida bringen soll, zu seinen Friends. Und weil selbst nach der budgetierten Wirkungsdauer der Droge verständlich bleibt, was der Hund will und weil ihn erklärte Besitzer zu jagen beginnen, weil es nicht ungelegen kommt, dass man ihn aus seinem Leben buxiert und ihn der Hund aus seiner Reserve zwingt, rutscht Felix in einen wilden Tripp durch die Wirklichkeit, hinein in seine Vergangenheit mitten in eine völlig ungewisse Zukunft. Unausgesprochen oder nicht – Felix ist in seinen Grundfesten erschüttert, erst recht, als ihm zu dämmern beginnt, dass sich verschwörerische Absichten hinter all den Zufälligkeiten verbergen könnten.

Wir sind es gewohnt, dass wir als Krönung der Schöpfung den Lauf der Dinge bestimmen. Alles andere ist wie das Wetter; Zufall und den Gesetzen der Natur verpflichtet. Aber was geschieht mit all den Gewissheiten, wenn ein Hund die Fragen stellt, wenn ein Hund eine Zukunft verspricht. Linus Reichlin spinnt eine amüsante Geschichte mit mehrfachem Boden, ein Roman, der mit viel Amüsement das „Was wäre wenn“ zu einer Geschichte formt, die einen überraschenden Sog entwickelt – auch für LeserInnen, die ihre Zeigefinger überkreuzen würden, würde man ihnen ein Buch mit Hund empfehlen!

Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Krimidebüt «Die Sehnsucht der Atome» erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman «Der Assistent der Sterne» wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung) gewählt. Es folgten die Romane «Das Leuchten in der Ferne» (2012), «In einem anderen Leben» (2014), «Keiths Probleme im Jenseits» (2019) und zuletzt «Señor Herreras blühende Intuition» (2021).

«Manitoba», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Claudio Bader

Alain Claude Sulzer las aus «Doppelleben» im Literaturhaus Thurgau

Alain Claude Sulzers Roman «Doppelleben» ist ein vielschichtiges Porträt dreier Personen, die gefangen in ihrer Zeit, die Polkappen der Pariser Gesellschaft im 19. Jahrhundert ausmachten; die Brüder Edmond und Jules Goncourt, damals ein Dreh- und Angelpunkt der Pariser Kultur – und ihre Dienstmagd Rose, eine Existenz zwischen Ergebenheit und Selbstaufgabe.

«Doppeldank an Cornelia Mechler und Gallus Frei für Vorbereitung und Zubereitung, für die Sorge um mein leibliches Wohl und den barocken Schlafplatz mit Blick auf Wasser und Schwäne. Auftreten ist das eine, gut schlafen das andere. Beides hat perfekt geklappt. Danke an die ganze Equipe in Gottlieben, wo ich stets Udo Jürgens› und Lisa della Casas gedenke.»
Alain Claude Sulzer 
 

1998 begann meine Liebe zu Alain Claude Sulzers literarischem Werk, mit einem Schlag und unauslöschlich. Damals las ich seinen Roman «Urmein», der im Schloss eines italienischen Grafen im bündnerischen Urmein spielt. Ein Roman über eine wilde, bunte und bisweilen schräge Gesellschaft, die sich in den Jahren vor und während des 1. Weltkriegs im fiktiven Schloss des Adeligen trifft. Ein Roman, der wie viele Bücher Alain Claude Sulzers das gesellschaftliche und politische Leben der jeweiligen Zeit spiegelt und illustriert.
Später las ich auch die früheren Werke und fast alle, die auf «Urmein» folgten – und mit aller Selbstverständlichkeit und dem grössten Lesevergnügen seinen neusten Roman «Doppelleben».

Alain Claude Sulzer hat zweieinhalb Jahre am Roman geschrieben, nachdem er sich schon lange ausgibig sowohl in das Werk der Goncourts und die Zeit, in der die Brüder und ihre Dienstmagd lebten, vertiefte. Edmond und Jules Goncourt lebten wie siamesische Zwillinge, taten alles gemeinsam, und als Jules langsam an Syphilis erkrankte, immer stärker an den Symptomen litt und nicht nur die Fähigkeit zu sprechen verlor, sondern auch die des Schreibens, wurden die drohenden Veränderungen für den älteren Edmond immer existenzieller.
Zum einen lebt Sulzers Roman von den Schilderungen dieses Sterbens, zum andern vom Sterben ihrer Dienstmagd Rose, einer Frau und Angestellten, auf die sich die beiden Brüder ganz und gar verliessen, die das Leben der Brüder erst ermöglichte. Einer Frau, die sich in ihren beinahe nymphomanischen Anwandlungen in einen unnahbaren Mann verliebte, ihr Erspartes und mehr verlor, schwanger wurde und das Kind verlieren musste. Ein Leben im Verborgenen. Ein Leben, von dem die Brüder nichts wussten oder nichts wissen wollten.

Es habe ihn das Gegensätzliche interessiert, das Leben eines Bruderpaars, das gemeinsam Bücher schrieb, die langsamen Katastrophen, sowohl jene der Goncours wie jene ihrer Dienstmagd Rose, erklärte der Autor. Alain Claude Sulzers Roman, der nicht nur seinen Protagonisten nahe kommt, auch ihrem Tun, ihrem Wirken, ihrem Leiden, ist ein beeindruckendes Fenster in eine Zeit, in der die Stadt Paris absolute Kulturmetropole der westlichen Hemisphäre war.

Rezension von «Doppelleben» auf literaturblatt.ch

Alain Claude Sulzer «Doppelleben», Galiani

«Doppelleben» ist ein Doppelroman. Zum einen über das Brüderpaar Edmond und Jules Goncourt, die im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle in der Kulturmetropole Paris spielten, aber auch ein Roman über ihre Magd Rose, der sie nach ihrem Tod mit dem Roman „Germinie Lacerteux“ ein Denkmal setzten.

Wer liest, kennt den Prix Goncourt. Ein Preis, der seit 1903 vergeben wird und trotz des nur noch symbolischen Preisgeldes als Preis mit grosser Wirkung entgegengenommen wird. Edmond de Goncourt, der ältere der beiden Goncourt-Brüder initiierte den Preis in seinem Testament durch die Gründung einer Akademie und einer Stiftung. Edmond und sein acht Jahre jüngerer Bruder Jules verfassten als Brüderpaar Romane und Biographien und waren schon zu Lebzeiten Dreh- und Angelpunkt französischer Kultur. Sie hätten wohl durchaus auch das Zeug gehabt, sich der Malerei zuzuwenden. Aber irgendwann, noch im Elternhaus und wohlbehütet in wirtschaftlicher Sicherheit, von Bediensteten umsorgt, wendeten sich die beiden als Tandem der Literatur zu.

Alain Claude Sulzer erzählt vom damals sehr urbanen und selbstbewussten Leben eines Bruderpaars, dass sich mit grossem Selbstverständnis nicht nur in der damaligen Kulturszene, sondern auch in der politischen Upper Class bewegte. Aber das Paar, das sich wie ein Zwillingspaar gebärdete, stets gemeinsam unter dem gleichen Dach lebte und auch gegen aussen als „Einheit“ auftrat, dass sehr gut vernetzt war, hatte gegen Feinde zu kämpfen, die unsichtbar blieben. 

Eine der grossen Plagen der damaligen Zeit war Syphilis, eine ansteckende Geschlechtskrankheit, die bis zur Entdeckung von Penizillin unheilbar war. Jules, der jüngere der beiden Goncourt-Brüder, litt an dieser Krankheit, ohne dass sich die beiden Brüder den immer schlimmer werdenden Symptomen entgegenstellen wollten. Ein Wesenszug, der im Roman von Alain Claude Sulzer symptomatisch für die Zeit, die Gesellschaftsschicht und das moralische Verständnis jener Zeit war. Leben war das Resultat einer Idee. Schriftstellerei „göttliche“ Berufung und Selbstverständlichkeit. Dass das Unternehmen Goncourt nicht ohne Beihilfe funktionieren könnte, übersah man geflissentlich. Auch die Tatsache, dass jene, die unter dem Dach der Schriftstellerbrüder das Schiff auf Kurs hielten als blosses Mobiliar wahrgenommen wurden.

Alain Claude Sulzer «Doppelleben», Galiani, 2022, 304 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-86971-249-9

Alain Claude Sulzer spiegelt die Geschichte der Brüder Goncourt mit dem stillen Leben ihrer Bediensteten. Während die Brüder ihr Dasein als Künstler zelebrieren, sich mit den Wichtigen ihrer Zeit treffen, rauschende Feste feiern und die Exklusivität ihres Daseins als Normalität und Notwendigkeit hinnehmen, arbeiten Bedienstete fast rund um die Uhr im Dienst der Reichen und Privilegierten. Eine dieser Stillen war ihre Magd Rose, die unbemerkt von den Brüdern ein „Doppelleben“ führte. 

Rose, die Haushälterin, die zwar eine schlechte Köchin ist, was man angesichts ihrer Ergebenheit, Diskretion und Zuverlässigkeit über all die Jahre in Kauf nimmt, führt im Haus der Brüder ein unauffälliges Leben, scheinbar ohne Wünsche. Aber dem ist nicht so. Sie verzehrt sich nach Liebe, nach Wärme, will nichts mehr als eine Familie. Von der Liebe immer wieder enttäuscht lernt sie in ihrer Nachbarschaft einen jungen Schuster kennen, verliebt sich und stürzt sich in ein gnadenloses Abhängigkeitsverhältnis, das die Unglückliche an den Rand des Ruins bringt. Ein Unglück allein scheint nicht genug. Rose wird mehrfach schwanger. Aber keines dieser Kinder überlebt. Das, wovon Rose träumt, bleibt ihr verwehrt. Nicht einmal die Schwangerschaften bemerken Edmond und Jules. Die beiden sind zu sehr mit ihrem eigenen Kampf beschäftigt. Aber als Rose sich immer weiter in einer Spirale aus Schulden, Krankheit, Alkohol verliert und stirbt, reiben sich die beiden die Augen und versuchen sich durch einen Roman über eine junge Frau wie Rose ihrer Schuld freizuschreiben. 

Dieser Roman „Germinie Lacerteux“ erschien 1865, 5 Jahre vor dem Tod des jüngeren Bruders Jules. Ein Roman, der in der Literaturgeschichte als Schlüsselroman bezeichnet werden kann, weil zum ersten Mal eine Frau aus unteren Gesellschaftsschichten zur tragenden Protagonisten wird.

„Doppelleben“ ist ein packend geschriebenes Sittengemälde, nicht zuletzt über das Leben in der absoluten Kulturmetropole Europas. Die Spiegelung zweier Existenzen, jener der Brüder Goncourt und der Magd Rose. Letztlich müssen sich beide dem Leben geschlagen geben. Man lebt auf engstem Raum zusammen und berührt sich nie. Alain Claude Sulzer zeichnet genau und mit grosser Geste, hält sich nahe an die Tagebüchern der Brüder Goncourt und schreibt doch in seinem ganz eigenen Stil das erschütternde Doppelporträt zweier völlig gegensätzlich eingebetteter Existenzen. „Doppelleben“ beschreibt einen kurzen Moment des Erwachens einer Gesellschaft, die fast ein Jahrhundert nach der Französischen Revolution die Privilegien einer Oberklasse noch immer als absolute und unumstössliche Selbstverständlichkeit hinnimmt. Ein Erwachen, das bis in die Gegenwart reicht.

© Galiani

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. «Ein perfekter Kellner», «Zur falschen Zeit», «Aus den Fugen» und zuletzt «Unhaltbare Zustände». Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com

Januar bis April 2023 – das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften.» Peter Stamm

Literaturhaus Thurgau

Michael Kleeberg im Literaturhaus Thurgau

Michael Kleebergs Buch „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist keine Abrechnung, viel mehr eine eigentliche Liebeserklärung an seinen Vater, eine Klärung, die sich nicht einstellen wollte oder konnte, solange sein Vater noch lebte.

Michael Kleeberg strotzt vor Geschichten. «Kein Wunder, Schriftsteller.» Aber Michael Kleeberg liebt Menschen, geht auf sie zu, verwandelt eine Lesung in ein Gegenüber. Und wenn der Autor dann mit einem Glas Wein aus seinem Leben erzählt, von all den Begegnungen, Erfahrungen, Reisen, Freundschaften, dann spüre ich als Zuhörer seinen unendlichen Reichtum. «Glücksritter. Recherche über meinen Vater» erzählt nicht zuletzt davon, wem der Autor seine Quelle verdankt.

„Alle Graustufen des realen Lebens sind verschwunden und es wird nur noch Schwarz und Weiss gepredigt.“

Wenn Mütter oder Väter sterben, wenn man Häuser und Wohnungen räumen muss, wenn man bei jedem Ding, das man noch einmal in Händen hält, entscheiden muss, ob es auch zur eigenen Geschichte gehört oder ob es bloss noch Überbleibsel ist, zwängen sich unweigerlich Fragen in den Vordergrund. Väter und Mütter sind einem irgendwie immer nah. Und doch muss man sie gewinnen, denn verlieren muss man sie unweigerlich. 

Eine Einsicht Kleebergs Recherche war, dass seinem Vater Freundschaften nie wichtig waren, viel mehr Status und das Bild einer perfekten Familie. Erklärbar durch die Nachkriegszeit, in der eine ganze Generation sich auf das Äussere fokussierte, eine intakte Hülle. Sein Vater war über Jahre das, was das Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland zum Muster erklärte; immer mehr, immer besser. Und selbst Jahrzehnte nach dem Krieg, während man die Erinnerungskultur in Deutschland an allen Rändern entzündete, blieben Männer und Frauen wie seine Eltern im Dunstkreis einer Normalität, die sie in Kindertagen wie die Muttermilch aufgesogen hatten, die eine tatsächliche Auseinandersetzung mit den Gräueln des Nationalsozialismus behinderte, wenn nicht sogar verunmöglichte.

Eine Recherche über die Mythen einer Familie, zu jenen die Überzeugung gehörte, man hätte es viel weiter bringen können, wenn einem das Glück nicht versagt geblieben wäre. «Glücksritter» als einer, der dem Glück hinterher galoppiert.

Michael Kleeberg beschreibt in seinem Buch unendlich zärtliche Momente. Zum Beispiel jenen, als sein Vater ihm als kleinem Jungen Geschichten zeichnete, Comics davon machte, liebevoll nachzeichnete, was er erzählte.
Ihm zu lauschen war wie der Blick auf seine inneren Bilderwelten und -landschaften. Genuss!

«Ich habe meinen Freunden aus Gottlieben geschrieben: «Grüße aus der Freiheit!» Und genau so habe ich es auch gemeint. Aus der Paranoia, dem Irrsinn und Denunziationswahn, die derzeit in Deutschland herrschen, herauszukommen (gegen manche von der deutschen Obrigkeit in den Weg gestellte Reisehindernisse) und zum ersten Mal seit sieben Monaten in einer von gesundem Menschenverstand geprägten Umgebung wieder vor echten Menschen lesen zu können, war ein Geschenk, für das ich Dir, lieber Gallus, nicht genug danken kann.
Es waren schöne Tage im Zeichen der Literatur, die wir beide lieben.» Michael Kleeberg

Programm Literaturhaus Thurgau

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Michael Kleeberg «Glücksritter. Recherche über meinen Vater», Galiani

Die Frage nach dem Woher und Wohin wird wohl in keinem Moment mehr gepusht, als dann, wenn Väter und Mütter sterben. Wenn es unmöglich geworden ist, Fragen direkt zu stellen. Wenn Wohnungen und Häuser geräumt werden und mit einem Mal nackte Mauern stehen, wo einst Geschichte lebte. Michael Kleeberg, grosser Romancier und Essayist, wäre nicht Michael Kleeberg, wenn er den Tod seines Vaters so einfach hinnehmen würde. „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist ein direktes, aber liebevolles Buch über einen Vater, der erst durch den Tod in wirkliche Nähe rückte.


„Glückritter. Recherche über meinen Vater“
Lesung mit Gespräch im Literaturhaus Thurgau,
Donnerstag 6. Mai 2021, 19:30 Uhr.
Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.

Ich begegnete Michael Kleeberg zum ersten Mal 2002, als er mit seinem Roman „Der König von Korsika“ Gast bei den Solothurner Literaturtagen war. Damals hatte ich aber ein anderes Buch von ihm in meiner Tasche, das ich unbedingt signiert haben wollte, weil es damals wie heute eines jener Bücher ist, die meine Lesebiographie nachhaltig beeinflussten. Ein Buch, das in meiner Bibliothek zu den „Überbüchern“ zählt und mit der Widmung des Autors zur Reliquie: „Ein Garten im Norden“, ein modernes Märchen mitten in der Gegenwärtigkeit. Ein junger Mann bekommt von einem Antiquar ein leeres Buch geschenkt. Mit dem Buch verspricht er ihm: „Was immer Sie hineinschreiben, wird Wirklichkeit geworden sein, wenn Sie das Buch beendet haben.“

Mit „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist Michael Kleeberg vielleicht genau diesem Versprechen ein bisschen näher gekommen. Denn wer sich in der Art wie der Autor mit dem Leben und der Herkunft seiner Eltern, seines Vaters auseinandersetzt, muss der Wirklichkeit unweigerlich näher kommen. So wie ich selbst trägt jeder ein Bild seines Vaters mit sich herum, Erinnerungen und scheinbare Tatsachen, die über Jahrzehnte zementieren, einem glauben machen, man würde jene kennen, in deren Familie man geboren wurde. Es baut sich über ein Leben lang Stein auf Stein, eine Fassade, hinter die man aber aus Respekt, Furcht, Desinteresse oder zu grosser Distanz gar nicht zu schauen vermag. Eine Fassade, die aber Schatten wirft, einen Schatten, der bleibt, auch wenn der Tod vieles mit sich reisst.

Michael Kleeberg „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“, Galiani, 2020, 240 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-86971-140-9

Michael Kleebergs Recherchebuch über seinen Vater beginnt mit einer Geschichte aus den letzten Lebensjahren seines Vaters. Wie oft, wenn der Erzähler mit seiner Familie in die Ferien fährt, hütet der achtzigjährige Vater das Haus. Nach der Rückkehr durch einen beunruhigenden Mailwechsel wird offenbar, dass der Vater Opfer eines Trickbetrügers wurde, der ihm ganz offensichtlich mit dem Versprechen vom grossen Geld mehrere tausend Euro abknöpfen konnte. Er macht sich auf zu seinem Vater, seiner Mutter, stellt ihm Fragen, die brennen, weil der Sohn genau weiss, dass die alten Eltern finanziell nicht auf Rosen gebettet sind. Aber bei der Konfrontation wird klar, dass ein Sohn kein Freund ist. Dass sich gewisse Fragen als Sohn nur ganz schwer oder gar nicht stellen lassen.

Der Tod seines Vaters und die Geschichte um das in den Sand gesetzte Ersparte seiner Eltern, die Räumung einer Wohnung und die verschwiegene Demenz seiner Mutter werden die Ausgangspunkte einer Suche nach dem Woher. Der Vater, in den letzten Jahren des Krieges vierzehn, erlebt die Gräuel einer Kapitulation, die Vertreibung von seinem Zuhause, Jahre in einem Lager und den wechselvollen Aufstieg im Nachkriegsdeutschland. „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist ein Buch über einen glücklosen Vater, einen Mann, der ein Leben lang dem Glück hinterherritt, der sich von der grossen Geschichte und seiner eigenen Geschichte verraten fühlte. Von einem Mann, dem das Geld und Status das Wichtigste war und unbedingt wollte, dass sein einziger Sohn dereinst ein Doktor werden sollte. Von einem Mann, der die Geschichte nach seiner Fasson zu drücken wusste und sich nie den Tatsachen der Geschichte stellte. Von einem Mann, der ihm die Liebe zur Fantasie schenkte, der ihm Geschichten erzählte ohne sich je der eigenen Geschichte zu stellen.

„Glückritter. Recherche über meinen Vater“ ist keine Abrechnung, sondern eine Liebeserklärung.

Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. «Ein Garten im Norden», «Karlmann», «Vaterjahre», «Der Idiot des 21. Jahrhunderts») wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015) und den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016). 2020 erschien sein Buch «Glücksritter. Recherche über meinen Vater».

Webseite des Autors

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Alexander Puschkin & Kat Menschik «Pique Dame», Galiani

Seit 2016 erscheint bei Galiani Berlin eine ganz besondere Reihe ausgesuchter Erzählungen und Novellen. Grandiose Texte, feinste Ausstattungen, ungewöhnliche Materialien, überraschende Interpretationen. Alle Bände im selben Format, alle Bände mit dreiseitigem Farbschnitt – aber jeder Band in anderer Ausstattung und jeder Band mit eigener Bildsprache. Ein Fest für Geist und Sinne. Gestalterisch interpretiert von Kat Menschik.

Bisher sind die ersten acht Bände erschienen, jeder ein Kleinod; von Franz Kafka „Ein Landarzt“, von William Shakespeare „Romeo und Julia“, von E. T. A. Hoffmann „Die Bergwerke zu Falun“, von Volker Kutscher „Moabit“, von Edgar Allan Poe „Unheimliche Geschichten“, das Kochbuch „Essen essen“, das norwegische Märchen „Die Puppe im Grase» und 2020 „Pique Dame“ von Alexander Puschkin.

© Kat Menschik

Alexander Puschkin, 1799 – 1837, gehört zu den Grossen der russischen Literatur, in Russland selbst der Nationaldichter, für viele RussInnen höher einzuschätzen als dessen Landsleute Tolstoi, Dostojewski, Gogol oder Pasternak. Nebst seinem wohl berühmtesten Versepos Eugen Onegin war Alexander Puschkin Meister der Erzählung. Eine davon ist die von Kat Menschik illustrierte Spielernovelle „Pique Dame“. Gering im Umfang, aber typisch für Puschkin. „Das Phantastische in der Kunst hat seine Grenze und Regel. Das Phantastische sollte sich so viel mit dem Realen berühren, dass man es «fast» glauben kann“, so Fjodor Dostojewski.

Man trifft sich in langen, russischen Winternächten zu Kartenabenden, die bis in die Morgenstunden dauern. Man spielt, erzählt sich Geschichten, labt sich an den Gewinnen und hadert mit dem Schicksal, wenn der Einsatz zerrinnt. Die alte, schrullige Gräfin ist eine der Spielerinnen. Sie lebt zusammen mit ihren Bediensteten und einer jungen Frau, Lisaweta Iwanowna in einem stattlichen Haus, von dessen Fenster die junge Frau eines Abends einen jungen Mann sieht. Einen jungen Mann, der auch noch Stunden später an der gegenüberliegenden Strassenseite zu warten scheint und zum Fenster hochschaut. Ein junger Mann, der ihr Briefe schreibt, ein junger Gardekavallerist, Sohn eines nach Russland immigrierten Deutschen. 

© Kat Menschik

Aber Hermann ist entgegen seiner Liebesschwüre gar nicht an der jungen Frau interessiert, sondern an einem Geheimnis, das man sich von der alten Gräfin erzählt. Sie habe die Fähigkeit, drei Karten im Spiel vorauszusagen, drei Karten, die für jenen Reichtum bedeuten, der mit der letzten Karte zu spielen aufhört. Kein Problem für den jungen, sparsamen Soldaten. Das Problem allerdings liegt darin, das Vertrauen der alten Dame zu erlangen, um ihr das Geheimnis zu entlocken.

Mit Lisaweta Iwanownas Hilfe schleicht sich Hermann in das Haus der Gräfin, wartet ab, bis diese allein in ihrem Schlafgemach ist und stellt sich ihr im Halbdunkel mit seinem Drängen um die drei Karten. Doch die alte Dame stirbt vor Schreck. Hermanns Gewissen scheint zu erwachen. Doch als ihm nach der Beerdigung der alten Gräfin, diese im Traum erscheint und ihm die drei Karten nennt, eine Drei, eine Sieben und ein Ass, erwacht die Gier erneut und Hermann macht sich auf zu seinem grossen Spiel. Aber die Pique Dame schlägt ihn, schlägt ihn nicht nur im Spiel, sondern für sein ganzes Leben lang.

Kat Menschiks Reihe entwickelt sich zur Kultreihe. Wer die einen hat, muss die andern auch haben. Kat Menschik bebildert aber nicht einfach die Geschichten, sie erzählt mit, leidenschaftlich mit Farben und Formen, eindringlich in ihrem kraftvollen Ausdruck. Jedes Buch ist durchdrungen von der Liebe zum Buch. Kat Menschiks Reihe ist buchgewordene Leidenschaft!

Kat Menschik musste leider absagen. Das Sommerfest findet aber trotzdem statt und zwar mit Ariela Sarbacher und ihrem Debüt «Der Sommer im Garten meiner Mutter». Für alle Menschik-Fans wartet eine ganz besondere Überraschung!

© Kat Menschik

Kat Menschik (1968 in Luckenwalde DDR) ist freie Illustratorin. Ihr Gartenbuch «Der goldene Grubber. Von grossen Momenten und kleinen Niederlagen im Gartenjahr» (2014) wurde zum Dauerseller und unter die 25 schönsten Bücher des Jahres gewählt. Seit 2016 gestaltet Kat Menschik ihre eigene Buchreihe, darunter der Bestseller «Moabit» von Volker Kutscher (2017) und Edgar Allen Poes «Unheimliche Geschichten» (2018). Jeder dieser Bände ist individuell gestaltet und ausgestattet. Zuletzt erschien dort die Neuübersetzung von Alexander Puschkins «Pique Dame» (2019).

Beitragsbild © Lea Frei

Liebe Leserinnen und Leser!

Kat Menschik ist freie Illustratorin. Ihr Gartenbuch «Der goldene Grubber. Von großen Momenten und kleinen Niederlagen im Gartenjahr» (2014) wurde zum Dauerseller und unter die 25 schönsten Bücher des Jahres gewählt. Seit 2016 gestaltet Kat Menschik ihre eigene Buchreihe, jeder dieser Bände ist individuell gestaltet und ausgestattet: Shakespeares «Romeo und Julia» (2016), Kafkas «Ein Landarzt» (2016), E.T.A. Hoffmanns «Die Bergwerke zu Falun» (2017), Volker Kutschers «Moabit» (2017), Edgar Allen Poes «Unheimliche Geschichten» (2018) (ebenfalls eines der 25 schönsten deutschen Bücher des Jahres). Zuletzt erschien «Essen essen (mehr ist mehr!)» im Frühjahr 2019.

Kat Menschik besucht im kommenden Sommer das Literaturhaus Thurgau in Gottlieben am Seerhein! Weitere Informationen folgen.

Michael Kleeberg «Abschied von einem Apfelbaum», Plattform Gegenzauber

Sein Stamm ist auf dem ersten Meter zweimal in sich verdreht, als hätten zwei gewaltige Hände ihn in seiner Jugend ausgewrungen wie ein nasses Handtuch. Seine Rinde ist backsteinbraun, rostbraun geschuppt, erinnert an Echsenhaut, an Krokodilleder. Auf der Sonnenseite des schräg aufstrebenden Stamms breitet sich ein goldengrüner, feinst gefiederter Moosteppich aus, bei dessen Berührung man das Gefühl hat, die Mähne eines Pferdes zu streicheln. Die Unterseite des Stamms wirkt schiefergrau, erst beim längeren Hinsehen macht man einen leichten Mauveschimmer aus. Je höher es hinaufgeht, je dünner die Äste werden, desto weniger Schuppenrinde ist zu sehen, desto glatter wird die Oberfläche des Holzes, ein hellgeschecktes Grau mit dem in der Sonne gelblich leuchtenden Grünspan von Flechten.

Auf Kniehöhe hat auch der Stamm ein erstes Knie, bis zu dem er recht gerade aus der Erde wächst. In der Kniekehle imitieren zwei starke in den Stamm eingelassene Stränge Sehnen. Oberhalb der an einer Kniescheibe erinnernden Ausbuchtung neigt sich der Winkel auf sechzig Grad, und die Wuchsrichtung dreht sich um ein Achtel. Ein zweiter Knick auf Hüfthöhe verschiebt die Wuchsrichtung wieder um 30 Grad zurück. Auf zweieinhalb Metern Höhe gabelt sich der Stamm, zwei Meter von seinem Ausgangspunkt entfernt, in drei Hauptäste.

Der stärkste Ast strebt in der Kurve einer Kettenlinie nach oben – zwei weitere Äste gehen von ihm ab, einer davon fast vier Meter weit waagrecht ausgreifend –, um sich in der Krone in zwei weidenartig überhängende Kuppeläste zu gabeln. Der zweite Hauptast wächst, sich verjüngend, flacher hinauf, verzweigt sich an seinem Scheitelpunkt, von wo aus das Gewicht der Zweige sie in einer Art Kreuzrippengewölbe nach unten biegt. Der Dritte beschreibt einen kommunistischen Gruß: Nach einem knappen Meter waagerechten Wachstums zwingt ein angewinkelter Ellbogen ihn in die Senkrechte, drei Meter weit. Die Krone des Baums hat auf einer Höhe von vielleicht sechs Metern einen Durchmesser von wenigstens acht. Geformt ist er wie ein riesiger Sonnenschirm auf schiefem Fuß. In der Erntezeit hängen manche Zweige voller Früchte fast bis zum Boden hinab, ebenso im Januar, wenn nasser Schnee auf ihnen lastet und der Stamm schwarz schimmert wie das Fell eines Rappen.
Am Bizeps des einen Hauptastes ist ein steinerner Nistkasten aufgehängt, den ein Blaumeisenpaar zum Überwintern und im Frühjahr zum Nestbau nutzt. Außer den Meisen finden sich regelmäßig Amseln, Spottdrosseln, Kleiber, Zaunkönige im Baum, seltener Spatzen. Im Winter werden die Meisenknödel täglich auch von einem kopfüber an ihre Unterseite gekrallten Buntspecht aufgesucht, ab und an klingt das schrille Gekecker eines großen, blaubraun leuchtenden, nesträuberischen Eichelhähers aus der Krone, das Hunderte von Metern entfernt im Wald wieder aufgenommen und weitergetragen wird. Seit einigen Jahren sieht man zur Blütezeit immer weniger Bienen im Baum, während die Zahl der Hummeln konstant zu bleiben scheint. Zur Fruchtzeit zieht es die Wespen ins Geäst, manchmal hört man wie ein weit entferntes Moped das sonore Gebrumm der Hornissen, von dem sich einem die Nackenhärchen aufstellen, bevor man noch die erschreckend langen Körper rund um den Stamm auf und ab kreisen sieht.

Im Oktober trägt er mittelgroße Äpfel, deren Grundfarbe gelb ist, manchmal gesprenkelt wie von Sommersprossen, viele von ihnen mit errötenden oder sogar feuerroten Wangen, einige mit wie aufgebatikten grünen Flecken. Vierzig Kilo davon ernten wir in jedem Herbst, der Teleskop-Käscher muss in ganzer Länge ausgezogen werden, um die obersten, wie Glühbirnen leuchtenden aus der Krone zu greifen. In Wäschekörben bringen wir sie dann zu der in einem Hinterhof in Weißensee verborgenen Mosterei Neubert, wo neben verwilderten Gärtchen und rostigen Zäunen die große grünlackierte Presse brummt, über deren Rand die Äpfel direkt in das schäumende Gebrodel gekippt werden.

Gegen Ende März eröffnen die beiden Sauerkirschbäume, deren wie Chilischoten geformte Früchte im August zu Tausenden auf den Platten zerplatzen und rote Schlieren und Schmierspuren hinterlassen, die an die Überbleibsel eines Unfalls oder Massakers erinnern, mit ihrer blassgelben, seltsam unkörperlichen, pusteblumenhaften Blüte, den Frühlingsreigen. Sie hält sich nicht lange, ist schon schlaff und welk, wenn der Mirabellenbaum Anfang April sein christosches Zauberkunststück vollführt und seine noch winterlich kahlen Äste plötzlich mit einer vibrierenden weißen Schmetterlingswolke umhüllt, die jeden Tag weißer und dichter wird, so dass man selbst an grauen Tagen, am Stamm stehend und in die Krone hinaufblickend, die Augen zusammenkneift vor soviel flirrender Helligkeit. Die unvermeidlichen Regengüsse setzen dem Traum nach kaum zwei Wochen ein etwas schäbiges Ende in Form eines Konfettiregens. Immerhin bleiben als Hoffnungsboten die grünen, noch eingerollten Blätter. Es folgt, ebenso kurzatmig, so schön wie steril, das Erblühen der im Schatten des Hauses violett schimmernden Zierkirsche. Der Baum, rotbräunlich gefärbt, verströmt, wenn die Knospen sich öffnen, ein zartrosa Licht, das nach einer Woche schon schwächer wird und erlischt, um die Bühne freizugeben für die Pflaumenbäume. Währenddessen blenden die Forsythien die Augen wie strahlende, vom Himmel in den Garten gefallene Sonnen. Aber erst wenn sie von oben her ihre Blätter zu treiben beginnen und das bonnardsche Mimosengelb sich in den folgenden Wochen in Absinthgrün verwandelt, erst in den allerletzten Apriltagen, ermutigt von einer warmen

Woche, manchmal noch später, wie aus alter, in den Genen liegender Erfahrung manches Jahr erst nach den Eisheiligen, zeitgleich mit der Mauser der geduldigen Hainbuche, die seit November ihr pergamentenes, rohrzuckerbraunes, welkes Laub festhält, um dann innerhalb von zwei Tagen, vom Wipfel bis zum Boden, alle toten Blätter abzuschütteln und ebenfalls vom Wipfel her die lanzettspitzen Knospen innerhalb weiterer zweier Tage zu stark gemasertem, flaumiggrünem Frühlingslaub auszurollen, erst dann kommt die Stunde des Apfelbaums.

Er hat sich vorbereitet, langsam, geduldig. Anders als die Pflaumenbäume, die erst ihr Blütenfeuerwerk versprühen, um dann zu grünen, die rasch ihr Pulver verschossen haben, beginnt er mit einem grünen Schimmer der Kelchblätter, der einen Anflug von Frühling in die Winterschwärze des Baums setzt, und aus dem das dunkle, stark durchblutete Rosa der Knospenköpfe verheißungsvoll blinkt. Auch jetzt noch lässt er sich Zeit, eine Woche, um sich zu entfalten, eine Woche, um im Entfalten die rosige Außenseite des Blütenblattes nach unten und außer Sicht zu drehen und die schneeweißen Innenseiten zu präsentieren.

Die Fünf ist die Ordnungszahl der Apfelblüte, fünf Blütenblätter bilden einen Kranz, in dessen Zwischenräumen weitere fünf rosige Nebenblüten knospen. Haben sie sich alle geöffnet, wiegen sich mokkatassengroße Blütengebinde auf den Enden der Zweige, das Rosa ist fast ganz verschwunden, scheinbar verblasst in der Anstrengung des Wachsens und Sich- Öffnens, und nur noch hier und da eher zu ahnen als zu sehen, mehr eine Erinnerung auf der eigenen Netzhaut als eine tatsächliche Farbe. Meist sind es auf den Innenseiten der Blütenblätter nur hingehauchte Gouache-Flecken entlang der Längsmaserung des kapillarenfeinen Aderwerks.

Diese Blütenblätter sind nicht ganz glatt, sondern ein wenig verknittert wie die ungebügelten Ärmel eines Seidenhemds. Im Entfalten umschließen sie zunächst die Mitte noch schalenartig, biegen sich dann jedoch immer weiter nach außen, um in einer fast obszönen Geste der Entblößung Staubgefäße und Stempel nicht nur zugänglicher zu machen, sondern sie gleichsam nach oben zu pressen, fast so, als ob eine Frau ihre Schamlippen auseinanderzöge, um ihrem neugierigen Liebhaber mittels ein wenig Drucks aus dem Beckenboden ihre Klitoris zu offenbaren.

Im Innern der Blüte rankt sich feinstes Kabelwerk, hellgrün, das sich dann zu einem Strauß aus herzförmigen, blassgelben Staubgefäßen und höher aufragenden Stempeln bündelt und öffnet, meist fünf an der Zahl. Die Stiele und Kelchblätter unter den Blüten sind flaumig behaart wie Jungmädchenarme, so dass es fast wie Nebel um die Stiele spielt.

Der Eindruck des zur Gänze blühenden Baums hat etwas von der Ausschüttung eines Füllhorns, von Überschwang, von Mit-vollen-Händen-Herschenken. Es ist eine bäuerliche, keine distinguierte Pracht, keine Spur von Maß oder Etikette, keine bürgerliche Reserve, kein haushaltender Wille zum Sparen, keine taktische Beschränkung. Es ist das Glück eines jungen Mädchens vom Lande, das sich von Natur aus schön weiß, sich zu festlichem Anlass zu putzen, etwas anachronistisches, eine alte Weise.
Seine äußersten Zweige berühren dann fast die höchsten des Fliederbuschs, und es wirkt als werde durch den Kontakt, den manchmal ein Windstoß hervorruft, das Kommando zum Erblühen von dem weißleuchtenden Obstbaum an die noch dunkel verschlossenen Knospen des Strauches weitergeleitet, der dann sozusagen den Staffelstab übernimmt und das hellere Violett des Blüteninneren, ihren Duft freigebend, offenbart, wenn von der Pracht des Apfelbaums nur noch weißer Hochzeitsreis auf dem Rasen übriggeblieben ist und er selbst eine bräunlich-gelbliche Färbung annimmt wie ein angeschnittener Apfel, der zu lange an der Luft gelegen hat, denn nur noch Staubgefäße und Stempel stehen wie miniaturisierte Springbrunnen auf den leeren Blütenständen, unter denen das Laub mächtig wächst.
Wenn man unter ihm sitzt, scheint das vielstimmige Vogelgezwitscher aus ihm zu kommen, scheint der Baum zu singen, als sei er eine Art Orgel: Die tieferen Töne entströmen dem Stamm, die höchsten dem feinen Gezweig der Krone. Das gequetscht Quietschende der Grasmücken und Finken, die gepfiffenen Koloraturen der Amseltriller, dazwischen rhythmisches Morsen.
An einem windigen, warmen 30. April studiere ich seine Bewegungen: Ein leises, würdiges Wiegen der weit ausgreifenden Äste, Pendelschläge der dünneren Zweige. Die Blüten schütteln sich, das Laub vibriert, als überliefe es eine Gänsehaut, oszilliert im Sonnenlicht. Konzentriert man den Blick auf Einzelheiten, sieht man das Elektronenrasen der Insekten, bei dem man Standort und Geschwindigkeit nie genau unterscheiden kann, so dass der Eindruck eines Flimmerns der vom Baum überwölbten Luft entsteht. Bei Sturm schüttelt er sich wie ein Tier, dem der Wind durchs Fell oder die Mähne zaust.
Im Frühling erinnert die Blüte an die duftig auf schaumigen Mittelmeerwellen tanzenden Blumengirlanden auf Noel-Nicolas Coypels „Entführung der Europa“: Sahnebaisers des Rokoko.
Im Sommer gleicht das Licht- und Schattengeflocke unter seinem Laubdach einer elektrischen Cloisonné-Malerei, deren Zellen in unregelmäßigen Abständen aufblinken. Wässert man an heißen Spätnachmittagen den Boden rund um den Stamm, hat man das Gefühl, ein Tier zu tränken, das gierig und dankbar die Flüssigkeit aufnimmt. Im November ruft der Baum die Erinnerung an einen bretonischen Calvaire irgendwo im Norden des Finisterre zwischen Morlaix und Brest herauf: nasser schwarzer Granit, der Inbegriff von Trostlosigkeit. Zu Weihnachten, wenn die reifbedeckten Zweige in der Morgensonne zuckrig glitzern, geht etwas Heimeliges, Trautes von ihm aus, und bei seinem Anblick sage ich mir Brechts GedichtDie Vögel warten im Winter vor dem Fenster her: „Ich bin die Amsel. Kinder, ich bin am Ende …“

In den Abschiedsschmerz, der ein Vorausahnen der Tatsache ist, dass man die Präsenz des Selbstverständlichen doch erst richtig schätzen kann, wenn sie nur noch in der Erinnerung existiert, aber in der täglichen Gegenwart ein Loch, ein Fehlen sein wird, mischt sich eine Prise von Neid, den der Ruhe- und Rastlose immer gegenüber dem Sesshaften empfindet, der all das, was man anderswo sucht, schon längst zu besitzen scheint, ohne Aufhebens, ganz beiläufig, oder wie der Weise sagt: ohne je seinen Garten verlassen zu haben. Wie alt er sein mag? So alt wie das Haus, fünfzig Jahre? Oder noch älter? Was alles um ihn herum vorgegangen ist, während er stoisch und ahnungslos mit nichts als Wachsen und Früchtetragen beschäftigt war! Keine zwanzig Meter von ihm teilte die Mauer dreißig Jahre lang Berlin von seinem Umland. Zwanzig Meter weiter, und seine Äpfel wären in zwei Staaten gefallen. Aber das hätte die Grenzpolizei der DDR nicht toleriert, die im Mauerstreifen jeden Baumwuchs mit Pflanzengiften unterband. Bei starkem Westwind, berichten die Nachbarn, sind ihnen davon die Geranien eingegangen, dem Baum hat es nichts angehabt. Geschichte ficht einen Baum nicht an, sofern er ihr nicht im Wege steht.

Wenn die Menschen und die Naturgewalten ihn lassen, müsste er länger leben als ich. Eigentlich ist er es, der sich von mir verabschieden müsste.

Orient und Okzident, Einwanderer, Auswanderer, Aussteiger, Islam, Christentum, Kapitalismus und die Suche nach dem Glück: Michael Kleeberg erzählt Geschichten und «Schicksale in einer globalisierten Welt. In diesem großen Wurf gelingt es ihm, die wichtigen Fragen unserer Zeit in packende Literatur zu verwandeln.»

Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. «Ein Garten im Norden», «Vaterjahre») wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015), den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016) und hatte die Frankfurter Poetikdozentur 2017 inne.

Schriftstellergespräch zwischen Michael Kleeberg und Catalin Dorian Florescu: Bericht auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Lothar Köthe