«Du bist, also versagst du, das ist menschlich» , «Sensus» von Armin Senser

«Was unterscheidet dann noch einen Attentäter von einem Busfahrer, der dreissig Kinder mit sich in den Tod reisst, weil er den Bus an eine Wand fährt. Weil er sich umbringen wollte? Und was unterscheidet einen Attentäter von einem Piloten, der eine volle Maschine zum Absturz bringt, um sich das Leben zu nehmen? Was unterscheidet die Absicht von den Folgen? Was die Folgen von der Absicht? Wer bist du?» Armin Senser 2018

Lieber Gallus

Dass es an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen eine Begegnung mit Armin Senser geben wird, freut mich sehr. Das in grünem Farbton vorliegende Buch «Der ich bin» lese ich gerade mit Begeisterung. Im Sommer 2016 (oder 2017?) bin ich diesem Autor erstmals auf der Terrasse des «Alpina» am internationalen Literaturfestival in Leukerbad begegnet und auf den ersten Teil seiner autobiografischen Trilogie gestossen. Dass «Sensus, Chronik des Scheiterns» der erste Band einer Trilogie ist, wusste ich damals allerdings nicht. So ist das Erscheinen von «Der ich bin, Chronik des Vergessens» (2018) an mir vorübergegangen und erst jetzt vor meinen Augen. Aus dem dritten Teil «Requiem, Chronik des Erinnerns» wird der Autor in Solothurn lesen.

 

Armin Senser «Sensus. Chronik des Scheiterns» Edition Korrespondenzen, 2016, 112 Seiten, CHF ca. 26.90 ,ISBN 978 3 902951 25 0

In diesen drei «Chroniken» wird Autobiografisches mit dem Geschehen um Autor herum nicht erzählt, sondern als Collage voller Assoziationen literarisch gestaltet. Unverkennbar ist ein Lyriker am Werk. Armin Senser stellt Fragen zur eigener Identität («Wer ist ich?»), zu seiner Beziehung zu den Angehörigen (Suizidversuch des Bruders, Tod der Mutter) und zum eigenen Schreiben, zur Auswirkung der täglichen Katastrophenmeldungen in den Medien auf das eigene Leben. Da Literatur langsamer reagiert als die Massenmedien wirkt sie nachhaltiger, weil erlebt oft fassbarer. Die Lektüre dieser Bücher ist anspruchsvoll, aber belohnt mich als Leser mit tiefer Erkenntnis über mich, mein Wesen und meine Beziehung zur Umwelt. Auch sind diese Bücher eine kritische Auseinandersetzung mit der Informationsflut der heutigen Zeit.

Es erstaunt mich, dass dieser bemerkenswerte Autor im Literaturblatt nicht vorkommt. Kannst du mir berichten, warum?

Herzliche Grüsse

Bär

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Lieber Bär

Vielen Dank für Deine Gedanken, Deinen Tipp, Deinen überdeutlichen Schubser. Jedes Jahr, wenn die Gästeliste der Solothurner Literaturtage veröffentlicht wird, stürze ich mich auf die Namen: Sind Namen dabei, auf die ich warte? (Die Warteliste derer, auf die ich hoffe, wird nicht kleiner!) Welche Namen überraschen mich? (Manchmal mischen Namen die Literaturszene auf, die bisher meine Wahrnehmung verfehlten, von denen ich keine Ahnung hatte.) Und welche Namen tauchen überraschend auf, hätten eigentlich schon lange meine Beachtung verdient? Armin Senser gehört zu jenen. Seit ich weiss, das er liest, liegen seine Bücher auf meinem Nachttisch. Ich freue mich ungemein auf die Begegnung mit dem Autor.

Stimmt, Armin Senser hätte eine Auseinandersetzung auf dem Literaturblatt längstens verdient. Aber ich habe keine Chance, all jenen gerecht zu werden, die man pushen sollte, denen man eine Plattform bieten müsste, die man ins Rampenlicht setzen sollte, bevor ihr Stern im unbarmherzigen Kosmos der literarischen Sternbilder wieder verlöscht. Zu viele Sterne leuchten nicht mit jener Kraft, die sie ausstrahlen würden, wären nicht Störnebel in ihrer Nähe. Zuviele Sterne sind längst wieder ins kollektive Vergessen gerutscht. Wie gut, dass es Literaturvermittler wie Charles Linsmayer gibt, die mit ihren Büchern auch jenen einen Platz geben, die ihre Leuchtkraft verloren haben. Aber selbst so engagierte Kämpfer wie Charles Linsmayer hinterlassen einen Schweif, der Namen schwärzt, die seinem Geschmack missfallen. Einmal von relevanten Literaturkritiken geschwärzt, scheinen Namen auf ewig gezeichnet.

Darum mache ich mich alljährlich nach Solothurn auf, um mich von all jenen Namen überzeugen zu lassen, die bisher meiner beschränkten Lesekapazität entgingen. Ich freue mich auf die Tage im Epizentrum der nationalen Literaturszene – und die Streifzüge von Gallus und dem Bär.

Auf bald!

Gallus

Armin Senser, geboren 1964 in Biel. Der Lyriker und Schriftsteller studierte Philosophie, Germanistik und Linguistik an der Universität Bern. Nebenbei ist er als Übersetzer und Dramatiker tätig. Sein literarisches Schaffen wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Senser lebt in Berlin.