Rebekka Salm «1943», Auszug aus einer noch unveröffentlichten Arbeit, Plattform Gegenzauber

Vor dem Zugfenster lagen Äcker, nackte Sträucher und Bäume, vereinzelte Häuser und Ställe mit eingefallenen Ziegeldächern, wie in besseren Zeiten hingeworfen und dann vergessen. Alles schien mit Mehlstaub überzogen. In zwei Wochen war Weihnachten. Ihre Schwägerin Lieke hatte Emma angeboten, die Feiertage bei ihr zu verbringen. Doch Emma wusste, dass Lieke kaum genug für sich und die Kinder hatte.
Nicht genug Geld.
Nicht genug Kraft.
Sie sah Bahnhofsgebäude vorbeiziehen, ohne Rauchwolken an den Schornsteinen, als hielten sie den ganzen Winter durch den Atem an. Bahnübergänge mit hochgezogenen Schranken verharrten im lautlosen Gruss an den Führer. Krähen flogen auf. Träge schoben sie sich in den bleiernen Himmel über ihnen. Und obwohl die Vögel in Bewegung waren, schien die Welt leblos, eingefroren wie das Bild auf der Leinwand, wenn der Film riss.
Cees und Emma hatten sich im Kino kennengelernt.
Emma hatte sich an einem Sonntagnachmittag im September mit einer Freundin im Ufa-Kino am Rembrandtplein mit den samtroten Sitzen und dem abgebröckelten Stuck an der Decke verabredet. Es lief «Hauptsache glücklich» mit Hans Rühmann. Ein durchwegs banaler Film. Gerade als die beiden Hauptdarsteller erfuhren, dass die von ihnen erst geliehene und dann verlorene Brosche ein Vermögen wert war, fror das Bild auf der Leinwand ein und die Lichter im Saal gingen an.
«Wussten Sie, dass jedes Mal, wenn der Film reisst, er durch das Kleben ein Stückchen kürzer wird?»
Der Mann, der Emma angesprochen hatte, sass zu ihrer Linken. Er war so gross, dass sie sofort Mitleid hatte, mit der Person, die das Pech hatte, den Platz hinter ihm erwischt zu haben. Seine Haare waren blond und millimeterkurz geschnitten, die Augen blau. Die Schneidezähne standen schief und wenn er schluckte, hüpfte sein Adamsapfel lustig auf und ab. Die Schuhe, die kaum Platz fanden zwischen den Sitzreihen, waren zerkratzt und an zwei Stellen blitzen die Socken durchs aufgeplatzte Leder.
«Und wie oft muss dieser Film noch reissen, bis er verschwindet?», fragte Emma nun ihrerseits. Der Fremde lachte und hielt ihr die Hand hin. Elf Monate später hatten sie geheiratet. Nur sie beiden und die Trauzeugen, Cees Schwester Lieke und Emmas Bruder Willem.
Emma zog den Goldring aus ihrer Manteltasche, der an einem Haken neben dem Fenster hing. Sie probierte ihn an all ihren Fingern an. Das Material war kühl und abweisend, wie es auch Cees gewesen war, als sie sich im Krematorium an der Pienemanstraat von ihm verabschiedet hatte.
Sie konnte die Gravur auf der Innenseite des Rings lesen, ohne ihn vom Zeigfinger abstreifen zu müssen. «Vor altjid» stand darin. «Für immer». Und das Datum ihrer Hochzeit. Natürlich hatte Emma gewusst, dass «Für immer» lediglich eine Metapher für eine sehr lange Zeitdauer war. Fünfzig Jahre. Vielleicht mehr. Aber dreizehn Monate, da war sich Emma sicher, war weit entfernt von einer Ewigkeit. Sie fühlte sich betrogen. Von Gott. Nicht dass Emma an ihn glaubte, aber für einen Irrtum in dieser Grössenordnung konnte dennoch niemand anders verantwortlich sein als er.
Sie griff ein weiteres Mal in die Manteltasche und fischte Foto und Postkarte raus. Das Foto zeigte Cees und war im Jahr ihrer Hochzeit entstanden, als sie mit den Fahrrädern zur Karger Seenplatte gefahren waren. Cees hatte die Unterarme auf den Lenker gestützt, im Mundwinkel ein Grashalm. Das Haar etwas länger als bei ihrem ersten Treffen, vom Fahrtwind zerzaust. Die Augen direkt auf die Kamera gerichtet, einen Hunger im Blick. Hunger auf sie.
Hunger auf das Leben, das vor ihm lag.
Cees war nicht satt geworden.
Je mehr Emma sich zu erinnern versuchte, an die vielen Details, die alle zusammen Cees ausgemacht hatten, umso weniger gelang es ihr. Er war zu einem dunklen Fleck vor ihrem inneren Auge geworden. Ganz so, als hätte sie ihn zu lange im Gegenlicht betrachtet und dann den Blick auf den Schnee vor dem Zugfenster gerichtet. Mit jedem Meter, den sie sie sich ratternd von Cees entfernte, sah sie die Umrisse der Leerstelle, die er hinterliess, deutlicher.
Distanz schaffte Klarheit.
Heilung verschaffte sie nicht.
Ihr gebrochenes Herz rief mit jedem Schlag nach Cees wie ein kaputtes Morsegerät.
Emma hatte ihn einäschern lassen. Bei der Beerdigung hatte es geregnet wie aus Kübeln. Sie war mit ihrer Schwägerin am Grab gestanden. Beide hatten sie sich an ihre Schirme geklammert, in der Hoffnung, sie mögen ihnen Halt vor dem Ertrinken bieten. Emmas Bruder war zu dieser Zeit bereits im Untergrund und schrieb für die Widerstandszeitung «Het Parool». Ob er noch lebte oder nicht, Emma wusste es nicht. Nur mit einem Koffer war sie danach zu Lieke und den drei Kindern gezogen. Der Jüngste konnte noch nicht einmal laufen. Ihr Mann, ein jüdischer Kaufmann, war bereits Monate zuvor in Richtung Schweiz geflohen. Noch immer wartete Lieke auf eine Nachricht von ihm. Täglich stand sie am Fenster, gab vor, die Gardinen zu richten, die Nippes auf dem Fensterbrett neu zu arrangieren. Jeden Tag war der Briefträger an ihrer Haustür vorbeigegangen, unbeeindruckt vom regelmässigen Faltenwurf des Wohnzimmervorhangs oder der exakten Ausrichtung der Häkeldeckchen.
Emma hatte sich bei Lieke ins Wohnzimmer gesetzt, auf den Sessel aus grünem Samt und mit den schwarzlackierten Armstützen. Dort hatte sie ihre ganze Kraft darauf verwendet, nicht auseinanderzubrechen.
Sie spürte die Risse, die sich unter ihrer Haut über den ganzen Körper zogen, sich mehrfach kreuzten über der Brust. Die Bruchkanten rieben sich an ihrem Fleisch, machten sie wund, so dass jede Berührung, jede Umarmung ihren Schmerz vergrösserte. Sie sprach nur, wenn man sie etwas fragte, weinte nur, wenn niemand in der Nähe war. Das Ticken der Wanduhr mit den goldenen Zeigern, die im Wohnzimmer über dem Buffet aus Walnussholz hing, waren die Sprossen, an denen sie sich aus der Dunkelheit hinaus zurück ins Leben hangelte.
Tick-tick-tick.
Jeden Tag aufs Neue. Nur um nachts wieder ins Bodenlose zu fallen. Sie war eine Art weiblicher Sisyphos. Mit dem Unterschied, dass sie dem Tod kein Schnippchen geschlagen hatte, sondern der Tod ihr.
Ab und zu spielte sie mit den Kindern. Doch wenn sie ehrlich war, ertrug sie den Anblick der drei Buben kaum. Mit ihren hellblonden kurzen Haaren und den blauen Augen erinnerten sie Emma zu sehr an Cees. Ruben, der älteste, schien sogar die schiefe Zahnstellung seines Onkels geerbt zu haben. Auch sie hatten Kinder gewollt. Emma zwei, Cees drei. Sobald der Krieg vorbei war, so war der Plan gewesen, wollten sie ihre Koffer packen und nach Frankreich fahren. Sie wollte nach Paris, den Eiffelturm besteigen, durch den Louvre schlendern und unter herausgedrehten Markisen Milchkaffee trinken und dabei den Tauben zusehen, die von der Schönheit der Stadt unbeeindruckt nach den Krumen zwischen den Pflastersteinen pickten. Cees wollte in die Bretagne, gegen den Wind der Küste entlangwandern, Weissbrot in Sud tunken, in dem Muscheln mit weit aufgerissenen Mündern lagen und den Schiffen zusehen, wie sie schrumpften und in die Naht schlüpften, die Himmel und Erde am äussersten Ende der Welt zusammenhielt.
Italien hatte bereits kapituliert, Mussolini war in Gefangenschaft. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Hitler von den Alliierten besiegt und Europa befriedet werden würde. Und dann würden sie losziehen, Emma und Cees. Für immer war eine lange Zeit, da liess sich eine ordentliche Reise machen. Und danach eben Kinder. Zwei oder drei.
Gott hatte anders entschieden.
Dieser Gott, der anstelle eines Herzens ein harter Laib Brot in der Brust hatte.
Sie glättete den wollenen Rock und kniff die Augen zusammen. Nicht weinen. Die ältere Dame auf der anderen Seite des Gangs blickte schon wieder von ihrer Zeitung hoch und warf Emma missbilligende Blicke zu. Der Stoff hinter ihrem Kopf, der das Polster vor Abnutzung schützte, war so zerknittert wie ihr mürrisches Gesicht.
Draussen zerteilte Schneeregen den Himmel von oben links nach unten rechts. Die Flocken am Fenster konnten sich nicht halten, ergaben sich der Wärme, die aus dem Zugabteil zu ihnen herausdrückte und rutschten weg, hinterliessen nichts als feuchte Spuren auf Emmas Spiegelbild.
Ein Tropfen fiel auf die Postkarte auf ihrem Schoss.
Sie war von Beatrix. Auf der Vorderseite das Bild einer Holzbrücke, die über einen Fluss führte, dahinter ein Kirchturm, der über Häuserdächer ragte.
Berge waren nirgends zu sehen. Emma hatte immer geglaubt, dass die Schweiz aus nichts als Berge bestehe. Und aus Tälern zwischen den Bergen.
Beatrix war eine Freundin ihrer Mutter. Als Kind waren die beiden in Leiden in dieselbe Schulklasse gegangen und anschliessend hatten sie im gleichen Betrieb eine Ausbildung zur Damenschneiderin gemacht. Beatrix war die Trauzeugin gewesen, als Emmas Eltern geheiratet hatten. Anfangs der zwanziger Jahre war sie dann ihrem Ehemann, einem Geschichtsprofessor, in die Schweiz gefolgt. Emma hatte Beatrix danach nur noch einmal gesehen, an der Beerdigung ihrer Mutter. Da war Deutschland gerade in Polen einmarschiert.
Nach Cees Tod hatte Emma ihr einen Brief geschrieben. Die Antwort hatte der Briefträger vor wenigen Tagen in Liekes Briefschlitz in der Haustür geschoben. Liekes hatte geweint.
Aus Freude, dass Emma einen Weg nach draussen offenstand.
Aus Enttäuschung, dass die Postkarte nicht den Namen ihres Mannes als Absender trug.

Rebekka Salm, wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin und Erwachsenenbildnerin im Migrationsbereich und ist Mutter einer Tochter. Publikationen in verschiedenen Literaturformaten, 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch «Das Schaukelpferd in Bichsels Garten» (2021) erschienen. 2022 erschien bei Knapp ihr Debüt «Die Dinge beim Namen«. 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur. 

Beitragsbild © Timo Orubolo

René Frauchiger «Ameisen fällt das Sprechen schwer», Knapp

Wissen Sie, wer sie sind? Wirklich und tatsächlich? René Frauchigers Roman „Ameisen fällt das Sprechen schwer“ erzählt von einem Mann der ohne äussere Einflüsse von einem Moment auf den andern sein Gedächtnis und damit seine Identität verliert. Ein irritierender Roman über den Trott.

Irgendwann auf Hallers Weg von der Arbeit nach Hause ist Haller Haller abhanden gekommen. Er sitzt im Zug und wacht auf, ohne zu wissen, wer er ist. Er stellt fest, dass er im Schnellzug von Zürich nach Bern sitzt, beginnt in seinen Taschen zu kramen, sucht nach Hinweisen dessen, was alle andern mit Selbstverständlichkeit mit sich herumtragen. Auf Ausweisen findet er seinen Namen, sein Alter, irgendwann sogar eine Anschrift. Es ist Abend, der Zug voller Menschen, die sich ihren Feierabend herbeisehnen, die bloss ankommen wollen. Haller ist sich nicht sicher, ob er ankommen will und kann. Ob er jenes Leben, das er aus unerklärlichen Gründen im Zug nach Bern verlor, wiederfinden will und kann. Irgendwie findet er den Weg an den Ort, der sein Zuhause sein soll, den Namen einer Strasse und eine Hausnummer, die ihm nichts sagt. Er findet das Haus, das Stockwerk, die Wohnung, die Tür, die nicht nur mit seinem Namen, sondern auch mit dem Namen einer Frau beschriftet ist. Seine Freundin? Seine Frau? Sandra Zuberbühl.

René Frauchiger «Ameisen fällt das Sprechen schwer», Knapp, 2022, 113 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-906311-99-9

René Frauchigers Roman „Ameisen fällt das Sprechen schwer“ kann man als Gedankenspiel katalogisieren. Kann man. Aber in einer Zeit, in der nicht nur Demenz zunehmend eine gesellschaftliche Herausforderung wird und über Fälle von Amnesie immer offener geschrieben und gesprochen wird, in der man sich immer häufiger die Frage stellt, ob man der oder die ist, die oder der man sein will, in der Diskussionen über Identitäten beweisen, wie brüchig einstige Klarheiten geworden sind, wundert es nicht, dass sich ein Roman wie der von René Frauchiger ganz direkt mit der Frage auseinandersetzen, wer die Person ist, die einem morgens aus dem Spiegel entgegenschaut. Wir haben uns mit uns selbst arrangiert. Die meisten Menschen stellen sich kaum je die Frage, wer oder was sie sind. Ob sie nicht auch anders hätten sein können. Ob das, was ihr Leben ausmacht auch wirklich so sein muss.

Da tastet sich jemand in ein Leben hinein, in dem alles bis ins kleinste Detail eingerichtet ist. In ein Leben, in dem alles fixiert zu sein scheint, in dem aber der Herausgefallene feststellen muss, wie folgenlos die Tatsache bleibt, dass man als vollkommen fremd Gewordener in ein Leben einsteigt, das man Schritt für Schritt zurückerobern muss, dessen Bindeglied zum alten Leben einzig und allein der Körper geblieben ist, jenes Gefüge, das von der Umgebung als Haller identifiziert wird.

Während Haller in sein altes Leben zurücktappt, stellt sich immer dringender die Frage, ob jenes Leben, das ihn zurücknimmt, jenes ist, das er wiederaufnehmen will, sei es an seiner Arbeitsstelle, zuhause in der gemeinsamen Wohnung mit seiner Freundin oder mit dem klein gewordenen Freundeskreis. Haller schwankt. Will er? Muss er? Nicht einmal seine „Freundin“ Sarah scheint zu merken, dass Haller nicht mehr der ist, der er war. Ist Entfremdung Normalität? Reicht die Hülle, um ein Funktionieren zu garantieren? Man beteuert sich gegenseitig die Liebe. Man erwidert Erwartetes am Arbeitsplatz und unter „Freunden“. Warum bleibt man in der Spur, obwohl man spürt, dass man in einer Sackgasse gefangen ist.

René Frauchigers überraschender Roman ist nicht bloss ein Gedankenspiel. Der Autor stellt Fragen, die man sonst vermeidet, die nicht gestellt werden wollen, weil man sich vor Konsequenzen fürchten müsste, weil wir alle in Netzen gefangen und verstrickt sind, weil wir uns nicht trauen, Hallers Fragen zu stellen.

„Ameisen fällt das Sprechen schwer“ ist ein kluger Roman. Solange wir uns in der Kolonne bewegen, solange wir unfähig sind, aus der Reihe herauszutreten, solange fällt uns das ehrliche Sprechen tatsächlich schwer.

Interview

Menschen bilden sich einiges ein auf ihre angebliche Individualität. Letztlich ein ziemlich breites Feld, um reichlich Geld zu verdienen. Peter Haller macht sich auch ohne das, was ihn einst ausmachte, ganz gut in seiner Welt, bis ins gemeinsame Schlafzimmer mit seiner Freundin. Bilden wir uns da wirklich was ein?
Peter Haller hat sein Gedächtnis verloren und macht einfach weiter, eigentlich müsste sich ja sein Leben durch den Gedächtnisverlust grundlegend ändern, er müsste jemand völlig anderes werden. Nur lässt sein Umfeld eine solche Veränderung gar nicht zu.
Wir kennen das eher aus der umgekehrten Situation, wenn wir alleine verreisen, haben wir oft das Gefühl, jemand anderes sein zu können, weil diese Erwartungen, die unsere Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter, Freundinnen, Freunde an uns haben, wegfallen.
Aber auch eine solche Ferien-Veränderung funktioniert meist nicht recht – oder wird zur grossen Enttäuschung, ein Stück unseres Alltags nehmen wir ja immer mit. Aber was bleibt dann noch von dieser «Individualität»?

Ameisen und viele andere Tiere funktionieren nur im Kollektiv, so wie viele andere Lebensgemeinschaften. Die Lebensgemeinschaft Menschheit allerdings macht sich ziemlich flott auf hin zum Abgrund. Optimist oder Pessimist?
Aber funktioniert das Kollektiv der Ameisen wirklich? Für die Geschichte ist die «Ameisenmühle» wichtig: Ameisen folgen Pheromon-Spuren, um Nahrung zu finden. Diese Spuren wurden zuvor von anderen Ameisen gelegt. Problematisch wird es nur, wenn eine Ameise im Kreis läuft und auf ihre eigene Spur stösst. Wenn sie dieser nachläuft, bewegt sie sich noch einmal im Kreis, verstärkt die Pheromon-Spur, so geraten andere Ameisen wiederum auf die Kreisspur und so weiter, bis Tausende von Ameisen sich in einem Kreis bewegen und schlussendlich verhungern. Das ist die Ameisenmühle. Was häufiger passiert als man glaubt. Ja, so gesehen ist das Buch äusserst pessimistisch…

Peter Haller erkennt sich mit einem Mal nicht mehr wieder, nichts, nicht einmal sein Spiegelbild. Ist sich René Frauchiger stets sicher bei dem, was er im Spiegel sieht? Zumindest bei mir schleichen sich angesichts dessen, was ich in den Spiegeln der Menschheit sehe, einige Zweifel ein.
Es gibt die deutsche Redewendung «jemandem den Spiegel vorhalten», das heisst, ihn mit den Dingen konfrontieren, die er tut. Und man sagt, jemand könne wohl nicht mehr in den Spiegel schauen – wenn er/sie etwas Schlimmes getan hat.
Ich denke jedoch nicht, dass es so einfach ist. Selbsterkenntnis funktioniert gerade nicht über den Spiegel. Im Gegenteil, die schlimmsten Diktatoren verbringen sehr viel Zeit damit, vor dem Spiegel ihre Haare zu richten. Aber was müssten wir den Diktatoren aber dann vorhalten, wenn nicht den Spiegel?

In der Mitte Deines Romans steht Er hatte herausgefunden, wer er war. Tun wir das wirklich oder beruhigen wir uns nur mit einem Konstrukt, einer dünnen Folie?
Nein, Peter Haller hat nicht wirklich herausgefunden, wer er war. Aber es könnte sein, dass er eine Spur gefunden hat …

Dein Roman ist nicht nur ein Buch über das Rätsel der eigenen Identität, sondern auch ein Roman über eine Beziehung, über die Frage, was es denn ausmacht, dass man über Jahre, Jahrzehnte oder gar ein ganzes Leben an der Seite eines anderen bleibt. Ist eine Langzeitbeziehung wie jene zwischen Haller und seiner Freundin nicht einfach Resultat vielfach liebgewordener Gewohnheiten?
Wie gesagt, der Roman ist von seiner Grundstruktur her sehr pessimistisch. So ist auch Hallers Beziehung nicht mehr als eine Oberfläche, sie besteht nur aus dem, was man in dem Spiegel sehen könnte. Ich selbst bin hier noch immer der unverbesserliche Romantiker. Nichts ist stärker als die Liebe – nicht einmal der Alltag.

René Frauchiger, geboren 1981 im schweizerischen Madiswil. Lebt in Basel. Er ist Autor von Kolumnen und Kurzgeschichten, die in diversen Zeitungen und Literaturzeitschriften erscheinen, sowie Gründer und Mitherausgeber von «Das Narr. Das narrativistische Literaturmagazin» (seit 2011). 2016 wurde er mit dem Werkbeitrag des Fachausschusses Literatur Basel ausgezeichnet. 2019 erschien der Roman «Riesen sind nur große Menschen» im homunculus Verlag.

Webseite des Autors

Alexandra von Arx «Im Dorthier», Plattform Gegenzauber

Eine Auslandschweizerin hat nie frei. In ihrem Kopf vergleicht sie dauernd das Ausland mit der Schweiz. Und die Schweiz mit dem Ausland. Egal, wo sie unterwegs ist, ob in der Schweiz oder im Ausland, immer ist dieser eine Satz mit dabei: Wenn ich hier bin, ist daheim dort und wenn ich dort bin, ist daheim hier. Vor wenigen Tagen war dieser Satz noch in Paris, nun reist er mit mir durch die Schweiz.

Wenn ich hier bin, ist daheim dort und wenn ich dort bin, ist daheim hier.

«Du bist ja nirgends mehr daheim!», bemerkte vor einiger Zeit meine Tante. «Ich bin eben an zwei Orten daheim!», entgegnete ich, etwas vorschnell. Und kam dann ins Grübeln. An zwei Orten daheim fühlt sich vermutlich anders an. Dann würde sich mir das eine Daheim nicht immer entziehen, wenn ich mich ihm nähere und das andere in die Ferne rückt. Aber eigentlich bezog sich die Bemerkung meiner Tante auf den Umstand, dass sich zwischen das Hier und das Dort, zwischen die Schweiz und Frankreich, hin und wieder Arbeitsaufenthalte in Osteuropa schieben. Damals kam ich gerade von einem zweimonatigen Einsatz in Moldawien zurück. Werde ich in Osteuropa gefragt, wo ich daheim bin, dann lautet meine Antwort spontan Paris. Aber nie, wirklich nie, ohne zu präzisieren, dass das richtige Daheim in der Schweiz ist. Daheim A und Daheim B. Das ergibt zwei Daheims. Habe ich ja gesagt.

Meine Berner Freundin redet anders als ich. Sie sagt zum Beispiel «dörthie», dorthier also. «Am Mänti fahre mer of Adubode, dörthie het’s im Momänt aber o no ke Schnee», sagt sie öppe. Oder: «Ke Ahnig, was dörthie los esch.»

Ich habe mich immer lustig gemacht über das Wort «dörthie», denn entweder ist man hier oder dort, dort oder hier. Dorthier war für mich ein Unwort, ein unentschiedenes Wischiwaschi, das weder hier noch dort sein will, sich nicht festlegen mag.

Jetzt klingt das Wort ganz anders. Es ist ein eigentliches Zauberwort. Denn es vereint das Dort mit dem Hier. Dorthier. Ich kann hier sein und gleichzeitig dort. Dorthier. Ich bin nicht mehr hin- und hergerissen zwischen Heimat und Gastland. Dorthier. Das ist, kurz gesagt, der Idealzustand einer Auslandschweizerin. In Gedanken zügle ich meine beiden Daheims ins Dorthier, lasse sie zu einem verschmelzen, und sage in der Sprache meiner Freundin, dass «e dörthie dehei be».

Alexandra von Arx „Ein Hauch Pink“, Knapp Verlag, 2020, 152 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906311-67-8

Alexandra von Arx, geboren 1972 in Olten, lebte acht Jahre in Paris, wo der vorliegende Text entstanden ist. Mitten im Lockdown erschien ihr Romandebüt «Ein Hauch Pink», gefolgt von «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen».

Rezension mit Interview über «Ein Hauch Pink» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen» auf literaturblatt.ch

www.alexandravonarx.ch

Alexandra von Arx «Ein Hauch Pink», Knapp

Bei den einen geschieht es mit vierzig, bei andern mit fünfzig. Den einen reicht ein Auslöser, die andern schubst das Schicksal an den Rand. Dann sind es Fragen: War es das? Hätte es anders werden können? Will ich weitermachen wie bisher? Was zwingt mich? War es das? War es das? War es das?

Markus ist 54, hat sich in seiner Familie, seiner Arbeit eingerichtet, auch mit seinen zwei Kindern. Bis ihn eine neue Angestellte im Betrieb an Olivia erinnert. Jenes Mädchen, das er mit 15 zu lieben begann, das ihn gleichermassen faszinierte wie erschreckte, das sich in der Zeit, als sie zaghafte Küsse tauschten, eher von ihm weg bewegte, als auf ihn zu. Schwarze Fingernägel, zerrissene und mit Sicherheitsnadeln zusammengehaltene Kleider, farbiges, gestärktes und wild geschnittenes Haar und laute Musik, wenn sich Markus zu ausgemachten Zeiten aber nie, wenn die Eltern zuhause waren, sich zu ihr ins Zimmer wagen durfte, zu den krassen Fratzen auf den Langspielplatten und der ebenso krassen Musik, die zur Geistervertreibung gereicht hätte – Punk.

Es war auf dem Heimweg, seine Frau hatte ihn gebeten, noch etwas einzukaufen, mit einem Mal weg von seinen immer gleichen Trampelpfaden, als er vor dem Laden stand. Lipstick, dem Laden, den es schon damals gab, mit allem im Schaufenster, was einem die Eltern verboten hätten, mit Ramones, Sex Pistols und The Clash. Dort inszenierte Markus sein erstes Treffen mit der Neuen in der Klasse, dem Mädchen, das nicht nur anders aussah als alle andern. Olivia wohnte in einem Mehrfamilienhaus am Stadtrand. Neben dem Klingelschild, ein Blümchen, das sie gezeichnet hatte, ein Blümchen, das sich wie alles immer weiter von Olivia entfernte.

Olivia wurde im Ort, in der Schule, in Markus Leben die Verkörperung von Rebellion. Und nicht weniger, als sie, nachdem sie immer wieder einmal nicht zum Unterricht erschienen war, ganz von der Bildfläche verschwand. Kommentarlos. Endgültig. Nie mehr wiederkam. Markus zögerte zu lange, auch deshalb, weil Olivias Verschwinden mit Erleichterung quittiert wurde. Er begann zu studieren, lernte Lisa kennen, fuhr mit ihr auf Weltreise und kehrte mit einer schwangeren Verlobten nach Hause.

Alexandra von Arx «Ein Hauch Pink», Knapp Verlag, 2020, 152 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906311-67-8

Und jetzt, fast vier Jahrzehnte später, die Kinder in die Ferne ausgeflogen und nur noch am Bildschirm mit von der Partie, im Geschäft dort, wo es wahrscheinlich nicht weitergehen würde, so wie in der Ehe mit Lisa, dem fixen Wochenplan, den immer gleichen Ferien in der Toscana bei Freunden, die keine sind, taucht mit der Neuen in der Firma Olivia wieder auf. Und mit ihr all die Fragen. Die Frage, warum sie damals verschwunden war. Die Frage, warum sein Leben verschwunden war. Der Hauch Pink in Olivias Haaren war auch mit dem Hauch Pink in ihrer Wohnung nicht zu kompensieren.

Es sind die Fragen, die nicht in Ruhe lassen, die sich ungefragt und immer wieder in den Vordergrund drängen, für andere nur in leeren Blicken sichtbar. Markus taumelt, erfindet Antworten und verweigert Fragen. An einem Klassentreffen aber schiebt ihm eine ehemalige Klassenkameradin, nachdem er sich möglichst beiläufig nach Informationen zu Olivia durchgefragt hatte, eine Visitenkarte zu mit dem Versprechen, mehr zu wissen.

Alexandra von Arx versteht es erstaunlich gut, in die Rolle des Verlorenen zu schlüpfen. Ihre Erzählweise orientiert sich nicht am Spektakel, nicht einmal an den Rätseln der erzählten Geschichte, sondern an den inneren Konflikten eines Gestrauchelten. Den Konflikten, die Markus nicht aus der Bahn werfen, aber sein Inneres erschüttern. Wie kann es geschehen, dass man der ist, der man ist? So weit weg von dem, was er einst in der Verkörperung Olivias zum Massstab machte? Warum hat er die Suche aufgegeben? In der Jugend im Innern ein Punk, jetzt durch und durch Versicherer?

Manchmal sind es profane Wiederholungen. Fragen, die wie ein Stakkato hämmern. Auslassungen, die mehr erzählen als das Geschilderte. Alexandra von Arx ist ein eindringlicher Roman gelungen, dem ich es gegönnt hätte, wenn sein Kleid, sein Outfit dem Buch die Ehre erwiesen hätte.

Interview mit Alexandra von Arx

Markus ist im Stillstand angekommen, im genauen Gegenteil dessen, was man mit 15 anstrebt, als Punk oder nicht. Aber selbst die Krise bleibt verhalten, schlägt keine grossen Wellen, zumindest kaum solche, die aussen sichtbar werden. Was hielt sie zurück, ihren Protagonisten nicht noch viel mehr entgleiten zu lassen?
Mich interessieren die Anfänge von Krisen, die kleinen Risse, die sich plötzlich auftun und die sich genauso rasch wieder schliessen können. Ich betone: können. Aus den Rissen können natürlich auch Brüche werden, aber darauf wollte ich den Fokus nicht setzen. Ob und wie stark Markus weiter entgleitet, lasse ich deshalb bewusst offen.

Sie wählten einen männlichen Protagonisten, zehn Jahre älter als sie. Gab das die nötige Distanz, um beim Erzählen die Souveränität zu behalten?
Diese Überlegung hat bei der Wahl des Protagonisten keine Rolle gespielt. Aber es ist sicher so, dass ich ein anderes Leben führe als Markus, insofern war zu viel Nähe nie ein Thema. Ob ich die Geschichte dadurch besser erzählen konnte, weiss ich nicht.

Markus weiss wenig über die Vergangenheit seiner Frau Lisa und Lisa hat er nie etwas erzählt von Olivia. Wahrscheinlich blieb noch viel, viel mehr unerzählt. Und trotzdem sind sie seit drei Jahrzehnten ein Paar, leben noch immer zusammen, wahrscheinlich auch weiterhin, sind Familie, gehören irgendwie zusammen, auch wenn der Urlaub zum ersten Mal getrennt stattfindet. Warum deckt die Gegenwart die Vergangenheit einfach zu, obwohl Markus die Kraft des Vergangenen drängend spürt?
Ich glaube, das hat mit dem Blick zu tun, der sich bei Markus verändert. Als er und Lisa ein Paar wurden, machten sie Zukunftspläne und gründeten eine Familie. Ihr Blick war nach vorne gerichtet, die Vergangenheit unwichtig. Jetzt sind die Kinder ausgezogen und er schaut auf sein Leben zurück. «War es das?», ist eine Frage, die ihn umtreibt. In dieser Phase nistet sich die Erinnerung an Olivia hartnäckig ein. Dass die Vergangenheit sich so aufdrängt, ist neu für Markus und führt zum Anfang einer Krise oder ist Ausdruck dieser Krise.

Was war die Uridee zu ihrem Roman? Die Initialzündung?
Da war einmal ein Mittfünfziger, der eine pinkfarbene Jacke trug und vor einer Immobilienagentur stand… Ich habe ihn im Rahmen einer Schreibübung ein paar Minuten lang beobachtet und in der Folge als Romanfigur im Kopf weiterentwickelt.

Sie sind Wahlbeobachterin, eine Frau mit grossem politischen Bewusstsein. Und doch spielt sich ihr Roman fast nur im Innenleben eines in die Jahre gekommenen Mannes ab. Das scheinen Gegensätze zu sein. Oder nicht?
Nicht unbedingt. Als Wahlbeobachterin habe ich viel mit Menschen zu tun. Bei Gesprächen achte ich auf Details, auch auf non-verbale Kommunikation. Das Innenleben meiner Gegenüber interessiert mich eigentlich immer, egal, ob ich mit einer jungen Aktivistin über die bevorstehenden Wahlen rede oder auf der Strasse einen Mittfünfziger beobachte.

Alexandra von Arx ist 1972 in Olten geboren und aufgewachsen. Nach Abschluss ihres Studiums der Rechtswissenschaften spezialisierte sie sich auf Menschenrechtsfragen und wurde 2011 in den Schweizerischen Expertenpool für zivile Friedensförderung aufgenommen. Seither ist sie als internationale Wahlbeobachterin tätig. Seit sie 2016 einen Schreibwettbewerb der LiteraTour Stadt Olten gewonnen hat und mit dem Text «OlteNetlO» auf dem Schweizer Schriftstellerweg vertreten ist, widmet sie sich intensiv dem Schreiben. Der Kanton Solothurn hat sie 2018 mit dem Förderpreis für Literatur ausgezeichnet.

David Weber «Reduit», Knapp Verlag, Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni

„Mich reizen Antihelden!“
„Reduit“ heißt der neue Roman von David Weber, der in Bergell schreibt, in Zug wohnt und auf die Schweizer Mentalität seinen Antihelden loslässt.
Urs Heinz Aerni stellte ihm Fragen.

Urs Heinz Aerni: In Ihrem Roman „Reduit“ versuchen drei Freunde ehemalige Bunker der Schweizer Armee an sicherheitsbedürftige Reiche zu verkaufen. Eigentlich eine super Idee, könnte dies nicht auch real sein?

David Weber: Man weiß nie, wann andere auf die gleiche Idee kommen, so weit hergeholt ist sie ja nicht, sagt Heinrich Schultheiss auf Seite 56 des Romans, um seine Eile für die Umsetzung des Plans zu rechtfertigen. Tatsächlich war im März 2019 den Medien zu entnehmen, dass eine Privatperson die Festung Furggels bei Sargans – die drittgrößte Festungsanlage des Reduits – gekauft hat, um sie als Arche Noah für den Katastrophenfall zu nutzen. Das „bombensichere“ Geschäft zielt wie im Roman „Reduit“ auf finanzkräftige Ausländer.

Aerni: Die Story bringt den Lesenden nicht nur in ein Netz von Täuschung und Gier, sondern man wird Zeuge eines Zerfalls von Freundschaften. Im Zentrum steht die Figur Al, ein etwas zögerlicher und unsicherer Mann. Wie haben sie diesen erfunden oder entdeckt?

Weber: Mich reizen Antihelden. Al von Rickenbach ist ein erfolgloser Architekt, der lieber kocht. Er ist zwar auf den ersten Blick cool, hat sich in einem netten Leben als Junggeselle mit wechselnden Partnerschaften eingerichtet. Aber effektiv flüchtet er vor der Verantwortung einer Beziehung. Er ist zufrieden, wenn er in Ruhe gelassen wird – ein Umstand, der sich im Laufe seines „Reduit“-Engagements radikal ändert und zur Prüfung wird.

Aerni: Dürfte „Reduit“ auch als ironische Spiegelung der Schweizer Mentalität interpretiert werden?

Weber: Natürlich. Man kann den Roman als Parabel auf das Schweizerische Sicherheitsdenken sehen. Wir haben das Geschäft mit der Angst kultiviert: Versicherungen und Banken leben davon, Normen und Gesetze sichern ab. Sehr schweizerisch.

Aerni: Auf der Rückseite des Buches lobt ein Stabsoffizier Ihren Roman u. a. mit den Worten „Vorsicht beim Lesen!“. Rechnen Sie mit weiteren Reaktionen aus Militärkreisen, da sie deren Reduit wieder ins Scheinwerferlicht bringen?

Weber: Das Lob sehe ich eher als Augenzwinkern. Das Reduit bildet zwar den Drehpunkt der Story, aber militärisch ist die Geschichte keineswegs.

Aerni: Der Roman spielt u. a. in Zürich. Sie als gebürtiger Zuger leben in Zug, wäre denn Zürich nichts für Sie?

Weber: Ich hatte meine Planungsfirma in Zürich. Ich liebe Zürich, kenne die Stadt. Ich lebe in Zug und im Bergell, bin immer noch viel in Zürich, aber Leben muss ich nicht dort. Zug liegt 25 Bahnminuten entfernt.

Aerni: Der Bauboom in Zürich ist ungebrochen, ganz ehrlich und unter uns, wie bewerten Sie als Architekt die aktuellen Bautrends?

Weber: Ich habe die städtebaulichen Entwicklungen in der Agglomeration Zürich mitverfolgen können. Es gibt viele positive Ansätze und viele ernüchternde Fehlplanungen. Die Frage des Maßstabs und der adäquaten Nutzungen bilden viel Konfliktpotential. Private Investoren suchen in erster Linie die Rendite, nicht den Konsens mit der Stadt und ihren Bewohnern.

Aerni: Sie sind und schreiben oft im Bergell, auch eine Art Reduit für Sie?

Weber: Das Bergell wurde für mich und meine Frau zu unserer zweiten Heimat. Es ist eine kulturelle Herausforderung und ein Gegenpol zum städtischen Mittelland. Wir haben fantastische Menschen kennengelernt und sind viel in der Natur, deshalb ist es kein Ort, wo ich mich einbunkern will, sondern ein Ort der Inspiration.

Aerni: Ein Zuger findet im Gotthard ein Roman-Motiv. Wo im Bündnerland gäbe es auch noch Orte, in denen Romanstoffe schlummern könnten?

Weber: Da könnte ich viele nennen. Sils, die Seen, der Nationalpark, Davos (ein neues Projekt wird dort beheimatet sein) und es gibt die Persönlichkeiten, die zum Schreiben anregen. Die Zuckerbäcker, die Künstler, Alberto Giacometti als Paradebeispiel des erfolgreichen Auswanderers.

Aerni: Warum würden Sie anderen Romanciers das Bergell als Schreibort empfehlen?

Weber: Das Bergell ist eine faszinierende „andere“ Welt, eine Mischung aus Abgeschiedenheit und Offenheit. Eine Landschaft der Gegensätze. Einerseits das Wilde des engen Bergtals, anderseits die Offenheit des Oberengadins und die Verbindung zu Italien. Es ist eine Situation, die herausfordert und anregt.

David Weber, Architekt, Musiker und Autor, lebt und schreibt in Zug und Caccior (Bergell). Er studierte «Literarisches Schreiben» an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich. Sein erster Roman „Kral“ erschien 2018 und sein neuer Roman „Reduit“ in diesen Tagen im Knapp Verlag.

Sibylle Ciarloni «Bernstein und Valencia – Stories», ein Interview von Urs Heinz Aerni

«Bernstein und Valencia» sind Stories der Schweizerin und in Italien lebende Autorin Sibylle Ciarloni, die sehr lesenswert sind, deshalb traf sich Urs Heinz Aerni mit ihr in einem Café und stellte dazu Fragen.

«Oft sind Träume schöner»

Urs Heinz Aerni: 22 Erzählungen oder Stories, 22 Welten und Überraschungen. Bilden Ihre Texte das Leben ab wie es ist, oder wie es sein könnte, ja sogar sollte?

Sibylle Ciarloni: Meine Stories sind Ausschnitte von Leben, die sein könnten, vielleicht sogar so gewesen sind. Ich wünsche mir manchmal etwas und in meinen Vorstellungen geschieht es dann. Mehr muss in manchen Fällen gar nicht sein. Oft sind Träume schöner als deren Machbarkeit und Wirklichkeiten.

Aerni: Die Texte zeichnen sich auch aus durch recht unterschiedliche Sprach- und Perspektivformen aus. In welchem Zeitraum ist die Sammlung entstanden?

Ciarloni: Es sind Geschichten, die alle aus dem letzten Jahrzehnt stammen, bis auf die Anweisung, wie man sich selbst als Fisch zeichnet. Ich nutze gerne die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Die habe ich mir angeeignet, um weiter zu sehen, anderes zu sehen als das, was mir gezeigt wurde. Die gewählte Sprache hat mit der gleichen Fähigkeit zu tun. Es gibt verschiedene Wege, wie man etwas erzählen kann. Allerdings ist das bei mir nie eine Entscheidung, ich folge eher meiner Intuition und prüfe später, ob das so passt.

Aerni: Was macht für Sie im Besonderen Freude, kurze Geschichten zu erzählen als ein großer Roman zu schreiben?

Ciarloni: Ich bewundere Erzählerinnen und Erzähler, die große Bogen in wenigen Worten auf den Punkt bringen und sich auf dem Weg dahin akribisch und präzise in einer Beschreibung verlieren, nur um schließlich gekonnt wieder hinauszufinden. Das hat mit souveränem Austarieren der Wichtigkeit von Inhalten zu tun und mit einem Anspruch an die Lesenden. Sie werden nicht alles beschrieben bekommen, sie dürfen selber denken und zwischen den Zeilen lesen. Das gefällt mir.

Aerni: Sie zeichnen Ihre Figuren liebevoll zwischen Sinnlichkeit, Skurilität aber auch Ironie. Sind es zuerst Personen, die zum schreiben inspirieren oder Umstände?

Ciarloni: Es sind beide. Vielleicht zuerst die Umstände, denn sie bringen mich irgendwohin im Leben und dort treffe ich auf Menschen. Zusammen gestalten wir wiederum die Umstände oder ich habe überhaupt nichts zu schaffen mit ihnen, sondern sehe sie bloß oder höre sie reden. Der Rest ist meine Art, auf die Welt und die Menschen zu schauen. Dann entstehen Gedanken, dann entstehen Geschichten.

Aerni: Sie wuchsen im Aargau auf, leben nun in Italien und nun treffen wir uns hier in Zürich. Berlin ist in ihrem Buch sehr präsent, wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Zürich beschreiben?

Ciarloni: In Zürich leben liebe Freunde mit denen ich mich treffe oder die mich in Italien besuchen. Mit manchen arbeite ich auch zusammen. Ich bin gerne hier, weil sie hier sind. Ein Verhältnis zu Zürich habe ich durch sie, weil ich hier gewohnt und gearbeitet habe und weil Zürich die von meinem Aargau – Lenzburg und Baden – aus gesehen die nächste größere Stadt war, für mich also die erste, die es zu entdecken und zu durchkämmen galt wie später dann andere Städte.

Sibylle Ciarloni wuchs im Schweizer Mittelland auf, lebt und arbeitet zudem auch an der Adria. Zum Schreiben kam sie über einen Sendeplatz am Radio und es folgten Auftritte mit Hörstücken in der Schweiz und in Deutschland, ein Atelier Stipendium in Berlin (2011), die Herausgabe mehrerer fast ernst gemeinter Themenpapiere (Ein Tag im Bett, Von Haaren), des Foto-Essays Strandläufer (2017) und der Betrieb des Veranstaltungsraums Salon Billa in Baden. 2018 war Sibylle Ciarloni Artist in Residence in Nairs, Zentrum für Gegenwartskunst im Engadin.

Blog und Veranstaltungen auf der Webseite der Autorin

Ihr aktuelles Buch von dem hier die Rede war, heißt „Bernstein und Valencia – Stories, Knapp Verlag, CHF 19.80

Beitragsbild © Bettina Matthiessen

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