Rebekka Salm «1943», Auszug aus einer noch unveröffentlichten Arbeit, Plattform Gegenzauber

Vor dem Zugfenster lagen Äcker, nackte Sträucher und Bäume, vereinzelte Häuser und Ställe mit eingefallenen Ziegeldächern, wie in besseren Zeiten hingeworfen und dann vergessen. Alles schien mit Mehlstaub überzogen. In zwei Wochen war Weihnachten. Ihre Schwägerin Lieke hatte Emma angeboten, die Feiertage bei ihr zu verbringen. Doch Emma wusste, dass Lieke kaum genug für sich und die Kinder hatte.
Nicht genug Geld.
Nicht genug Kraft.
Sie sah Bahnhofsgebäude vorbeiziehen, ohne Rauchwolken an den Schornsteinen, als hielten sie den ganzen Winter durch den Atem an. Bahnübergänge mit hochgezogenen Schranken verharrten im lautlosen Gruss an den Führer. Krähen flogen auf. Träge schoben sie sich in den bleiernen Himmel über ihnen. Und obwohl die Vögel in Bewegung waren, schien die Welt leblos, eingefroren wie das Bild auf der Leinwand, wenn der Film riss.
Cees und Emma hatten sich im Kino kennengelernt.
Emma hatte sich an einem Sonntagnachmittag im September mit einer Freundin im Ufa-Kino am Rembrandtplein mit den samtroten Sitzen und dem abgebröckelten Stuck an der Decke verabredet. Es lief «Hauptsache glücklich» mit Hans Rühmann. Ein durchwegs banaler Film. Gerade als die beiden Hauptdarsteller erfuhren, dass die von ihnen erst geliehene und dann verlorene Brosche ein Vermögen wert war, fror das Bild auf der Leinwand ein und die Lichter im Saal gingen an.
«Wussten Sie, dass jedes Mal, wenn der Film reisst, er durch das Kleben ein Stückchen kürzer wird?»
Der Mann, der Emma angesprochen hatte, sass zu ihrer Linken. Er war so gross, dass sie sofort Mitleid hatte, mit der Person, die das Pech hatte, den Platz hinter ihm erwischt zu haben. Seine Haare waren blond und millimeterkurz geschnitten, die Augen blau. Die Schneidezähne standen schief und wenn er schluckte, hüpfte sein Adamsapfel lustig auf und ab. Die Schuhe, die kaum Platz fanden zwischen den Sitzreihen, waren zerkratzt und an zwei Stellen blitzen die Socken durchs aufgeplatzte Leder.
«Und wie oft muss dieser Film noch reissen, bis er verschwindet?», fragte Emma nun ihrerseits. Der Fremde lachte und hielt ihr die Hand hin. Elf Monate später hatten sie geheiratet. Nur sie beiden und die Trauzeugen, Cees Schwester Lieke und Emmas Bruder Willem.
Emma zog den Goldring aus ihrer Manteltasche, der an einem Haken neben dem Fenster hing. Sie probierte ihn an all ihren Fingern an. Das Material war kühl und abweisend, wie es auch Cees gewesen war, als sie sich im Krematorium an der Pienemanstraat von ihm verabschiedet hatte.
Sie konnte die Gravur auf der Innenseite des Rings lesen, ohne ihn vom Zeigfinger abstreifen zu müssen. «Vor altjid» stand darin. «Für immer». Und das Datum ihrer Hochzeit. Natürlich hatte Emma gewusst, dass «Für immer» lediglich eine Metapher für eine sehr lange Zeitdauer war. Fünfzig Jahre. Vielleicht mehr. Aber dreizehn Monate, da war sich Emma sicher, war weit entfernt von einer Ewigkeit. Sie fühlte sich betrogen. Von Gott. Nicht dass Emma an ihn glaubte, aber für einen Irrtum in dieser Grössenordnung konnte dennoch niemand anders verantwortlich sein als er.
Sie griff ein weiteres Mal in die Manteltasche und fischte Foto und Postkarte raus. Das Foto zeigte Cees und war im Jahr ihrer Hochzeit entstanden, als sie mit den Fahrrädern zur Karger Seenplatte gefahren waren. Cees hatte die Unterarme auf den Lenker gestützt, im Mundwinkel ein Grashalm. Das Haar etwas länger als bei ihrem ersten Treffen, vom Fahrtwind zerzaust. Die Augen direkt auf die Kamera gerichtet, einen Hunger im Blick. Hunger auf sie.
Hunger auf das Leben, das vor ihm lag.
Cees war nicht satt geworden.
Je mehr Emma sich zu erinnern versuchte, an die vielen Details, die alle zusammen Cees ausgemacht hatten, umso weniger gelang es ihr. Er war zu einem dunklen Fleck vor ihrem inneren Auge geworden. Ganz so, als hätte sie ihn zu lange im Gegenlicht betrachtet und dann den Blick auf den Schnee vor dem Zugfenster gerichtet. Mit jedem Meter, den sie sie sich ratternd von Cees entfernte, sah sie die Umrisse der Leerstelle, die er hinterliess, deutlicher.
Distanz schaffte Klarheit.
Heilung verschaffte sie nicht.
Ihr gebrochenes Herz rief mit jedem Schlag nach Cees wie ein kaputtes Morsegerät.
Emma hatte ihn einäschern lassen. Bei der Beerdigung hatte es geregnet wie aus Kübeln. Sie war mit ihrer Schwägerin am Grab gestanden. Beide hatten sie sich an ihre Schirme geklammert, in der Hoffnung, sie mögen ihnen Halt vor dem Ertrinken bieten. Emmas Bruder war zu dieser Zeit bereits im Untergrund und schrieb für die Widerstandszeitung «Het Parool». Ob er noch lebte oder nicht, Emma wusste es nicht. Nur mit einem Koffer war sie danach zu Lieke und den drei Kindern gezogen. Der Jüngste konnte noch nicht einmal laufen. Ihr Mann, ein jüdischer Kaufmann, war bereits Monate zuvor in Richtung Schweiz geflohen. Noch immer wartete Lieke auf eine Nachricht von ihm. Täglich stand sie am Fenster, gab vor, die Gardinen zu richten, die Nippes auf dem Fensterbrett neu zu arrangieren. Jeden Tag war der Briefträger an ihrer Haustür vorbeigegangen, unbeeindruckt vom regelmässigen Faltenwurf des Wohnzimmervorhangs oder der exakten Ausrichtung der Häkeldeckchen.
Emma hatte sich bei Lieke ins Wohnzimmer gesetzt, auf den Sessel aus grünem Samt und mit den schwarzlackierten Armstützen. Dort hatte sie ihre ganze Kraft darauf verwendet, nicht auseinanderzubrechen.
Sie spürte die Risse, die sich unter ihrer Haut über den ganzen Körper zogen, sich mehrfach kreuzten über der Brust. Die Bruchkanten rieben sich an ihrem Fleisch, machten sie wund, so dass jede Berührung, jede Umarmung ihren Schmerz vergrösserte. Sie sprach nur, wenn man sie etwas fragte, weinte nur, wenn niemand in der Nähe war. Das Ticken der Wanduhr mit den goldenen Zeigern, die im Wohnzimmer über dem Buffet aus Walnussholz hing, waren die Sprossen, an denen sie sich aus der Dunkelheit hinaus zurück ins Leben hangelte.
Tick-tick-tick.
Jeden Tag aufs Neue. Nur um nachts wieder ins Bodenlose zu fallen. Sie war eine Art weiblicher Sisyphos. Mit dem Unterschied, dass sie dem Tod kein Schnippchen geschlagen hatte, sondern der Tod ihr.
Ab und zu spielte sie mit den Kindern. Doch wenn sie ehrlich war, ertrug sie den Anblick der drei Buben kaum. Mit ihren hellblonden kurzen Haaren und den blauen Augen erinnerten sie Emma zu sehr an Cees. Ruben, der älteste, schien sogar die schiefe Zahnstellung seines Onkels geerbt zu haben. Auch sie hatten Kinder gewollt. Emma zwei, Cees drei. Sobald der Krieg vorbei war, so war der Plan gewesen, wollten sie ihre Koffer packen und nach Frankreich fahren. Sie wollte nach Paris, den Eiffelturm besteigen, durch den Louvre schlendern und unter herausgedrehten Markisen Milchkaffee trinken und dabei den Tauben zusehen, die von der Schönheit der Stadt unbeeindruckt nach den Krumen zwischen den Pflastersteinen pickten. Cees wollte in die Bretagne, gegen den Wind der Küste entlangwandern, Weissbrot in Sud tunken, in dem Muscheln mit weit aufgerissenen Mündern lagen und den Schiffen zusehen, wie sie schrumpften und in die Naht schlüpften, die Himmel und Erde am äussersten Ende der Welt zusammenhielt.
Italien hatte bereits kapituliert, Mussolini war in Gefangenschaft. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Hitler von den Alliierten besiegt und Europa befriedet werden würde. Und dann würden sie losziehen, Emma und Cees. Für immer war eine lange Zeit, da liess sich eine ordentliche Reise machen. Und danach eben Kinder. Zwei oder drei.
Gott hatte anders entschieden.
Dieser Gott, der anstelle eines Herzens ein harter Laib Brot in der Brust hatte.
Sie glättete den wollenen Rock und kniff die Augen zusammen. Nicht weinen. Die ältere Dame auf der anderen Seite des Gangs blickte schon wieder von ihrer Zeitung hoch und warf Emma missbilligende Blicke zu. Der Stoff hinter ihrem Kopf, der das Polster vor Abnutzung schützte, war so zerknittert wie ihr mürrisches Gesicht.
Draussen zerteilte Schneeregen den Himmel von oben links nach unten rechts. Die Flocken am Fenster konnten sich nicht halten, ergaben sich der Wärme, die aus dem Zugabteil zu ihnen herausdrückte und rutschten weg, hinterliessen nichts als feuchte Spuren auf Emmas Spiegelbild.
Ein Tropfen fiel auf die Postkarte auf ihrem Schoss.
Sie war von Beatrix. Auf der Vorderseite das Bild einer Holzbrücke, die über einen Fluss führte, dahinter ein Kirchturm, der über Häuserdächer ragte.
Berge waren nirgends zu sehen. Emma hatte immer geglaubt, dass die Schweiz aus nichts als Berge bestehe. Und aus Tälern zwischen den Bergen.
Beatrix war eine Freundin ihrer Mutter. Als Kind waren die beiden in Leiden in dieselbe Schulklasse gegangen und anschliessend hatten sie im gleichen Betrieb eine Ausbildung zur Damenschneiderin gemacht. Beatrix war die Trauzeugin gewesen, als Emmas Eltern geheiratet hatten. Anfangs der zwanziger Jahre war sie dann ihrem Ehemann, einem Geschichtsprofessor, in die Schweiz gefolgt. Emma hatte Beatrix danach nur noch einmal gesehen, an der Beerdigung ihrer Mutter. Da war Deutschland gerade in Polen einmarschiert.
Nach Cees Tod hatte Emma ihr einen Brief geschrieben. Die Antwort hatte der Briefträger vor wenigen Tagen in Liekes Briefschlitz in der Haustür geschoben. Liekes hatte geweint.
Aus Freude, dass Emma einen Weg nach draussen offenstand.
Aus Enttäuschung, dass die Postkarte nicht den Namen ihres Mannes als Absender trug.

Rebekka Salm, wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin und Erwachsenenbildnerin im Migrationsbereich und ist Mutter einer Tochter. Publikationen in verschiedenen Literaturformaten, 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch «Das Schaukelpferd in Bichsels Garten» (2021) erschienen. 2022 erschien bei Knapp ihr Debüt «Die Dinge beim Namen«. 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur. 

Beitragsbild © Timo Orubolo

Rebekka Salm «Die Dinge beim Namen», Knapp

Ein Dorf im Irgendwo; ein paar Häuser, eine Selbstbedienungstankstelle, ein Laden, eine Schule, ein Wirtshaus, eine Metzgerei, eine leere Kirche. Ein Roman von einem, der heimlich schreibt, einem pensionierten Polizisten, einem Etablissement, vielen toten Käfern und Geheimnissen, die wohlweisslich unter dem Teppich der Normalität bleiben sollen, auch wenn man sie dorthin prügeln muss. „Die Dinge beim Namen“ redet mit viel Liebe Tacheles. Das Romandebüt von Rebekka Salm ist eine Perle!

Es gibt Bücher, die unterhalten. Es gibt aber auch Bücher, die offenbaren. Es gibt Bücher, die mir gefallen. Es gibt aber auch Bücher, die mir mehr als nur gefallen, die mich beeindrucken, die bei mir eine Welle der Bewunderung auslösen, mich rauschig machen, mir die Kraft der Literatur beweisen, jene schöpferische Kraft, die vom Kunstwerk, dem Buch, auf mich, den Leser, herüberschwappen. Das sind jene Bücher, die man nach der Lektüre nicht so einfach ins Bücherregal schieben will, denen man für eine Weile ein samtig rotes Kissen und einen Scheinwerfer gönnt. 

«Gewohnheit macht Liebe. Und Liebe macht Gewohnheit.»

„Die Dinge beim Namen“ von Rebekka Salm ist so ein Buch. Ein Dorfroman, von denen in den letzten Jahren inflationär viele erschienen sind. Aber einer, der es in sich hat. Der das Dorf und all seine Mechanismen vorführt und entlarvt, dieses scheinbar feine Geflecht, das sich wie ein klebriges Gespinn um die Füsse der Bewohner wickelt und unausweichlich stolpern lässt. Kein prosperierendes Dorf, auch wenn es eine Neubausiedlung gibt. Aber dort wohnen bloss Leute, die morgens in ihren klimatisierten Autos aus der geheizten Tiefgarage an ihre klimatisierten Arbeitsplätze fahren. „Die Dinge beim Namen“ ist ein Roman über die Alteingesessenen, die schon immer da waren, in der Dorfschule als MitschülerInnen, später als Jugendliche hinter der Turnhalle, dann hineingerutscht in Ehe und Familie und drin geblieben, bis Bitterkeit, Ernüchterung und Frustration Ventile suchen, bei denen es ganz ordentlich zur Sache geht. Ausbrüche, die dazugehören, von denen man weiss, über die man schweigt, die man toleriert, weil sie erst möglich machen, dass die dampfende Kacke keinen Krater reisst.

«Ich glaube, Träume sind aus Geschichten. Und wir alle sind aus Geschichten gemacht.»

Rebekka Salm «Die Dinge beim Namen», Knapp, 2022, 182 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-907334-00-3

Wann alles begonnen hat, weiss niemand. Vielleicht an jenem Sommerabend vor ein paar Jahrzehnten. Beim Unterhaltungsabend des Musikvereins. Im Halbdunkel beim Eingang zum Gerätespeicher der Turnhalle. Ein junger Mann küsst eine Frau. Sie liebt ihn nicht und er liebt sie nicht. Aber wenn er will, soll sie wollen. Vielleicht beginnt die Geschichte aber erst viel später, als Vollenweider, der damals zusah und den Mut nicht fand einzuschreiten, die Geschichte aufschreibt. Alles aufschreibt, in ein grosses Kuvert packt und die Seiten an einen Verlag schickt, in der Hoffnung, daraus werde mehr als bloss eine Geschichte. Aber wahrscheinlich begann die Geschichte schon viel früher, ist jener Moment bei der Turnhalle nur das Kippen einer der vielen Dominosteine, die in diesem Dorf dauernd fallen, wie in Zeitlupe und doch unaufhaltsam, wie ein Naturgesetz. Vollenweider schreibt schon immer, seit er schreiben kann. Über den Selbstmord seines Bruders, die unglückliche Liebe zu Sandra, den frühen Tod seiner Mutter und die Schläge seines Vaters. Auch dann noch, als man ihm im Dunkeln mitten auf der Dorfstrasse zusammenschlägt. Denn jenes Mädchen, jene junge Frau, war Sandra, seine Liebe.

«Die grössten Reichtümer aber, die der Mensch besitzen kann, sind Geld und Geschichten. Beides bedeutet Macht.»

Aber „Die Dinge beim Namen“ ist mehr als die Geschichte von Vollenweider und seiner Geschichte. Da ist Freddy, der nach dem Tod seiner Eltern allein in seinem Haus lebt. Er sammelt Käfer. Weiss alles über Käfer. Kauft sich zwischendurch auch einmal ein seltenes Exemplar, spiesst sie nach seinen Ausflügen auf Nadeln und lässt sie sterben. Bis sie beschriftet und in Ordnung gebracht Teil seiner Sammlung sind. Niemand nimmt Freddy ernst. Oder Chantal, die am Dorfrand, in der Rosenegg, wo weit und breit keine Rosen blühen, zwischen Sägerei und Selbstbedienungstankstelle, den Männern von nah und fern das bietet, was ihnen in den Schlafzimmern zuhause verwehrt bleibt. Nicht nur Sex, eine unkomplizierte Nummer. Sex ist meist nur das schnelle Vorspiel dessen, was Chantals Kunden viel wichtiger zu sein scheint; Mann will reden, Mann will ein Stück Illusion, ein Stück heile Welt.

«Das war er wieder, der Schmerz, der sich seit Jahrzehnten durch Beats Brust frass wie der Holzwurm durchs Gebälk seines Schlafzimmers.»

In Rebekka Salms packendem und faszinierenden Romandebüt blickt man durch zwölf Augenpaare auf das, was unter der Dorfoberfläche brodelt, seit Jahrzehnten, einmal mehr, einmal weniger. Rebekka Salms klug erzählter Roman, dieses feinmaschige Netz aus Geschichten und Charakteren, verblüfft durch seinen Witz, seine kraftvolle Sprache und den gleichwohl grossen Respekt vor dem Personal. So sehr sie alle gefangen sind von den ehernen Gesetzen einer trügerischen Dorfidylle, so sehr sind sie Opfer ihrer selbst, der Unfähigkeit auszubrechen, sich dem scheinbar Unausweichlichen entgegenzustellen. Rebekka Salm erzählt, als würde eine Billardkugel eine nächste in Bewegung bringen, die Ordnung in diesem Wimmelbild auf den Kopf stellen. Und nicht zuletzt sind die Farben ihres Erzählens derart intensiv, das ich kaum glauben kann, dass dies ein Debüt sein soll. Und dann sind da noch diese Sätze. Extrahiert man sie aus ihrem Kontext, werden sie zu Perlen, die man bei zu unachtsamen, zu schnellem Lesen allzu leicht übersieht. Sätze, die funkeln, die das Licht brechen, vielfarbig werden!

© Rebekka Salm

Interview

Ich spüre deine Lust, deine Freude, deinen Witz, deinen Schalk. Natürlich weiss ich, wie viel Knochenarbeit, wie viel Energie und Zeit es braucht, bis ein Buch zur Lektüre bereitliegt. Wie schaffst du es, derart viel Esprit in ein Buch zu packen, mich glauben zu lassen, das Schreiben ginge so flockig leicht wie die Lektüre deines Romans?
Was bin ich froh, dass die Lektüre des Romans nicht ein ähnlicher «Chnorz» ist, wie es der Schreibprozess zeitweise war.
Am Anfang fällt mir das Schreiben meist leicht. Ich habe Bilder im Kopf. Figuren gehen, humpeln oder schlurfen durch meine Gedanken. Die Sonntagshosen der Männer haben Bügelfalten. Einer raucht Pfeife. Kannst du den Tabak riechen? Ich bringe zu Papier, was ich vor meinem inneren Auge sehe. Das geht ganz leicht. Dann lege ich den Stift beiseite und lese durch, was da steht auf dem Papier. Jetzt scheinen mir die Bilder, die ich in Worte gefasst habe, unpräzise, platt und wenig originell. Ich formuliere also um, ersetze Verben durch treffendere Verben, streiche Adjektive. Das ist die Phase, in der ich zweifle, an mir und am Text. Wenn ich aber durchhalte, nur lange genug schreibe, umformuliere und streiche, erreiche ich mit etwas Glück irgendwann den Punkt, an dem mir das Geschriebene gefällt. Der «Chnorz» löst sich auf. Die Bilder auf dem Papier stimmen nun mit den Bildern in meinem Kopf überein.

Neben all der Fabulierkunst, die Vielfarbigkeit, den Abgründen und Wahrheiten erzählt dein Roman von den Fallgruben des Lebens, den Fesseln, denen man scheinbar nicht entkommen kann, den ehernen Gesetzen, die Leben dominieren. Ist dein Schreiben dein Messer gegen Fesseln?
Nein, das Schreiben ist mir kein Messer. Das Schreiben ist mir eher ein Reissbrett, auf dem ich die Fesseln und Fallgruben des Lebens präzise aufzeichnen und vermessen kann.
Das bringt sie nicht zum Verschwinden, leider. Aber dadurch, dass ich nun ihre genaue Lage, Grösse und Beschaffenheit kenne, verlieren sie ihre diffuse Bedrohlichkeit. Und damit lässt es sich leben.

Ich bin sicher, dass du bei 99% aller LeserInnen mit einer deiner Figuren etwas anklingen lässt, was betroffen macht, das mir als Leser Wiedererkennung schenkt. Du erzählst, was alle kennen und doch scheint es entlarvend. Spiegelst du?
Meine Figuren sind keine Helden. Im Gegenteil. Allesamt sind es Menschen, die gegen alltägliche Widrigkeiten kämpfen, die ihr Glück suchen, die sich irren und die fehlen, die mutlos und beschämt sind. Und ich vermute, all das steckt in jedem von uns drin. In mir auf jeden Fall.

Das Modell Ehe wird ebenso in Frage gestellt wie „Liebe“, „Dorfgemeinschaft“ oder sogar „Freundschaft“. Du demontierst mit Lust und Wonne. Ich weiss sehr gut, dass man Idyllen nachjagt. Bücher, Filme, Musik und Bilder sind voll davon. Warum halten wir uns dermassen fest an ihnen?
Warum halten wir uns dermassen fest an Idyllen? Vermutlich weil sie genau das sind: idyllisch. Perfekte, sorgen- und schmerzfreie Zustände.
Wir sitzen mit einem kühlen Glas Weisswein auf dem Balkon, das Raclette brutzelt im Pfännchen, die oder der Liebste ist bei uns, wir streiten uns nicht und im Abendlicht sehen wir die Schönheit des anderen, wie wir sie schon lange nicht mehr gesehen haben. Das Telefon schweigt. Die Steuern sind bezahlt. Der Hosenbund kneift nicht. Die Liste ist beliebig erweiterbar. In diesen Momenten scheint das Leben schwerelos. Wer würde diesen Momenten nicht nachjagen wollen?
Dass das Leben kein Ponyhof ist, wissen wir alle. Vielleicht halten wir Idyllen in Bücher, Filmen und Musik fest, um uns stets vergewissern zu können, dass es sie tatsächlich gibt, dass sie wiederkommen, irgendwann.

© Rebekka Salm

Du liebst dein Personal, das spüre ich. Ich liebe es auch, alle irgendwie. Meistens werden nicht unsere Ecken und Kanten geliebt, sondern die mit Bedacht gepflegten glatten Flächen. Anpassung ist alles. Und doch ist da doch der Wunsch nach Originalität, auch in den Leben deiner ProtagonistInnen.
Meine Figuren möchten dazugehören. Zu einer Dorfgemeinschaft. Ausserhalb dieser Dorfgemeinschaft sind sie einsam und alleine. Und wer sind sie denn überhaupt, wenn niemand da ist, der sie sieht, der mit ihnen redet? Um dazuzugehören sind sie bereit, ihre Ecken und Kanten zu verbergen. Sind sie dann aber drin, in der Dorfgemeinschaft, kann es passieren, dass keiner sie wahrnimmt, weil sie ohne Ecken und Kanten niemand sind, den es wahrzunehmen lohnt. Dann, vielleicht, zeigen sie sich. Und wenn sie Pech haben, dann ist das, was da zum Vorschein kommt, zu viel fürs Dorf. So versuchen sie stets die Balance zu halten zwischen ihrem Wunsch nach einem «Wir» und ihrem eckigen und kantigen «Ich». Ich vermute Mal, damit unterscheiden sich meine Figuren gar nicht so sehr von dir und mir, oder?

Rufen jetzt deine ehemaligen Nachbarn an?
Bis jetzt zum Glück nicht. Wenn ich aber die Wahl habe, zwischen ehemaligen Nachbarn, die anrufen, um mir zu sagen, dass sie enttäuscht darüber sind, wie ich das Dorf dargestellt habe und den anderen, die so beleidigt sind, dass sie nicht mehr mit mir reden – dann sind mir die Ersteren tausend Mal lieber.

Rebekka Salm, geboren 1979, wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin. Publikationen in verschiedenen Literaturformaten, 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch «Das Schaukelpferd in Bichsels Garten» (2021) erschienen.

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Beitragsbild © Frederike Asael

literaturblatt.ch macht ERNST

Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

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