Ein literarischer Doppelstern im Literaturhaus Thurgau; Julia Weber & Heinz Helle

Julia Weber und Heinz Helle verkörpern alles, was ein „Schreibendes Paar“ ausmachen kann: Ein erfolgreiches SchriftstellerInnen-Paar, eine Familie, in der Kinder nicht bloss Beigemüse sind, ein Paar, das sich respektiert und zwei Stimmen, die sich unabhängig voneinander in den Kulturbetrieb mit einbringen, ihn auch aufmischen.

Julia Weber, Jahrgang 1983, Mutter von zwei Kindern, zwei Romanen, zwei Theatern und unzähliger Beiträge zu Literatur, Gesellschaftsfragen oder Kultur, vielfach preisgekrönt. Heinz Helle, Jahrgang 1978, Vater der gleichen Kinder, von vier Romanen, bis in Chinesische übersetzt und ebenso vielfach preisgekrönt.

zusammen mit Co-Moderatorin Cornelia Mechler

Beide sind kurz vor der gemeinsamen Lesung in Gottlieben zurückgekommen von einem mehrmonatigen Aufenthalt zusammen mit ihren Kindern in der Villa Massimo in Rom. Monate an einem Ort, der nicht zum Ferien machen gedacht ist, sondern Zeit und Raum geben sollte fürs Schreiben. Das, wofür man zuhause im Strudel der familiären Pflichten zuweilen kämpfen muss. Das, was in ihren beiden Romanen zum Stoff wurde. Das, was literarisch im gleichen Sonnensystem um einen Stern kreist, verschieden in Atmosphäre und Färbung, als wären es Doppelstern – Sie kreisen umeinander, zeigen sich wechselseitig; „Die Vermengung“ von Julia Weber erschien im Frühling dieses Jahres bei Limmat und „Wellen“ von Heinz Helle, diesen Herbst bei Suhrkamp erschienen.

Auf die Frage, ob es eine Strategie dahinter gegeben habe, oder einfach nur wirkungsvoller Zufall sei, erzählten die beiden, sie hätten nach der Geburt des zweiten Kindes schnell gemerkt, dass es im Austausch über ihr Schreiben Parallelen gegeben habe. Aber die Anfänge der beiden Bücher seien unabhängig voneinander entstanden, bei beiden aus einer Notwendigkeit heraus.

Julia Weber und Heinz Helle lernten sich schreibend in Biel am Schweizerischen Literaturinstitut kennen. Julia Weber und Heinz Helle gibt es nicht ohne die Literatur. Beide Bücher „Die Vermengung“ und „Wellen“, ein Doppelhelix und doch völlig verschieden, kreisen um das Thema Schreiben, Familie, Mutter- und Vatersein, Rollenverständnis, Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Heinz Helles Buch liest sich wie ein Tagebuch, wie eine Liebeserklärung an das Schreiben, seine Frau, seine Kinder, eine philosophisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung. In Julia Webers Roman vermischen sich eigentlich zwei Romane; den, den ich lese und den, den sie während des Schreibens schreibt. Zwei Romane, die sich gegenseitig spiegeln. Aber Julia Webers Roman hat noch andere Ebenen; Briefe, Generationenstimmen, die vielfache Auseinandersetzung mit Muttersein. „Wellen“ ist ein Solostück, „Die Vermengung“ ein Orchesterstück.

«Liebe Cornelia, lieber Gallus, vielen Dank für den schönen Abend mit Euch im Bodmanhaus! Wir habe uns sehr wohl gefühlt und nicht nur das gemeinsame Essen und den Spaziergang am Rheinsee genossen, sondern auch das anregende, einfühlsame Gespräch auf der Bühne. Wir kommen sehr gerne wieder einmal. Vielen Dank und herzliche Grüsse» Julia und Heinz

Rezension von «Die Vermengung» von Julia Weber auf literaturblatt.ch

Rezension von «Wellen» von Heinz Helle auf literaturblatt.ch

Enzo Pelli «Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa», Gedichte Italienisch und Deutsch, Limmat

Manchmal taucht ein Name unvermittelt und überraschend aus der Weite der Namenlosen auf. Man ist überrascht und reibt sich die Augen (und Ohren). Aber manchmal, wie bei Enzo Pelli, steckt grosse Genugtuung darin, wenn der Name endlich den Glanz bekommt, der ihm zusteht!

Ich traf Enzo Pelli und seine Frau diesen Sommer. Ich fasste Mut und fragte während eines Ferienaufenthalts im Tessin, ob er Zeit für ein Treffen habe, trafen wir uns doch zum bisher einzigen Mal vor etlichen Jahren in einer kleinen Buchhandlung in Hitzkirch anlässlich eines Literaturfestivals. Da damals noch keine seiner Gedichte in Deutsch erhältlich waren, freute ich mich umso mehr, als er mir vor ein paar Jahren eine kleine Auswahl seiner Gedichte in Italienisch und von Christoph Färber ins Deutsche übersetzt für die «Plattform Gegenzauber» zur Veröffentlichung freigab.

Enzo Pelli gehört in eine lange Reihe grosser Tessiner Dichter. Giovanni und Giorgio Orelli, Alberto Nessi, Fabio Pusterla, Elena Spoerl-Vögtli oder Pietro De Marchi, um nur einige zu nennen. Ganz zu schweigen von all den grossen Namen, die im Tessin in den vergangenen hundert Jahren eine Oase für ihre Kunst fanden. Als ob das Tessin der Lyrik einen ganz besonderen Boden bieten würde!
Dass nun endlich unter dem Titel «Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa» eine Auswahl Enzo Pellis Gedichte erscheint, ist höchst erfreulich und höchste Zeit:

Plötzlicher Schatten

Plötzlicher Schatten
über Fluss und Stein.
Ich zögere, bleibe
kurz stehen, erhebe
den Blick; nur
eine vorüberziehende Wolke.

So wie der plötzliche Schatten nur eine vorüberziehende Wolke ist, so sind die Momente, aus denen Enzo Pelli seine Gedichte schafft, jene Momente, die einem bewusst machen, dass mehr ist, als bloss das, was man dauernd erwartet. Enzo Pellis Schatten ist kein dunkler Schatten, sondern das Vorüberhaschen eines Moments, der eine Tür sein könnte. Enzo Pelli streift kurz und reisst mir die Augen auf. Genau das, was Lyrik wie keine andere Kunstform kann, wenn man sich auf sie einlässt.

Enzo Pelli «Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa», Gedichte Italienisch und Deutsch, übersetzt von Christoph Ferber, Limmat, 2022, 180 Seiten, CHF 38.00, ISBN 978-3-03926-033-1

Enzo Pelli veröffentlichte erst spät erste Gedichtbände, lange nach seiner Pensionierung. Was nicht heisst, dass er mit Lyrik erst im „Ruhestand“ begonnen hätte. Umso erfreulicher, wenn es einmal mehr dem Limmat Verlag gelungen ist, eine Stimme einer anderen Landessprache ins Scheinwerferlicht zu bringen. (Unermesslich, was der Limmat Verlag in den vergangenen Jahrzehnten an literarischer Entwicklungsarbeit geleistet hat. Gäbe es einen Preis für die Lesbarkeit vielsprachiger Kostbarkeiten der Schweiz, dann müsste dieser Preis an den Limmat Verlag verliehen werden! Ich verneige mich.) 

Enzo Pellis Gedichte sind keine Kopfgeburten, auch wenn ich jede erdenkliche intellektuelle Sorgfalt spüre. Als ob Enzo Pelli durch sein kompositorisches Geschick Emotionen aus all seinen Sinnen durch den Bauch aufs Papier bringt. So wie der Dichter für das Signieren meines mitgebrachten Buches für kurze Zeit ins Nebenzimmer entschwindet, um mit ganzer Konzentration und Hingabe nicht nur die richtigen Wörter zu finden, sondern diesen auch noch die richtige Form, den ästhetischen Schwung gibt, so wird es mit seinem dichterischen Schaffen sein. Ich spüre grenzenlose Sorgfalt, liebenden Respekt, eine Stimme, die sehend macht.

Neben seiner Dichtkunst malt Enzo Pelli in seinem Atelier in Lugano. Kalligraphie, der gestalterischen Umsetzung von Schrift, Form und Farbe. Selbstverständlich ist auch diese Kunstform, die Enzo Pelli immer wieder in Ausstellungen präsentieren konnte, Auseinandersetzung mit Sprache, Rhythmen, Ausdrucksform. Nicht verwunderlich, dass es dann irgendwann die Sprache selbst war, das Gedicht.

Pfad, Fels

Pfad, Fels,
knirschender Schritt,
Wart, im Gestein:
Pfeift’s da nicht? Moos.
Atem, Wind
Zeit.

Man würde an den Momenten vorbeigehen. Aber ein Dichter wie Enzo Pelli ist sich der Einmaligkeit eines Moments bewusst, dem Fingerzeig, dem Hinweis, den man in der Eile übersehen würde. Er gibt mir den Moment zurück, eine zweite Chance. Pellis Gedichte sind Einladungen.

Für den Freund von damals

Im gossen Nichts
findest du die Fragmente,
die Worte, die Erinnerungen,
die du vorzeitig
verloren hast:
Endlich im Frieden,
zwischen Gestirnen,
wo alles schweigt.

Viele seiner Gedichte sind Erinnerungen an Menschen, Freundschaften, Begegnungen. Eindrücklich die Bilder, die Enzo Pelli von seiner Mutter in seine Gedichte einbringt, einer Frau, die in den 40er Jahren von Frankreich ins Tessin kam. Sie verbringt die Stunden, indem sie vor sich eindöst / und ferne Gedanken verfolgt. Bilder von unsäglicher Zartheit und Liebe. Die Mutter, alt, wartend auf die Leere, die sie erwartet.

Enzo Pelli wandelt das Banale in lichte Poesie. Nichts an seinen Gedichten ist Effekt, nichts übersteigert, alles durchdrungen von Ehrlichkeit, nicht nur den Menschen auch den Dingen gegenüber.
Seine Gedichte entziehen sich nicht durch Abstraktion, Umwege und Verschlüsselungen. Alles in seiner Lyrik orientiert sich am Bild. Enzo Pelli zeichnet klar, licht, auch dann, wenn seine Themen schwer sind, wenn man den Schmerz spürt.

Ich gönne Enzo Pelli, dass seine Gedichte, die er mit vollkommener Geste …. auf dieses dünne Blatt zeichnen kann, die LeserInnen findet, die der Dichter verdient!

Ombra improvvisa

Ombra improvvisa
sul fiume sui sassi.
Esito, sospendo il passo,
levo lo sguardo: solo
una nube che passa.

Enzo Pelli, 1948 in Lugano geboren, war lange Zeit Kulturredakteur beim Tessiner Fernsehen. 2014 veröffentlicht er seinen ersten Lyrikband, dem drei weitere folgen. Der letzte: «Il tempo breve» (2020). Er ist auch als Maler, Grafiker und Kalligraf tätig.

Webseite des Autors

Christoph Ferber, geboren 1954. Aufgewachsen in Sachseln, Obwalden. Studium der Slawistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Lausanne, Zürich und Venedig. Dort Promotion mit einer Arbeit zum russischen Symbolismus. Tätigkeit als freier Übersetzer. Wohnt auf Sizilien. 2014 Auszeichnung mit dem Spezialpreis Übersetzung des Schweizerischen Bundesamts für Kultur, 2016 dem Paul Scheerbart-Preis.

Enzo Pelli „Stalla in rovina“ auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Matteo Fieni

Julia Weber «Die Vermengung», Limmat

Vielleicht hat Julia Weber mit ihrem zweiten Roman „Die Vermengung“ etwas erschaffen, was einmalig ist. Der Titel ihres Romans ist nicht nur Überschrift, sondern Programm. „Die Vermengung“ vermengt biografisches mit fiktionalem Schreiben, die Sicht nach Innen mit jener nach Aussen, ist Roman über Frausein, Menschsein, Muttersein und Schriftstellerinnensein.

Julia Webers Roman ist keine Nabelschau. Solche mag ich nicht. Und doch schreibt Julia Weber über eine Julia, verheiratet mit H (Heinz Helle). Beide sind Schriftsteller und Eltern von B, einem Mädchen, das bereits in die Schule geht. Julia schreibt, H schreibt. Julia ist Mutter, H ist Vater. Sie wohnen zusammen in einer nicht übergrossen Wohnung mitten in Zürich. Sie schreibt in „freien“ Zeiten zuhause, er in seiner kleinen Kammer, die er irgendwo in der Nähe gemietet haben. Sie haben sich eingerichtet, das Leben als Paar, Eltern und Schreibende. Bis klar ist, dass Julia ein zweites Kind mit sich trägt. Bis klar ist, dass nach der Geburt alles anders ist und es mehr braucht als bloss eine Umgewöhnungsphase. Wird sie weiter schreiben können? Wird sie das eine zugunsten des andern „abbrechen“ müssen, so wie es in der Geschichte des Frauseins über Jahrhunderte passierte? Reicht es, einen fürsorglichen und einfühlsamen Mann an ihrer Seite zu wissen, um all dem gerecht zu werden, was sich mit bei kleinen Kindern intensivieren wird? Julia fühlt sich bedrängt, in die Enge getrieben. Eine Mischung aus Verzweiflung, Mutlosigkeit und Ängsten zieht sie in tiefe Trauer, in einen Kampf, der ihre Existenz gleich mehrfach bedroht.

Julia Weber «Die Vermengung», Limmat, 2022, 352 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03926-041-6

Julia Weber bleibt aber nicht eindimensional. Sie verknüpft ihre Auseinandersetzung mit ihrem Schreiben, der Geschichte, mit der sie sich während und nach der Schwangerschaft auseinandersetzt, mit den Figuren dieser fiktiven Geschichte, Ruth, Linda und Karl machen in ihrer Fiktion Ähnliches durch; Schwangerschaft, Zukunftsängste, Stürme in ihren Beziehungen. Aber die reale Julia kommuniziert mit ihren Romanfiguren. Sie schreiben sich, beschwören einander, mischen sich ein. Die reale Familienkonstellation spiegelt sich in der fiktiven und umgekehrt. Dabei ist Julia Webers Schreiben über das Schreiben weit mehr als das Protokollieren einer „Buchwerdung“. Die Geschichte, an der die Autorin schreibt, ist das Spielfeld eine Wahrscheinlichkeit. Die Personen in ihrer Geschichte treten aus der Fiktion heraus und mischen im Realen mit.

«In jener Nacht verstand ich, dass sich alles vermengt, dass ich die Kunst bin, die ich mache, und die Kunst ist ich. Ich bin die Mutter dieses Kindes, und das Kind hat mich als Mutter. Wir werden ineinander und auseinander herauswachsen, und die Kunst wird neben uns her wachsen und auch in uns hinein.»

In einer weiter Ebene mischen sich auch noch weitere Beziehungen in „Die Vermengung“ ein; eine Freundin, die ihre Eizellen einfrieren lässt, weil ihr Wunsch, Mutter zu werden, den Vater noch nicht gefunden hat. Oder die Mutter, die ihr mitteilt, man habe einen Krebs in ihrer Brust gefunden. Julia Weber vermengt all die „Bedrohungen“ einer Frau in einem Roman, der mich bei der Lektüre schwindlig macht. Keineswegs, weil er unübersichtlich geschrieben oder nur schwer lesbar wäre. Julia Webers Roman ist in einer Sprache geschrieben, die sich mühelos ebenso klar wie verspielt zeigt. „Die Vermengung“ ist ein Roman, den man mit Bleistift hinter dem Ohr liest, der mit tiefer Sehnsucht geschrieben wurde, nicht nur den Moment, sondern die Welt zu verstehen, Ordnung in Gefühle zu bringen, die einem in ihrer Heftigkeit bedrohen können. Julia Webers fiktionale Figuren in ihrem Roman eskalieren stellvertretend. Die Briefe zwischen Ihr und ihrem Mann zeugen von jener Ernsthaftigkeit, die ich einer Gegenwart, die sich verliert, nur wünsche. 

Julia Webers Experiment der Vermengung hätte leicht scheitern können. Aber weil die Autorin die Vielstimmigkeit ihres Stimmenorchesters so virtuos dirigiert, gelingt ihr ein grosses symphonisches Werk, das getragen wird von Grossherzigkeit, Mut und der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit.

Julia Weber wird 1983 in Moshi (Tansania) geboren und zieht 1985 mit ihrer Familie nach Zürich. Nach der Schule macht sie eine Lehre als Fotofachangestellte und absolviert die gestalterische Berufsmaturität. Von 2009 bis 2012 studiert Julia Weber literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne. Im Jahr 2012 gründet sie den Literaturdienst (www.literaturdienst.ch ) und ist 2015 Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert“ zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht. Im Frühjahr 2017 erscheint ihr erster Roman «Immer ist alles schön» beim Limmat Verlag in Zürich. «Immer ist alles schön» wird mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem internationalen Franz-Tumler-Literaturpreis, der Alfred Döblin Medaille der Universität Mainz, 2017 steht der Roman auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises.

Beitragsbild © Ayse Yavas

44. Solothurner Literaturtage: Ein überzeugendes Comeback!

Nach pandemiebedingtem Unterbruch strahlen die 44. Solothurner Literaturtage über alle Erwartungen hinaus. Ein dreitägiges Fest der Literatur, der kulturellen Vielfalt und der Freundschaften. Und fast 20000 BesucherInnen!

Mag sein, es hatten alle Hunger und Durst. Es war, als würde über allem das Wort „Endlich“ stehen. Durchaus im doppelten Sinn. Zum einen war da die Freude, dass es dieses Festival in der einem so lieb gewordenen Form überhaupt wieder gegeben hat. Zum andern war man sich bewusst, dass es der äusseren Einflüsse genug gäbe, die einem solchen Festival an die Gurgel springen können.
Es war ein Fest – ein Fest des Wiedersehens, ein Fest der Begegnungen, ein Fest der Freude, ein Fest der Hoffnung, ein Fest des Buches, ein Fest der Kunst – ein Fest der Freundschaft. Und niemand hatte Lust, sich dieses Fest verderben zu lassen, schon gar nicht, wenn das Wetter zum verlässlichen Freund wird. Ich erinnere mich an Austragungen der Solothurner Literaturtage, an denen heftigst darüber diskutiert wurde, wen man versäumt habe, einzuladen, wer vergessen ging, wie gross der angerichtete Schaden sei. Diese Diskussionen fanden kaum statt, auch wenn man hätte diskutieren können.

«Ein eindrücklicher Beweis, wie klar und doch vielschichtig Lyrik sein kann, wie sehr einem Sprachkunst in Ekstase versetzen kann, wie leidenschaftlich Lyrik beim Schreiben und Lesen Lebenslust erzeugen kann!» Rolf Hermann «In der Nahaufnahme verwildern wir»

Es gab wie immer von allem einiges, von Spoken Word, zum Beispiel die junge Sarah Elena Müller, der das Publikum artig applaudierte, obwohl sie all den Gutbetuchten einen grellen Spiegel vorhielt, Lyrik wie der von Simone Lappert, die bewies, das Dichtung einen Körper zum Instrument werden lassen kann und dieses Instrument ein Stadttheater zum Wabern bringt, grosse Namen der Belletristik wie jener von Nino Haratischwili, die mit ihrer Art des Erzählens nicht nur in ihren Büchern bannt, bis hin zu Kinder- und Jugendbuchliteratur, die es meisterhaft versteht, Geschichten sinnlich werden zu lassen. Kleine Verlage und grosse, grosse Namen und unbekannte. Als Ganzes war das Programm durchaus gelungen, auch wenn der ganz grosse Gast aus Übersee, Joshua Cohen, eben preisgekrönt durch den Pulitzer-Preis, seine Teilnahme absagen musste.

«Nino Haratischwili zieht mich mit in unsägliche Tiefen, überzeugt mich mit einem satten Sound, einer Vielstimmigkeit, die mich bei der Lektüre manchmal schwindlig macht.» Nino Haratischwili «Das mangelnde Licht»

Auffällig war, wie sichtbar das Aufbrechen von Grenzen war. Musik beispielsweise wird immer offensichtlicher nicht einfach zu einer Begleitung, einer Auflockerung. Vielen AutorInnen gelingt es eindrücklich, mit Musik Sinne zu öffnen, Bilder und Eindrücke zu verstärken, manchmal alleine durch die eigene Stimme, die Rhythmus und Tonalität in ganz andere Sphären hieven kann. So sah man Michael Fehr auf der Bühne des Stadttheaters sitzen und singen, ohne Begleitung, nur mit sich und seiner Stimme! Da wird jemand zu Musik! Oder in Formation, unterlegt durch einen eigentlichen Soundtrack.

Lange forderte man das Ende der klassischen „Wasserglaslesung“, schien es nicht mehr zu genügen, dass Schreibende aus ihren Werken lesen und Fragen dazu beantworten. Glücklicherweise gibt es diese noch immer, auch jene kauzigen Urgesteine der Literatur, bei denen man nie so richtig weiss, ob sie Zuhörende an der Nase herumführen oder die Performance der einzige Weg durch das Buch ist.

«Frank Heer vermischt Genre ebenso lustvoll wie Handlungsstränge. Und alles ist unterlegt vom satten Sound einer Generation, die noch glaubt, dass mit der Kraft der Musik etwas zu erreichen ist.» Frank Heer «Alice»


Auch bei den Formaten ist man selbst nach der 44. Austragungen noch immer auf der Suche nach Verbesserungen. So platzierte man die „Gratislesungen“ auf der Aussenbühne vor die breite Treppe der St. Ursenkathedrale. Was für ein Anblick, wenn bei der Lesung von Julia Weber aus ihrem Roman «Die Vermengung» auf der Treppe vor der beeindruckenden weissen Kalksteinfassade regelrechte Arenastimmung aufkommt und der Eindruck, Literatur breite sich über eine ganze Stadt aus!

«Rebecca Gislers erstaunliches Debüt verblüfft nicht durch seine Geschichte, sondern durch die Sprache, die hohe Kunst schmeichelnder Sätze, die Frische verspielter Satzkaskaden. Wer sich als literarischer Gourmet versteht, lese diesen Roman!» Rebecca Gisler «Vom Onkel»


So viele Menschen wie schon lange nicht mehr besuchten dieses Festival der geschriebenen Bilder. Der Organisation der Solothurner Literaturtage gelang das, was eigentlich nur schwer zu schaffen ist; eine repräsentative Nabelschau der CH-Literatur, angereichert mit grossen Namen aus dem Ausland. Aber es waren nicht Landesgrenzen, die man demonstrativ überschritt, sondern jene der Künste. Etwas, was angesichts der Grenzenlosigkeit in der aktuellen Geschichte Signal sein könnte.

«Ein Roman, der mir das Blut in den Kopf treibt, der mich schwindlig macht, der mich hin- und herschlägt zwischen Entsetzen, Verunsicherung und dem Schmerz darüber, in der Gegenwart der Hölle ein schönes Stück näher gekommen zu sein.» Julia von Lucadou «Tick Tack»

Wer nicht an den Solothurner Literaturtagen war – lesen Sie! Kaufen Sie Bücher! Lesen ist vielfach sinnlich. Und wenn auch kein Buch die Welt zu retten vermag; Literatur schenkt unendliche Weiten! Besuchen Sie die vielen Festivals, die übers Jahr stattfinden. An solchen Festivals, an Lesungen und Darbietungen rund um die Literatur entsteigt den Büchern der Dschinn, der fast jeden Wunsch in Erfüllung bringen kann.

«Ob nun ein simpler Eingriff im Kopf direkt, mit Medikamenten, eine politische oder gar militärische Operation. Meret begehrt auf, in ihrem Innern, gegen Aussen. „Ein simpler Eingriff“ ist die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau in den Machtstrukturen der Gesellschaft, der Tradition, der Geschichte.» Yael Inokai «Ein simpler Eingriff»


An einer Lesung von Urs Mannhart aus seinem hellsichtigen Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“, sass eine Frau neben mir, die während der Lesung zeichnete. Die hier wiedergegebenen Zeichnungen sind ein Geschenk der Zeichnerin Charlotte Walder, entspringen einer spontanen Begegnung und symbolisieren wunderbar, was ein solches Festival leisten kann: Viel mehr als Berührungen!

«Urs Mannharts neuer Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ schlägt mir arg in die Kniekehlen. Ein Roman über die mutmassliche Unvernunft des Menschen.» Urs Mannhart „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“

Reservieren Sie sich den 19. bis 21. Mai 2023!

(Eingefügt in den Text sind all jene Rezensionen auf literaturblatt.ch, die mit den AutorInnen an den 44. Literaturtagen in Solothurn korrespondieren.)

Frank Heer «Alice», Limmat

Nicht für alle ist die Vorweihnachtszeit die schönste Zeit des Jahres. Ganz sicher nicht für Max, damals, 1975, eingekeilt zwischen dem neuen Job in einer Zeitungsredaktion, den Launen der Liebe, aller möglichen Versuchungen und den steinernen Ansichten all jener, die es genau wissen, schon immer wussten. „Alice“ blendet in eine Zeit, die vergessen scheint, evoziert Bilder, die während des Lesens jenes „dokumentarische Wackeln“ erzeugen, das einen Roman untermalt, der mit Witz und Verspieltheit glänzt.

„Alice“ ist vieles zugleich; die Geschichte eines verzweifelt Liebenden, ein Abenteuerroman, eine Kriminalgeschichte, ein Zeitdokument, vielleicht sogar eine Art Sittengemälde. Max Rossmann, eben eine Stelle als Lokaljournalist in einer konservativen Regionalzeitung angenommen, in der die Ressortleiter (selbstverständlich Männer) alle wie kleine Könige und Allwissende residieren, lernt bei einem Konzertbesuch Alice kennen, die Sängerin auf der kleinen Bühne, der erst kaum jemand zuhören will, die ihn dann aber nicht nur mit ihrer Stimme zu Tränen rührt. Was als Interview beginnt, wird zu einer vertrackten Liebesgeschichte, denn zum einen verschwindet Alice mit einem Mal, zum andern muss Max feststellen, dass einiges von dem, was Alice im Interview zum besten gab, erfunden und erlogen war. 

Max versucht seine Füsse auf eigenen Boden zu bekommen, auf seinen Boden. Auch weg von seiner Ex, die ebenfalls Alice heisst. Weg von den steinernen Strukturen seines Elternhauses, vielleicht sogar weg von den Blutspuren eines Untiers, dass Hunde reisst und die zerfetzten Kadaver zurücklässt, einer Spur, die sich immer wieder im schmelzenden Schneematsch verliert. Weg von der Paranoia, die ein rätselhafter Anrufer verursacht, der seine eigene Todesanzeige aufgeben will, sich immer wieder am Telefon meldet, der sich wie ein Gespenst in seine Träume mischt.

Bis sich die Ereignisse überstürzen, das blutgierige Monster vor dem Haus seiner Eltern auftaucht, Pistolen zum Einsatz kommen und Alice im Spital landet.

Frank Heer «Alice», Limmat, 2022, 208 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03926-038-6

Was an Frank Heers Roman „Alice“ fasziniert, ist seine erfrischend, unkonventionelle Erzählweise, die stimmungsvollen Szenerien und ein Personal, das nicht nur mit seinen Namen (Alice Zidane, Breitscheitel, Krauthammer, Händel…) Stirnrunzeln verursacht, auch mit den Szenerien, sei es in den Verkaufsräumen eines Tierpräparators oder im Traumszenario eines mit Büchern und Müll vollgestopften Einfamilienhauses, sei es in der Runde der Anonymen Alkoholiker oder in den verrauchten Redaktionsräumen eines selbstgefälligen Schreiberlings. Aber auch die Hauptperson selbst, ein junger Wilder, der sich auf einem Tripp nach Paris auch mal in einem Warenhaus bedient, nachdem er sich sein Geld abknöpfen liess, sein Leben als grosses Abenteuer sieht und um jeden Preis nicht werden will, was seine Eltern und ihre Generation geworden sind; Spiesser.

Frank Heer vermischt Genre ebenso lustvoll wie Handlungsstränge. Und alles ist unterlegt vom satten Sound einer Generation, die noch glaubt, dass mit der Kraft der Musik etwas zu erreichen ist. Da ist nicht nur die geheimnisvolle Alice, die an den Grenzen von Delirium und Genialität zu scheitern droht, die den grossen Traum der Musik in sich trägt, sondern all die grossen Namen einer Zeit, in der Musik Kampfansage war.

„Alice“ ist Literatur in satten Farben. Es scheint, als wäre seit der Veröffentlichung seines Romansdebüts „Flammender Grund“ 2005 ein Damm gebrochen; unbändige Erzähllust, weit weg von helvetischer Zurückhaltung. „Alice“ ist Literatur gewordenes Vergnügen!

Interview

Sie sind Jahrgang 66. Ihr Buch spielt 1975. Ihr Protagonist ist also ein Jahrzehnt älter als Sie. Was reizte Sie an genau dieser Zeit? War es die Musik oder das Nebeneinander zwischen Aufbruch und Spiessbürgertum?
Vor allem Letzteres: der Aufbruch. Auch wenn es noch ein paar Jahre dauern sollte, bis die musikalischen Vorboten der Veränderung – die frühen Punkbands aus London und New York – die Schweiz erreichen sollten. Die Siebziger schienen mir eine interessante Schnittstelle zwischen Desillusion und Neuanfang. Entscheidend für mich, meinen Roman dort anzusiedeln, war aber das Schweizer Road-Movie «Reisender Krieger» von Christian Schocher, der im Jahr 1981 erschienen war und ein grandios trostloses Bild der Siebzigerjahre zeichnete. Ich hatte ihn vor etwa zehn Jahren in einer restaurierten Version im Kino gesehen. Diese kühle aber schöne Tristesse wollte ich einfangen. In meinem Kopf ist «Alice» daher auch ein Roman in Schwarz-Weiss – wie die Bilder von Kameramann Clemens Klopfenstein. 

Ihr Roman ist sowohl in seinem musikalischen wie politischen Umfeld stark an den tatsächlichen Gegebenheiten angehängt. Drückt da die Recherchearbeit des Journalisten durch? Und auch ein bisschen „die gute alte Zeit“?
Mich interessierte Schochers Filmkulisse als Projektionsfläche, nicht die Nostalgie. Ich kam 1991 als junger Volontär zu einer Ostschweizer Tageszeitung. Viele Erfahrungen aus dieser Zeit liessen sich problemlos um zwei Jahrzehnte nach hinten verschieben. Da hatte sich gar nicht so viel verändert. In die Gegenwart hätte das aber überhaupt nicht funktioniert. Insofern dienten mir die Siebzigerjahre einfach als Bühne, auf keinen Fall als Sehnsuchtsort. Die Recherchearbeit dazu hielt sich in Grenzen. Klar, die Fakten mussten stimmen, aber mir war es viel wichtiger, ein Gefühl fassbar zu machen, als eine Epoche möglichst akkurat aufleben zu lassen. Vinylschallplatten, aufregende Musik und volle Aschenbecher sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Siebzigerjahre in der Schweiz eine vergleichsweise trostlose, ja beklemmende Zeit waren. Die Jugend wurde erst erlöst, als der Punk aus England und Amerika in unseren Städten ankam und die bewegten Achtzigerjahre einläuteten.

So wie sich Max Rossmann ziemlich intensiv an seinem Umfeld abarbeiten muss, sei es in seinem steifen Elternhaus oder an einem Arbeitsplatz im Kampf gegen Arroganz und Besserwisserei, schleift sich der junge Mann auch an zwei Frauen, seiner Phantasie und der Verlockung, einfach alles stehen und liegen zu lassen. 
«Alice» kann man als Coming-of-Age-Roman lesen. Es gibt ja kaum eine Zeit, die man intensiver erlebt, als seine Jugend. Und natürlich habe ich in meinem persönlichen Steinbruch geschürft. Aber auch hier: Es ging mir nur darum, dieses Gefühl zu vermitteln, das immer auch ein Gefühl der Orientierungslosigkeit und Verunsicherung war, gerade wenn man in einer Kleinstadt aufgewachsen und sozialisiert worden war und sich fragte, ob es das denn nun schon gewesen sei. Schule, Ausbildung, Studium, Beruf, Beziehungen. Was mich aus dieser Überforderung gerettet hatte, war zum grossen Teil die Musik. Auch meine eigene Musik. Meine Band. Die Subkultur. Und später dann, Ende zwanzig, meine «Flucht» nach New York. Da habe ich wirklich alles stehen und liegen gelassen. Etwas, was meinem Protagonisten Max ja nicht wirklich gelingt. Oder noch nicht.

Als Journalist beschäftigen Sie sich wahrscheinlich in der Begegnung mit Menschen selten mit „Normalos“. Ihr Roman ist von einer ganzen Reihe spezieller Figuren bevölkert, sei es die Mutter, die selbst zuhause in Stöckelschuhen auftritt, das kiffende Liebespärchen, das sich im Zug verlustiert oder die eine ganze Kolonne Männer, die in einem Geschäft eines Tierpräparators verschwindet und nicht mehr auftaucht. Müssen Sie sich beherrschen, dass die Lust am Figurenspiel nicht überbordet?
Ich muss mich tatsächlich beherrschen, ja, und verspreche beim nächsten Roman Besserung! Wenn ich überborde, dann vielleicht aus einer Angst heraus, dass die Figuren ansonsten leer bleiben. Ich weiss es nicht. Ich würde gerne schreiben wie Raymond Carver, der mit wenigen Sätzen alltägliche Figuren in dichten, atmosphärischen Szenen auftreten lassen konnte. Aber nun ja, es macht auch Spass, sein eigenes Figurenkabinett an der Nase herumzuführen. Und dem Unwahrscheinlichen einen Platz zu geben. Der Magie. Das darf ich als Journalist ja nicht.

„Alice“ ist auch ein Roman über Welten, die aneinander und aufeinanderprallen. Sind Schriftsteller Seismografen?
Vielleicht. Man reagiert auf das, was einen umgibt und übersetzt es in eine Geschichte. Mit etwas Glück trifft man den Nerv der Zeit. Ich finde es schon fast erschreckend, wie aktuell mein Roman gerade wieder geworden ist. Wie in den Siebziger- und Achtzigerjahren, leben wir wieder in Zeiten grösster Verunsicherung. Der Ost-West-Konflikt, das geopolitische Kräftemessen, schiebt sich gerade als hässliche Drohkulisse aus meinem Roman heraus in die Realität und lässt uns erschaudern. Aber als Seismograf hatte ich hier jämmerlich versagt: dieses Beben liess sich nicht voraussagen.

Ich habe meinen Kindern, die mittlerweile auch längst erwachsen sind, allen schon einmal Musik aus meiner Jugend demonstriert. Musik, die noch immer vollgeladen ist mit Erinnerungen, Emotionen, Lebensgefühl und Kampfansage. Ist «Alice“ auch ein bisschen „Musikgeschichte“. 
Das kann man so lesen, muss man aber nicht. Ich wollte mit den popkulturellen Ausflügen vor allem die Leidenschaft meines Protagonisten für die Musik spürbar machen. Es ist ja bezeichnend, dass er sich in eine Musikerin verliebt, als er sie singen hört. Auf der Strasse wäre ihm die Frau vermutlich nicht aufgefallen, aber der Song, den sie in dieser kleinen Bar, im Scheinwerferlicht und umhüllt von Rauchschwaden, sang, liess ihn in Tränen ausbrechen. Es ist das, was ich spüre, wenn ich die Songs von Judee Sill höre, die mir als Vorlage für die Frauenfigur von Alice Bay gedient hatte.

Was bedeutet Musik für den 56jährigen Frank Heer?
Die Musik ist für mich eine nie versiegende Quelle. Ihre Kraft ist wunderbar, rätselhaft und heilsam. Manchmal schafft das auch die Sprache.

Frank Heer, 1966 in Uzwil bei St. Gallen geboren, ist Redaktor für Musik und Film bei der «NZZ am Sonntag». Er schreibt als Freelancer für Publikationen wie «Das Magazin», «Die Zeit» oder «Schweizer Familie». Von 1995 bis 2005 lebte er als Korrespondent in New York. 2005 erschien bei Hoffmann & Campe sein Romandebüt «Flammender Grund». Frank Heer ist nebenberuflich Musiker und veröffentlichte mit verschiedenen Formationen zahlreiche Tonträger. Er lebt mit seiner Familie in Zürich.

Webseite des Autors

Beitragsfotos © Ayse Yavas

Literatur berührt Musik, Musik das Wort – Usama Al Shahmani und Christian Berger berühren sich!

«… Es hat mich berührt, wie die Leute sehr begeistert waren … Wie schön war alles … Die Musik von Christian Berger war ein Geschenk, wie Christian gespielt, gesprochen und mitgewirkt hat, war eine grosse Bereicherung, die die Atmosphäre der Veranstaltung grossartig gemacht hat.» Usama Al Shahmani

Usama Al Shamani hat sich mit «Im Fallen lernt die Feder fliegen» erneut in die Herzen vieler geschrieben. Das wird deutlich am ungebrochenen Interesse, den Autor live zu erleben. Zusammen mit dem Musiker Christian Berger wurde eine Lesung in Steckborn zu einem ganz besonderen Erlebnis.

Usama Al Shahmani schreibt und liest Deutsch, erzählt aber in arabischer Tradition. Christian Berger spielt den Oud, ein arabisches Saiteninstrument, das man im Orient als den «Fürsten der Musikinstrumente» bezeichnet, in seiner Sprache, aber in Klängen, die sehr an arabische Klangwelten erinnern. Zusammen rissen Dichter und Musiker Fenster und Türen auf, so weit, das Zuhörer:innen nach der Veranstaltung in den Mauern des Turmhofs zu Steckborn meinten, sie seien weggetragen worden, so sehr, dass der Applaus, den man den beiden Agitatoren schenkte, beinahe störte.

Usama Al Shahmani erzählt in seinem Roman vom Verlust von Heimat, von der Unmöglichkeit einer Rückkehr. Christian Berger erzählt mit seinem Spiel Geschichten, die die Geschichten in Usama Al Shahmanis Roman spiegeln, die genauso wie im Roman von einer grossen, langen Reise erzählen, von der es eigentlich keine Rückkehr geben kann. Gespielt auf einem Saiteninstrument, das für den Musiker wie kein anderes Saiteninstrument die Verkörperung von beseeltem Erzählen ist. Genauso wie es der Dichter Usama Al Shahmani schafft, mit seinem Schreiben die Seelen seiner Leser:innen in Schwingung zu bringen.

Der Nachmittag im Turmhof ist lebendiger Beweis dafür, was Literatur und Musik zusammen bewirken können. Im Arabischen glaubt man an die heilende Wirkung von Musik und Literatur. Wer Zeuge war an diesem Nachmittag weiss, dass Literatur und Musik, beides Ausdrucksformen von Sprache, viel mehr als bloss unterhalten. Wer den Klang von Musik und Wort mit nach Hause in den Sonntag und die kommenden Woche tragen kann, weiss, dass das, was an diesem Nachmittag in den Zuhörer:innen Resonanz fand, sein Wirkung weitertragen wird.

«Ein Buch das mich in seiner menschlichen Tiefe im Herz berührt hat. Es war mir eine grosse Freude mit meinem Oud in einem musikalischen Dialog zutreten. Die dichten Sprachbilder von Usama haben eine Weite in meinem Spiel ausgelöst. Wunderbar!» Christian Berger 

Eine erquickende Zusammenarbeit zwischen Judit Villiger, der Initiantin und Kuratorin des Hauses zur Glocke in Steckborn, Trägerin des Kulturpreises des Kanton Thurgaus 2018 und vielfach ausgezeichneter Künstlerin und dem Literaturhaus Thurgau. Eine Zusammenarbeit, die hoffentlich ihre Fortsetzung findet.

Rezension zu «Im Fallen lernt die Feder fliegen» auf literaturblatt.ch

Webseite von Christian Berger, Musiker

Beitragsbilder © Gallus Frei / Literaturhaus Thurgau 

Yusuf Yeşilöz «Nelkenblatt», Limmat

Pina ist jung, fremd im Land, geflüchtet, kennt niemanden. Elsa ist alt, hat ein ganzes Leben in diesem Land gelebt und fürchtet sich nicht vor dem nahen Tod. Pina liess sich vermitteln, soll Elsa auf dem letzten Stück ihres langen Lebens begleiten, im Haus von Elsa leben, helfen, pflegen, in dauerndem Kontakt zu Luzia, Elsas Tochter, die fest eingespannt ist in ein Leben, dass ihr für die Mutter nur wenig Zeit und Freiheiten lässt.

Yusuf Yeşilöz hätte eine Geschichte über eine illegal arbeitende Pflegekraft schreiben können, die es zu Hauf gibt. Tat es aber nicht. Yusuf Yeşilöz hätte einen Roman über die Flucht einer jungen Frau aus einem muslimischen Land, deren immer konservativer werdende Regierung Freiheiten und Öffnungen mit Repression unterdrückt, schreiben können. Tat er so ganz nebenbei, als wäre es ein Unterton. Yusuf Yeşilöz hätte eine reissende Story schreiben können über Ausbeutung, Einsamkeit und Isolation. Wollte er nicht.

«Wasser findet immer einen Bach, in dem es fliessen kann.»

„Nelkenblatt“ ist eine ganz behutsam, beinahe zärtlich erzählte Geschichte zweier Frauen, die man zusammengeführt hatte, eine Schicksalsgemeinschaft auf einem kleinen Stück Lebensweg, auf dem es keine Alternativen mehr gibt. Elsa weiss, dass ihr Leben nicht mehr lange dauern wird und Pina, dass es der einzige Weg ist, eine bezahlte Aufgabe zur haben, ein Stück Sicherheit in einem Land, in dem sie zwar angekommen, aber noch lange nicht zuhause ist. „Nelkenblatt“ ist auch eine Liebesgeschichte zweier ungleicher Frauen, die beide in ihrer Art für die andere da sein wollen, da sein müssen. Während Pina alles tut, um den Vorgaben Elsas gestrenger Tochter Luzia gerecht zu werden, um das ruhig und still gewordene Leben der alten Frau so angenehm wie möglich zu gestalten, findet Elsa in Pina ein Gegenüber, das nicht hetzt, nicht fordert, Zeit hat und zuhört. Elsa und Pina beginnen zaghaft zu erzählen. Pina, weil Elsa sie dazu ermuntert und Elsa, weil sie die Bilder teilen will, die sie auf dem letzten Abschnitt ihres langen Lebens begleiten. 

Yusuf Yeşilöz «Nelkenblatt», Limmat Verlag, 2021, 160 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03926-012-6

Elsa erzählt von ihrem Mann, von dem sie sich trennte, der aber immer Teil ihrer Familie blieb. Von ihren Kindern, jenen, die gingen und jenen, die blieben. Von den guten und den schweren Momenten eines Lebens, das sie abschliessen, das sie auf keinen Fall in die Länge ziehen will, das ihr schwer geworden ist. Pina erzählt ihr von ihrem Zuhause, das sie verliess, dem Land, aus dem sie fliehen musste. Von der Zeit, in der die Familie wegen der kranken Mutter das Dorf, in dem sie gross wurde, verlassen musste, um in die Stadt zu ziehen, den Spitälern, der medizinischen Versorgung näher. Wie sie wegen der Schule in eine andere Stadt ziehen musste und das Sterben ihrer eigenen Mutter nur aus der Ferne mitbekam. Vom Schwert, der sich tief in ihrer Seele einnistete.

Pina und Elsa leben zusammen im Haus der alten Frau, wissend, dass der Tod nah ist, dass es jeden Moment soweit sein kann. Elsa auf Erlösung und Erleichterung wartend und hoffend. Pina in der leisen Angst, auch diesmal nicht am richtigen Ort zu sein.

Yusuf Yeşilöz erzählt in leisen Tönen, als wolle er in seinem Erzählen keine Wirbel erzeugen. Genauso wie Elsa in ihren letzten Tagen und Pina in ihrer Art zu helfen. Yeşilözs Sprache ist der Spiegel des Geschehens, sein Roman wie ein ganz ruhiges Kammerstück zweier Frauen, das nur dann aufgewirbelt wird, wenn Luzia, die Tochter Elsas, die durch Organisation helfen will, Durchzug verursacht, den ruhigen Fluss aufmischt. Aber selbst die Figur dieser Tochter bleibt sympathisch, weil sie Hilflosigkeit und Lähmung zeigt, die angesichts der Unvermeidbarkeit eines Endes auf die Frauen zukommt.

Und nicht zuletzt schreibt Yusuf Yeşilöz in einem Sound, den seine kurdische Herkunft in eine ganze eigene Färbung eintaucht. Die Art seines „Geschichtenerzählens“ taucht Sätze und Szenerien in ein ganz besonderes Licht, ein Licht, das Yusuf Yeşilöz von weit her in dieses Land getragen hat und sich als Schatz erweist!

Interview 

Nelken sind Blumen, die ich mit Beerdigungen, mit Grabschmuck in Verbindung setze. Grossmutterblumen. Was bedeuten sie für dich? Was bedeuten Gartenblumen überhaupt für dich? Bist zu Gärtner? 
Ich bin ein schlechter Gärtner. Der Titel Nelkenblatt ist auf die erste Szene im Buch zurückzuführen. Elsa «checkt» ihre künftige Betreuerin. Als diese sagt, dass ein Herz so zerbrechlich sei wie Nelkenblatt, ist das für Elsa eine gute Referenz, dass ihre Betreuerin zu ihr freundlich sein wird. Diese zarte (auch Gallus beschreibst es so) Atmosphäre sollte das ganze Buch begleiten.

Über Pins Herkunft gibt es Hinweise. 3890 km entfernt und der Name Samhirada. Samhirada scheint im Internet nicht zu existieren. Deine Heimat aber, „Kurdistan“, ist ziemlich genau so weit entfernt. Warum nur Andeutungen? 
Ich wollte hier keine genaue Herkunft nennen. Pina könnte von überall sein, Kurdistan, Iran, Irak oder Jordanien oder Algerien. Es ist eine junge Frau, die du vielleicht auch am Bahnhof in Kreuzlingen oder Amriswil vom weiten sehen kannst. Unter den in die Schweiz Geflüchteten sind auch viele Frauen dabei – im Gegensatz zu früher. Auf dem Weg zu einem selbständigen und gleichberechtigten Leben hat sie für «ihr Ticket» sehr viel bezahlt. Übrigens auch in Westeuropa haben Frauen für Gleichberechtigung lange gekämpft und sie kämpfen noch.

Es sind Gegensätze, die sich auf ganz zarte Weise gegenüberstehen, als wäre es eine Bühne, ein Kammerstück: alt und jung, fremd und schon immer da, abgeschnitten und eingebunden, an einem Anfang und an einem Ende. „Gegensätze“ ist aber durchaus ein Yeşilöz’sches Thema – oder? 
Ja. Ich möchte deine Frage als Antwort formulieren.

„Nelkenblatt“ ist ein Buch über Liebe, Freundschaft, das Zuhause und den Tod. Sterben und Tod lassen wir gerne draussen und beschäftigen uns erst damit, wenn die Konfrontation ansteht, wenn sie unvermeidbar ist. Wenn Literatur eine Aufgabe hat, dann die der Konfrontation. Alles andere ist seichte Unterhaltung. Oder ist Kunst ohne Aufgabe? 
Der Literatur werden viele Aufgaben zugewiesen, manchmal leider zu viele. Für mich ist sie eine Nahrung, etwa der Zucker im Apfel.

Pina ist geflohen, weil sie „erneuern“ wollte. Elsa ist stets geblieben, weil sie bewahren wollte. Wo ist dein Zuhause? 
Mein Zuhause ist dort, wo ich mich wohl und so akzeptiert wie ich bin fühle.

Yusuf Yeşilöz, geboren 1964 in einem kurdischen Dorf in Mittelanatolien, kam 1987 in die Schweiz. Heute lebt er mit seiner Familie in Winterthur und arbeitet als freier Autor, Übersetzer und Filmemacher. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Sein Roman «Hochzeitsflug» wurde 2020 von Gitta Gsell unter dem Namen «Beyto» verfilmt.

Webseite des Autors

Usama Al Shahmani «Im Fallen lernt die Feder fliegen», Limmat

Wer die Romane von Usama Al Shahmani liest, begegnet einem Mann, der in zwei Kulturen lebt. Einem deutsch schreibenden Iraker, dessen Herz und Erzählkunst ganz in der Tradition seines Landes pulst. Einem Thurgauer, der sein neues Zuhause wie nur wenige andere schreibend, wandernd, spazierend begeht und dabei eine Offenheit ausstrahlt, die mehr als nur ansteckt.

Die Veranstaltung muss leider auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.

Nach seinem ersten Roman „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, mit dem er sich in die Herzen seiner Leserinnen und Leser nistete und dort ganz eng an seiner eigenen Biographie die Geschichte eines Ankommenden schildert, beschreibt sein neuer Roman „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ beide Bewegungen; jene der Flucht und jene der Rückkehr. Zwei Richtungen, die sich aber sehr oft nicht klar zuweisen lassen, denn mit einem Mal kann aus der Rückkehr Flucht werden, so wie die Flucht immer auch die Möglichkeit der Rückkehr in sich trägt.

Eine junge Familie flieht aus dem von Saddam Hussein regierten Irak über den Iran bis in die Schweiz. In einem Land, in der Schweiz, wo die Eltern nie wirklich ankommen, wachsen die beiden Töchter Aida und ihre ältere Schwester Nosche auf. Sie gehen zur Schule, bereiten sich vor auf ein Leben in Ausbildung und Beruf, eingebettet in Freundschaften und Beziehungen. Aber dem Vater der beiden Schwestern, ein konservativer Theologe und seiner in Traditionen eingebundenen Ehefrau will es nicht gelingen, sich in das Gefüge ihres Zufluchtsortes einzuleben. Eine Sprache, die sich quer stellt, keine Familie mehr, die einem trägt und eine Gesellschaft, deren Rituale nur schwer oder gar nicht zu verstehen sind. 

Usama Al Shahmani «Im Fallen lernt die Feder fliegen», Limmat, 2020, 240 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03926-002-7

Während Aida in der Schule ist und die ältere Tochter schon in der Ausbildung aber noch nicht volljährig, beschliesst der Vater, in den Irak zurückzukehren. Aber was eine Rückkehr werden sollte, wird zur grossen Ernüchterung. Zum einen für die Eltern, die in ein Land, in ein Dorf, in ein Haus zurückkehren, wo nichts mehr ist wie es einmal war, man nicht versteht, warum man aus dem paradiesischen Westen zurückkehrt in ein Land, das vom Hass zwischen Sunniten und Schiiten zerfressen wird. Aber noch viel mehr für Aida und Nosche, für die es dort keine Zukunft zu geben scheint, ausser jener einer gefügigen Ehefrau.

Aida und Nosche beschliessen, mit Hilfe aus der Schweiz erneut aus dem Irak zu fliehen. Zurück nach Frauenfeld. Dorthin, wo sich vor ihrer Flucht ihr Leben abspielte. Die Flucht gelingt. Aber zu einem hohen Preis. Als Aida Jahre später Daniel, einen Schweizer kennen lernt und mit ihm zusammenzieht, merkt dieser, dass Aida ihre Vergangenheit weggesperrt hat, ihre Erinnerung, ihre Herkunft, den Alp, der auf ihrer Seele lastet. Und weil Daniel keine Ruhe gibt und immer wieder darauf hofft, etwas aus dem Davor seiner Freundin zu erfahren, droht die Liebe durch Verweigerung zu zerbrechen. Während Daniel sich eine Auszeit nimmt und ungewiss bleibt, ob es für sie beide eine Zukunft gibt, beginnt Aida, zaghaft aufzuschreiben, was wie ein Monolith quer in ihrer Seele alles Licht schluckt.

Wer ankommen will, muss etwas wagen. Das tun all die, die fliehen, die ein Heimatland zurücklassen, eine Familie, Freunde, ein Zuhause. Das Ankommen an einem anderen Ort ist nicht zwingend ein neuer Ort, eine freundliche Umarmung. Die einen bleiben immer auf der Flucht. Auf der Flucht vor sich selbst, den Bildern aus der Vergangenheit und einer zuweilen feindlichen Gegenwart. Andere schliessen sich in einer Kapsel ein aus lauter Angst, jenen kleinen Rest zu verlieren, den sie wie einen Schatz mit sich herumtragen.

Usama Al Shahmani erzählt genau davon. Vom Ankommen. Vom Kampf gegen permanente Flucht. Und weil es Usama Al Shahmani gelingt, in seinen Romanen nicht nur erzählerisch, sondern auch sprachlich diesen permanenten Kippzustand zwischen Hier und Dort zu beschreiben, werde ich als Leser mit all dem Zauber seiner Sprache an der Hand genommen.

„Im Fallen lernt die Feder fliegen“ ist Aidas Kampf mit sich selbst, ein Kampf in poetischer Kraft!

© Ayşe Yavaş

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasiriya), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Er arbeitet heute als Dolmetscher und Kulturvermittler und übersetzt ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann, «Der Islam» von Peter Heine und «Über die Religion» von Friedrich Schleiermacher. Sein erster Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» wurde mehrfach ausgezeichnet und war u. a. für das «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels» nominiert. Usama Al Shahmani lebt mit seiner Familie in Frauenfeld.

Rezension von «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Ayşe Yavaş

Daniel de Roulet «Brief an meinen Vater», Limmat

„Lieber Vater
 Heute erfahre ich, dass Mutter beschlossen hat zu sterben. Obwohl du nicht mehr da bist, schreibe ich dir, um dir zu erzählen, wie alles abläuft. Ich habe mir vorgestellt, ihr würdet gemeinsam sterben, aber du bist vor sechs Jahren als Erster gegangen.“

In den letzten Tagen vor dem gewollten Tod seiner Mutter schreibt der Genfer Schriftsteller Daniel de Roulet seinem schon länger verstorbenen Vater einen Brief. Einen Abschiedsbrief an seine Mutter, die das Sterben selbst in die Hand genommen hat und mit Hilfe von Exit alles organisierte, ist nicht möglich, denn noch ist sie da, liegt in ihrem Bett. Aber einen Brief an den Vater, den reformierten Pfarrer, einen Brief an ein Gegenüber, das nah gleichzeitig fern und nah ist, dem das Zuhören eine Aufgabe war, der die Mutter, seine Ehefrau verstanden hätte, das kann und muss Daniel de Roulet, weil er schreibend lebt, schon 35 Jahre lang.

„Brief an meinen Vater“ ist ein schmales Büchlein, eingefasst in ein Hodler Panoramablick über den Genfersee und die Savoyer Alpen. So wie Hodler mit Farbe unsentimental ein Maximum an Ergriffenheit auszulösen vermag, so tut es auch Daniel de Roulet, ein Autor, dessen Bedeutung in der deutschsprachigen Schweiz lange nicht seiner grossartige Werke entspricht. Roulets Monolog, seine stumme Zwiesprache mit seinem toten Vater, der Autor als Atheist und sein Vater als Pfarrer, ist ein Protokoll der inneren Auseinandersetzung; mit der seiner Herkunft als Pfarrerssohn, seinem verlorenen Glauben, der demonstrierten Eigenständigkeit seiner Mutter gegenüber und jenem speziellen Moment, dem Tod, diesem kurzen Augenblick, der alles ändert. „Er ist eine offene oder geschlossene Tür, er muss das Eine oder Andere sein, er kann nicht ein Drittes sein.“ (Stendhal)

Daniel de Roulet «Brief an meinen Vater», Limmat, 2020, 80 Seiten, CHF 22.00, ISBN 978-3-03926-004-1

Die alte Frau, Daniel de Roulets Mutter weiss, dass sie mit 97 keine Zukunft mehr hat. Und weil sie ein Leben führte, dass Eigenständigkeit zur Maxime erklärte, will sie auch ihr Sterben nicht fremden Händen überlassen. Sie beschliesst, mit Exit den Freitod zu wählen. Daniel de Roulet begleitet seine Mutter in diesen letzten Tagen. Wenn er nicht an ihrer Seite ist, dann spaziert er oder schreibt. Die letzten Tage seiner Mutter lassen ihn zweifeln, zweifeln an vielem, vielleicht sogar an den Grundfesten seines Nichtglaubens. Er schreibt seinem Vater, einem Pfarrer, um gemeinsam mit dir meinen eigenen Zweifeln auf den Grund zu gehen.

Auch wenn das Buch Sentimentalität zu vermeiden versucht, sind es jene Momente, in denen Daniel de Roulet Erlebtes in seiner Familie beschreibt, die bei mir wenn nicht Sentimentalität so doch Betroffenheit auslösen. Wer seinen zweiten Elternteil verliert, wird zum Vollwaisen, ungeachtet seines Alters. Stellen wir uns darauf ein, Waisen zu werden, vorne zu stehen, ohne Deckung. Oder wenn Daniel de Roulet von dem einen Moment erzählt, bei dem der Autor zusammen mit seiner Schwester und der Mutter am Sterbebett des Vaters sassen und sich der Vater unter Aufbietung der letzten Kräfte noch einmal aufrichtete. „Mutter, Vater will dich küssen.“

So wie ich das engagierte Schreiben des Autors schätze, sein Werk über die Jahrzehnte begleite und mich immer wieder wundere, wie bescheiden das Echo seines Schreibens in der Deutschschweiz bleibt, so sehr mag ich auch dieses Buch, denn es beweist, mit welcher Konsequenz der Autor an sein Schreiben geht, selbst dann, wenn andere in ihrer Ergriffenheit abdriften würden.

Lesen Sie Daniel de Roulet!

© Yvonne Böhler

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.

Maria Hoffmann-Dartevelle, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre u.a. als freiberufliche Übersetzerin tätig. 

Rezensionen von «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» und «Wenn die Nacht in Stücke fällt» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Christoph Keller «Jeder Krüppel ein Superheld», Limmat

Als ich Christoph Keller vor ein Vierteljahrhundert mit seinem dritten Roman «Ich hätte das Land gerne flach» nach Winterthur in ein Restaurant zu einem meiner «Literaturzirkel» einlud, kurvte er damals schon mit seinem Rollstuhl bis zum langen Tisch in der Ecke des Gasthauses. Christoph Keller kurvt noch immer; durch sein Leben, seine Auseinandersetzung mit seiner Einschränkung, sein literarisches Schaffen, das sich stets neu erfindet, wenn auch SMA, seine Krankheit, sein Leben und sein Schreiben durchsetzt.

Christoph Keller «Jeder Krüppel ein Superheld», Limmat, 2020, 220 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03926-003-4

Christoph Keller sitzet mehr als ein halbes Leben lang im Rollstuhl. Zuerst war der Rollstuhl eine Art Rückversicherung, dann sein Begleiter, mittlerweile sein fahrbares Standbein. Christoph Keller war 14, als er die Diagnose SMA Spinale Muskelatrophie erhielt. Eine Krankheit, die in drei Typen auftritt und Christoph Keller trotz aller Einschränkungen eine „normale“ Lebenserwartung verspricht. Auch wenn der Autor zur „leichtesten“ Form von SMA verurteilt ist, SMA hört nie auf, schmerzt wohl nicht, aber hebt Muskelfunktionen auf. Aber kann man dann vom Glück von SMA Typus III sprechen. Wohl kaum und vielleicht doch. „Jeder Krüppel ist ein Superheld“ spricht genau davon.

Schon bemerkt?

Die Leute sagen nicht
mehr: sei will-
kommen. sie sagen: kein
problem.

früher waren wir
willkommen. jetzt
sind wir kein
problem.

Über Jahrzehnte pendelte Christoph Keller nicht nur geographisch zwischen zwei Welten, zusammen mit seiner Frau, der Dichterin Jan Heller Levi, zwischen New York und St. Gallen, den USA und der Schweiz. Er pendelt auch zwischen Zuständen; zwischen dem allmächtigen Erfinder und Sprachschöpfer und einem Menschen, dem die Bewegungsfreiheit am allerwenigsten durch seinen Rollstuhl genommen wird. Unsere Welt ist die Welt der „Normalen“, des Normalen. Dass das Nicht Normale, das Nicht Normierte keinen oder nur wenig Platz hat, das zeigt nicht nur die Tatsache, dass es im Parlament der Schweiz nur einen einzigen Parlamentarier gibt, der vergleichbar eingeschränkt ist (Ich muss schmunzeln beim Schreiben dieses einen Satzes!). Er pendelt zwischen Kampfansage und Versöhnung. Nicht der Versöhnung mit den Widrigkeiten der Umwelt, die das Leben eines Eingeschränkten noch multipliziert, sondern der Versöhnung mit sich selbst. Christoph Keller hadert nicht, strotzt dafür vor Tatendräng, schöpferischer Kraft und laut vernehmbarer Liebe. Jener zu seiner Frau, jener zu seiner Sprache, jener zu seinem Leben.

© Christoph Keller «Church St. & Worth St.»

„Jeder Krüppel ein Superheld“ ist weder Roman noch Sachbuch, keine Biographie und keine narzistische Selbstdarstellung. „Jeder Krüppel ein Superheld“, das „Krüppelbuch“, wie es der Autor selbst nennt, ist ein bunter Strauss an Texten und Bildern; Auseinandersetzungen mit sich und der Umwelt („Keines meiner Bücher hat mich so viel Kraft gekostet.“), ein „Rollgang durch sein Leben“, Begegnungen, Gedanken und Beobachtungen, Biographisches, eine „Wanzengeschichte“ über mehrere Kapitel, Gedichte, auch solche seiner Frau Jan Heller Levi und Fotografien. Fotographien von Pfützen in New York (Glunggenbilder), die eigentlich jene unüberwindbaren Zentimeter dokumentieren sollten, aber immer mehr zur Bildauseinandersetzung wurden. Fotografien, in denen sich New York in Pfützen spiegelt, jene unüberwindbaren Zentimeter gleich neben der Weite und protzigen Grösse der selbstbewussten Millionenmetropole.

Franz Kafka schrieb sich mit „Die Verwandlung“ ins kollektive Kulturbewusstsein. Gregor wird zum Käfer. Christoph Kellers Auseinandersetzung mit Kafkas Text resultiert vielleicht auch aus dem Gefühl, von Umgebung und Gesellschaft ebenfalls, wenn auch langsam, zum Käfer gemacht zu werden, einem hilflosen Etwas, das auf dem Rücken um sein Leben strampelt. „Jeder Krüppel ein Superheld“ tut bei der Lektüre dort weh, wo mir bewusst wird, mit wie viel Gedankenlosigkeit und Selbstverständlichkeit ich durch mein Leben torkle. Aber ich kann torkeln. Christoph Kellers Buch hat nichts von Wehleidigkeit, keine Spuren von Sentimentalität und schon gar nichts Voyeuristisches. Christoph Keller sprudelt, sprudelt erst recht, auch literarisch und schöpferisch, wenn in seiner Wanzengeschichte aus einem Menschenbauch nicht nur ein Kribbeln zu spüren ist, sondern Ameisen schlüpfen.

„Streif dein Kostüm über und roll, SMA-Man!“

@ Ayse Yavas

Christoph Keller (1963) ist der Autor zahlreicher Romane und Theaterstücke und eines Essaybandes. Sein bekanntestes Werk ist der Erinnerungsroman «Der beste Tänzer» (S. Fischer Verlag, 2003). Zusammen mit Heinrich Kuhn hat er drei Romane sowie die Kürzesterzählungen «Alles Übrige ergibt sich von selbst» (Keller+Kuhn, Edition Literatur Ostschweiz, St. Gallen, 2015) veröffentlicht. 2016 erschienen der Erzählband «A Worrisome State of Bliss: Manhattan Tales and Other Metamorphoses» (Birutjatio Press, Santiniketan, Indien, 2016) sowie «Das Steinauge & Galápagos. Ein Roman und sechs Erzählungen» (Isele, Eggingen, 2016). Keller, der auf Deutsch und Englisch schreibt und über zwanzig Jahre in New York verbracht hat, lebt mit der Lyrikerin Jan Heller Levi in St. Gallen. Zuletzt erschien im Limmat Verlag der Roman «Der Boden unter den Füssen», der mit dem Alemannischen Literaturpreis 2020 ausgezeichnet wurde.

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Beitragsbild @ Ayse Yavas