Thomas Pfenninger «Gleich, später, morgen», Kommode

Gehören sie zu den Menschen, die noch mit freudiger Erwartung auf den Briefträger oder die Postbotin warten? Oder schon zu jenen, die sich nur mit einer Mischung aus Befürchtung und Angst einmal in der Woche trauen, das unliebsame Fach zu öffnen? Thomas Pfenniger hat einen wirklich komischen Roman über die verborgenen Kräfte jener Botinnen und Zusteller geschrieben, denen wir sonst kaum mehr Respekt zollen.

Ich wohne seit zwei Jahren in einem Mehrfamilienhaus mit 16 Wohnungen. Müsste ich die Namen aufzählen, würde ich nicht einmal eine Handvoll zusammenbringen. Und wenn ich am Morgen noch in winterlicher Dunkelheit zur Arbeit gehe, aus „meinem“ Haus, vorbei an all den erleuchteten Fenstern, links und rechts vorbei an all den andern Mehrfamilienhäusern, schaudert mich das Wissen, dass dort überall Geschichten und Dramen spielen, mir doch eigentlich so nah, aber ich weiss nicht einmal die Namen. Gesichter bleiben wie stumme Etiketten. Mindestens einmal am Tag taucht der Postbote auf, meist ein junger Mann, manchmal eine ältere Frau. Beide freundlich und mit ihrem Elektroroller ungemein fix unterwegs. Wer glaubt, dass sie nur die Post austeilen, oder wenn noch der gelbe Lieferwagen auftaucht, die Pakete, der irrt gewaltig. Wenn jemand über Jahre die Post zustellt; Pakete, Briefe, Rechnungen, Eingeschriebenes – dann muss sie/er mit etwas Kombination sehr genau wissen, mit wem man es hinter diese Klingel, hinter diesen Türen zu tun hat. Dann tun sich Welten auf. Sie kennen die Namen und noch viel mehr. Vielleicht nicht die Gesichter. Aber die Etiketten sind voll geschrieben, bis ins Kleingedruckte. PostbotInnen sind Geheimnisträger! Ich respektiere sie für ihre Verschwiegenheit und die Tapferkeit angesichts der geringen Anerkennung und der Tatsache, dass aus dem Pöstler aus der Vergangenheit mit selbstbewusster Uniform und dem Nimbus eines Glückbringers ein von der Zeit gepeitschter Vollstrecker geworden ist. Wer bekommt denn noch Briefe! 

Thomas Pfenninger «Gleich, später, morgen», Kommode, 2022, 279 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-905574-00-5

Thomas Pfenninger erzählt von einem Briefträger in einem Aussenquartier von Zürich, der mehr sein will, als ein Auslieferer von Papier. Der Briefträger liebt seine Arbeit. Er liebt auch die Menschen, denen er die Post verteilt. Auch wenn er manchmal mit Ungeduld erwartet wird, wenn er der Überbringer von Schmerz sein muss, wenn er schon vor dem Einwerfen weiss, dass es nicht zur Freude sein wird. Er möchte ein guter Briefträger sein. Und weil dieses „gut“ nicht zu all dem zu passen scheint, was er einwerfen muss, beginnt jener Briefträger in den sonst so klar geregelten Ablauf des Verteilens einzugreifen. Erst sind es einfach ein paar Sendungen, die nicht zugestellt werden, später ein doppelter Boden in seinem Wagen, den er hinter sich herzieht, wo liegen bleibt, was nicht ankommen soll; die eingeschriebenen Vorladungen für Herrn Schweizer, die Rechnungen für das Ehepaar Manzini, die Todesanzeigen für Frau Kälin, den einen, letzten Brief der Tochter an ihre Mutter, Frau Caluori. Aber das Nicht-Zustellen, Zurückhalten ist irgendwann nicht mehr genug. Der Briefträger spürt und ahnt, dass er durch sein Tun die Geschicke jener Menschen beeinflussen kann. Ein bisschen wie Gott. Er rächt sich am strammen Herr Schweizer durch das Zurückhalten, bezahlte die eine oder andere Rechnung für Manzinis aus der eigenen Tasche, verschont Frau Kälin mit immer noch einer Todesanzeige und frisiert die Tochterbriefe an Frau Caluori so, dass der letzte Rest Hoffnung nicht sterben muss.

Und da ist noch Lauriane im Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses. Sie lebt zusammen mit ihrem nichtsnutzigen Bruder Dave, der es nicht einmal schafft, sich selbst aus dem Dreck zu ziehen. Lauraine bleibt stets oben, schaut nur das eine oder andere Mal aus dem Fenster, bekommt immer wieder einmal eine Karte. Sie wird seine Angebetete, der aber verborgen bleiben würde, dass da ein schmachtender Briefträger ist, wäre da nicht Dave, der durch seine Sucht unvermittelt Mittler wird.

Aber statt dass sich das Glück einstellt, zieht sich die Schlinge um den Hals des Briefträgers immer mehr zu. Es muss unweigerlich zur grossen Katastrophe kommen. Was auch geschieht! Es kann keine Entschuldigungen allein mehr geben.

Thomas Pfennigers Debüt „Gleich, später, morgen“ ist eine überaus köstliche Groteske, ein eigentliches Quartiertheater um die Macht des kleinen Mannes mit wenig viel zu erreichen, den Dingen jenen kleinen Schups zu geben, dass sie sich zum Besseren oder Guten wenden. Aber auch ein Mahnung davor, dass sich letztlich nichts in eine Richtung drücken lässt, das nicht der Allmacht der Logik entspricht. Irgendwann rächt sich alles. „Gleich, später, morgen“ ist verspielt und erzählt doch nichts als die Wahrheit.

Interview

Ich bin einer, der sich jeden Tag auf seine Post freut, weil ich nicht nur Rechnungen, Mahnungen oder Werbung erhalte. Für mich ich die Postbotin oder der Postbote eine gute Fee, die mich beschenkt, es sind Überbringer des Guten. Zwei Generationen zuvor brachten Postboten sogar noch die Altersrente, man lud sie zu einem Kaffee und einem Schwatz ein. Was gab den Ausschlag, einen Briefträger zum Protagonisten zu machen? Ein Stück Sehnsucht nach einer überschaubaren Weltordnung?

Diese Lesart – die Sehnsucht nach Überschaubarkeit – wurde mir schon von verschiedener Seite zugetragen. Sie spielte für die Wahl des Protagonisten aber keine Rolle. 
Entscheidend war einerseits die Funktion des Briefträgers als Übermittler von Botschaften und andererseits als Person, die vielen Menschen natürlicherweise sehr nahe kommt, aber ohne sich ihnen aufzudrängen, ohne dass da Skepsis wäre, ohne dass da Vorbehalte wären. 
Ich wollte einen Protagonisten, dem die Menschen ihre Sorgen erzählen. Einer, dem sie Dinge erzählen, die sie ihren Nachbarn, Ehemännern und Freundinnen nicht erzählen können oder wollen.
Stereotypisiert kämen für diese Rolle natürlich auch andere Berufe infrage: der (in der Popkultur überstrapazierte) Taxifahrer, die Friseurin, der Barkeeper, die Psychologin. Aber kein Beruf passte so gut wie der Briefträger, weil die dem Briefträger (oder der Briefträgerin) angehefteten Attribute wie Integrität, Zuverlässigkeit oder Pünktlichkeit so herrlich total sind. Kein Briefträger ist ein bisschen integer oder ein bisschen zuverlässig. Ich glaube, dieses Bild ist extrem tief in uns verankert. Das fand ich äusserst spannend, weil sich daraus ein grandioses Spannungspotenzial ergibt. Was, wenn der Briefträger diese totale Integrität nicht erreicht? Was, wenn er seine eigenen Regeln der Postzustellung aufstellt? Und was, wenn er es nicht aus schlechter, sondern mit durch und durch guter Absicht tut? 

Ihr Briefträger lässt sich ziemlich tief in die Leben seiner Adressaten verwickeln. Auf eine gewisse Art und Weise nimmt er sich ein Stück Allmacht, um seine Welt ein bisschen besser zu machen. Eine Sehnsucht, die sich arg zu rächen droht. Soll man sich festen Ordnungen ergeben? All die „Braven“ bleiben in der Ordnung, weil Gesellschaft nur mit Ordnung funktioniert.

Ich sehe keinen Sinn darin, sich aus Prinzip gegen eine Ordnung aufzulehnen. Und ich sehe auch keinen Sinn darin, sich aus Prinzip einer festen Ordnung zu ergeben. Man mag Gesellschaften attestieren, dass sie nur mit und wegen der Ordnung funktionieren. Vielleicht ist das aber ein Trugschluss. Vielleicht funktioniert »Gesellschaft« nicht wegen der Ordnung, sondern durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit, oder sogar mehr noch, die Überzeugung der Zusammengehörigkeit. Ich plädiere also nicht für mehr oder weniger Ordnungsergebenheit, sondern für mehr »wir« und weniger »ich«. 

Ein Briefträger, der nur ein bisschen Kombinationsgabe besitzt, muss ziemlich viel über seine Kundschaft wissen. Mein Briefträger weiss, dass ich viel lese, dass ich Unsummen für Bücher ausgeben muss (was nicht stimmt), dass ich öfters Blumen verschenke, eine erwachsene Tochter habe, die zeichnet und vieles mehr. Und doch bewegt sich mein Briefträger in absoluter Diskretion. Nicht unbedingt eine Tugend der Gegenwart, oder?

Woher weiss Ihr Briefträger, dass Sie Blumen verschenken? Und woher wissen Sie, dass sich ihr Briefträger in absoluter Diskretion bewegt und nicht am Abend zu Tisch erzählt, dass er dem Herrn Soundso heute wieder zehn Kilo Bücher gebracht hat? Wir nehmen diese Diskretion an und ich glaube, wir tun das noch immer zurecht. Ich bin überzeugt, dass 99 % aller Briefträgerinnen und Briefträger absolut diskret und gewissenhaft und integer arbeiten. Daher würde ich bezweifeln, dass Diskretion heute rarer ist als früher oder dass sie im Umkehrschluss gar eine Tugend der Vergangenheit ist. 

Der Briefträger leidet mit, interpretiert, was er sieht, liest und erlebt, manövriert sich in eine Sichtweise hinein, die ihn zum Handeln zwingt. So wie all jene, die vor ihren digitalen Fenstern und Türen sitzen und sich zum Handeln gezwungen fühlen. Der Briefträger greift in fremde Leben ein, glaubt, dass seine Interpretation Rechtfertigung ist. Ihr Roman als Metapher?

Mich faszinierte die Idee von Grenzüberschreitungen, die besten Absichten und besten Überzeugungen entspringen und dadurch eine Art Rechtfertigung erhalten. Der Briefträger will ja niemandem etwas Böses – ganz im Gegenteil! Das lässt sich durchaus auch als Metapher lesen. Nicht nur ins Digitale, aber auch. Die Überzeugung, dass die eigenen An- und Absichten gut und richtig und wahr sind und der Wunsch, dass andere die Welt ebenso sehen, ist sehr menschlich. 
Das Problem ist aber natürlich, dass auch gut gemeinte Grenzüberschreitungen immer Grenzüberschreitungen bleiben. 
Im Roman entwickelt sich dann aus solchen im Grunde harmlosen Grenzüberschreitungen eine kaum noch zu kontrollierende Eigendynamik. Das Spannende an dieser Dynamik ist, dass sie gerade dadurch aufrechterhalten wird, indem der Briefträger versucht, sie aufzuhalten. Als flicke er das Fass an einer Seite, nur dass es an zwei anderen Stellen Leck schlagen kann. 

Schreiben Sie Briefe noch von Hand? Bedanken Sie sich beim Briefträger? Dass der Roman postgelb ist, ist mit Sicherheit kein Zufall. Sollte er nicht Pflichtlektüre werden in der Berufsschule zum Postlogistiker?

Ich lebe mit einer einzigen Ausnahme praktisch papierlos: Bücher. Ich habe bis heute kein einziges E-Book gelesen. Alles andere, Notizen, Briefe (Mails!), Zeitungen, Manuskripte, lese und schreibe ich wenn immer möglich digital. Ich bekomme übrigens auch höchst selten physische Post. Gerade diese Woche aber zum Beispiel die Jahresrechnung der REGA. Hat mich gewundert, dass die im Briefkasten und nicht in der Mailbox gelandet ist.
Hin und wieder überkommt mich aber ein nostalgisches Gefühl und ich nehme mir vor, mein Smartphone wegzuwerfen und nur noch via Festnetz und Briefkasten erreichbar zu sein. Oder mir vielleicht sogar einen Brieffreund zu suchen und dann komplett entschleunigt im Zweiwochenrhythmus mit ihm zu korrespondieren. Aber natürlich habe ich jetzt erstmal noch so einiges zu erledigen und verschiebe das deshalb auf später.
Wenn ich »meiner« Briefträgerin mal begegne, dann grüsse ich sie immer ganz freundlich. Wie gesagt hat sie aber meistens nichts für mich dabei. (Was ihr aber auch nichts auszumachen scheint). Vielleicht sollte ich ihr bei Gelegenheit ein Exemplar des Buches geben? Vielleicht kann sie dann ein gutes Wörtchen für mich einlegen, dass es in den Kanon der postgelben Literatur aufgenommen wird.

Thomas Pfenninger, geboren 1984, wuchs in Zürich auf und lebt heute in Bern. Neben seiner Tätigkeit als freischaffender Autor und Texter arbeitete er neben anderem als Mediensprecher oder Kommunikationsbeauftragter für verschiedene Unternehmen in Zürich, Berlin und Bern. 2017 veröffentlichte er im Eigenverlag den Gedichtband «Fragmente». 2018 beendete er die Arbeiten am Roman «Die Löffel-Monologe», welcher noch nicht veröffentlicht wurde. Der Roman «Gleich, später, morgen» ist sein Debüt.

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Beitragsbild © Thomas Pfenninger

Lu Bonauer «Afropa», Plattform Gegenzauber

Manchmal zähle ich die Sekunden, wenn ich abends oder schon in der Nacht an meinem Haus vorbeifahre und mich etwas weiterzieht, immer weiter.

Ich höre mir die Nachrichten an. Bei einer Spezialeinheit hat es mehrere Tote gegeben, während sie einen Schutzzaun errichtet hat. Und Europa droht bereits die nächste Flüchtlingswelle.

Ich versuche mir vorzustellen, ich wäre selbst irgendwo im Süden geboren, hätte Kenntnis vom Wohlstand, von der Meinungsfreiheit, von der Menschlichkeit dort drüben. Ich kann es mir aber nicht vorstellen, nicht wirklich. Ich sage zu mir selbst, dass es schon okay ist, unterwegs zu sein, ohne ein Ziel zu haben. Meine Stimme klingt wie ein kalter Niederschlag.

Mein Beruf: Leitender Angestellter in einer Softwarefirma. Dass ich zweiundvierzig bin, merkt man nur an dem nach oben gerutschten Haaransatz. Ich habe noch genug schwarze Haare, um die grauen auszugleichen. Seit einem Jahr bin ich geschieden, Vater einer fünfjährigen Tochter. Jedes zweite Wochenende verbringen wir Zeit miteinander.

Meine Tochter wirkt älter, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Ihre samtdunklen Augen, die sie von mir hat, schauen an mir vorbei.
Hast du mich nicht lieb?
Diese Frage macht mich perplex. Ich?, entgegne ich energisch. Ich? Doch! Natürlich!
Aber du bist nie da.
Ich darf dich nicht mehr so oft sehen. Es ist mir nicht erlaubt.
Du weinst, sagt sie erstaunt.
Weil ich dich vermisse.
Wenn du mich lieb hast, kannst du mich auch sehen.
Das ist nicht so einfach, ach, das ist viel schwieriger, als du denkst.
Ich beobachte sie, wie sie leise, katzenhaft, biegsam, aber mit sturem Ausdruck im Gesicht vom Sitz klettert und dabei auf die Lippen beißt. Das hat sie von ihr, nicht von mir. Sie implodiert, wenn sie wütend ist; ich explodiere, denke ich und will lieber etwas sagen, als zu vergleichen, aber alles dreht sich aus der Verankerung und fliegt weg. Warum bringe ich alles zum Explodieren? Verzweifelt lege ich ihr die Hand auf die Schulter. Bis bald, ja?
Das Lächeln misslingt mir. Kinderaugen sind das Flutlicht in die eigene Seele. Ich kann nicht anders und starte den Motor, ohne sie noch einmal anzusehen.

Welcher Moment war der Anfang vom Ende? Die Frage ist nicht zu beantworten; ich habe sie mir schon oft gestellt. Ich erinnere mich an Ladungen mit Vorwürfen, die wir über uns schütteten, oft an den Samstagen nach den gemeinsamen Einkäufen. Noemi weinte auf dem Rücksitz, und wir knüpften nahtlos an den letzten Streit an, beluden den neuen Streit mit neuen Vorwürfen und vergaßen auch die alten Vorwürfe nicht.
Stau im Gotthardtunnel – unser letzter Urlaub im Tessin ein Leerlauf, keine Chance, woanders hinzusehen als geradeaus. Plötzlich hing dieses Schweigen zwischen unseren Lippen.
Du hattest den Mut, es auszusprechen. Zwischen uns, hast du mit vertränten Augen gesagt, zwischen uns, da ist doch nichts mehr.
Ich wollte schreien. Bitte weine nicht; wir haben das nur durchgespielt!
Aber wir rückten uns nicht mehr zurecht und bäumten uns nicht mehr auf, um die Streitigkeiten durchzustehen wie unsere Großväter und Großmütter, nicht mal unserer Tochter zuliebe.
Wäre es anders gekommen, wenn wir uns für ein zweites Kind entschieden hätten?, hast du gefragt.
Ich weiß nicht, habe ich geantwortet. Vielleicht. Viele Paare versuchen, ihrer Beziehung damit neuen Auftrieb zu geben, eine neue Gemeinsamkeit zu erzeugen. Doch nutzen tut es im Endeffekt wenig.
Das Gespräch ist leise gewesen. Mit letzter Kraft haben beide den anderen nochmals wahrgenommen.

Grundsätzlich mag ich dich noch immer, aber da liegt nicht das Problem – war es das Letzte, was du gesagt hast? Ich erinnere mich nicht mehr. Ich mochte es, wie du barfuß durch unsere Zimmer liefst, als begingest du gerade einen unberührten Fleck Natur. Die vielen Dinge, die du während unserer Zeit gesagt hast, sind verschwunden; es sind Bilder, die ich ab und an antreffe, an den verschiedensten Orten, von einem unsichtbaren Pinsel in mein Unterwegssein gemalt – doch immer unschärfer, verwaschener, ausgebleichter. Ich konzentriere mich auf das Lenken, die Straße runter und die nächste, Straße um Straße, und dann unser Haus, in dem noch einige deiner Sachen hängen. Begleitet von einem leisen Schwindelgefühl rolle ich mit dem Familienauto daran vorbei. Ich zähle die Sekunden. Dann zögere ich und wende. Und fahre wieder zurück.

In letzter Zeit träume ich nachts oft dasselbe, manchmal auch am Tag, wenn ich wach bin und doch in einem schwebenden Zustand durch die Gegend fahre.
Ich stehe in einem Raum. Er hat weder eine Tür noch Fenster; es ist dunkel. Aber meine Augen gewöhnen sich allmählich daran. Der Raum ist eng. Gezwungenermaßen muss ich den Blick auf etwas richten, das vor mir auf dem nackten Boden liegt. Mal hebt es sich leicht. Dann ist es höhenlos, wie ein Fleck, ein Schatten, etwas Dunkles; ich höre es atmen. Ich will weg, weg aus dieser Enge, habe Angst. Panik überfällt mich, dass ich meinen Fluchtimpulsen nicht nachgeben kann und für immer eingeschlossen bin.
Doch, und jetzt kommt das Seltsame, fühle ich auch etwas Warmes. Tief drinnen in dieser Angst ist etwas, das sich um mich sorgt; es weint um mich. Meine Irritation hält für Sekundenbruchteile an.
Dann ist die Angst wieder da. Ich wache schwitzend auf, oder ein Auto hupt mir ins Gesicht; mit letzter Kraft reiße ich das Steuer herum, und der Lichtkegel schluckt wieder die Fahrbahn. Mein Auto rollt weiter. Die Welt dreht sich weiter. Die Nachrichten gehen weiter.
Ich tippe flüchtig den Schalter seitlich am Lenkrad an, worauf die Radiostimme verstummt.
Kann ich noch lieben?
Nach den Zeitangaben der Scheidungsbücher sollte ich allmählich über die Trennung hinweg sein, sonst falle ich aus der Statistik.

Ich betrete die Bar, die ich einmal pro Woche aufsuche. Über dem Tresen laufen die letzten Sekunden der Abendnachrichten. Danach eine weitere Ausgabe von Nur der Überlebenswille zählt. Die verbliebenen Kandidaten müssen sich, geschwächt von Hunger und Schlafabstinenz, in die Tiefe einer Schlucht abseilen.
Die Frau neben mir – wie ich auf einem Barhocker – gibt sich unbeteiligt. Sie simst auf ihrem Handy. Es scheint eine längere Botschaft zu sein. Sie trägt einen sorgfältigen Haarschnitt, braun, schulterlang, die Augen leicht geschminkt. Sie bewegt sich anmutig. Wie üblich habe ich die Krawatte gelockert, meine Haare in die Stirn gedrückt, nicht nach hinten geklatscht wie früher. Es geht nicht lange und wir sind in ein Gespräch verwickelt.
Nach dem zweiten Drink fragt sie: Warum heiraten Leute?
Aus Leidenschaft?, frage ich zurück.
Nein. Um einen Zeugen für ihr Leben zu haben. Es gibt Milliarden von Menschen. Aber was bedeutet das Leben eines Einzelnen? In einer Ehe verspricht man, alles miteinander zu teilen, die guten Dinge, die schlechten, die banalen. Einfach alles, jeden Tag. Man sagt: Dein Leben wird nicht spurlos vorübergehen, weil ich es beachte. Dein Leben wird nicht ohne Zeuge sein, weil ich dein Zeuge sein werde.
Diese Dinge, die sie da sagt. Ich falle in ein mir fremdes Grübeln. Ich habe wieder diesen Gedanken wegzufahren, hinaus aus allem – und bin selbst überrascht, als ich sie frage.
Sie streicht sich die Haare aus der Stirn. Dazu lacht sie.
Sind Sie ein Künstler oder so etwas? Sie sehen zwar nicht so aus, aber Ihre Augen sind groß, wie aufgerissen, als sähen Sie Dinge, für die Menschen wie ich keine Zeit haben.
Ich lache ebenfalls, es klingt hohl. Also, wie denken Sie darüber?
Aber wir kennen uns ja erst seit heute Abend.
Sie kennen mich bereits, sage ich forsch.
Sie blickt mich überrascht an.
Alles, was Sie wissen müssen, sitzt hier bei Ihnen.
Sie kitzelt ihr Sektglas mit dem Zeigefinger, lässt ihren Blick eine Weile durch die spärlich gefüllte Bar gleiten und schaut mir dann direkt in die Augen.
Wie Teenager auf der Flucht vor dem Erwachsenwerden?
Ja.
Unsicher flüstert sie zurück: Also gut, sagen Sie es noch mal.
Ich nicke devot. Wer hat in unserem Alter noch die Tollkühnheit, alles stehen zu lassen und dem Drang nach Freiheit zu folgen?
Sie sind doch kein Serienmörder?
Darauf lache ich wieder hohl.

Als ich sie durch ihr Viertel fahre, regnet es leicht. Sie erklärt mir, wo ich halten soll. Ich schaue ihr nach, wie sie im Haus verschwindet, rauche dabei eine Zigarette. Als die Glut den Filter erreicht, blicke ich noch einmal in den Rückspiegel. Ohne auf sie zu warten, starte ich den Motor und gebe Gas.
Plötzlich schlägt etwas auf den Kofferraum. Ich sehe sie rennen. Sie rennt hinter mir her und fuchtelt mit den Armen.
Ich würge den Motor ab und halte aus einem Impuls heraus, den ich bei mir nicht kenne, schützend die Hände vor mein Gesicht. Beobachte durch die Finger hindurch zuerst im Rück-, dann im Seitenspiegel, wie sie wütend um den Wagen herumkommt.
Warum fahren Sie einfach weg? Wollen Sie mich demütigen?
Steigen Sie ein, entgegne ich leise.
Meine Hände zittern, als ich wieder ans Lenkrad greife, mein Herz schlägt noch eine ganze Weile schnell. Seit wir an meinem Haus vorbeigefahren sind, zähle ich heimlich die Sekunden. Kurz vor Minute zwei höre ich auf. Wir fahren schweigend Richtung Peripherie, bald auf der Straße, auf der Autos über die Grenze nach Deutschland gelangen. Schwacher Regen fällt.
Sie durchbrechen in Windeseile Schranken, und wenn es darauf ankommt, flüchten Sie. Weshalb machen Sie das?
Ich schaue vorsichtig zu ihr. Ihre Wangen glühen. Alles glüht an ihr. Ich hätte sie gerne umarmt, während sie noch immer außer sich ist.
Ich kenne Sie überhaupt nicht – und trotzdem fahre ich mit Ihnen weg. Ich … ich kenne mich ja selbst nicht mehr!
Schweigen. Regen fällt.
Was ist eigentlich Ihr Problem? Sie blickt auf die Regentropfen, die der Scheibenwischer nach links und rechts verschiebt.
Ich überlege. Räuspere mich. Ich fahre herum, wissen Sie – nach der Arbeit. Abend für Abend. Ohne Ziel. Fahre und fahre, und alles fliegt dennoch aus der Verankerung.
Sie runzelt die Stirn, sodass eine ernste Falte zwischen ihren Brauen entsteht. Mit ruhiger, entschiedener Stimme sagt sie: Irgendwann bauen Sie wieder ein neues Heim auf. Das ist so was wie ein Kreislauf.
Ich schüttle kurz den Kopf. Ich erzähle von meinem Traum mit dem engen Zimmer ohne Fenster, ohne Tür. Erzähle von meiner Angst, eingesperrt zu sein, ohne Fluchtmöglichkeiten – und von diesem dunklen Fleck. Weil sie sich dazu nicht äußert, schalte ich das Radio ein. Nachrichten über einen Familienvater, der seine Familie ausgelöscht hat.
Nach einer Weile höre ich ein Räuspern, und eine Stimme neben mir sagt: Sie wissen also nicht, wohin wir fahren.
Vielleicht nach Utopia, bin ich um etwas Aufheiterung bemüht. Vor einer Ampel lehne ich mich zu ihr hinüber. Mit gefällt Ihre Kette. Ist das Ihr Name – Rose?
Sie blickt mich lange an. Das Licht in ihren Augen rieselt in warmen, zuckenden Wellen durch meinen Körper. Ich lächle gequält.
Zoll Otterbach – nur noch zwei Kilometer, höre ich mich sagen. Mit einer Stimme, als bestellte ich einen Hotdog mit Senf.

Wir fahren den Grenzkanal entlang, in dem in früheren Zeiten sommers noch gebadet werden konnte.
Der Regen hat nachgelassen, haucht sie. Können Sie bitte anhalten?
Hier, so knapp vor der Grenze?
Ich fahre ein Stück waldeinwärts und, auf ihren Befehl hin, noch etwas tiefer hinein.
Ihre Augen funkeln wild. Nicht schauen! Und nicht wieder wegfahren!
Ich sehe, wie sie sich bei der dritten Baumreihe abseits des Waldweges in die Luft setzt, den Rücken an einen Stamm gelehnt. Ein ovaler Mond legt fahl und stumm sein Licht in die Bäume, ehe er endgültig von einer Wolkenschicht verdeckt wird.
Ich denke an den Traum, an den engen fenster- und türlosen Raum. Vor mir liegt etwas am Boden, das um mich weint.
Für einen Moment kommt mir alles sinnlos vor. Aber ich lasse mir nichts anmerken. Ich nicke fröhlich, als sie zusteigt, und rede mir ein, dass ich ihr vorsichtiges Lächeln mag, hinter dem noch so viel verborgen zu liegen scheint. So könnte Noemi in ein paar Jahren sein – ein verrückter Gedanke.
Bereit zur Weiterflucht?, sage ich mit gut gelaunter Stimme. Der Bordcomputer bringt uns direkt ins Paradies!
Ich wende das Raumschiff in einer satten Linksschlaufe und presche durch den dunklen Wald. Die Bäume auf beiden Seiten des Weges rücken enger zusammen, bilden einen schmalen, tückischen Korridor, aber ich schaffe es, uns sicher hindurchzusteuern.
Halt! So halte doch!
Sie duzt mich in ihrer plötzlichen Aufgeregtheit. Dem spitzen Schrei, den sie ausgestoßen hat, folgt das Bremsen der Räder, das Absterben des Motors. Irgendwo aus dem Geäst flattern ein paar Federkörper. Dann ist es still.
Sehen Sie es auch?, zischt sie. Schalten Sie die Scheinwerfer wieder ein! Da, sehen Sie?
Ja, jetzt sehe ich es auch. Vielleicht ein Reh, ein Hund. Ich versuche, meinen Blick zu schärfen. Sehe es langsam aus dem Unterholz auf den Weg vor uns kriechen. Gut zehn Meter entfernt, schätze ich.
An der Stelle, wo sie meinen Arm umgreift, wird es warm, doch ich habe jetzt für derartige Empfindungen keine Zeit.
Ich schaue vorsichtshalber in den Rückspiegel; hinter meinem Gesicht ist es stockdunkel.
Du meine Güte, ein Mensch. Sehen Sie doch. Es ist ein Mensch!
Ihre Nägel haben sich in meinen Oberarm gegraben. Ich rolle im Schritttempo näher heran.
Es ist ein Mensch!, wiederholt sie ständig.
Ja, aber sehen sie sein Gesicht?, unterbreche ich sie schließlich.
Nein.
Eben.
Was eben?
Ich schalte die Scheinwerfer wieder aus, um es zu demonstrieren.
Du meine Güte. Ein Flüchtling. Einer von denen. Weshalb liegt er da am Boden?
Dem geht es nicht gut.
Das sehe ich selbst. Er bewegt sich ja kaum! Wer macht so was?
Die Armee, die Polizei, die Grenzwächter, sage ich trocken.
Das ist Ihre Vermutung. Vielleicht hat es unter den Flüchtlingen eine Rangelei gegeben.
Ich merke, wie ich schlagartig müde werde, und schalte die Scheinwerfer wieder ein.
Er lebt noch. Er kriecht. Das ist mir alles zu viel. Wir sollten schon lange von hier weg sein!
Ich schlucke leer. Meinen Sie? Ich weiß plötzlich nicht mehr.
Ihr Gesicht glänzt verbittert. Ich dachte, Sie seien stark. Nur geschwächt von einer gescheiterten Ehe, aber im Grunde genommen stark.
Sie sagt noch weitere Dinge, die mich nicht mehr erreichen. Ich höre sie zwar, aber ich bin unfähig zu antworten. Ich bin in den letzten Minuten bewegungslos geworden. Als hätte mich eine höhere Macht in diese Situation eingeschweißt. Der Flüchtling ist nochmals ein Stück näher auf uns zugekrochen.
Das ist mein Traum, höre ich mich sagen. Davon habe ich geträumt.
Rose starrt mich unentwegt an. Ich spüre ihren vernichtenden Blick auf mir. Ich werde plötzlich ganz ruhig. Ich schalte die Scheinwerfer endgültig aus und starre in die Dunkelheit. Rose, will ich sagen. Jetzt wird alles gut. Ich bin mir selber fremd geworden.

Sie schlägt die Wagentür zu. Ihre Panik hat etwas Gespenstisches. Nach Hause, nach Hause – hält sich das Echo ihrer Stimme noch eine Weile an den Herbstblättern fest, die über meinem Kopf sanft im Wind rauschen. Rose wankt um das Auto Richtung Hauptstraße, ihre Augen finden in der Dunkelheit keinen Halt. Ihr ist offenbar nicht in den Sinn gekommen, die Taschenlampen-App auf ihrem Handy zu benutzen. Der Gedanke, ebenfalls im Dunkeln loszugehen, fühlt sich immer richtiger an.

Ich bin inzwischen auch ausgestiegen. Schritt für Schritt berührt mich meine eigene Angst. Ich stöhne leise und bleibe stehen. Ich wage mich erst weiter vor, als ein leises Atmen um Aufmerksamkeit ringt.
Ich sehe panisch aufgerissene Augen. Hallo?, will ich sagen und bücke mich runter. Der dunkle Fleck versucht, die Krawatte, die lose an meinem Hals pendelt, zu fassen und greift dabei immer wieder ins Leere. Ich fange diese Bewegungen mit meiner Hand ab, als ertastete ich etwas, das tief in mir erklingt und mir lange Zeit verborgen war, vielleicht von mir selbst einst verbannt. Ich kann die andere Haut riechen, als ich meinen Körper auf den feuchten Waldboden lege, und spüre das Blut an meiner Wange.
Ich flüstere: Ist es nicht so, dass wir alle an denselben Ort wollen?
Und in die Wunde, die neben mir zittert, drücke ich wie ein kleines Kind mein ganzes Gesicht, sauge gierig daran und dehne mich hinaus ins Grenzenlose.

(Erzählung aus «Fliehende Lichter», Erzählungen, Kommode Verlag, 2017)

Lu Bonauer «Fliehende Lichter», Erzählungen, Kommode Verlag, 2017, 208 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-9524626-3-8

Lu Bonauer, geboren 1973 in Basel, schreibt Prosa und Lyrik. Seine Texte sind in mehreren Anthologien erschienen und wurden bei diversen Wettbewerben ausgezeichnet, unter anderem war er Gewinner des Schreibwettbewerbs OpenNet der Solothurner Literaturtage und des Monatstextes März 2002 des Literaturhaus Zürich. 2008 und 2016 erhielt er jeweils für die Romanprojekte Herzschlag hinter Stein und OLI’s God einen Förderpreis des Fachausschuss Literatur BS/BL. Lu Bonauer erhielt im Frühjahr 2019 einen Werkbeitrag von der Kulturstiftung Pro Helvetia.

Lu Bonauer «Die Liebenden bei den Dünen», Kommode Verlag

Was bedeutet es, sich als Paar ewige Treue zu versprechen. Silas und Romy versprachen sich schon früh mehr als nur ein gemeinsames Leben zu teilen. Sollte dereinst jemand der beiden durch Krankheit zuerst sterben, würde man es gemeinsam tun. Nicht nur „bis dass der Tod euch scheidet“, sondern darüber hinaus. Und als man bei Romy die Diagnose Alzheimer stellt, wird aus dem Versprechen Absicht. 

Silas und Romy sind seit Jahrzehnten ein Paar, ein alt gewordenes Paar. Zwei, die ihr Glück in einem kleinen, einsamen Haus in den Dünen gefunden haben, mit Sicht aufs Meer, das stetige Rauschen unterlegt. Wie jeden Morgen beginnen sie den Tag gemeinsam, Spiegeleier, Brötchen und schwarzen Kaffee. Danach ein Spaziergang bis zum nahen Hof, im Gehen nicht immer nebeneinander im Gleichschritt, aber immer miteinander. Schon als junge Leute gehörten sie nicht zur lauten Sorte. Das einzige, was laut werden konnte, war ihre Leidenschaft, sei es in der Liebe oder in Gesprächen. Sie lernten sich als junge Studenten auf dem Campus kennen, an einem flirrend heissen Tag, als sich Silas für einmal mutig und entschlossen an die Seite der lesenden Romy setzte. „Romeo und Julia“. Aus dem Gespräch über das Drama einer grossen Liebe wurde ihre grosse Liebe, die alles überdauern sollte. 

Lu Bonauer «Die Liebenden bei den Dünen», Kommode Verlag, 2020, 160 Seiten, CHF 17.00, ISBN 978-3-9525014-3-6

Dann sollte es ein Dienstag im Mai sein, ein Abend. Silas hatte als ehemaliger Arzt alles organisiert. Das Natrium-Pentobarbital-Pulver, zwei Schaukelstühle mit Sicht aufs Meer, dazwischen ein kleiner runder Tisch, ein Tablett mit zwei Gläsern. „Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben“, sagt sie, er dasselbe. Sie trinken gemeinsam aus den Gläsern, stellen die Gläser hin, lehnen sich zurück und halten sich an den Händen. Es sollte kommen, im Schlaf und sie beide hinüber begleiten. 

„Ich möchte gehen, Silas, das Leben ist nur ein Geschenk, wenn es als ganzer Mensch erlebt werden kann. Aber ohne Gedächtnis bist du kein Mensch mehr.“

Aber wenig später wacht Silas wieder auf. Romys Hand ist ihm entglitten, Romys Leben ist ihm entglitten. Sie sitzt tot im Stuhl neben ihm und Silas durchfährt der Schmerz des Verlassenseins vielfach. Da war doch ein Versprechen. Immer und immer wieder. „Denk an unser Versprechen.“ Und dann die Vorbereitungen, der genau besprochene Plan. Die Akribie, der vorbestimmte Tag, die genaue Uhrzeit, nichts dem Zufall überlassen. Sie lassen sich im Stich, verlassen einander ausgerechnet im schwersten Moment, diesem einen, unwiederbringlichen.

Es ist nicht nur die über ihn einbrechende Einsamkeit, das Gefühl, verlassen zu sein. War hinter dem Umstand, dass sein Trank nicht tödlich war, Absicht? Wollte Romy trotz des Versprechens gar nicht den gemeinsamen Schritt, sondern nur den letzten Liebesbeweis? Warum liess sie ihn alleine mit ihrer Entscheidung, dieses eine, alles entscheidende Mal? Einzuholen war sie nicht mehr.
Silas taumelt durch eine Nacht, die er nicht mehr wollte, eine Welt, von der er sich verabschiedet hatte, weil alle Welt in seiner Liebe zu seiner Frau war. Wie durch einen Blitzschlag ernüchtert.

Die Novelle von Lu Bonauer ist eine Liebesgeschichte, die berührt und Fragen stellt. Vor nicht allzu lange Zeit ging ich mit meiner Frau spazieren. Wir sind seit über 35 Jahren verheiratet. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns der Zufall gleichzeitig sterben lässt, ist verschwindend klein. Jemand von uns beiden wird alleine bleiben, zurück bleiben Und doch tut man so, als blieben die Stränge auf ewig parallel. Romy und Silas wählten den gemeinsamen Prellbock, den gemeinsamen Ausstieg, das gemeinsame Ende. Aber Silas muss feststellen, dass die akribische Planung Fassade war, er ausgerechnet in der schwersten Stunde einer „Lüge“ aufgesessen ist. Wohin mit Gefühlen, die sich nicht kontrollieren lassen.

Lu Bonauers Novelle „Die Liebenden bei den Dünen“ ist ein zartes Stück Literatur, dem man nach dem Lesen gerne einen besonderen Platz in seiner Bibliothek geben möchte!

© Lu Bonauer

Interview mit Lu Bonauer

Shakespeares „Romeo und Julia“ endet, Ihre Novelle beginnt mit dem maximalen Drama; mit der Gewissheit, nach Jahrzehnten Harmonie und Zweisamkeit unwiderruflich  und entgegen des gemeinsamen Versprechens der unsterblichen Liebe, verlassen worden zu sein. Was war die Initialzündung zu Ihrer Novelle?
Ich sehe mich grundsätzlich als Schriftsteller, dessen Stoffe existenziellen Fragen nachspüren. In diesem Text stehen zwei Menschen vor einer Grenze, dem Tod, den sie zu ihrem gemeinsamen Tod machen wollten, um zusammen weitergehen zu können. Aber dann bleibt Silas alleine zurück mit all seinen Gefühlen, seiner Trauer, seinem Schmerz. Bei „Die Liebenden bei den Dünen“ hat mich diese grosse Liebe zweier Menschen beschäftigt, die ein Leben lang zusammengehalten haben, und die sich dieser letzten grossen Herausforderung stellen müssen.

Sie schreiben oft über „altersbedingte Themen“. Ist das nicht eher ungewöhnlich für Ihr Alter?
Diese Frage habe ich mir auch schon oft gestellt. Vielleicht schreibe ich, wenn ich alt werden darf, über Kindheit und Jugend (schmunzelt). Die momentane Antwort ist: Ich weiss es nicht, nicht wirklich. Es ist vielmehr das Interesse für und die Achtung vor alten Menschen und ihren Lebensgeschichten. Einmal hoffentlich selber zurückblicken zu können. Sich jetzt schon mit einem Ich und auch Du in einer noch etwas fernen Zukunft zu befassen, das hat auch etwas Befreiendes und Unverkrampftes, insbesondere, wenn der tägliche Irrsinn uns den Atem zu nehmen droht.

Sie beschreiben eindringlich die Zerrissenheit zwischen Enttäuschung, Verzweiflung, Einsamkeit und Schmerz. Müsste man als kluger Mensch nicht gelernt haben, dass die wirklich wichtigen Dinge nicht planbar sind, erst recht dann nicht, wenn sich deren Verwirklichung auf die Zuverlässigkeit anderer stützt?
Ja, da gebe ich Ihnen recht. Erfüllung und Glück sind nicht planbar. Hinzukommt, dass das eigene und gemeinsame Glück kaum in jeder Lebenslage übereinstimmen. Was brauchen wir, um glücklich zu sein? Im besten Fall existieren in einer Partnerschaft gleiche Vorstellungen dazu, um zu zweit einen Plan vom Glück umzusetzen. Ohne beidseitige Zuversicht ist die Unzuverlässigkeit nicht weit. Und das Gefühl, auch in der Liebe frei zu sein, kann sich niemals entwickeln. Romy und Silas sind fest verwurzelt in der Liebe zueinander. Umso schwieriger ist es für Silas, sich dem Bewusstsein zu stellen, dass der Mensch letztlich in seinen Entscheidungen frei ist, ein freies Wesen ist, frei auf der Welt, frei im Kosmos.

Aus der Sicht Romys verstehe ich ihr Handeln, ihre AbsichtenIch verstehe die Verzweiflung Silas ebenso. Und das macht den Reiz der Novelle aus. Die Lektüre Ihres Buches provoziert die eigene Auseinandersetzung mit der Frage, woran Liebe scheitern könnte. Scheitert man nicht viel mehr an sich selbst?
Natürlich. Ob unerfüllte Liebe, zerrüttete oder zerbrochene Liebe, das Eigene verpflichtet dazu, das einst oder vermeintlich Gemeinsame zu hinter- oder zu erfragen. Das Scheitern gehört zum Glück dazu. Nicht zu scheitern bedeutet allenfalls, im Unglück zu verharren. Sich das Scheitern einzugestehen, ist bekanntlich oft schwierig. Das Eingeständnis, gescheitert zu sein, ist ein Akt der Sorgsamkeit gegenüber sich und dem eigenen Leben. Im Buch stellt sich Silas diesem Akt. Aber ist es wirklich ein Scheitern? Romy und er haben das gemeinsame Glück bis zuletzt bewahren können. Und nun fordert Romy ihn nochmals heraus und sie tut es für eben diese Liebe, die ihr genauso das Wichtigste ist.

Romy emanzipiert sich in ihrem letzten Schritt. Silas dachte, Sie hätten ihre Ehe stets in vollkommener Übereinstimmung gelebt. Ist diese Liebesgeschichte also auch ein Abgesang auf die Ideale einer traditionellen Ehe?
Den Stoff, den ich im Buch bearbeite, stellt die Liebe als etwas Universales und zugleich Persönliches dar . Und somit wirkt die Liebe fern eines institutionellen Kraftfeldes. Das war mir beim Schreiben wichtig. Jede Liebe ist aussergewöhnlich auf ihre Weise. Bei Romy und Silas wurzelt das Aussergewöhnliche in ihrer Verbundenheit zum Buch „Romeo und Julia“, einer Geschichte, die ein gegenseitiges Versprechen auslöst und somit in ihre eigene Geschichte bis zuletzt hineinatmet.

Versprechen scheinen gemacht zu sein, um sie zu brechen. Nirgends so sehr wie in der Liebe. „Unsterbliche Liebe“ – das Maximum eines Versprechens. Muss man daran glauben, damit man es wagen kann?
Oh ja, der Glaube versetzt bekanntlich Berge. Und hinter den Bergen liegt irgendwo das Meer. Und das Meer spielt eine wichtige Rolle im Buch. Wenn man gewillt ist, das Weite, das Unbekannte immer wieder von Neuem zu erforschen. Weshalb sollte so etwas „Kühnes“ (lacht) wie die unsterbliche Liebe nicht möglich sein?

Lu Bonauer, geboren 1973 in Basel, schreibt Prosa und Lyrik. Seine Texte sind in mehreren Anthologien erschienen und wurden bei diversen Wettbewerben ausgezeichnet, unter anderem war er Gewinner des Schreibwettbewerbs OpenNet der Solothurner Literaturtage und des Monatstextes März 2002 des Literaturhaus Zürich. 2008 und 2016 erhielt er jeweils für die Romanprojekte „Herzschlag hinter Stein und «OLIs God“ einen Förderpreis des Fachausschuss Literatur BS/BL. Lu Bonauer erhielt im Frühjahr 2019 einen Werkbeitrag von der Kulturstiftung Pro Helvetia.

Beitragsbild © Lu Bonauer

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Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

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