Dragica Rajčić Holzner im Kunstmuseum

Nicht ohne Grund ist dem aktuellen Roman «Liebe um Liebe» ein Zitat aus Ingeborg Bachmanns Roman «Malina» vorangesetzt. So wie der Roman der grossen literarischen Schwester ein Emanzipationsroman ist, so ist es auch  jener von Dragica Rajčić Holzner; die Geschichte eines Auf- und Ausbruchs.

Die Lesung hätte schon vor eineinhalb Jahren stattfinden sollen. Dank der Kooperation mit dem Kunstmuseum Kartause Ittingen, ihrer grosszügigen Unterstützung und der unkomplizierten Zusammenarbeit mit dem Team des Kunstmuseums konnte nun endlich die Lesung der Trägerin des Schweizer Literaturpreises 2021 durchgeführt werden. Dragica Rajčić Holzner, die 1959 in Split geboren wurde und kroatisch sprechend und schreibend ihre ersten Texte veröffentlichte, lebt seit 1978 mit Unterbrüchen in der Schweiz, wo sie sich neben ihrem lyrischen und erzählerischen Schreiben auch in der Bildung und in soziokulturellen Projekten engagiert. Wie sehr sie von Leidenschaft und Engagement getragen und geleitet wird, erfuhr auch das Publikum im Kunstmuseum, wo die Autorin neben ihrer Lesung den Gästen einen tiefen Einblick in ihr Denken gewährte.

Dragica Rajčić Holzner mit Moderatorin Cornelia Mechler

«Liebe um Liebe» ist die Geschichte einer jungen Frau, die Geschichte von Ana. Dragica Rajčić Holzner machte Ana schon mehrfach zu einer ihrer Leitfiguren, als Theater, dann als lyrische Prosa und mit «Liebe um Liebe» als Roman. Eine Leitfigur, mit der sie nicht ihre eigene Geschichte, aber die ihr ganz eigene Geschichte erzählt. Die Geschichte einer jungen Frau, die auszubrechen versucht, gleich mehrfach und daran zu scheitern droht. Ein Roman über die vielfachen Formen der Gewalt, des Übergriffs. Und doch ist «Liebe um Liebe» die Geschichte einer Liebe, ein Logbuch der Liebe. Ein Buch über die Suche nach der Liebe, über die Spur all jener Erinnerungen, die Ana auf ihrem beschwerlichem Weg durch ihr Leben, durch all die Befreiungsversuche hinter sich zurücklässt. Über eine Frau, die sich nicht nur in ihrem Leben sucht und versucht, auch in ihrer Sprache, die eine Sprache, eine Stimme finden will, mit der sie mehr als bloss schildern will. Sie will dichten, ihr Leben verdichten. 

«Liebe um Liebe» ist keine Autobiographie, auch wenn nicht vermeidbar ist, dass vieles zu Verbindungen lockt. Aber wohl nur, weil wir in einer Zeit leben, in der alles mit dem Etikett «Nach einer wahren Begebenheit» deklariert werden muss, um Verkaufszahlen zu steigern. Ausgerechnet in der Literatur, in der nicht die Wahrheit, dafür umso mehr die Wahrhaftigkeit und die Wahrnehmung zentrale Rollen spielen sollten.

«Die Verschiebung der Buchpremiere von „Liebe um Liebe“, einige nennen es Taufe, obwohl nicht geklärt ist, ob ungetaufte Bücher beim Sterben dann auf der Erde bleiben statt in den Himmel oder in die Hölle zu wandern, fand mit einen Jahr Verspätung doch noch statt. Der Ort hat sich auch geändert; statt das Bodmanhaus in Gottlieben wie durch Zauberhand verwandelt in Kloster Kartause Ittingen, ins Thurgauische Kunstmuseum.
Der Herbsttag auf dem Weg von Frauenfeld nach Ittingen zeigte den Thurgau so vergoldet, wie ich es noch nie gesehen habe, auch wenn ich vor jeder Lesung umkomme. An diesem Tag lohnte sich, sehend zu leben.
Die Kunst draussen, die angeschriebenen Pflanzen, die Rosen, am Boden liegen gelassene Äpfel, alles begleitete mich auf dem Weg ins Hotel. Der Kubus inmitten des Zimmers hat wahrscheinlich Huodini ausgedacht. Unerwartet tauchen Gegenstände aus ihm auf, dort eine Schublade, dort ein Kühlschrank, am nächsten Tag sprach ein Fernseher aus dem Wand. Die Architekten hatten ihr Agatha-Christie-Flair voll ausgelebt. Wenn noch ein paar Leselampen eingebaut gewesen wären, wäre man sich in einer Zuckerberg’schen Enterprise vorgekommen, mega oder Meta ohnehin.
Die Lesung im Keller möchte ich nicht beschreiben, weil mich die Bühne jedes Mal sterben lässt und ich glänze wie diese Blätter am Wind, um wenigstens den Kopf vorübergehend gerettet zu haben. Die Moderatorin Cornelia Mechler und der Gastgeber Gallus Frei-Tomic waren so warm und herzlich, dass ich sie hier untertrieben meine Engel nennen könnte.
Beim anschliessenden Signieren hatte ich eine Begegnung mit einem Leser, welcher mich an eine Radiosendung von Radio Aktuell St.Gallen erinnerte und deshalb nach dreissig Jahren zu mir kam, um sich bei mir zu bedanken. Einen langen Augenblick lang schauten wie uns in die Augen. Ich begriff den Moment als Essenz der Macht der Wörter. Wir umarmten uns wie zwei Eingeweihte, nicht nur in ein literarisches, sondern auch in ein seelisches Geheimnis.
Über Wild und Rotkraut, über Wein und Gespräche am Tisch sage ich nur so viel: Es war köstlich, beides, genau so wie das Morgenessen, Weltliteraturgespräch mit Gallus Frei-Tomic. Wie der Leiter des Thurgauer Kunstmuseums Markus Landert am Abend davor richtig gesagt hatte; man kann freischaffende Künstler nicht genug verwöhnen für das, was sie von sich der Gesellschaft geben.
So war es! Es war mehr als Verwöhnung, es war Herzensangelegenheit.
Danke!» Dragica Rajčić Holzner

«Dragica Rajčić Holzner erzählt nicht ihre Geschichte. Nicht ihr Schicksal, schon gar nicht ihre eigene Biographie, aber das Leben der Vergessenen, all jener Frauen, die mit einem unendlich scheinenden Reservoir an Hoffnung und Liebe scheitern.»

Rezension von «Glück» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Liebe um Liebe» auf literaturblatt.ch

Dragica Rajčić Holzner «Liebe um Liebe», Matthes und Seitz

Ana sucht einen Ausweg aus patriarchischen Strukturen in einem kroatischen Dorf namens Glück. Sie verliebt sich in Igor, flieht aus der steinernen Umklammerung und strandet weit weg über dem Meer an einem eigentlichen Sehnsuchtsort, ernüchtert und desillusioniert in einem Frauenhaus, geschlagen nicht nur von ihrem Mann.

«Liebe um Liebe» ist das romangewordene Pendant zu ihrem vorletzten Buch «Glück», das aus einem Theaterstück entstand und mit dem gleichen Personal die Geschichte einer grossen Enttäuschung erzählt. Die Geschichte von Ana Jagoda, einer jungen Frau, die in sich den grossen Drang verspürt, den Drang zu schreiben, Welten zu erschaffen, die aber eingeschnürt ist und wird, von einer Umgebung, aus deren Fesseln sie sich nicht befreien kann. Ana wächst in einem kleinen Dorf in den kroatischen Bergen auf, einem Dorf namens «Glück». Aber Glück ist nicht ihr Glück. So wie ihr Leben nicht jenes Leben ist und wird, das sie eigentlich mit sich trägt. In einem Dorf, das von absolut patriarchischen Strukturen regiert wird, aber ebenso vom Alkohol, der Armut und der Aussichtslosigkeit, wird die noch junge Ana ungewollt schwanger. Sie verliebt sich in Igor, ihre Rettung. Aber was nach gemeinsamen Leben aussah, nach Perspektive, wird zu dem, was sich im Dorf Glück als Nährboden unweigerlich einstellt: Alles muss seinen vorbestimmten Platz einnehmen. Auch wenn dieser Platz zum Martyrium wird.

Ana treibt das Kind in ihrem Bauch ab. Ana verlässt Glück. Ana heiratet Igor und flieht mit ihm in den Norden der USA. Aber ihr krankhaft eifersüchtiger und aufbrausender Ehemann macht den Sehnsuchtsort zum Kampfgebiet. Ana leidet. Ihr Leben besteht nur aus Reaktion, lässt auch auf der andern Seite des Ozeans nie zu, was sie eigentlich gerne möchte; ihr Glück im Schreiben. Ana flieht weiter in ein Womanirrhaus. Dorthin, wo alle stranden, die nicht Frau über ihr eigenes Leben werden.

Auch wenn es die Autorin gar nicht will, Pauschalverurteilungen oder Pauschalurteile über den «bösen Mann» zu provozieren, ging es mir bei der Lektüre sehr nah, wie sehr Männer- und Frauenwelten auseinanderdriften können. Dragica Rajčić Holzner bewegt sich im vollen Bewusstsein zwischen Verständnis und Widerwillen aller Verurteilung gegenüber.

Dragica Rajčić Holzner «Liebe um Liebe», Matthes & Seitz, 2020, 167 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7518-0000-6

Dragica Rajčić Holzner beschäftigt sich schon seit 35 Jahren mit der Geschichte Anas. Der Stoff sei ihre Rettung gewesen, ihr Schiff, ihre Kontinuität, mit der sich die Autorin über Wasser hielt. So wie es das Dorf Glück mit seinen gemeisselten Strukturen gibt, noch immer gibt, so gibt es Ana, Frauen, Menschen, die ihr Glück nicht finden, obwohl die Sehnsucht und die Liebe sie wegtreibt. Anas Leben ist Realität. Aber noch viel mehr Realität ist die Sprache, die direkt unter die Haut geht, die mich als Leser erschaudern lässt. Eine Sprache, die all die Frauen sprechen lässt, die keine Stimme und keine Kraft mehr besitzen, stumm bleiben, die sich so sehr einschüchtern lassen, dass nichts ihr Leben aufregen lässt. Dragica Rajčić Holzner erzählt nicht ihre Geschichte. Nicht ihr Schicksal, schon gar nicht ihre eigene Biographie, aber das Leben der Vergessenen, all jener Frauen, die mit einem unendlich scheinenden Reservoir an Hoffnung und Liebe scheitern.

Auf die Frage, warum der Roman nicht mehr in der ihr so eigenen Grammatik einer «Exilantin» geschrieben und gedruckt ist, erklärt Dragica Rajčić Holzner; Männern würde man diesen Umstand ihrem künstlerischen Ausdruck zugestehen, als Teil ihres schöpferischen Tuns, ihres Ausdrucks. Frauen hingegen als Ausdruck ihres Unvermögens. Die Bücher zuvor verunsicherten jene, die Orthographie wie die steinernen Strukturen einer patriarchischen Gesellschaft unumstösslich betrachten. «Liebe um Liebe», bei Matthes & Seitz in Berlin erschienen und schon durch den traditionsreichen Verlag geadelt, nun «einwandfrei» orthographisch, schreckt all jene auf, die vermissen, was bisher verunsicherte. Allen Leuten recht getan!

In Dragica Rajčić Holzners Roman spüre ich die unsägliche Kraft der Poesie, die Kraft der Worte, die die Bahnen der Geschichte oft überstrahlen. Wenn die Geschichte durch die Sprache fast in den Hintergrund rückt und sich der Text wie das Echo der Geschichte anhört, die eigentliche Resonanz. Beeindruckend!

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Dragica Rajčić Holzner wurde für ihren Roman «Glück» der Schweizer Literaturpreis 2021 verliehen: «In «Glück» erzählt Dragica Rajčić Holzner von einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Liebe, die weder in der Erinnerung, noch in der räumlichen Entgrenzung Halt findet. Die Autorin zeigt eine Welt voller Zumutungen, die dem Leben ihrer Protagonistin mit jedem Schritt aus dem Heimatort hinaus mehr Möglichkeiten nimmt.
Die Autorin tut das in einer eigenwilligen, drängenden Sprache, die selbst auch Grenzen überschreitet und in der Enge der beschriebenen Lebensläufe unerwartete Freiheitsräume eröffnet.»

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Dragica Rajčić Holzner, 1959 in Split geboren, wuchs in Kroatien auf, bevor sie in die Schweiz zog. 1988 kehrte sie nach Kroatien zurück, arbeitete als Journalistin und gründete die Zeitung «Glas Kaštela». 1991 floh sie während der Jugoslawienkriege mit ihrer Familie in die Schweiz, wo sie sich in der Friedensarbeit engagierte. Zu ihrem Werk zählen auf Kroatisch und Deutsch verfasste Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke. Heute lebt Holzner in Zürich und Innsbruck. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis 1994.

Rezension von «Glück» auf literaturblatt.ch

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Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau