Rudolf Bussmann «Wem wäre er nicht auf die Nerven gegangen», Plattform Gegenzauber

Wem wäre er nicht auf die Nerven gegangen? Er mit seiner Fragerei? Wer hätte sich nicht früher oder später von ihm abgesetzt? Wäre geflohen vor seinen Fragen, die uns nichts angingen, uns mit seinen Sorgen quälten, von uns Antworten erwarteten, die niemand zu geben wusste? Können Sie sich vorstellen, was das heißt? Diese Fragerei von früh bis spät? Dieses aufsässige Fordern nach Antwort? Wären nicht auch Ihnen die Nerven durchgegangen? Hätten nicht auch Sie einen Punkt gesetzt? Ihn ins Leere laufen lassen mit seinen Fragen?
Was hätten Sie getan an unserer Stelle?
Warum antworten Sie nicht?

(erschienen in «Popcorn», Waldgut 2013)

Rudolf Bussmann, 1947 in Olten geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte. Nach der Promotion bildete er sich zum Gymnasiallehrer aus und war an verschiedenen Berufs- und Höheren Fachschulen tätig. Er schreibt Romane, Kurzprosa, Lyrik und ist als Herausgeber und Übersetzer tätig. Zuletzt erschienen sind «Eine Brücke für das  Gedicht, 75 zeitgenössische Gedichte befragt von Rudolf Bussmann» (2014) und «Das andere Du», Roman (2016). Rudolf Bussmann leitet Schreibseminare und Lesezirkel, er lebt in Basel. 

Rudolf Bussmann «Verheißenes Land», Gedichte, edition bücherlese, erscheint im März 2024

Rudolf Bussmann «Verheißenes Land», Gedichte, edition bücherlese
Die Passkontrolle ist vorbei, die Passagiere treten ins Mittagslicht. Die Reise durch Israel und Palästina beginnt. Sieben Tage dauert sie. Vorbei an Barrieren, Grenzposten, Mauern führt sie auf die Zinnen einer Altstadt. Sie führt in die bunte Vielfalt eines Suks, sie führt in das Quartier orthodoxer Gläubiger, sie führt in besetzte Gebiete. Eine verlassene Mühle kommt in den Blick, die Stimme eines Vertriebenen ist zu hören, eine schattige Eiche lädt zum Verweilen ein. Das Ich, unterwegs zu Fuß, mit Auto oder Bus, wird gewahr, wie sich ihm ein alter Kulturraum öffnet, der keine festen Grenzen kennt und in vorbiblische Zeiten zurückreicht. Gleichzeitig wird es von der politischen Hochspannung, die das Land im Griff hat, erfasst.
Rudolf Bussmann hat Israel und die Westbank 2018 bereist und die Niederschrift des Buches vor dem Überfall der Hamas vom Oktober 2023 beendet. Seine Gedichte begegnen den Widersprüchen und Konflikten mit einer Sprache, die in starken Bildern Schönheiten genauso wie Abgründe dokumentiert. Sie holen die Vision vom verheißenen Land aus der Versenkung und versuchen ihr in einem eindrücklichen Statement neue Konturen zu geben.

Rezension «Der Flötenspieler», edition bücherlese

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ayse Yavas

Theres Roth-Hunkeler «Damenprogramm», edition bücherlese

«Nacherzählen ist auch Nachzählen, sage ich schon lange», schreibt die Protagonistin Anna ihrer besten Freundin (und Schwägerin) Ruth im Roman «Damenprogramm» von Theres Roth Hunkeler. Und etwas zwischen Abrechnung und Bilanz ist der Roman von Theres Roth-Hunkeler tatsächlich. 

Gastrezension
von Franco Supino

Eine Abrechnung mit dem Leben ihren Protagonistinnen, denn wer so unerbittlich ehrlich und stilistisch klar schreibt wie Roth-Hunkeler, macht es nicht wie die Sonnenuhr (und zählt die heiteren Stunden nur).  Und eine Bilanz ist der Roman, weil die beiden Freundinnen an der Schwelle zur Pensionierung auf ihr bisheriges Leben schauen: Das Arbeitsleben, das die beiden tüchtigen Frauen erfüllte, werden sie bald ablegen. Männer, die mal wichtig waren, sind abgehauen, verstorben (Thore, Max und Arno bei Anne) oder erweisen sich als unbrauchbar, so dass man sich von ihnen trennen muss (Jan bei Ruth) – was kann also dieser Lebensabschnitt, vor dem sie stehen, der sie mal ängstigt, mal zuversichtlich werden lässt, noch bringen? Dies auch in Anbetracht von Caro, Annas Tochter und Ruths Patenkind, einer labilen, suchtkranken Frau, die von einem selbstbestimmten Leben wie das der Mutter und der Tante nur träumen kann, und immer nur wieder einen Strich durch die wohlfeilen Rechnungen der Mutter zu machen im Stande ist.

Theres Roth-Hunkeler «Damenprogramm», Edition Bücherlese, 2023, 256 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-906907-79-6

Kann, wer ungeschönt aufs Leben schaut, wer sich nicht belügt, zwischen verpassten Chancen und trüben Aussichten nur Schwarz sehen? Nein, nicht bei Theres Roth-Hunkelers «Damenprogramm». Unerwartet erhält dieser Text einen hellen Klang, denn die beiden Protagonistinnen lassen sich, (einmal mehr) nicht unterkriegen oder vom Selbstmitleid einlullen. Ruth stellt fest, dass sie beide, erlöst von Existenzsorgen, nun in der Situation ihrer Mutter, der Bankiersgattin, seien, die damals im Dorf im sogenannten Damenprogramm, also dem ehrenamtlichen sozialen Engagement im Kreise anderer gut gestellter Frauen, ihre Erfüllung sah (oder sehen musste). 

Ein solches, aber ganz anderes, politisch engagiertes Damenprogramm will Ruth, die auch ansehnlich geerbt hat, mit Anna initiieren. Anna ist erst nicht sehr begeistert, aber schliesslich … mehr sei nicht verraten! Nur der Schluss:  wie bei den Arztserien (die Anna so liebt) und wie beim einspaltigen Fortsetzungsroman, den Anna als Kind täglich in der Tageszeitung las, endet «Damenprogramm» augenzwinkernd mit dem «grossen Versprechen»; F.f. – Fortsetzung folgt. Denn das Leben im Gegensatz zu Geschichten hört nie auf.

Theres Roth-Hunkeler ist eine feste Grösse der Schweizer Literatur, seit sie 1991, eingeladen von Peter von Matt, einen Preis beim renommierten Ingeborg Bachmann Preis zugesprochen bekam. Sie hat seither sechs Romane veröffentlicht, dies neben Essays und Kurzgeschichten, und sie ist als Kulturvermittlerin tätig. Ihre Schaffenskraft beeindruckt mit jedem Text neu. Ob das Leben im Alter lebenswert ist? diese Frage stellt «Damenprogramm» – eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Aber wenn man so schreibt wie Theres Roth-Hunkeler, ist es uneingeschränkt lesenswert.

Theres Roth-Hunkeler, geboren 1953 in Hochdorf Luzern, lebt heute in Baar bei Zug und oft in Berlin. Schreiben, Lesen und Literaturvermittlung sind die Schwerpunkte, die auch ihre langjährige Lehrtätigkeit an Kunsthochschulen bestimmt haben. Die Autorin hat neben Erzählungen und journalistischen Texten sechs Romane publiziert, zuletzt das Text-Bild-Werk «Lange Jahre» (2020) mit Bildern der Malerin Annelis Gerber-Halter und den Roman «Geisterfahrten» (2021). In unregelmässigen Abständen meldet sich Theres Roth-Hunkeler mit ihrem Blog zu Wort.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Tabea Steiner mit «Immer zwei und zwei» im Literaturhaus Thurgau

«Es ist, als käme man nach langer Zeit zu Hause an, wenn man die alten knarrenden Stiegen dieses Riegelhauses hinaufsteigt, und zuoberst vom Giebel her hinausblicken kann auf diese uralte Gletscherlandschaft, dieses Gewässer, das nach 4000 Jahren einen Einbaum freigegeben hat, dieses Weltkulturerbe, den Gnadensee. Gallus Frei und sein Team machen diesem Kleinod mit ihrer Herzlichkeit alle Ehre.» Tabea Steiner

Tabea Steiner im Gespräch mit der Moderatorin Cornelia Mechler

Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof ganz in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie initiierte das Thuner Literaturfestival Literaare, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und war bis 2022 Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen, 2019 war sie LCB-Stipendiatin. 2019 erschien ihr erster Roman «Balg», der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Gründe genug, um die umtriebige Schriftstellerin und Streiterin für das gute Buch nach Gottlieben einzuladen.

Natali ist Lehrerin, verheiratet, Mutter zweier kleiner Töchter und fest eingebunden in ihrem Leben und ihrer Glaubensgemeinschaft. Die Freikirche ist fixer Bestandteil der Wochenroutine, vor dem Essen spricht ihr Ehemann Manuel das Gebet und die Kinder gehen selbstverständlich in die Sonntagsschule. Doch alles ändert sich, als sich Natali verliebt — in eine Frau.

Die Gemeinschaft der Freikirche: Man schaut aufeinander. Die Mitglieder helfen und unterstützen sich – sofern sich alle an die klaren Vorschriften halten und nicht ausscheren. Tabea Steiners Roman ist keine Abrechnung mit Freikirchen, aber zeigt sehr wohl die negativen Seiten, sei es das Vorherrschen des Patriarchalen oder der Enge, aus der einer solchen Gemeinschaft schnell Zwang, Restriktion und ein Bewusstsein wird, dass das Aussen zum Bösen, die Gemeinschaft als letzte Bastion des Guten stilisiert. Sex vor der Ehe ist verpönt, der Mann gilt als Oberhaupt der Familie, und «Geschichten» mit denen komplexe Fragen einfach erklärt werden, wenn der Leiter in der Sonntagsschule Natalis Töchtern mit seiner Beschreibung eines strafenden Gottes schlaflose Nächte bereitet, sind Programm.

Der Roman war für die Autorin ein grundsätzliches Nachdenken über Strukturen und Dynamiken einer kirchlichen Gemeinschaft. Es sollte keine «Ausbruchsgeschichte» sein, kein «Befreiungsroman», weder für die Protagonistin noch für sie selbst, wie in Romanen wie «Unorthodox» von Deborah Feldmann. Und doch ist der Roman weit mehr als einer über die Problematik von Freikirchen. Gruppierungen, die für sich das Wahre, Echte, Richtige beanspruchen und alle «Aussenstehenden» bedauern oder gar verurteilen, gibt es überall. Sei es in der Politik, in gesellschaftlichen Fragen, Corona hat es mehr als deutlich vor Augen geführt, selbst beim Lifestyle.

Ein Roman, der mit Äusserlichkeiten Inneres beschreibt, sein Personal weder analysiert noch ausleuchtet, mir als Leser das Maximum an Interpretationsspielraum lässt, genau das Gegenteil dessen, was solch eng gefasste Gemeinschaften erlauben. Scheinbar leicht und flockig darüber, wie sehr man Lebensentwürfe einer Ordnung, einer Struktur zu opfern bereit ist, in einer Zeit, die Offenheit, Toleranz und Vielfalt propagiert.

Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic

Tabea Steiner «Immer zwei und zwei», edition bücherlese

Tabea Steiner zu Gast im Literaturhaus Thurgau

Warum lässt man sich derart in Zwänge, Muster, Pflichten und Bedingungen einbinden, dass das alles die Luft zum Atmen nimmt. Tabea Steiner hat mit ihrem zweiten Roman „Immer zwei und zwei“ ein beklemmendes Buch darüber geschrieben, wie schwer es werden kann, wenn man aussteigen, sich befreien will.

Erinnern sie sich an ihre Zeit im Kindergarten, als man vom Schulhaus zur Turnhalle paarweise, immer zwei und zwei, gehen musste? War es nicht Noah, der immer zwei jeder Sorte Tier auf seine Arche mitnahm und vor der Sintflut rettete? Scheinbar liegt in dieser Ordnung die Rettung vor drohender Gefahr. Scheinbar braucht es die klare Ordnung, um sich nicht im Chaos zu verlieren. Ob das Gesetze sind, die uns vor Anachie und Willkür schützen oder Gemeinschaften, die uns das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben. Ob es eine Bubble ist, die einem das Gefühl von Zusammengehörigkeit schenkt oder straffe Systeme wie Schule oder Militär. Immer zwei und zwei. Im Ausbruch, in der Freiheit liegt die Gefahr.

Natali ist ein junge Frau, verheiratet mit einem Mann, den sie liebt und Mutter zweier Kinder, berufstätig und mit einem Atelier, in dem sie in Stunden der Muse aus Stein und Ton Neues formt. Natali scheint alles zu haben, was eine glückliche Existenz braucht. Aber Natalis Glück ist brüchig geworden. So wie ihre Welt, in die sie sich eingebunden fühlt, ein Eingebundensein, das sich mehr und mehr wie Fesseln anfühlt. Ein Gefühl der Einsamkeit, das sie schon als Kind mit sich herumschleppte. Da wurde ihr klar, dass sie allein war, wirklich allein … auf der Welt, endgültig und nur sie. Ein panisches Gefühl, am falschen Ort, mit den falschen Menschen zu sein. 

Tabea Steiner «Immer sei und zwei», Edition Bücherlese, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-906907-73-4

Natali gehört zu einer freikirchlichen Gemeinschaft, einer Gemeinschaft mit klaren Regeln, Strukturen und Wertvorstellungen. Solchen, die ihr mehr und mehr aufstossen und eine innere Rebellion provozieren. Ihre Freundin Rosalie, wie sie fest eingebunden in jene Gemeinschaft, ist verheiratet mit Tobias, der Natalis Kinder in der Sonntagsschule unterrichtet und dort Geschichten erzählt, die ihren Kindern den Schlaf rauben. Mit einem Magnet war er über Büroklammern aus Metall und Plastik gefahren und hatte erklärt, so werde es sein, wenn Jesus wiederkomme. Er nimmt nur diejenigen mit, die wirklich an ihn glauben. Die anderen bleiben auf der Erde zurück, wie die Plastikklammern.

Seien es gewünschte Schlagzeugstunden, die nicht erlaubt werden, weil man das Instrument im Gottesdienst nicht brauchen kann, sei es eine Reise nach Israel, zu der man sich verpflichtet fühlt und die völlig abgeschottet von der Aussenwelt durchexerziert wird, seien es Kleidervorschriften oder Kommentare ihrer eigenen Kinder – Natali schnappt nach Luft in der Umklammerung dieser scheinbaren Gemeinschaft. Und als sie sich bei einer Fortbildung in eine evangelische Pfarrerin verliebt und selbst ihre Familie ins Wanken gerät, mietet sich Natali eine eigene Wohnung. Ein Prozess der Distanzierung aus ihrer Welt, den ihr Mann und ihre Freundin Rosalie nicht nachvollziehen können. Natali begibt sich in ein Dazwischen, das sie einmal mehr mit ihrer Panik vor drohender Einsamkeit konfrontiert. Alles, was ihre Welt ausmacht, beginnt sich gegen sie zu wenden. Sie droht in einem Meer aus Schuldgefühlen zu versinken.

Tabea Steiners Roman erzählt behutsam und unspektakulär. Die Autorin hätte ihren Stoff, die Geschichte ganz leicht zur spektakulären Loslösungsgeschichte aufblasen können. Aber darum ging es der Autorin nicht. Tabea Steiner schildert einen Prozess, der alles andere als linear verläuft, ein permanentes Ringen mit Situationen, in denen sich die junge Frau nicht mehr zurechtfindet. „Immer zwei und zwei“ ist auch keine Anklage gegen freikirchliche Gemeinschaften, sondern die Geschichte einer jungen Frau, die ganz langsam ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung und innerer Freiheit folgen kann. Gemeinschaften, die einengen und bestimmen, mögen für die einen Wegweiser oder Leitplanke sein. Aber sie missachten, dass die Freiheit eines Menschen eben jene Selbstbestimmung, jene Freiheit ausmacht, die das Lebewesen Mensch zum Menschen macht.

„Immer zwei und zwei“ ist ein wichtiger Roman – eindringlich geschrieben, ganz offensichtlich voll mit persönlicher Erfahrung.

Tabea Steiner liest nicht nur am 6. Juli im Literaturhaus Thurgau! Vor der Lesung können all jene zusammen mit der Autorin diskutieren, die das Buch bereits gelesen haben. Das Format «Literatur am Tisch» lädt bei Speis und Trank zu einer ganz speziellen Vertiefung ein, einem Gespräch weit über den Roman hinaus. Sie sind herzlich eingeladen! Eine verbindliche Anmeldung ist unbedingt erforderlich.

Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival Literaare initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und war bis 2022 Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen, 2019 war sie LCB-Stipendiatin. 2019 erschien ihr erster Roman «Balg«, der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Tabea Steiner lebt und arbeitet in Zürich.

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

„Schaufenster einer andern Zeit“ Ein Abend mit der Dichterin Lisa Elsässer im Literaturhaus Thurgau

eine erzählung
reicht nicht aus
es muss die bibel sein
ein von mir geschriebenes
testament über gallus
der mit den bären spricht
das brot mit ihnen teilt
und sei es nur das mahl
literatur diese karge rinde
verwandelte gallus zum genuss
heitere verstandesfreuden
und die bärin gezähmt wie ein
gut lesbares harmloses gedicht

Die eigenen Bilder in eine eigene Sprache zu setzen sei schon immer ihr Wunsch gewesen, auch in den Jahrzehnten vor ihrer ersten Buchveröffentlichung, auch wenn sie lange nur für sich und «die Schublade» geschrieben habe. Lisa Elsässer hat ihre ganz eigene Sprache gefunden – und ihren Platz in der Literaturlandschaft. In den letzten beiden Jahrzehnten formte sich ein Werk, das sich wenig schert um die Strömungen der Zeit, ohne sich der Gegenwart zu verschliessen. So wenig sich die Schriftstellerin mit Nabelschauen beschäftig, so wenig biedert sie sich den angesagten Themen der Gegenwart an, mit denen man sich in aktuelle Diskussionen mit einmischen könnte. Ob in ihrer Prosa oder in ihrer Lyrik; Lisa Elsässer beschäftigt sich mit den verschiedensten Zuständen des Seins, spürt ihnen nach, ohne sie kalt auszuleuchten, immer im Bewusstsein, ihnen ihr Geheimnis lassen zu wollen.

Lisa Elsässers Werk besticht durch ein hohes Mass an Verdichtung. Ihre Lyrik, die sich nie verkopft und verschlüsselt gibt, erzeugt Bilder und Assoziationen, die ganze Geschichten auslösen. Und ihre Prosa schafft es, in fast lyrischen Bildern von Zuständen zu erzählen, die der Wahrnehmung sonst verschlossen bleiben.

die dunkelheit

erhellt alle gedanken
in ihnen geistern
geschichten das leben
ich liege schlaflos da
die erste Liebe zieht
an mir vorbei wie ein
schwan den ich zum 
ersten mal richtig sehe
was ich klar erkenne
ich war nicht dabei 
immer schon beim 
nächsten vergänglichen
spiel der film schmerzt 
ich schliesse die augen
der schlaf steht wach
am see leise gleitet
das leben übers wasser
verschwindet in die tiefen
die jede regung kennt
wenn die fische schlafen
gestaltet sich das angeln 
leicht

In ihrem 2022 bei der Edition Bücherlese erschienen Roman «Im Tal » erzählt Lisa Elsässer in Rückblenden ganz behutsam vom Leben, das eine Frau in der Hütte im Tal zurückliess, von den Männern ihres Lebens, von ihrer Arbeit, auch von ihrem Schreiben und nicht zuletzt von einer Fremden, die sie über die letzten Monate und Jahre kennengelernt hatte, die sie manchmal bediente, wenn sie in einer Café-Bar aushalf. Eine Frau, die ihr irgendwann erzählte von einem Leben, aus dem sie geflohen war und noch immer flieht.

Der Abend im Literaturhaus Thurgau war und ist eine Huldigung an das stille Werk einer Schriftstellerin, die tief berührt.

«Elsässers Sprache, die aus dem Unbewussten kommt, funktioniert wie eine Lupe. Sie vergrössert und bündelt das Licht, bis es plötzlich brennt. Sodass die alten Themen Liebe und Tod uns neu packen.» (Felix Schneider, SRF Literatur)

«Im Tal» Roman. edition bücherlese,
«Schnee Relief» Gedichte. Wolfbach Verlag,
«Erstaugust» Erzählungen. Rotpunktverlag/Edition Blau, 
«Fremdgehen» Roman. Rotpunktverlag/Edition Blau,
«Da war doch was» Gedichte. Wolfbach Verlag,
«Feuer ist eine seltsame Sache» Erzählungen. Rotpunktverlag,
«Die Finten der Liebe» Prosa. Zytglogge,
«Genau so sag es, genau so sag es» Gedichte. Wolfbach, 
«Ob und darin» Gedichte. Edition Pudelundpinscher

Beitragsbilder © Gallus Frei

Ein Abend mit Lisa Elsässer im Literaturhaus Thurgau am 4. Mai!

2023 erhielt die Urner Schriftstellerin Lisa Elsässer das «Urner Werkjahr». Die Auszeichnung ist mit 20’000 Franken dotiert und damit die höchste Auszeichnung, welche die Kunst- und Kulturstiftung des Kantons Uri vergeben kann. Grund genug, die vielseitige Schriftstellerin und Dichterin von der Innerschweiz an den Seerhein nach Gottlieben einzuladen.

«Viele Dinge entzünden sich bei Beobachtungen in der Natur oder auch bei genauem Beobachten von Menschen, ihrer Sprache, ihrem Klang! Und manchmal fängt das schon unterwegs an, in meinem  „Sprachgebäude“ zu brodeln, wirr und noch unfertig, bis ich dann vor dem weissen Blatt sitze, und „über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Beobachten“ (Kleist hat Reden gesagt!) zum Schreiben finde! Dort entstehen dann eben oft auch Querverbindungen, Assoziationen zu ganz andern Bildern: ein Schneefeld wird plötzlich Blendung eines anderen schneefernen Ereignisses! Ein wunderbarer Spannungsbogen, der das ursprünglich Beobachtete verlässt, und in einen ganz unbekannten Fluss mündet!» Lisa Elsässer

Nach einer Ausbildung zur Pflegefachfrau wurde Lisa Elsässer auf dem zweiten Bildungsweg Buchhändlerin und Bibliothekarin. Inmitten von Büchern entdeckte sie die Begeisterung für das eigene Schreiben und studierte schliesslich von 2005 bis 2008 am Literaturinstitut in Leipzig. Zu Beginn ihres literarischen Schaffens publizierte Elsässer vor allem Lyrik. 2011 erschien ihr erstes Prosawerk «Die Finten der Liebe». Für ihr Schaffen erhielt sie mehrere Auszeichnungen, 2018 etwa den Hauptpreis der Zentralschweizer Literaturförderung. Lisa Elsässer lebt und arbeitet heute in Walenstadt im Kanton St. Gallen. Zuletzt erschien bei Wolfbach der Gedichtband «Schnee Relief» (2019) und der Roman «Im Tal» bei der Edition Bücherlese (2022).

Lisa Elsässer «ich hab dir nichts versprochen» und «Tango», Plattform Gegenzauber

ich hab dir nichts versprochen

nur ein paar schritte
durchs fegefeuer
kalt hatten wir nie

nur eine hand voll 
schnee im licht
wir tranken das wasser

nur eine amsel
gesang vom baum
wir entwurzelten ihn

das feuer brannte
fegte über die worte
funken streunten durch die asche

unsere augen tränten im rauch

 

Tango

Das Ende liegt jetzt näher. Wenn man nach dem Durchschnitt geht, bin ich über die Mitte hinaus. Wenn ich morgen sterben müsste, wäre ich länger schon, ohne es zu wissen, über sie hinaus gewesen. Dann wäre ich also in der Mitte des Lebens schon an dessen Ende gewesen. Aber wer spricht denn jetzt vom Sterben!

Jetzt denke ich manchmal daran. Es wird ein Gefühl, in dem die Freude am Leben und die Gewissheit über das andere miteinander tanzen. Ich stehe daneben und schaue ihnen zu. Sie finden keinen gemeinsamen Takt, sie bewegen sich wie völlig unmusikalische Wesen. Beide haben noch nicht erkannt, dass eines sich dem andern überlassen müsste, damit von einem Tango gesprochen werden könnte. Wer führt wen!

Ich führe ein stinknormales Leben. Ich stehe am Morgen auf und am Abend lege ich mich wieder hin, und nachts träume ich von einer Ameisenstrasse. Wenn ich nicht schlafen kann, träume ich von Schlaf oder ich stehe mitten in der Nacht auf und spreche mit dem Mond. Das ist ganz neu! Die Nachtkerze erwähnt die Hormone, die sie besitzt, und ich zeige ihr die Haare, die am falschen Ort wachsen. Du schöne Blüterin, sage ich, ich blute nicht mehr. Ich höre den wilden Schrei eines Katers. Ich will nicht sterben, vor allem nicht morgen.

Morgen habe ich nämlich einen Termin bei einem Gehörspezialisten. Seit ich meinen Mann verstehe, höre ich nicht mehr so genau, was er sagt. Als ich ihn noch gut hören konnte, stellte ich mich manchmal taub. Unsere Liebe wächst mit zunehmender Entfernung von der Lebensmitte. Ich versuche, ihm vom Mund abzulesen. Das ist die einzige Perspektive, falls es mich übermorgen noch gibt. Dieser schöne Mund ist noch da. Wir hängen die Liebesbriefe magnetisch bestückt an den Backofen oder an den Kühlschrank. Vergiss nicht, steht darauf, mein, steht auch da: Vergiss nicht, mein Hemd zu bügeln. Ich lege den Brief ins Gefrierfach. Ich küsse ihn dann auf den kahlgewordenen Schädel, wenn er, was immer öfters vorkommt, sagt, dass Altwerden ein Skandal sei. Wenn ich frage, woher er denn das habe, sagt er, er wisse das auch nicht mehr und ich sage, dann lass diesen Spruch. Manchmal sitzen wir bei heiterem Wetter abends vor dem Haus, in dem er geboren wurde, in dem ich hinzukam, in dem wir uns nie schlüssig waren, ob das Haus überhaupt ein Dach hatte. Auf jeden Fall hatte es einen Keller.

Er benutzt die stets herumliegende Schiefertafel bloss für Zahlen, beim Jassen oder bei der Einteilung des AHV geschwächten Haushaltsbudgets. 

Ich schreibe zum Beispiel auf die Schiefertafel: Ich bin im Keller. Er weiss dann, dass ich am See sitze, um meine Gedanken, die wie etikettierte Einweckgläser daran erinnern, dass man von ihnen noch Gebrauch machen kann, zu ordnen, um sie berauschen zu lassen, als gelänge das nur noch mit der Kraft des Wassers, an dem man sitzt. Er kommt dann auch an den See und wir betten uns mit gegenseitiger Hilfe auf die Grasnarbe, die das Ende des Sandstrands oder der Anfang unserer Gemütlichkeit ist. Eine Flasche Wein steht zwischen uns. Zwei schöne Gläser, mit Olivenöl beträufelte Brotstücke, mit Pfeffer bestreuter Weichkäse, geviertelte Tomaten, der sinnvolle Gang der Uhr, das Ebenmass der luftigen Kräfte, das Wunderspiel dieses Raums und seiner Zeit. Wir haben uns einmal geschworen, dass wir nur und immer aus richtigen Gläsern trinken werden. Wenn wir sie zerschlagen, was nun auch immer öfters und nicht absichtlich wie früher geschieht, nehmen wir einfach zwei andere aus dem Schrank, die auch nicht mehr neu sind. Es ist fast erheiternd, wie die Gläserlinie im Schrank immer weiter nach hinten rückt, als wäre sie längst über ihre Mitte hinaus und als verschwände auch sie eines Tages einfach irgendwohin.

Ich zitiere ihm aus den Hymnen an die Nacht. Er verweist mich auf die Sonne, die gerade das Wasser belegt wie eine Silberschlaufe ein dunkel eingepacktes Geschenk und ein Schwan zerreisst gerade vor unseren Augen dieses Band, als hätte die verschwindende Göttin es ihm angetragen, in uns die Neugier dafür zu wecken, was sich unter diesem Dunkel der aalglatt gewordenen Fläche verbergen könnte.

Wir essen und trinken, beides sehr langsam und bedächtig. Wir können bleiben, könnten gehen. Der Tag kennt den Abend jetzt nur noch als Feststellung. Eine weitere, kleine Entfernung oder Annäherung und dass es die Momente gibt, wo ich das eine oder das andere vergesse.

Auf dem Nachttischchen liegen die künstlichen Tränen, in kleinen Plastikampullen. Das Auge damit zu treffen, ist eine wahre Kunst. Wenn es gelingt, fühlt es sich an wie früher, als sich der Kummer einen Überlauf erst in der Dunkelheit gestattete. Es ist das gleiche Brennen im Auge. Ich habe vergessen, worum es nicht ging. Ich habe nicht vergessen, worum es ging. Wahrscheinlich Komik, die zum Lachen und zum Weinen war, und jetzt, wo die echten Tränen fliessen könnten, gibt es nichts mehr zu Weinen. Das ist auch komisch.

Er liegt im Bett neben mir, er schläft. Sein Mund steht offen. Ich habe Lust, ihn am Gaumen zu kitzeln. Aber ich bin jetzt weit weg. Ich bin auf Sizilien.

Ich hielt den Fotoapparat in der Hand und erklärte dir, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Alles ganz weit weg, sagte ich zu dir. So neu und schon kaputt, futsch, sagte ich und schade. Ich steckte ihn in die Handtasche. Wir hatten uns auch gegenseitig aufgenommen. Eine wunderschöne Blumenwiese, die sich auf der Weiterfahrt auftat, schien es uns wert zu sein, aus dem Auto zu steigen und nochmals den Apparat auszupacken. Dann lachte ich so sehr und du lachtest mit. Später, wenn wieder einmal alles verkehrt und weit entfernt schien, was nahe hätte sein können, sagtest du, dass ich das jetzt nicht verkehrt herum aufnehmen solle, sondern geduldig ein paar Tage warten, um es wieder ganz nah zu sehen.

Es stimmt. Die Tage werden immer länger. Die Tage werden jetzt länger. Man muss abends wieder wartend vor dem Haus sitzen, weil es nichts mehr zu tun gibt ausser warten. Oft steht der Mond schon oben, wenn die Sonne noch nicht unten ist. Sie geht ja nicht unter, aber plötzlich oder langsam macht die Dunkelheit von ihrem Recht Gebrauch, so dunkel wie nur möglich zu sein. Dann zünde ich eine Kerze an und er meint: «Ist das nötig!» Aus Nachbars Garten dringen die Räucherschwaden und Schwaden von verbranntem Fleisch. Man hört Gläser klirren und Worte klappern, schlechterzogene Kinder lärmen und Hunde bellen, schlicht und einfach: ein unerträglich gewordenes Leben voller Leben. Er hat die Beine hochgelagert, damit seine eingebundene Zehe immer sichtbar bleibt, ein Grund, kleinere Dienstbotengänge in die Küche mir zu überlassen. Bis vor kurzem hatte ich einen Mann, der mir abends das Bett abdeckte. Der mir half, das künstliche Gebiss ins Wasserglas zu legen, oder meinte, das wäre sehr schön, wenn ich ihn zahnlos küsste und er keine Bisse eines falschen Gebisses fürchten müsste, der meine geschwollenen Beine mit einer schwungvollen Bewegung aufs Bett hievte und sagte: so das hätten wir. Und am Morgen tat er das alles jeweils in der umgekehrten Reihenfolge und meinte: Du, das wird ein schöner Tag mit uns. 

Einmal, vor langer Zeit, warteten wir in einer Kneipe aufeinander. Ich oben, du unten. Ich ass oben alleine, du unten alleine. Gleichzeitig. Als wir uns am Ausgang zufällig trafen, redeten wir uns sofort ins Wort und verbrachten die Nacht getrennt durch unsere Wand des Eigensinns. Du hinter der Wand, ich vor der Wand. Und einmal – das geht mir jetzt alles durch den Kopf und an deinem schlafenden, offenen Mund vorbei – hast du mir an Weihnachten eine Pfeffermühle geschenkt. Ich war auf Seidenunterwäsche eingestellt und hielt diese klobige Maschine in der Hand. Ich trug die Gans trotzdem auf, weil sie ja schon im Ofen war. Als ich beim Geschenk auspacken dachte, jetzt knistert dann gleich die Seide, war diese Gans schon mindestens eine Stunde im Ofen und zum Schluss konnte ich dann gleich die Mühle – teures Holz, sagtest du – in Gebrauch nehmen, was ja mit der Unterwäsche schlecht gegangen wäre. Nachts im Bett fragtest du mich, ob mir denn die Pfeffermühle gar nicht gefalle. Ich erinnere den Wortlaut meiner Antwort nicht mehr. Es kann sogar so gewesen sein, dass ich gar keine Antwort hatte. Ja – ich glaube, es war so!

Er hat seit einiger Zeit diese blaue Zehe und seit er sie hat, decke ich bei ihm das Bett auf, und ich tue auch alles andere, abends und morgens in umgekehrter Reihenfolge. Aber ich bringe es nicht über die Lippen zu sagen: Du, das wird wieder ein schwieriger Tag! 

Das Blut ist damit beschäftigt, durch das zunehmend verkalkte System die kleinste Zehe noch zu erreichen oder die noch verbliebene Haarwurzel. Und wir sind uns jetzt die gegenseitigen Tröster. Wenn einer den Titel des Films nicht mehr weiss, deutet der andere auf die schlecht durchblutete, blaue Zehe und stellt die mögliche Amputation dem namenlos gewordenen Film gegenüber. Alles wird relativ, sogar der Titel eines Buchs. Wenn ich seine blaue Zehe anschaue, weiss ich beim besten Willen nicht, was eigentlich dazu geführt hat, dass er so viel schlechter durchblutet ist als ich.

Wir waren doch beide dem Rauchen und dem Trinken zugetan. Aber eine blaue Zehe blieb mir bis jetzt erspart.  Als Prävention schauen wir uns am besten keine Filme, keine Theater, keine Bücher mehr an, so müssen wir uns gegenseitig nicht trösten. Und in absehbarer Zeit werden wir eh zu Staub. 

Aber jetzt muss ich schlafen. Die Brote für morgen sind gestrichen. Die Möglichkeit besteht, sie besteht natürlich immer, aber jetzt steht sie uns mit wesentlich mehr Kraft gegenüber als wir ihr entgegenzusetzen vermögen. Es kann sein, dass morgen einer von uns alleine aufstehen, die Brote allein essen muss. Er muss dann sogar alleine leben!

Ich sollte schlafen. Die Dunkelheit begeistert mich. Ich stelle mir vor, wie ich dann ganz allein die Brote esse, das heisst, dass ich mit dieser Vorstellung die Annahme verknüpfe, dass ich ihn, den Mann, mit dem ich lebte, lebe, überleben werde. Ich denke dabei überhaupt nicht an die Statistik, die würde mir zwar sogar Recht geben, nein, ich denke an die Hörgeräte, die auf mich warten, und die es mir wieder ermöglichen, ihm nicht immer alles vom Mund ablesen zu müssen.

Leben ist alles. Die Nacht wird kommen, himmlische Freiheit, selige Rückkehr  

Was für eine begeisternde Vorstellung!

(Erzählung aus «Erstaugust»/ Edition blau/ Rotpunktverlag Zürich / 2019)

Lisa Elsässer «An dich», Erzählung auf der Plattform Gegenzauber

Illustration © leafrei.com

Peter Weibel «Akonos Berg», edition bücherlese

Er ist geflohen. Immer wieder. Und jetzt noch einmal. Hinauf auf den Berg in der Fremde, die ihn nicht haben will. «Akonos Berg» erzählt von einer letzten Flucht, einem letzten Akt der Verzweiflung, der Hoffnung auf ein letztes Licht in einem Leben, das auszulöschen droht.

Im Jahr 2022 starben weit über tausend Flüchtlinge auf ihrer verzweifelten Fahrt übers Mittelmeer. Eine solche Zahl ist Statistik. Mit Sicherheit starben viel mehr. Sie starben auch schon vorher auf dem Marsch durch die Wüste. Oder nachher durch Krankheit, Kälte und Erschöpfung irgendwo auf der Balkanroute. Dann sitzen sie Monate später irgendwo in einem Durchgangsheim, einem Auffanglager, isoliert, nicht willkommen, zur Untätigkeit verdammt, jeder Würde beraubt, getrennt von ihren Familien, verlassen von all den Träumen und Erwartungen, für die sie einst alles Geld in ihrer Verwandtschaft erbettelten, zu Hoffnungsträgern wurden, alles zurückliessen, was ihnen in ihren Ländern geblieben war, ewig bedroht durch Hunger, Krieg und die dramatischen Klimaveränderungen. Klimaveränderungen in der Natur, aber auch in den Gesellschaften, im Umgang miteinander, im Zusammenhalt der Generationen, Klimaveränderungen der Politik.

Was in der Gegenwart passiert, ist logische Folge dessen, was wir uns selber eingebrockt haben, der Westen durch gnadenlose Ausbeutung, global durch grenzenlose Gier und der Süden, die Länder Afrikas als Folge dessen, was wir mit der Einteilung und Fixierung in eine erste, zweite und dritte Welt anrichteten.

Nun reibt sich die erste Welt die Augen, will nicht wahrhaben, dass das, was den Menschen in der Fremde als Paradies auf Bildschirmen präsentiert wird, nicht auch ein Teil ihrer Welt sein könnte. Man muss sich nur kräftig in die Hände spucken (ein paar Tausender hinblättern, alles zurücklassen) und sich aufmachen in eine bessere Welt. Weiss man doch, ohne Fleiss kein Preis.

Peter Weibel «Akontos Berg», edition bücherlese, mit Aquarellen des Autors, 2022, 64 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-906907-66-6

Wir reiben uns die Augen über die Entschlossenheit all dieser Menschen, die sich mit kleinen Kindern und ihren greisen Müttern und Vätern auf den Weg machen. Wir reiben uns die Augen und wollen nicht verstehen, dass sich auch sie einen schmalen Streifen des Kuchens abschneiden wollen. Wir reiben uns die Augen mit der Ahnung, dass das, was von Süden auf uns zurollt weder mit schärferen Gesetzen, besser ausgerüsteter Grenzpolizei oder grenzübergreifenden Massnahmen in den Griff zu bekommen ist.

„Akonos Berg“ erzählt von einem jungen Mann, der aus lauter Verzweiflung einen Berg besteigt, um sich selbst zu einer Fackel werden zu lassen, einem Mahnfeuer für all die Entkräfteten und Entrechteten. Ein letztes Aufbäumen hinein in den Schnee, hinauf in das Licht, weil es in seinem Dorf einst hiess; auf dem Berg stehen die Glücklichen. Weil er seine Familie verliess, seine beiden toten Schwestern, denen man das Leben stahl, seine Eltern, denen er einzige Hoffnung war.

Jonas und Sara, zwei junge Bergführer machen sich trotz unsicheren Wetters auf die Suche nach dem jungen Mann, weil es die Pflicht eines Bergführers ist, Leben zu retten, weil man nicht tatenlos zuschauen kann. Und weil es vielleicht die einzige Möglichkeit ist, mit dem eigenen Leben ins Reine zu kommen. Hilfe als Selbsthilfe. Die beiden machen sich auf den Weg, auf einen vielspurigen Weg, auf die Suche nach einem Mann, der mit Sicherheit erfrieren, verhungern oder abstürzen wird, wenn er nicht rechtzeitig gefunden wird. Auf den Weg zu sich selbst, um sich nicht seiner Tatenlosigkeit wegen vor sich selbst entschuldigen zu müssen. Und auf den Weg zueinander, denn die beiden hatten sich aus den Augen verloren.

Peter Weibel webt Geschichten und Leben zusammen. Die verschneiten Berge, die abweisende, weisse Kälte sind mehr als Metapher. Der Autor macht die Kälte vielfach spürbar. Sie schleicht einem während der Lektüre in die Glieder, erzeugt ein tiefes Frösteln. Da schreibt ein Mann, der von den Ängsten aller weiss, der die Menschen kennt, der mit seinem Schreiben an die Ränder des Erträglichen geht.

„Akonos Berg“ ist keine Wohlfühlliteratur. Und doch ist die Geschichte mit grosser Zärtlichkeit geschrieben. Mit dem Wissen um die wahrhaftigen Dinge der Welt, ohne Pathos, mit aller Verletzlichkeit.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlich er regelmässig Prosa und Lyrik. Er erhielt unter anderem einen Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und den ersten Kurt Marti Literaturpreis für «MENSCH KEUN» (2017). Für die Texte «Hannah» und «Kocherpark» wurde er beim Bund-Essay-Wettbewerb 2015 bzw. 2019 ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2019 «Schneewand» und 2021 «An den Rändern». Peter Weibel lebt in Bern.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese #SchweizerBuchpreis 22/3

Ein alter Mann, eine Kaninchenpistole, ein Polizist und doch kein Krimi. Thomas Röthlisberger beweist, dass man mit sämtlichen Ingredienzen eines Krimis nicht unweigerlich einen solchen daraus entstehen lassen muss. „Steine zählen“ ist ein Roman über das Erstarren in Sackgassen.

Matti wohnt in einer in Schräglage geratenen Bauernkate in der Nähe des Vehkajärvi-Sees im Süden Finnlands, weit ab vom Schuss. Ausser einem Hund gibt es keine Tiere mehr auf dem Hof. Die letzten waren ein paar Hühner, die der Fuchs holte. Der Maschendrahtzaun ist niedergerissen und rostig. Matti sitzt in der Küche mit seinem besten Freund, dem Alkohol und zerdrückt die toten Fliegen auf seinem zugestellten Küchentisch. Irgendwie ist auch er eine der Fliegen, die das Leben zerquetschte. Von seiner Kraft ist nichts geblieben. Und seit seine Frau Märta den Hof verliess, ihn selbst hatte sie schon lange verlassen, sind nicht nur die Flaschen auf dem Küchentisch stehen geblieben. Und weil er, der kaum mehr etwas ohne seine Brille sieht, das Gewehr in die Hand nahm, als sich Märta davonmachte, das Gewehr, das eigentlich bloss auf den Fuchs wartete, der sich auch ohne Hühner noch immer auf dem Gelände herumtrieb, und sich ein Schuss löste, von dem Märta nicht wissen konnte, wie nah die Kugel an ihr vorbeisauste, taucht auch noch die Polizei auf. Henrik, der lokale Polizeibeamte.

Von Matti Nieminen ist nicht viel geblieben. Ein verkorktes Leben, ein Körper, der zu nichts mehr taugt, eine Frau, die ihn verliess, ein Sohn, der nur auftaucht, wenn er Geld braucht und die Gewissheit, dem verkrusteten Panzer nie mehr entfliehen zu können. Selbst der Hund zieht vor ihm den Schwanz ein.

Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese, 2022, 176 Seiten, CHR 30.90, ISBN 978-3-906907-55-0

Aber auch für Märta, die Frau, die vierzig Jahre an seiner Seite aushielt, ist die Flucht vom Hof keine Befreiung. Die hätte Jahrzehnte früher stattfinden sollen, wahrscheinlich schon vor der überstürzten Heirat mit Matti, der ihr Jahre nachgestiegen war, den sie nicht wollte, dann aber haben musste, weil in ihr etwas wuchs, das nicht sein durfte. Sie ist im Gästezimmer ihrer Schwester gestrandet, die ihr die Katastrophe schon immer prophezeite und nie an die Redlichkeit jenes Mannes glaubte, der schon damals dem Alkohol näher stand als den Menschen. Eigentlich hätte es Pekka sein sollen, damals. Aber Martas Eltern, ihr Vater polterten unmissverständlich. Und als sich Pekka mit dem ganzen Dorf anlegte und mit Protz und Pomp im Dorf auftauchte, als man ihn in seiner Bank unlauterer Geschäfte überführte, war die Sache gelaufen, aller Versprechen zum Trotz.

Und da ist noch Olli, Märtas Sohn, das Kind, mit dem sie schon bei der Trauung mit Matti schwanger war, von dem niemand wissen durfte, nur der Arzt, der ihr eine „Frühgeburt“ diagnostizierte. Auch Olli schaffte es nicht. Vierzig und im Elend, manchmal bekifft, machmal nur betrunken, ohne Arbeit, von seiner Freundin sitzen gelassen. Matti wusste immer, dass Olli nicht das Resultat seiner Manneskraft war. Olli lebt von der Sozialhilfe und wenn das Geld zu gar nichts mehr reicht, macht er sich zum Hof in der Nähe des Vehkajärvi-Sees auf, in der Hoffnung, dass ihm seine Mutter etwas zusteckt. Von Matti gibt es nichts, schon gar kein Geld.

Am Schluss des Romans liegt Matti in einer Blutlache vor seinem Haus im Dreck. Er lebt noch. Und Hendrik, der Polizist, muss herausfinden, ob es wirklich ein Suizidversuch war.

Thomas Röthlisbergers Roman „Steine zählen“ ist hartes Brot. Wer wie Matti alt ist und ahnt, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, resümiert. Aber in Mattis Leben gibt es bloss Steine. Die auf dem Hof kickt er weg, wenn er nicht mit dem Stock nicht hängen bleibt. Aber eigentlich bleibt jeder Stein. Steine in der Erinnerung, Steine im Herzen, Steine im Bauch. Als ob nie mehr richtig Licht in das Leben jenes Mannes dringen würde. Ein finnischer Winter. Irgendwann bleiben die Chancen aus, dem Leben eine andere Richtung zu geben. Irgendwann hat die Ödnis einem im Würgegriff.
Thomas Röthlisberger schreibt sich in ein Setting hinein, dass sich wie eine Seelen-Dystopie liest. Und Thomas Röthlisberger kann es!!!

Interview

Hätte Ihr Roman nicht auch im Toggenburg oder im Kandertal spielen können? Warum der finnische Süden? Was verbindet Sie mit Finnland?
Eine Frage, die ich häufig zu hören bekomme (Schliesslich habe ich bisher bereits vier Romane geschrieben, die «dort oben» spielen, der letzte liegt über 15 Jahre zurück). Aber die Frage ist sicher berechtigt – ich habe gerade bei «Steine zählen» nach der ersten Niederschrift versucht, die Geschichte aus dem Norden herauszulösen. Naheliegend wäre für mich aus familiärer Hinsicht das Emmental gewesen. Ich machte mir eine Liste mit den Namen der finnischen Protagonisten und der Örtlichkeiten und gab ihnen hiesige Namen. Aber die Landschaft funktionierte als Hintergrund und Kulisse nicht, und die Menschen, die plötzlich wie bei Gotthelf hiessen und sich durch eine enge Voralpenlandschaft bewegten, erinnerten mich an eine Art Heimatliteratur, mit der ich mich nie wirklich anfreunden konnte. Die Charaktere, die ich in den (engen) Weiten Finnlands angetroffen hatte, liessen sich weder mit ihrem Naturell, noch mit der Landschaft hierher verpflanzen. Die Liste, die ich angefertigt hatte, öffnete mir die Augen und räumte radikal mit den eigenen Zweifeln auf (ich vernichtete die Liste deshalb sehr rasch wieder).
Schon nach dem ersten Aufenthalt in Finnland wusste ich, dass da noch mehrere folgen würden. Was mich mit Finnland verbindet? Sibelius, Alvar Aalto, Kaurismäki, die Leningrad Cowboys und Nightwish. Aber ganz abgesehen davon reicht ein Blick auf den Buchumschlag an, diese einmalige Stimmung an den Sommerabenden, das reicht, um eine seltsame, melancholische Sehnsucht auszulösen. Aber dann gibt es auf der anderen Seite des Sees das dunkle Ufer, den Wald, der das Licht verschluckt und wo, wie man ahnt, Menschen wohnen, die nicht nur wegen diesem Sonnenuntergang hier leben. Trotzdem figuriert Finnland an der Spitze, wenn es darum geht, welche Staatsbürger im eigenen Land am glücklichsten sind …

Matti ist ein Gespenst seiner selbst geworden. Einsam, eingeschlossen, ausgeschlossen. Wenn er über den Platz vor seinem Haus schlurft, kickt er Steine weg, Steine, die aber irgendwie immer wieder da sind. Die Steine in seinem Leben sind zu unverrückbaren Felsbrocken geworden. Ist Schreiben nicht auch eine Form von Steine zählen?
Literatur ist häufig Arbeit im Steinbruch, ein Suchen nach dem optimalen Stein, ein Darstellen und Verschieben von eigenen und fremden Steinen und Klötzen. Verbunden mit Frust nach längerer Schinderei, aber auch mit Freude über den unerwarteten Fund eines Edelsteins.

Ihr Roman spielt im ungleichseitigen Viereck Matti-Märta-Olli-Henrik. Eine Familie, die nie wirklich eine Familie ist, toxisch – und ein Polizist, der nichts lieber als zu seiner Familie möchte, der genau weiss, wie zerbrechlich Familienglück sein kann. „Steine zählen“ ist ein Familienroman, eine Geschichte darüber wie sehr Konventionen, Traditionen und Ängste das Leben bedrängen, einen Menschen in unumkehrbar Enge treiben können. Kratzen Sie mit Strategie am „Idyll Familie“?
Beim Schreiben zeichnet man ja häufig gewisse Vorfälle und Charaktere überspitzt. Und man benötigt üblicherweise auch eine grössere Anzahl selber gelebter Jahre, um zu erkennen, wie die Dinge wirklich sind. Aber Strategie? Eher nein. Oder unbewusst. Einflüsse aus der eigenen Familie, Aufgeschnapptes aus der Umgebung – es muss sehr vieles zusammenkommen, bis das Rezept stimmt. Und ja: Wer vom Leben erzählt, kann nicht nur Gutes berichten.

Bei einem Krimi wären das Verbrechen und die Motive, das Rätsel um die Ermittlung im Zentrum. In „Steine zählen“ sind es Innenwelten, die menschlichen Abgründe, die Unumkehrbarkeit der Zeit. Matti erscheint böse, Olli unrettbar und Märta verbrüht. Wann wird Verwundung unheilbar?
Eine schwierige und individuell sehr unterschiedlich zu beantwortende Frage: Wahrscheinlich wenn der Urheber der Verwundung selber infolge Verwundung agiert, wenn Grenzen überschritten werden und Verzeihung keine Option ist.

Es gibt das Leben in den Köpfen und Herzen. Und es gibt das „richtige Leben“, wie Märta es bezeichnet, jenes, das sich einem entgegenstellt, das Pläne zunichte macht. Warum ist Märta 40 Jahre lang geblieben? Ist das die Generation unserer Eltern und Grosseltern? Oder passiert das auch heute noch?
Konventionen als Ursache waren über Jahrhunderte hinweg Hemmnisse. Dass man wider Willen ein vorgeschriebenes Leben akzeptieren muss, ohne Fluchtmöglichkeit, ohne wirkliche Zukunft, ist nach wie vor aktuell. Und ich nehme da unser eigenes Land nicht aus … Da kann der Rückzug in ein inneres (Kopf- und/oder Herz-) Leben Ausweg oder Kraftort sein.

Buchtrailer

Thomas Röthlisberger, ­geboren 1954, lebt in Bern, hat seit 1991 mehrere Romane und Erzählungen sowie Lyrik veröffentlicht. Zuletzt erschienen sind «nur die haut schützt den schläfer» (Gedichte, 2009), «Zuckerglück» (Roman, 2010) und «Die letzten Inseln vor dem Nordpol» (Erzählungen, 2014) und «Das Licht hinter den Bergen» (Roman, 2021). Für seine Lyrik ist der Autor mehrfach ausgezeichnet worden.

Illustrationen © leafrei.com

Schweizer Buchpreis 2022 – die nominierten Bücher #SchweizerBuchpreis 22/2

Zum 15. Mal wird der Schweizer Buchpreis vergeben. Ein Preis, der das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autorinnen und Autoren auszeichnet.

Ziel des Schweizer Buchpreises ist es, jährlich fünf herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen. Ein Ziel, das bei den Debatten rund um diesen Preis immer wieder vergessen wird. Keine Schriftstellerin, kein Schriftsteller wird ausgezeichnet, sondern Bücher. Fünf Bücher stehen zur Wahl, fünf Bücher, die in diesem Jahr unterschiedlicher nicht hätten sein können. Fünf Bücher von Autoren, die einen bislang kaum auf dem Radar jener LeserInnen, die sich an Bestsellern orientieren, die andern von Autoren, die sich längst ins helvetische Bewusstsein eingebrannt haben. Schön, das es das gibt, auch wenn damit Schwergewicht gegen Neuling, Tradition gegen Aufbruch, Vielgenannt gegen Überraschung antritt.

Als offizieller Begleiter des Schweizer Buchpreises kommentiere ich auf meiner Webseite meine ganz persönliche Einschätzung, rezensiere die nominierten Bücher, führe Interviews und bin im Austausch mit den beiden weiteren Literaturblogs lesefieber.ch und eselsohren.ch.
Ganz besonders freuen würde ich mich über ihre Einschätzung, liebe Leserinnen und Leser: Welchem Buch geben Sie Ihren Vorzug? Schreiben Sie eine Mail unter «Kontakt«! Vielen Dank!

Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese
Südfinnland: Henrik Nyström, der lokale Polizeibeamte, fährt hinaus zu einer Bauernkate in der Nähe des Vehkajärvi-Sees. Auf der Polizeistelle ist ein Anruf eingegangen, der alte Matti Nieminen habe auf seine Frau Märta geschossen, die ihn nach vierzig Jahren Ehe verlassen wolle. Auch Olli, der Sohn der Nieminens, ist auf dem Weg zum Elternhaus, weil er wieder einmal in Geldnöten steckt und sich einen Zuschuss der Mutter erhofft. Als der Polizeibeamte auf dem Hof eintrifft, findet er den alten Matti auf dem Schotterplatz vor dem Haus in einer Blutlache liegend. Aber Nieminen ist nicht tot. Und die Schusswunde scheint er sich selbst beigebracht zu haben. Was war hier vorgefallen? War Olli bereits hier gewesen, dem Nyström auf der Herfahrt begegnet war, oder hatte Arto die Finger im Spiel, der Schwager, den Matti tödlich hasst? Oder gar Pekka, der frühere Liebhaber von Märta, der seit Jahren als verschollen gilt?
Ein tiefgründiger Roman über das Menschliche und das Unmenschliche, die oft so nahe beieinanderliegen, dass die Grenze erst erkennbar wird, wenn es zu spät ist.

Thomas Hürlimann «Der Rote Diamant», S. Fischer
«Pass dich an, dann überlebst du», bekommt der elfjährige Arthur Goldau zu hören, als ihn seine Mutter im Herbst 1963 im Klosterinternat hoch in den Schweizer Bergen abliefert. Hier, wo schon im September der Schnee fällt und einmal im Jahr die österreichische Exkaiserin Zita zu Besuch kommt, wird er zum «Zögling 230» und lernt, was schon Generationen vor ihm lernten.
Doch das riesige Gemäuer, in dem die Zeit nicht zu vergehen, sondern ewig zu kreisen scheint, birgt ein Geheimnis: Ein immens wertvoller Diamant aus der Krone der Habsburger soll seit dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie im Jahr 1918 hier versteckt sein. Während Arthur mit seinen Freunden der Spur des Diamanten folgt, die tief in die Katakomben des Klosters und der Geschichte reicht, bricht um ihn herum die alte Welt zusammen. Rose, das Dorfmädchen mit der Zahnlücke, führt Arthur in die Liebe ein, und durch die Flure weht Bob Dylans «The Times They Are a-Changin'».

Lioba Happel «POMMFRITZ aus der Hölle», edition pudelundpinscher
Pommfritz, der Ich-Erzähler des neuen Romans von Lioba Happel, schreibt an seinen Vatter in den Emmentälern, den er vor langer Zeit einmal zu Gesicht bekommen hat, aus der Hölle seines Lebens. Er berichtet von der Kindheit, die er, angebunden an ein Tischbein, fliegentötend, bei einer gewalttätigen, schweigsamen, Grillhühnchen und Pommes verschlingenden Mutter verbringt; von den Besuchen der Angelina vom Sozialamt, einem Wesen zwischen Rosenduft und Formularfrust, und wie die Mutter sie in die Pfanne haut; von härtesten Prüfungen unter den Jugendlichen in der Spezialschule; von seiner Liebe zur Prügellilly, deren schlagkräftige Zärtlichkeit die der Mutter noch übertrifft; und von der Einzelhaft im Gefängnis, wo er auf der untersten Stufe der Verbrechen steht denn er hat seine Mutter getötet und danach verspeist naja, Stückchen von ihr, ne Kuppe vom Finger. Pommfritz, der in Lachen ausbricht, wenn sich die Hölle auftut, ist ein Anti-Held, wie es in der Literatur nicht viele gibt, ein unglückseliges Monster. Lioba Happel, die 2021 den Alice-Salomon-Poetik-Preis erhielt, ist eine Dichterin des Randständigen. In ihrem halsbrecherischen Roman an der Grenze zum Gesagten und Sagbaren spannt sie ein schwankendes Erzählseil über den Abgrund des Schweigens. Auch der Briefeschreiber Pommfritz bekommt keine Antwort. (Jan Koneffke)

Simon Fröhling «DÜRRST«, Bilgerverlag
Ein waghalsiger Roman, der den Bogen von James Baldwins »Giovanni’s Room« zu Fritz Zorns »Mars« und bis hin zu Édouard Louis’ »Im Herzen der Gewalt« spannt.
«DÜRRST»–  Simon Froehlings zweiter Roman entführt uns nach Athen, Kairo, Edinburgh, Berlin und Zürich, hinein in die Landschaft eines exzessiven, auseinanderbrechenden Lebens. In der paradoxen Realität scheinbarer Freiräume der Besetzer-, Kunst- und Schwulenszene mäandernd erzählt Simon Froehling den Weg einer brutal schmerzhaften Selbstfindung in Bildern von stupender Schönheit.

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont
Die Erzählfigur in «Blutbuch» identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.
Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l’Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.

Illustrationen © leafrei.com

Noch eine Bemerkung zu den Illustrationen in den Beiträgen zum Schweizer Buchpreis: Die junge Illustratorin Lea Frei zeichnet seit 2019 Cover und Porträts der Nominierten für die Beiträge auf literaturblatt.ch. Die Künstlerin veredelt damit die Beiträge auf dieser Webseite, sie gibt Büchern und AutorInnen und nicht zuletzt dem Schweizer Buchpreis einen ganz individuellen Auftritt. Herzlichen Dank!!!