Valerie Fritsch «Zitronen», Suhrkamp

Es gibt Bücher, die überrollen, verstören und faszinieren mich. «Zitronen» von Valerie Fritsch ist ein solches, ein weiterer Streich einer überragenden Schriftstellerin, eine Literaturperle. Und trotzdem würde ich dieses Buch nicht allen empfehlen, denn es ist schrecklich schön, leuchtet tief in die Abgründe menschlichen Seins!

Während des Lesens stellte sich eine seltsame Mischung aus Erschütterung, Faszination und Freude ein. Wie schafft es Valerie Fritsch ein Buch in einer derart hohen Sprach- und Bildintensität durchzuziehen, vielfach überraschend, beweisend, dass Literatur viel mehr sein kann, als eine gute Geschichte zu erzählen. „Zitronen“ schmeichelt mit Sprache. „Zitrone“ erschüttert mit Einsichten. „Zitronen“ bannt bis zum letzten Satz. „Zitronen“ ist ein Sprachkunstwerk. Der Saft dieser Zitronen brennt sich ein!

Eine Kleinfamilie in der Provinz, in einem windschiefen, vollgestopften Haus am Rande eines Dorfes. Ein Vater, der die Mutter und seinen Sohn schlägt. Mutter und Sohn, die in dauernder Angst leben und sich in einem Band aus Nähe und Zartheit miteinander gegen den übermächtigen Vater verbünden. Sie braucht ihren Sohn, ihr Sohn braucht sie. Der Sohn ist das einzige, was in ihrem Leben Resonanz gibt. Und für den Sohn ist die Mutter die einzige, die ihm Trost für all die vom Vater zugefügten Verletzungen bietet. Die Eltern waren ein Kippbild aus Schutz und Bedrohung, ein janusköpfiges Wesen, das einem erst mit kaltem, dann mit mitleidigem Gesicht ansah. Bis mit einem Mal der Vater, der Mann verschwindet und sich alles verschiebt.

«In jedem Leben gehen Bestimmung und Selbstbestimmung, Glück, Unglück und Zufall mit stiller Wirkmächtigkeit gegeneinander an, zerren an der Linie, die zwischen Geburt und Tod gespannt ist, und wehen die auf ihr Balancierenden wieder und wieder vom Weg.»

Ein Verschwinden, dass auch die Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn radikal verändert. Was der Sohn als Rettung für die Mutter in einem Leben aus Angst und Bangen war, öffnet sich zwar, kehrt sich aber um in eine Angst, diesen Sohn an ein eigenständiges, unabhängiges Leben zu verlieren. Nach einer Krankheit, die die Mutter dem noch jungen August noch einmal ganz in seine Nähe brachte, beginnt die Mutter heimlich Medikamente in die Nahrung ihres Sohnes August zu mischen. Sie deckt August mit ihrer Fürsorge zu, so sehr, dass August nicht einmal mehr zur Schule gehen kann und über Wochen und Monate ans Bett gefesselt bleibt, beständig umgarnt von seiner Mutter, die ganz in ihrer Rolle als Schützende und Wissende aufgeht. Die Medikamente, die sie missbraucht, bezieht sie von ihrem Hausarzt.

Valerie Fritsch «Zitronen», Suhrkamp, 2023, 186 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43172-6

Auch nach einem gemeinsamen Urlaub am Meer, im Land der Zitronen, zusammen mit eben jenem Arzt, der zwar konstatiert, dass es dem Jungen mit jedem Tag am Meer besser geht, ändert sich das Leben von August nur marginal. Seine Mutter bringt ihn züruck ins Bett, zurück an ihren Tropf. Bis ein Blitz einschlägt. Bis auch für den Arzt nicht mehr zu leugnen ist, dass Augusts Krankheit bloss das Resultat eines fatalen Medikamentenmix ist. August kommt nach Wien, wird förmlich ausgesiedelt, in eine kleine Wohnung, die ihm der Arzt, der sich seiner Schuld bewusst ist, in der fernen Stadt zur Verfügung stellt.

So sehr ins Mutternest zurückgebunden, so einsam und allein sind die ersten Wochen für August in der fremden Stadt. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs mehr schlecht als recht durch und baut aus den Versatzstücken fremder Biographien und Lügengeschichten eine eigene Vergangenheit zusammen, mit der er sich sein Dasein formt, ein Leben zwischen Huren und Ganoven. Bis er Ava trifft, eine Künstlerin, eine Verwundete wie er. Bis er in Ava seine grosse Liebe findet und alles dafür tut, diese eine Liebe nicht wieder zu verlieren. Aber August in seiner Angst, auch diese Liebe zu verlieren, schnürt Ava immer mehr die Luft zum Atmen weg. Bis das Unvermeidbare zur Tatsache wird und sich auch diese Liebe von ihm trennt. Bis August spürt, dass er dorthin zurück muss, wo ihn die Fesseln noch immer binden.

«Es gab nichts, was es nicht gab, aber es gab vieles, was es nicht hätte geben dürfen.»

Aber um den Zauber dieses Romans zu ergründen, sollte man sich viel mehr der Sprache zuwenden. Was Valerie Fritsch mit „Zitronen“ schafft, gelingt nur ganz wenigen. Meist ist die Sprache der Träger einer Geschichte. Aber bei Valerie Fritsch ist die Geschichte der Träger eines Sprachteppichs aus Farben, Gerüchen, Geräuschen und Melodien, die seinesgleichen suchen. Zum einen spürt sie sich in die Seelenlandschaft eines Gefesselten, zum andern bebildert sie die Welt dieses Gebeutelten, eines jungen Mannes, der mit Strategie krank gemacht wird. Ihr Schreiben ist im wahrsten Sinne des Wortes schaurig schön. Valerie Fritsch schreibt in Sätzen, die mich wie Winde umschmeicheln, die den Schrecken in helle Farben verwandeln, die einen Alp sublimieren.

Ich verneige mich tief vor der Kunst dieser Autorin! Lange her, dass mich Lesen so sehr berührte!

Interview

Natürlich geht es um einen krankhaften Zustand, den die Medizin „Münchhausen-Stellvertretersyndrom» nennt, eine ganz fiese Form der Kindsmisshandlung. Mütter, die in ihrem Umfeld als perfekt, maximal fürsorglich gelten und sich hingebungsvoll um angebliche Krankheiten ihrer Kinder kümmern. Krankheiten, die sie selbst herbeiführen. Aber du legst den Fokus auf das Kind, auf August, zeigst, dass dieses zurückgebundene Leben für immer gezeichnet ist. Und trotzdem wolltest Du viel mehr als die Nacherzählung eines Befreiungsversuchs. Du bist eine Reisende. Doch eigentlich erstaunlich, dass dein neuer Roman eine ganz besondere Reise ist.
Und auch sie begann mit Distanz, denn angefangen hat es damit, dass mir viele allgegenwärtige Phänomene fremd und fern waren und ich ihnen näher kommen wollte, um sie zu verstehen. Drei Jahre lang bin ich durch eine Welt hinter der Welt gereist, jene oft unsichtbare der Gewalt, habe intime Gespräche mit Opfern und Tätern geführt, mit Mördern Kaffee getrunken und durfte durch Schlüssellöcher in viele nicht lineare Leben schauen. Herausgekommen ist ein seltsames Buch über Gewalt und Zärtlichkeit, vor dem ich meine Lektorin am Ende nur gewarnt habe: es ist wild geworden.

»Der schlimmste Augenblick jedes Sommers ist sein Ende.«
Text & Foto © Valerie Fritsch

So sehr die Familie über Jahrhunderte idealisiert und von Politik und Religion immer wieder kräftig instrumentalisiert wurde, so sehr „Familie“ zu einem Traum, einem Ziel, einem Paradies werden kann, so sehr kann „Familie“ Hölle werden. Eine Hölle, die von den betroffenen Kindern mit stoisch scheinender Selbstverständlichkeit ertragen wird. August ist ein ewig Verwundeter. Warum begeben sich Menschen in einen Tunnel, bei dem es keine Umkehr gibt?
Selbstverständlichkeit ist eine hinterhältige Kategorie, sie ist das, was man kennt. Geschlossene Machtsysteme können überall entstehen, Türen zugesperrt, Vorhänge zugezogen werden. Wenn dann noch genug Menschen rundum die Augen verschließen, schaffen es auch die eigenartigsten und schrecklichsten Zustände als Normalität zu gelten, sogar für die Betroffenen. Man trägt schwer an den früheren Verwundungen, sie zerstören mitunter den Vertrauensindex zur Welt. Und es kann in existentiellen Krisensituationen zu einer Logik des Misslingens, einer Folgerichtigkeit der schlechten Entscheidung, sogar dem Glück der bösen Tat kommen: es fühlt sich das objektiv Falsche dann subjektiv richtiger an alles anderes. 

In seiner Zeit in der Stadt, nach seiner ersten grossen Befreiung, muss sich August in seiner Selbstständigkeit zuerst zurechtfinden. Auch mit einem Leben, das sich nach Geschichte sehnt, nach erzählbarer Geschichte. Literatur ist Geschichte. Zusammengetragenes, Versatzstücke, Er- und Gefundenes. August erzählt „Lügengeschichten“, bastelt sich seine Vergangenheit immer und immer wieder neu zusammen. Eine befreundete Schriftstellerin meinte einmal, die Schriftstellerei sei der einzige Betrug, in dem man schadlos lügen kann. Wir hadern mit Wahrheiten, wissen, dass nichts so vieldeutig ist wie die Wahrheit. Tun wir der Lüge unrecht?
Ich denke, die Lüge hat mitunter ihre Berechtigung, außerdem ist sie angenehm eindeutig, manchmal sogar schonend und zartfühlend gemeint. Ganz ohne sie kommt der Mensch nicht aus. Wer würde es schon ertragen, auf einem Familienfest pausenlos mit allen ernstgemeinten Wahrheiten und angestauten Werturteilen beworfen zu werden zwischen Schweinsbraten und Dosenpfirsichkompott? Wer allgemein genug Wahrhaftiges in seinem Leben hat, muss es mit der Wirklichkeit nicht immer so genau nehmen.

»Die Mehrzahl der Toten hatte ihr Bett in riesigen Schränken aus Stein, schlief dort in Schubladen, über- und nebeneinander angeordnet und sorgfältig beschriftet, damit man nicht durcheinanderkam. Es war ein Setzkasten für die Ewigkeit.
Und er erzählte, wie er früher mit den anderen Kindern in den leeren Grabkammern der steinernen Kästen gesessen war, wie sie in den obersten gekrümmt gehockt waren unter der niedrigen Decke wie in Nestern, in den Ecken Vorräte von Süßigkeiten anlegten und Amarettini und Zuckerschlangen aßen zwischen den Toten. Wie sie einander Gespenstergeschichten zuflüsterten.«
Text & Foto © Valerie Fritsch

Du nennst das Dorf, in dem August aufwächst, das „Dorf, das sich mit Enttäuschungen auskannte“. Auch das Wort „Ent-Täuschung“ birgt doch eigentlich etwas Positives. Wird man nicht von Täuschungen befreit?
Enttäuschung ist eine Funktion der Erwartung, sagen die Philosophen. Zu sehen, dass etwas anders ist, als man gedacht und gehofft hat, ist möglicher Weise befreiend, wenn man resilient ist, aber doch in den meisten Fällen zuerst einfach sehr unschön. 

Zwischen August und Ava wächst eine grosse Liebe. Aber auch diese Liebe zerbricht, weil August die Grenze nicht spürt zwischen Zuwendung und Umklammerung, zwischen Hingabe und Besessenheit. Doch eigentlich ganz ähnlich wie die Liebe seiner Mutter damals. Leben ist ein permanenter Befreiungsversuch. So sehr wir uns nach Liebe sehnen, nach einem Spiegel, der uns vor der Einsamkeit bewahrt, so sehr verlieren wir uns in Abhängigkeiten, der Befreiung entgegengesetzt. Hatte August je eine Chance?
August nimmt das Wünschen nach seiner tragischen Kindheit zum Ausgleich besonders ernst: er wünscht sich unbescheiden und glühend die große Liebe, das große Geld, das große Glück, er will leben bis zum Umfallen. 
Diese Kindheit ist nichts vom Rest des Lebens Abgekoppeltes, es ist die Zeit, in der wir Schritt für Schritt zu dem Erwachsenen heranwachsen, der dann entscheidet, wer man sein will und kann. Für eine eigene Identität bedarf es immer einer Kraftanstrengung, und für eine Flucht aus alten Mustern und Systemen einer umso größeren. Unmöglich ist aber nichts, das ist das Schöne am Menschsein. Und das Schreckliche. 

Am meisten fasziniert mich an deinem Roman die Sprache, die Machart, der Ton, was dein Buch in mir evoziert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ein Buch wie das Deinige, so einfach in losen Stücken zusammensetzen kann. Wie gelingt es Dir, dass ich glaube, du hättest Dein Buch in einem Zug, wie im Sprachrausch geschrieben?
Tatsächlich kommt es mir an guten Tagen vor, als würde ich am Schreibtisch zwischen Teetassen und Bücherstapeln mit den Buchstaben komponieren auf der Tastatur. Es hat etwas geheimnisvoll Melodiöses. Ich höre die Sätze. Es ist manchmal wie ein Flow in Zeitlupe: das mag ich sehr.

Valerie Fritsch, geboren 1989, arbeitet als freie Autorin und bereist die Welt. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 wurde sie mit dem Kelag-Preis und dem Publikumspreis ausgezeichnet. 2020 erhielt sie den Brüder-Grimm-Preis für Literatur. Sie lebt in Graz und Wien.

«Herzklappen von Johnson & Johnson», Rezension

Webseite der Autorin

Beitragsbild © oxyblau/Suhrkamp Verlag

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime – eine Würdigung von Klaus Merz

Anlässlich der Buchtaufe von Markus Bundis neuem Roman «Wilde Tiere» am 10. März dieses Jahres im Gluri-Suter-Haus in Wettingen, bei der Klaus Merz, aktueller Träger des Schweizer Literaturpreises, die Veranstaltung moderierte, verfasste Klaus Merz eine mehr als treffende Einführung zu «Wilde Tiere». Hier wiedergegeben eine leicht angepasste Fassung:

«Das Kaleidoskop sei ein optisches Gerät, das häufig als Kinderspielzeug verwendet werde, so Wikipedia. Es war ursprünglich schon den alten Griechen bekannt, wurde jedoch erst 1817 als Patent angemeldet. Ein Physiker war bei seinen Untersuchungen über die Polarisation doppelbrechender Kristalle darauf gestossen, als er solche in eine spiegelnden Metallröhre schob und betrachtete.

In unserem Fall aber giesst der Schriftsteller Markus Bundi in seinem neuen Buch mit dem Titel «Wilde Tiere» ein knappes Dutzend nicht über jeden Zweifel erhabene menschliche Individuen wie unsereins, ein paar Kunstmuseen von Rang und die dazu gehörenden Kunstwerke samt einer vermuteten Leiche kurzerhand in seine verspiegelte Rollen-Prosa-Röhre.

Bundi lässt in der Folge Kollers Gotthardpost samt erschrecktem Kalb und Dalis Brennende Giraffe plus Schubladenfrau miteinander die Wege kreuzen, hortet ein gestohlenes Bacon-Porträt im düsteren Abstellraum, während Boschs Knabe mit Windrädchen leise den Wänden entlang vorüberzieht. Das Zürcher Kunstmuseum vermischt sich als Ort des Geschehens lichterdings, so übrigens der Titel eines frühen Bundi-Gedichtbandes, mit dem Kunstmuseum in Wien, die neue, lotterige Aarauer Kunsthausterrasse korrespondiert mit dem ältesten öffentlich zugänglichen Kunstmuseum der Welt im reichen Basel. Und das Putzpersonal der gehobenen Anstalt mischt sich äusserst mitteilsam unter die recherchierenden KriminalistInnen vor Ort.

Von Anfang an nicht zu übersehen der ganz und gar hiesige Hausmeister Binz sowie der alte Kunstkenner Assinger, dem Namen nach vermutlich gebürtiger Österreicher – oder ist er gar dem Umfeld von Robert Walsers Aschinger zuzuordnen? – Er trägt einen Topas als Erbstück an seinem Finger und Droste-Hülshoffs Satz «Du hast die Erde, hast den Himmel und deine Geister obendrein» stets in seinem Herzen. – Und ich kann Ihnen versichern, liebe Leserinnen und Leser, weder die Direktorin des Hauses noch Greta Thunberg kommen ungeschoren davon, sogar Frau Merkel wird fast liebenswürdig «verhundst». Und ein Zwillingsschicksal nimmt, als weiterer Nucleus eines möglichen Romans im Roman, einsam seinen Lauf, während Wärter Odradek, das kafkaeske Museumsfaktotum per se, über Olafur Eliassons geflutete Zumthor-Räume in Bregenz nachdenkt und Marco Odermatt im Kunstschnee weiter siegt.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime, 2024, 115 Seiten, CHF ca. 22.90
ISBN 978-3-99120-037-6

Nur, geneigte Leserinnen und Leser, leider weit und breit keine wilden Tiere, sondern im Grunde lauter «Denkzettel». Diese triftige Gedankensammlung Markus Bundis von 2022 findet hier ihre novellistische Fortsetzung. Als wildes Sinnieren.
Soviel als Versuch einer kurzen Einführung oder Entsprechung, will sagen, wilden Leseanleitung zu «Wilde Tiere», diesem sozusagen postmodernen Suchbild in Prosa, worin sich das Nichts und Abernichts auf Schritt und Tritt mit unserer Gegenwart vermischen und der heutige Zeitgeist bei Gelegenheit kurz und gehörig gegeisselt wird. Fast alles wird vom Autor mit einem knirschenden Lachen auf den Stockzähnen in den Prosa-Häcksler geschoben. Auch der Mord als Vorwand und Köder für die neugierige Leserschaft.

Wir sollten in diesem kaleidoskopischen Suchbild also vor allem dem Autor selber auf der Spur bleiben, da er ja – wie immer in literarischen Texten – der eigentliche Täter ist und bleibt. – In unserem Fall lautet sein Leitsatz übrigens: «Ich halte den Realismus für einen Irrtum.» Markus Bundi setzt diese Aussage von Georges Bataille als gestrenges Motto schon vor den Anfang seiner Geschichte. – Viel Vergnügen bei der Lektüre und Lesung von Markus Bundis «Wilden Tieren»!» 

Klaus Merz

Markus Bundi, 1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte, zuletzt  «Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig» und «Des Möglichen gewärtig. Ein Essay zum Werk von Klaus Merz». 2018 veröffemtlichte er sein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk «Wirklichkeit im Nachsitzen» und seit 2011 erscheint unter Bundis Herausgeberschaft die Klaus-Merz-Werkausgabe im Haymon Verlag. Bei Septime erschienen bisher der Kriminalroman «Alte Bande, Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte» und «Die letzte Kolonie».

Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Franjo Seiler

Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger

Es gibt Geschichten und Stoffe, bei denen man sich wundert, dass sie so lange schlummerten, so lange warten mussten, bis jemand Literatur aus ihnen macht. Was Margrit Schriber mit ihrem Meisterstück „Die Stickerin“ gelungen ist, ist verblüffend und weht den Wind grosser Gefühle und grosser Leidenschaften in meine kleine Lesestube.

Sie sei dem Stoff vor vielen Jahren über den Weg gelaufen. Und auch wenn andere Bücher zuerst geschrieben werden mussten, reifte der Stoff, bis er sich nicht mehr zurückhalten liess“, erzählte Margrit Schriber anlässlich ihrer Buchtaufe im proppenvollen Saal beim Hotel Hofweissbad, unweit von jenem Ort, an dem die Protagonistin Maria Antonia Räss 1893 zur Welt kam. Im Appenzell Innerrhodischen, auf einem kleinen Bauerngut auf dem Wellenhügel, einem niederen Gehöft, in dessen Webkeller die kleine Maria Antonia schon fünfjährig als flinke Fädlerin auffiel, reist die auserwählte Sechzehnjährige als Schaustickerin in die europäischen Metropolen, als eigentliches Exportgut eines Bauernkantons, im Schatten der Stickereimetropole St. Gallen und erobert später aus ihrer Broderie in New York die Haute Couture und den Geldadel des 20. Jahrhunderts.

Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger, 2024, 233 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-03762-111-0

Die Gegensätze in Margrit Schribers Roman könnten grösser nicht sein: Hier das beschaulich, niedlich scheinende Appenzellerland, dort die Schluchten New Yorks. Hier die düster feuchten Keller im Hof Grüt, dort die mondäne Broderie im Rockefeller Center. Hier der Geruch nach Ziegen und Kuhmilch, dort der müde Kater auf dem Samtkissen. Margrit Schriber leuchtet das Leben der reichen Tante in Amerika nicht aus. Den reichen Teppich aus Fakten und Fiktion bestickt Margrit Schriber gekonnt zu einem Zeugnis des 20. Jahrhunderts, der Geschichte einer Frau, die sich nicht bestimmen lassen will, ausgewandert aus einem Landstrich, indem das Frauenstimmrecht erst nach dem Tod der Protagonistin 1990 von den Männern gnädigst angenommen wurde, eingetaucht in ein Land der Einwanderer, ein Land, das von Kriegen und Weltwirtschaftskrisen gebeutelt wurde.

„Maria Antonia Räss. Die Stickerin“ ist ein Roman von unbändiger Kraft, auch ein Spiegelbild der Autorin selbst, die ein Leben lang mit den traditionellen Einordungen und Zuschreibungen zu kämpfen hatte. MAR, Maria Antonia Räss regierte zu Lebzeiten unangefochten ein Imperium und verschaffte vielen in ihrem Heimatkanton ein sicheres Einkommen. Sie, die es in Übersee schaffte, aus der Namenlosigkeit Bedeutung zu generieren, eine Vertraute Coco Chanels wurde, eine Muse Walt Disneys, inszenierte ihre Besuche im Appenzellerland stets zu grosszügigen Triumpfzügen, bei denen sie im besten Hotel des Ortes Hof hielt. Die kleine Frau, die die Upperclass der Staaten blendete, gab sich im Heimatkanton als Wohltäterin und heimliche Rächerin an den festgefahrenen Strukturen einer patriarchalischen Welt.

Aber Margrit Schribers Intention war kein Denkmal, kein Geschichtsbuch und keine Tellerwäscherinnenbiographie. Margrit Schriber zeichnet ein Porträt einer ewig suchenden Frau. Sei es die Suche nach Anerkennung, nach Liebe und Geborgenheit, nach Sicherheit und Respekt. Maria Antonia Räss bleibt auch nach der Lektüre des Romans ein Rätsel. Eine stellvertretende Geschichte all jener, die sich auf den mühsamen Weg der Selbstbestimmung machten, die den Kampf nicht scheuten, die sich nie entmutigen liessen. „Die Stickerin“ ist die Lebensgeschichte einer Frau, die sich ihren nie gestillten Sehnsüchten stellte, die aufrecht blieb, sich in keine Schublade drängen liess.

Bühne ihres Romans ist der Rathaussaal im Kantonshauptort Appenzell, in dem sich alle rechtmässigen und ungeladenen Sippenmitglieder zur Erbteilung versammeln. Auf einem Tisch im Saal ist alles zusammengetragen; Gerätschaften, Porzellan, Handtaschen, Fotos, Briefbündel und eine vernagelte Kiste Dom Pérignon, alles, was von dem einstigen Riesenvermögen übrig geblieben ist. Ziemlich wenig angesichts dessen, was sich in den Vorstellungen ihrer Verwandtschaft über die Jahrzehnte als scheinbare Tatsache verfestigte. Erstaunlich wenig für ein Leben, das die Protagonistin in ihren späten Jahren mit viel Pomp inszenierte.

Maria Antonia Räss starb 1980 auf einer ihrer Reisen in ihren Heimatkanton. Begraben wurde sie auf dem Friedhof Eggerstanden, neben der Kirche, die ohne ihr Geld nie so hätte erbaut werden können. Margrit Schriber schreibt sich mit „Die Stickerin“ nicht nur ins Selbstbewusstsein eines kleinen, traditionsreichen Kantons. Margrit Schriber schrieb mit „Die Stickerin“ einen fulminanten Roman über den Kampf einer Frau durch die Zeit.

Vielfach faszinierend!

Interview

Was für ein Roman, was für ein Buch, was für eine Geschichte. Ich war an der Bauchtaufe im Hotel Hofweissbad im Kanton Appenzell Innerrhoden, einem Ort, der wie die Geschichte von Maria Antonia Räss die Geschichte des kleinen Kantons im 20. Jahrhundert repräsentiert, einer Geschichte zwischen Monarchie, Diktatur und Demokratie, eine Geschichte der Industrialisierung, der Moderne, einer Geschichte zwischen Tradition und Aufbruch. War dir von Anfang an bewusst, wie viel Potenzial in diesem Stoff steckt?
Zuerst war da nur diese Maria Antonia Räss und ihre exzentrischen Auftritte als Frau von Welt, die mich beeindruckten. Als ich mich in die Kinderarbeit an einer Stickmaschine vertiefte, begriff ich, dass sehr viele Vorhänge aufgezogen werden müssen. Schliesslich waren 100 ereignisreiche Jahre aufzudecken. Ich musste den Einfluss der Geschichte auf eine Region erforschen, die ich überhaupt nicht kannte. Die Wirkung der Zeit auf Menschen mit einem anderen Lebenshintergrund, einer anderen Kultur, einer anderen Melodie von ihrem Wellenhügel. Aber nicht nur das. Ich musste die Gestaltungskraft dieser Menschen und die Anziehung der Welt auf sie ergründen. Ich durfte mich nicht nur mit Landsgemeinde-Berichten, der wechselnden Wirtschaft und der europäischen Geschichte zufrieden geben. Diese Tochter eines Geissenbauern ist nach New York ausgewandert, hat sich dort auf dem allerbesten Platz positioniert, den Stickenden in der Heimat Arbeit verschafft und sich auch nach China orientiert. Mein Stoff war entsprechend aufregend, anspruchsvoll, vielseitig und spannend.

Du hattest nie die Intention, eine Biographie zu schreiben. Und trotzdem hat die Buchtaufe unweit des Geburtsorts der Protagonistin bewiesen, wie sehr Du den Nerv dieser Existenz, dieser Zeit getroffen hast. Du hast ein Stück Stellvertretergeschichte geschrieben. Du hast genau soviel Fiktion miteingeschrieben, in das sonst nur undeutliche Bild einer starken Frau hineingestickt, dass sämtliche BesucherInnen dieser Veranstaltung das Gefühl hatten, Du hättest ein Denkmal gesetzt. Auch ein Denkmal für all die Frauen, die in der Fremde vergessen gingen.
Tatsächlich habe ich mich ohne Nebengedanken oder Berechnung durch meinen Stoff hindurch gearbeitet. Und dies mit einer Leidenschaft sondergleichen. Ich verliebe mich in meine Figuren. Ich langweile mich rasch. Meine Figur muss also so sein, dass ich den Kopf nach ihr drehe und nicht mehr wegschauen kann. Ich verschaffe ihr eine Präsenz, die mich erfüllt. Ich will nicht wissen, dass sie zwischen zwei Buchdeckeln lebt. Sie ist ein Teil von mir. Ihr Leben ergibt für mich einen Sinn.

Maria Antonia Räss reiste als Schaustickerin mit sechzehn in die europäischen Metropolen und mit siebenundzwanzig mit nichts als einem Traum und einer Sticknadel aus englischem Stahl ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ausgerechnet aus einem Kanton, in dem die Frauen ein sonst unscheinbares Dasein in der Familie und im Web- oder Stickkeller führten, mit einer Schiffspassage ohne jeden Luxus, ohne Rückfahrkarte. Eine Reise weit, weit weg von allem, was ihre Welt bisher ausmachte. Dein Roman beschreibt auch eine verwundete Frau, ohne Psychologisierung. War es die Lust an dieser offenen, unbeschriebenen Weite?
Da müsste ich mich selber fragen. Warum schreibe ich? Weil es mir unbekannte Wege öffnet? Weil jedes Buch ein Tanz mit dem Leben auf Probe ist? Das Leben lässt wenig Wahl. Was passiert, das passiert. Das Leben ist immer der Ernstfall. Und es ist kurz. Viel zu kurz. Ein Roman ist die tausendfältige Möglichkeit. Eine offene, unbekannte Weite der Phantasie. Das macht Lust, die Augen zu schliessen und loszuziehen. Die Stickerin benutzte dazu ihre Nadel. Ihr Freund Walt Disney nutzte den Zeichenstift. Ich die Tastatur meines Computers. 

Maria Antonia Räss im Micki-Mouse-Car, mit ziemlicher Sicherheit mit Walt Disney

Maria Antonia Räss hatte einen Traum, den sie mit allen Mitteln Tatsache werden lassen wollte. In vielem entspricht ihre Geschichte auch Deiner Geschichte. Deine Reise war eine in ein männer-dominiertes Literaturestablishment, eine Reise, bei der Du noch immer nicht sicher angekommen scheinst. Der Literaturbetrieb ist wie der Modebetrieb eine Welt der Halbgottheiten. Warum verfallen wir so leicht dem Zwang der Schubladisierung, der Macht der Vorurteile, dem Schein des welt“männ“ischen Gestus?
Es ist, wie Du sagst. Und ist es so wie Du sagst, weil zu viele den Kopf nicht nutzen? Ist man zu oberflächlich? Ist es einfacher, andere denken zu lassen, und sich diese Idee dann als eigenes Etikett weithin sichtbar aufzukleben. Es ist bequem, denn das Urteil ist ja vorhanden. Man kann sich bedienen. Zudem ist die Meinung der Gesellschaft eine Macht, wenn nicht gar ein Gesetz. Das eigene Urteil könnte womöglich Ausschluss von der Gesellschaft bedeuten?   

Die Craisy Woman war im Alter eine Diva, ihre Inszenierung ein Schutzpanzer. Wir inszenieren uns alle. In deinem Roman schimmert eine verletzliche, suchende, leidenschaftliche Frau durch. Dieses Durchscheinende hat aber nichts melodramatisches, nichts exhibitionistisches. Es ist derart zart, fast fluid, dass ich versucht bin zu glauben, dass es gar nicht in Deinem Interesse stand, ein scharfrandiges Bild zu zeichnen. Wolltest du so die Bilder den Lesenden überlassen?
Letztendlich: Was weiss man vom Anderen? Was versteht und begreift man vom Anderen? Der Mensch ist sich selbst ein Rätsel. Will man sich überhaupt bis ins letzte verstehen? Der Wind weht unsere Geheimnisse in alle Richtungen. Und es ist gut so. Ich fand heraus, dass Maria Antonia Räss ihre grosse Liebe zu beklagen hatte. Er war Jude und verschwand in einem Lager. Liebe, Hoffnung, Sehnsucht sind Kräfte, die den Menschen zu Ausserordentlichem bewegen können. Sie geben uns ein Ziel. Ich gestand meiner Figur solche Kräfte zu. Denn was die Crazy Woman erreichte, war ausserordentlich. Woher nahm sie diese Kraft? Für mich war die Antwort klar. Die Sippe von Maria Antonia Räss musste begreifen, dass sie das Leben von der «Der reichen Tante» nie ergründen wird. Daraus ergab sich für mich als Autorin etwas Wunderbares, denn die Verwandten griffen nach tausend Fantasiefäden und machten eine Geschichte daraus.

Margrit Schriber, 1939 in Luzern geboren, lebt in Zofingen und in der Dordogne. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell, bevor sie Schriftstellerin wurde. Ihr umfangreiches literarisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, zB. 1977 Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung oder 1998 Aargauer Literaturpreis.

Folgende Titel sind auf literaturblatt.ch besprochen: «Das Abenteuer, eine Frau zu sein» (2022), «Die Vielgeliebte meines Mannes» (2020), «Glänzende Aussichten» (2018), «Schwestern wie Tag und Nacht» (2014)

Porträt auf SoundCloud

Webseite der Autorin

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung

Was wünscht sich ein Mädchen, eine junge Frau mit 14? Die Zugehörigkeit in einer Peergroup, Anerkennung, die Sehnsucht nach der grossen Liebe, Träume, Freundschaften. Matthias Gruber hat sich in seinem preisgekrönten Debüt „Die Einsamkeit der ersten Art“ ein Leben ausgesucht, dass von vielem ausgeschlossen ist.

Eigentlich ist sie doch mit ihrem Namen schon gestraft; Arielle. Arielle leidet unter einem Gendefekt. Was heisst; Arielle hat als Mädchen fast keine Haare auf dem Kopf, fast keine Zähne im Mund und kann nicht schwitzen. Nicht nur die heissen Sommer sind ihr ein Graus, jede körperliche Anstrengung, das Leben überhaupt. Ektodermale Dysplasien heisst diese Krankheit, oder noch nichtssagender XLHED. Matthias Gruber nennt den Namen dieser Krankheit in seinem Buch nie. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist auch kein Buch über diese Krankheit. Und doch trägt das Mädchen den Makel mit sich. Ein Makel, der nicht abgelegt werden kann in einer Welt, die sich vor allem an Äusserlichkeiten orientiert. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist auch kein trauriges Buch, sondern mit erstaunlich viel Witz und Humor erzählt. Ein Buch, das mit diesem Makel kein Kapital schlagen will, schon gar kein emotionales.

Arielle geht zur Schule. Während sich ihre Klassenkolleginnen über Social Media ganz über ihre Äusserlichkeiten definieren und die Jungs weit entfernt, wie auf einem unerreichbaren Planeten ihr Ding abziehen, wächst Arielle in einem Zuhause auf, das wenig Zeit hat für die Nöte der Tochter. Der Vater verdient sein Geld mit Entsorgungen und Räumungen und sucht in entsorgten Computern auf Festplatten nach Kryptowährung. Aber weil er, vom Amt zu Räumungen geschickt, mit dem Sammelgut auf illegalen Wegen Bares kassiert, fällt er in Ungnade und ist mehr und mehr auf das Geschick seiner psychisch labilen Ehefrau angewiesen. Aber auch sie ist von sich selbst gefangen, hofft mit Kosmetikartikeln das grosse Geld zu verdienen, über Social-Media-Kanäle zur Influencerin zu avancieren, in der Hirarchie eines Schneeballsystems die grosse Bühne zu besteigen.

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-99027-280-0

Arielles Vater werkelt in seiner Kammer und sucht nach einem Schatz, Arielles Mutter schichtet in ihrem Keller, in ihrer Online-Boutique – und Arielle versucht mit dem Leben mehr oder weniger alleine zurechtzukommen. Am meisten weggetragen fühlt sie sich, wenn sie mit ihrem Vater im Lieferwagen auf Tour ist, oder wenn sie auf der Müllsammelstelle, wo alles landet, was als Spur hinter den Menschen hergezogen wird, im Studio von Aljosha, in einem Container beim Schrottplatz eine Atempause findet, wenn sie sich in die Welt am Rand mischt.

Und doch möchte ausgerechnet sie helfen. Ihrem Vater, ihrer Mutter, ihrer Freundin Yasmine und Aljosha, der von einem Leben in Berlin träumt, von einer Kunstschule, weit weg vom Schmuddeldasein und den Blicken all jener, die ihn in seinem Andersein höchstens tolerieren. Aljosha ist schwul.

Die Situation spitzt sich zu, als Arielle sich ein gebrauchtes Handy unter den Nagel reisst und mit den Fotos eines unbekannten Mädchens nicht nur der Mutter unter die Arme greifen will, sondern damit auch einen Feldzug gegen Jungs führen, bei denen sie als sich selbst nur Unverständnis ernten würde. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist eine bunte Geschichte, von den Rändern her erzählt, ein Stück Menschengeschichte, als wäre diese an ein Ende gestossen, als würde sich das Menschsein in lauter Sinnlosigkeiten bis hin zu Müllhalden und Schrottcontainern ausleeren. 

Wenn Matthias Gruber von den Anstrengungen der Mutter erzählt, im Kosmetikbuisiness Fuss zu fassen, dann sträuben sich die Nackenhaare. Wenn die Krone der Schöpfung nur noch hinter Äusserlichkeiten herhechelt und man den wahren Kern von Leben und Sterben aus dem Blick verloren hat, dann ist „Die Einsamkeit der ersten Art“ nicht tröstlich, aber äussert unterhaltsam, mutig erzählt, frisch von der Leber. Matthias Gruber ist eine unverkrampfte, junge Stimme von der ich mir viel verspreche.

Interview

Zuerst möchte ich Ihnen zum Rauriser Literaturpreis gratulieren! Wer einen Blick auf die Liste aller ehemaligen PreisträgerInnen wirft, ist beeindruckt. Das sind keine Eintagsfliegen. Viele der Namen sind heute Eckpfeiler der deutschsprachigen Literatur. Setzt Sie das nicht etwas unter Druck oder kann man den Preis einfach als Anerkennung für die Qualität eines ersten Romans geniessen?
Zusätzlichen Druck verspüre ich zum Glück noch nicht. In erster Linie freue ich mich einfach, dass der Roman durch den Preis noch etwas zusätzliche Aufmerksamkeit bekommt. Es erscheinen so viele großartige Bücher und das in einer solchen Geschwindigkeit, dass ein einzelner Roman nicht viel Zeit hat, um seine Leser*innen zu finden. Vielleicht kann der Preis diese Zeitspanne ein wenig verlängern.

Obwohl die Pupertät eine Zeit des Suchens und Ausprobierens ist, ist es bei vielen Jugendlichen genau die Zeit, in der man auf keinen Fall aus der Reihe tanzen will, in der man zu erstaunlich viel „Uniformierung“ bereit ist, sich einer Peergruppe anschliesst und alles peinlich findet, was keiner Norm entspricht. Gewisse Menschen scheinen aber gar nie darüber hinauszukommen! Arielle (Was für ein Name!) hat keine Chance, einem Bild zu entsprechen, genetisch bedingt. Während andere, scheinbar ebenso genetisch bedingt, unumstösslich in dieser Norm gefangen sind. Ist Schreiben ein Ausbruchsversuch?
Ich denke, wir alle tragen diese verbesserten Versionen von uns in der Hosentasche herum. Auf unseren Social Media-Profilen spielen wir uns selbst und möchten dabei klüger, schöner und witziger erscheinen, als wir uns im echten Leben fühlen. Mich hat interessiert, wie es einem Menschen geht, dem das nicht möglich ist, weil sein Äußeres nicht einfach durch einen Filter oder eine bestimmte Pose verändert werden kann.

Durch Zufall kann Arielle einen eigentlichen Avatar generieren, mittels eines Telefons, das sie sich bei den Touren mit ihrem Vater unter den Nagel reisst. Ein „Spiel“, in dem die Realität mit einem Mal zurückschlägt. Ist das nicht ein bisschen viel Moralität angesichts dessen, was mittels Social Media alles erreicht werden kann? Frage ich meine SchülerInnen in ähnlichem Alter wie Arielle, so ist „InfluencerIn“ ein vielgenanntes Ziel.
Es ging mir beim Schreiben nicht um ein Verteufeln sozialer Netzwerke. Die Arbeit am Buch war eher ein Versuch, auszuloten, wie umfassend diese Plattformen mittlerweile unser Leben beeinflussen: Unser Selbstbild, unsere Beziehungen, die Art und Weise, wie wir unsere Freizeit gestalten und die Welt betrachten. Das betrifft längst nicht nur Jugendliche, sondern alle. 

In einem Interview erzählen Sie, sie hätten zusammen mit ihrem Kind auf einem Spielplatz ein auffälliges Kind gesehen und danach recherchiert. So sei dieses Kind mit dem Gendefekt Ektodermalen Dysplasie in ein bereits angefangenes Manuskript gekommen. Gab es auch den direkten Kontakt mit Menschen mit dieser „Krankheit“? Ist es nicht abwertend, einen solchen Genunterschied als „Krankheit“ zu bezeichnen?
Über die Vermittlung einer Selbsthilfegruppe konnte ich Kontakt zu Menschen mit Ektodermaler Dysplasie aufnehmen und mit ihnen Interviews führen. Ich bin dafür sehr dankbar, denn ohne diese Einblicke hätte ich den Roman gar nicht schreiben können. Die Frage, ob die Bezeichnung Krankheit per se abwertend ist, kann ich nicht beantworten. Ich vermute aber, es kommt auf den Kontext an. Ein respektvoller Umgang mit Betroffenen sollte jedenfalls selbstverständlich sein. Leider ist das oftmals nicht der Fall, wie auch die Interviews für das Buch gezeigt haben. Nicht wenige Menschen mit Ektodermaler Dysplasie werden wegen ihres Aussehens ausgegrenzt, verspottet und stigmatisiert. Vieles, was ich in Interviews gehört habe, konnte ich kaum glauben. 

Bei einem Museumsbesuch trifft Arielle auf jenes Tier, dass als erstes seiner Art vom Wasser ans Land kam. Arielle, die nicht schwitzen kann und eigentlich ganz gerne im kühlen Wasser bleibt, fühlt die Einsamkeit, weil niemand wirklich nachvollziehen kann, was in ihr und mit ihr geschieht. Erst recht, weil wir in einer Gesellschaft der Äusserlichkeiten existieren und dauernd taxieren, schubladisieren und urteilen. Einsamkeit in einer Gesellschaft, die unter Dichtestress leidet?
Das ist ein wichtiger Punkt. Arielle selbst macht ihren Gendefekt selten zum Thema. Natürlich ist er für sie in mancherlei Hinsicht einschränkend, aber zum Problem wird er nur deshalb, weil ihre „Andersartigkeit“ immer und immer wieder von außen an sie herangetragen wird. Erst diese Schubladisierung isoliert sie und macht sie zur Außenseiterin. Die Szene im Naturkundehaus ist für mich auch deshalb eine Schlüsselszene, weil sich in Arielles Wahrnehmung etwas verschiebt. Wie der Ichthyostega wird auch sie plötzlich nicht durch ein scheinbares Defizit definiert. Sie ist die Erste ihrer Art. 

Arielles Mutter leidet an Ekzemen an der Hand und träumt vom grossen Geschäft mit Kosmetika. Ihr Vater entsorgt Hinterlassenschaften, räumt Wohnungen. Auch er träumt; vom lukrativen Kryptogeldfund in „herrenlosen“ Computern. Arielle, die das Spiel mitmacht, sucht aber eigentlich nach ganz anderem; nach Geborgenheit, Freundschaft, Liebe. Unser Tun hängt sich mehr und mehr an digitale Schein- und Nebenwelten. Ihr Roman moralisiert ganz dezent. Er drückt auch nicht auf die Mitleidsdrüsen. Wollen Sie einfach eine gute Geschichte erzählen oder schwingt nicht immer eine Absicht mit im Schreiben?
Ich wollte von Menschen erzählen, deren Welt in Trümmern liegt. Und von ihren oft vergeblichen Versuchen, damit umzugehen. Die Schicksale der Figuren stehen also klar an erster Stelle. Aber natürlich bewegen sich diese Menschen nicht im luftleeren Raum. Die Dinge, unter denen sie leiden, haben Ursachen. Insofern ist es natürlich ein Roman über gesellschaftliche Ungerechtigkeit und ein zutiefst politisches Buch. Vieles bleibt dabei allerdings in der Andeutung. Vieles läuft über Leerstellen, auch sprachlich. Ich finde, ein Roman braucht diesen Raum. Sonst hätte ich ein Sachbuch oder einen Essay geschrieben. 

Matthias Gruber, 1984 in Wien geboren, in Salzburg aufgewachsen, wo er heute mit seiner Familie lebt. Er hat Theaterwissenschaften studiert und als Rezeptionist, im Onlinemarketing und in einer Notschlafstelle gearbeitet. Er ist Mitgründer der Salzburger Stadt-Magazine fraeuleinflora.at und QWANT. »Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art« ist sein erster Roman, für den er mit dem Rauriser Literaturpreis 2024 ausgezeichnet wurde.

Beitragsbild © Eva Krallinger-Gruber

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime – Hauslesung im Literaturport Amriswil

Ein Kunstraub oder gar ein Mord im Museum? Markus Bundis Roman «Wilde Tiere» ist kein Krimi – und schon gar keine Strandlektüre. «Wilde Tiere» ist ein literarisches Abenteuer, geschrieben von einem Schriftsteller, der sich nicht gerne eingrenzen und schubladisieren lässt.

Museen sind Unorte, weder Biotop, noch Lebensraum. Man besucht sie, zuweilen gar nachts. Aber es sind Orte des Schauens. Orte, an denen die Uhr anders oder gar nicht tickt. Orte, an denen die Zeit konserviert wurde, ob Kunstmuseum, Historisches Museum oder dergleichen. Auch wenn Schulklassen manchmal etwas Leben in solche Tempel bringen, bleibt leblos, was da drin von der besten Seite gezeigt wird. Museen sind Orte des Erinnerns, eingelagertes Bewusstsein, nur durch BesucherInnen mit dem Leben, der Gegenwart verbunden.

Dass Markus Bundi in seinem neuesten literarischen Streich einen solchen Unort gewählt hat, ist für einen Philosophen wie ihn doch eigentlich nicht verwunderlich. Sind Museen doch Spiegel der jeweiligen Zeit, passen sich ihrer jeweiligen Zeit wie ein Chamäleon an, wenn auch nicht aus eigenem Antrieb. Museen wollen Antworten geben. Museen wollen zeigen, verblüffen, manchmal bluffen, festhalten, das wie alles andere der Vergänglichkeit unterworfen ist. In seinem Roman „Wilde Tiere“ leuchtet der Schriftsteller in ein ganz besonderes Terrarium.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime, 2024, 115 Seiten, CHF ca. 22.90
ISBN 978-3-99120-037-6

In diesem Haus kreuzen sich die Wege vieler, von Besucherinnen und solchen, die dort arbeiten. Bis eines Morgens die Polizei auftaucht und man im Haus ein Kapitalverbrechen vermutet. Julius Assinger, Stammgast mit Dauerkarte im Museum, wittert den grossen Kunstraub, bis durchsickert, dass in der Herrentoilette des Hauses eine Tote gefunden wurde. Kaum bekannt, überstürzen sich die Mutmassungen. Ist die Direktorin, die erst seit kurzem das Haus führt, Opfer eines Verbrechens geworden? Sie, die alles umkrempelt, dem Museum eine neue Richtung geben will, Einsparungen für notwendig erachtet und lieber Geld ausgibt für elektronische Überwachung statt für Personal? Odradek, der Museumswärter (In Franz Kafkas „Ein Landarzt“ ist Odradek eine nach Sinn und Unsinn fragende Gestalt oder ein Ding, wie eine seitlich gekippte Spule, von der nicht gesagt werden kann, wozu sie nütze wäre.), der in seiner Abstellkammer mehr Zeit mit Sinnieren verbringt, als mit tätiger Arbeit, glaubt an grosse Zusammenhänge und dass das erst der Anfang sein kann. Oder Hammi, die „Putze“, übrig geblieben von einer ganzen Putzkolonne. Oder Greta, die den Museumsshop führt und an der im wahrsten Sinne des Wortes keine und keiner vorbeikommt. Bis mit einem Mal klar wird, dass doch alles ganz anders ist, als angenommen. Kein Wunder in einem Haus, in dem die Scheinwelt eingerahmt an den Wänden hängt.

Markus Bundis Roman ist sonderbar. So museal die Szenerie, so museal die Sprache. Leicht gestelzt, als hätte der Autor beim Schreiben stets den kleinen Finger der Schreibhand nach oben gereckt. Wer ist heute noch ‹frappiert›? ‹Ehedem› und ‹einerlei› – Wörter wie aus dem Setzkasten der Vergangenheit. Markus Bundis „Wilde Tiere“ sind die Figuren im Museum, die durch das Auftauchen der Polizei in Aufruhr gesetzt werden. Hier die stoische Ruhe der Kunst, dort das hektische Treiben der Menschen im Haus. Einem Haus mit offener und versteckter Bühne, mit Räumen und Sälen für das Publikum und solchen, die auf keinem Übersichtsplan vermerkt sind. „Wilde Tiere“ hat kafkaeske Züge und liest sich dann mit Vergnügen, wenn die Lust am Geheimnis grösser ist, als deren Klärung. Was auf den ersten Seiten wie ein Krimi daherkommt und nach Verbrechern und Motiven sucht, ist ein Tiefgang in die Vieldeutigkeit. So wie es die akstrakte Kunst schon lange tut. Ein grotesk-skurriles Kammerstück voller Poesie und Witz für FeinschmeckerInnen!

Markus Bundi, 1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte, zuletzt  «Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig» und «Des Möglichen gewärtig. Ein Essay zum Werk von Klaus Merz». 2018 veröffemtlichte er sein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk «Wirklichkeit im Nachsitzen» und seit 2011 erscheint unter Bundis Herausgeberschaft die Klaus-Merz-Werkausgabe im Haymon Verlag. Bei Septime erschienen bisher der Kriminalroman «Alte Bande, Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte» und «Die letzte Kolonie».

Veranstaltungen:
So, 10. März 2024, 11 Uhr, Wettingen, Gluri Suter Huus, Buchvernissage
Moderation: Klaus Merz

Mi, 17. April 2024, 19.45 Uhr, Lenzburg, Literaturhaus, Lesung mit Gespräch
Moderation: Luzia Stettler

Sa, 4. Mai 2024, 18 Uhr, Amriswil, Maihaldenstrasse 11, Hauslesung bei Irmgard
und Gallus Frei-Tomic, Anmeldung unbedingt an info[at]literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Iris Wolff «Lichtungen», Klett-Cotta

„Lichtungen“ ist die Geschichte von Kato und Lev, eine zarte Liebesgeschichte, die Iris Wolff überraschend erzählt, nämlich in neun Kapiteln vom Ende her erzählt. Haben Liebesgeschichten ein Ende? Jene von Kato und Lev nicht, Iris Wolffs Roman nicht, denn der Schluss des ersten Kapitels ist die Frage „Wohin fahren wir?“. Der Anfang ist ein Schluss ist ein Anfang.

Schon in ihren Romanen zuvor ist die Qualität in Iris Wolffs Erzählen die Zartheit ihrer Sprache, dieses filigrane Netz aus Wahrnehmungen, Empfindungen, das Sichtbarmachen des Unsichtbaren. „Lichtungen“ ist die Geschichte einer Freundschaft, zweier Charakteren, die sich wie ein Doppelplanet umkreisen, bis der eine aus dem Gravitationsfeld ausbricht und damit auch die Umlaufbahn des andern zerreisst. Kato reist in den Westen, bricht auf. Lev bleibt im Dorf, bis ihn eine Karte aus Zürich erreicht: „Wann kommst du?“.

Kato und Lev wachsen in Ceaușescus Rumänien auf, das Mädchen Kato mehr oder weniger alleine, zusammen mit einem alkoholkranken Vater, getrieben vom Wunsch auszubrechen, Lev bei seiner Mutter Lis und seinen Grosseltern, seinen beiden Halbgeschwistern, als jüngster Spross einer Familie, in einem kleinen, grauen Ort. Beide sind Aussenseiter, Lev schwächlich, ohne Antrieb, bei all dem Rudelgehabe in der Schule und im Dorf eine Rolle zu spielen, Kato von fast allen gemieden, nicht zuletzt, weil sie sich mit Stift und Papier von all dem absetzt, was die Interessen aller anderen ausmacht. Und weil man Kato dazu verdonnert, dem kranken Lev die Hausaufgaben ans Bett zu bringen, wächst zwischen den beiden etwas, was mit den Jahren immer mehr zu einer Freundschaft wird, die alles andere zusammenzuhalten scheint.

Iris Wolff «Lichtungen», Klatt-Cotta, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-608-98770-6

Dass Iris Wolff Malerei studiert hat, zeigt sich nicht nur, weil ihre Protagonistin Kato Künstlerin, Zeichnerin, Malerin ist. Iris Wolff hat eine ganz eigene Fähigkeit zu sehen. Sie schreibt aus den Augen ihrer beiden ProtagonistInnen, ohne in ihre Figur hineinzuschlüpfen. Kato entwickelt ihre ganz eigene Art des Sehens, so wie die Autorin selbst. Auch Lev ist ein Sehender, ein Beobachtender, einer, der mehr wahrnimmt als andere und doch das Gefühl nicht wegbekommt, aussen vor zu sein. Ein Gefühl, das ihn restlos einnimmt, als ein Fremder in Fahrradmontur im Dorf auftaucht und Kato dazu bringt, mit ihm das Dorf mit unbestimmtem Ziel zu verlassen. Kato entschwindet und Lev bleibt. Bis er es nicht mehr aushält und ein kläglicher Versuch eines Ausbruchs ihn wieder zurück ins Dorf spült. Bis Lev Jahre später die Karte aus Zürich erhält und endlich aufbricht.

Vielleicht beschreibt der Titel „Lichtungen“ auch die Art der Freundschaft der beiden. So wie das, was zwischen Kato und Lev über die Jahre entstanden ist, genau das, was „Lichtungen“ in seinem Leben ausmacht. Für Lev ist Kato die Tür zur Welt, für Kato Lev ein Stück Zuhause, etwas, das ihr im Vergleich zu allem anderen nicht genommen werden kann.

Lev, der die Schule abbricht, als Soldat nur schwer zurechtkommt, als Waldarbeiter in die Tiefen der rumänischen Wälder geschickt wird und nur überlebt, weil er Freundschaft mit Imre schliesst, einem Mann, der sich dort selbst bestraft und in dessen Sägerei er später Arbeit findet, wird durch ein Leben geschoben. Kato, die sich ihre Welt mit ihrem Stift, mit Pinsel oder Kreide macht, die mit ihrer Leidenschaft immer am Fenster zur Welt steht, zieht es weg. Eine Freundschaft in Gegenseitigkeit. Eine Freundschaft, die in Liebe eingetaucht ist, in die sich Leidenschaft mischt, die aber immer zuerst Freundschaft bleibt, bis zu diesem einen Satz „Wohin fahren wir?“.

Ihre Strategie, die Geschichte von Kato und Lev in ihrer Chronologie zurückzuerzählen, scheint experimentell. Aber ein Blick zurück, auf ein Leben, eine Geschichte, auch auf die Geschichte eines Landes, jener Ecke Rumäniens, die die nationale Zugehörigkeit immer wieder wechseln musste, ist immer ein Blick zurück. Nur die meist gewählte Erzählrichtung liegt in der Gegenrichtung. Aber während des Lesens von „Lichtungen“ erschliesst sich Schicht um Schicht, erklärt sich Bild um Bild.

Warum „Lichtungen“ ein ähnliches Lesegefühl wie „Die unendliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera bei mir auslöst, weiss ich nicht wirklich. Aber beim Lesen, ich las den Roman gleich zweimal hintereinander, war da das Gefühl, an etwas Besonderem teilhaben zu dürfen.

Interview

Ich bin begeistert und schwer beeindruckt. Zum einen ist es eine Geschichte, in der viele Themen eingebunden sind. Aber genauso deine Art des Erzählens, die Zartheit deiner Sprache, die mich ans Zeichnen erinnert. Es sind keine opulenten, mit Öl gemalten Bilder, sondern Zeichnungen in Pastellfarben, ohne je rührselig oder kitschig zu wirken, fein skizziert, mit vielen Zwischenräumen, Zeichnungen in der perfekten Mischung aus Schmeichelei und Herausforderung. Wie passiert Schreiben bei Iris Wolff? Was sind die Zutaten, dass es klappt? Gibt es Dinge, die du um jeden Preis vermeidest?

Die wichtigste Zutat ist Stille. Sprachliche Äußerungen deuten Wirklichkeit, reduzieren sie, verfehlen sie manchmal haarscharf. Es ist schwer, etwas wirklich Neues zu denken und zu schreiben; nicht immer dieselben Erfahrungen zu machen, weil sich die Zukunft aus den Mustern der Vergangenheit wiederholt. Er wolle malen, was er sehe, und nicht, was er wisse, soll William Turner formuliert haben – dabei ist es geradezu unmöglich, die Welt zu sehen, wie sie an sich ist, weil sich alles immerzu in unsere Gedanken einfärbt. Was mir hilft ist Stille. Dort sind Dinge und Erfahrungen noch nicht beurteilt, zergliedert, analysiert. Sie sind einfach da; sie sind groß, überwältigend, mitunter widersprüchlich. Aus dieser Kraft heraus sind Sätze möglich, die jene Balance halten zwischen Präzision und Offenheit, zwischen Gesagtem und Angedeuteten. Was ich unbedingt vermeiden möchte: Meine Figuren festnageln, ausdeuten ins grellste Licht zerren. Ich möchte ihnen möglichst unvoreingenommen begegnen; sehen, was sich verbirgt, zeigen, was ungesagt ist, aber doch auch gleichzeitig das Verborgene, ihr Geheimnis hüten.

Landschaft im Iza-Tal, © Iris Wolff

Die Freundschaft zwischen Kato und Lev ist ein feinmaschiges Geflecht, das den beiden ganz unterschiedliche Positionen erlaubt. Obwohl es zwischendurch ganz ordentlich knistert und Eros schon früh mitspielt, lassen sich die beiden nie bis zur letzten Konsequenz auf den anderen ein. Weil sie ahnen, dass Leidenschaft Leiden schafft?

Mir war es wichtig, in der Schwebe zu lassen, ob es Liebe oder Freundschaft ist. Jeder Freundschaft ist Liebe beigemischt, und jeder Liebe Freundschaft. In der Malerei gibt es in der Moderne die Tendenz, den Rand freizulassen. Es wird nicht etwas gezeigt, sondern das Bild zeigt sich. So wie in Katos Skizzen die Strichführung sichtbar ist, ihre Spontaneität, Wucht, Feinteiligkeit, möchte ich auch in der Literatur mit offenen, unbeschriebenen Rändern schreiben – einen weiten Raum öffnen. So können sich Leserinnen und Leser zu einer Geschichte in Beziehung setzen (mit ihren Fragen, inneren Bildern) und letztlich selbst entscheiden, was das zwischen Lev und Kato ist. 

Weder Lev noch Kato wachsen in klassischen Familien auf, in Familien, die einem Muster entsprechen. Beide fühlen sich nie ganz und gar zuhause, sicher, aufgehoben. Da ist bei beiden die Sehnsucht nach mehr. Nur manifestiert sich diese Sehnsucht ganz unterschiedlich. Bei üblicher Erzählweise frage ich gerne, ob während des Schreibens der Weg oder gar das Ende klar vor Augen war. Du erzählst zuerst den Schluss. Warum diese Strategie?

Ich habe Lev im Bett liegend kennengelernt, als kleinen Jungen, der nach einem Unfall seine Beine nicht mehr bewegen kann. In dieser reduzierten Welt, bestehend aus Bett, Haus und Familie, aus Geschichten und Geräuschen, war alles enthalten. Ich wusste: Sein Leben wird rückwärts erzählt, denn so begegnen wir einander auch im „echten Leben“. Man lernt jemanden kennen, und wenn sich die Begegnung verstetigt, erfährt man nach und nach, was denjenigen zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist. Die Form setzt den Rahmen für bestimmte Fragen. „Jedes Jetzt enthält das Vergangene“ – das ist eine Erkenntnis, die Lev in Zürich, am Anfang des Romans hat. Ich habe mir gewünscht, dass er die Traumata seiner Kindheit eines Tages hinter sich lassen und dass er neu beginnen kann. Ohne Kato wäre ihm das nie gelungen. Erzählerisch war diese Strategie eine Herausforderung, und habe mir vorgenommen, es mir beim nächsten Buch leichter zu machen 😉

Man muss sich aufmachen. Kato und Lev tun es. Du tust es mit jedem Buch. Du machst dich auf in dein Herkunftsland, eine Geschichte, in „fremdes“ Leben. Angesichts der aktuellen Geschichte, der Probleme, die ungelöst anstehen, scheint mir die einzig wirksame Losung zu sein, sich aufzumachen. Weder in der aktuellen Politik noch in Klimafragen spüre ich diesen unbedingten Willen. Vielleicht deshalb meine Überzeugung, dass die Literatur, die Kunst, dieses Aufmachen initieren kann. Wer liest, macht sich auf in andere Welten, öffnet sich. Oder ist Schreiben doch nur Selbstzweck?

Diese Frage berührt den Kern des Buches. Lev und Katos Geschichte ist als Reise in die Vergangenheit angelegt, weil Erkenntnis am leichtesten rückwirkend geschehen kann. Umso frustrierender, wenn wir merken, dass der Mensch anscheinend nicht fähig ist, aus den vergangenen Jahrhunderten mit seinen Kriegen und Diktaturen zu lernen. Der Blick zurück ist wichtig. Aber wahre Veränderung ist nur möglich, wenn man sich traut, radikal neu zu denken. Es kommt mir vor, als laborierten wir an Systemen herum, die grundsätzlich nicht mehr taugen. Nehmen wir das Beispiel Klimaschutz oder unser Umgang mit der Tierwelt. Wir gehören zur Natur, sind abhängig von anderen Lebewesen. Aber die menschliche Gier setzt sich über diese Einsicht hinweg. Dabei haben wir eine gemeinsame Geschichte, eine Übereinkunft: dass das Leben nur im Verbund möglich ist. Aber statt eine neue Tier-Ethik aufzustellen oder den Mut zu haben, Klimaschutz als oberste Priorität zu setzen, werden nur ab und an (oft genug nicht einmal das) Gesetze verabschiedet, die etwas verbessern sollen. Man könnte, wenn man hier in die Tiefe geht, leicht verzweifeln. Was Bücher auf einzigartige Weise können ist: Empathie erzeugen. Weil wir mit Büchern die Welt aus den Augen eines anderen Menschen sehen. Das gilt generell für Kunst: Wir weiten – für die Dauer eines Films, eines Buchs, eines Musikstücks – die Grenzen unseres fest gefügten Selbst und begreifen vielleicht, wie sehr alles miteinander verbunden ist. 

„Lichtungen“ ist auch ein Buch der Auslassungen, der Ungewissheiten. Du leuchtest die Szenerien nicht aus. Dein Roman will nicht erklären. Es sind „Lichtungen“, die du beschreibst. So wie die eine Szene im Wald, der Kampf zwischen zwei Wölfen. Eine Szenerie, die nicht verdeutlicht, aber eine Stimmung erzeugt, eine Ahnung, Diskussionsstoff für ganz viele Leserunden, die sich mit deinem Buch zusammensetzen. Wie sehr ist dein Schreibprozess, dieses Buch, der Spiegel deiner ganz eigenen Prozesse? Oder wie sehr öffnest du dich im Schreiben der Einmischung und Beeinflussung?

Jedes Buch ist wie ein weiterer Jahresring eines Baums. Bücher sind Wachstumsprozesse. Es kann mitunter befremdlich sein, aus früheren Werken zu lesen; ein wenig so, als würde man alte Fotoalben durchblättern. Jeder neue Text verhandelt Fragen und bezeugt sicher auch Veränderungen der Weltwahrnehmung. Ich habe in Lichtungen mit Lev gelernt, dass das Gegenteil von Sprechen nicht Schweigen ist, sondern Hören. Dass es wichtig ist, ab und an zu überprüfen, ob Glaubenssätze und Selbstbilder einen am Gehen hindern. Und was den Schreibprozess anbelangt: Ich habe das Manuskript lange für mich behalten, weil ich Angst hatte, dass mir jemand das Rückwärtserzählen ausreden wird. Gleichzeitig bin ich immer offen für Einmischung. Die besten Hinweise begegnen einem zufällig. Wenn man auf „Empfang“ gestellt ist, arbeitet das Leben, der Zufall, die Natur, andere Menschen an der Geschichte mit. 

Iris Wolff liest am 8. Juni in Frauenfeld CH!

Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, Siebenbürgen, studierte Germanistik, Religionswissenschaft, Grafik und Malerei. Sie ist Mitglied des internationalen Exil-PEN und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Marieluise-Fleißer-Preis und den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk. Für «Die Unschärfe der Welt» (2020) erhielt unter anderem den Solothurner Literaturpreis. Ausserdem wurde der Roman sowohl von deutschen als auch von Schweizer Buchhändlern zu einem der fünf beliebtesten Bücher gewählt. Iris Wolff lebt in Freiburg im Südwesten Deutschlands.

Rezension von «So tun, als ob es regnet» auf literaturblatt.ch

«(Er)zählen», Iris Wolff, Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Max Gödecke

Helga Bürster «Als wir an Wunder glaubten», Insel

„Als wir an Wunder glaubten“ ist ein Roman darüber, wie sehr wir Menschen uns von scheinbaren Gewissheiten leiten lassen wollen, wie leicht wir uns in Ausweglosigkeiten verrennen und wie naiv das Sprichwort ist, Zeit würde Wunden heilen. Die Zeit heilt nichts. Was nicht ausgestanden ist, sickert nur tiefer, selbst wenn wir darüber eine heile Welt errichten.

Das der 2. Weltkrieg mit der Kapitulation zu Ende ging, liest man wohl in Geschichtsbüchern, hat aber mit der Realität nichts zu tun. Genauso wie die Vorstellung, die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts hätten sich endgültig vom irrigen Glauben verabschiedet, die Welt wäre durchsetzt von bösen und unheilvollen Kräften. Wir brauchen Erklärungen und wenn nötig Schuldige, denen wir das eigene Unvermögen, all das Unerklärliche, das sich nicht leugnen lässt, aber auch die eigene Dummheit und die eigenen Fehler unterjubeln lassen.

Als das Tausendjährige Reich in Schutt und Asche lag, war das Leiden noch lange nicht zu Ende. Da war der Schmerz über all das Leid, das der Krieg und der Nationalsozialismus über Europa und die ganze Welt brachte, die Verwundeten an Leib und Seele, das Grauen, das sich nicht nur in Lagern abspielte, sondern überall, nicht zuletzt auch in den Herzen und Köpfen der Betroffenen. Da waren Heerscharen an Leib und Psyche Verwundeter, Versehrter und Verkrüppelter, die aus dem Krieg oder Jahre oder Jahrzehnte später aus Lagern zurückkehrten, unfähig, dort weiterzumachen, wo man sie herausgerissen hatte. Da waren die Zurückgebliebenen, Frauen und Familien, die nicht nur das Leben aufrecht zu erhalten hatten, sondern auch den Glauben an eine bessere Zukunft. Da war eine Nation, ein „Volk“, das man zum Führerglauben erzogen hatte, das in strengem Gehorsam Wegschauen und Verdrängen gelernt hatte. Wie hätte man vom strammen Glauben an einen Endsieg so einfach das eigene Denken reaktivieren sollen, die Selbstverantwortung.

Foto © Emsland Moormuseum, Fotoarchiv

Man hatte den Massen jahrzehntelang eingebleut, dass Andersgläubige und Andersdenkende für das eigene und kollektive Versagen und Unvermögen verantwortlich wären. Wie sollten jene Massen mit dem erklärten Ende des Krieges so einfach aus einem „bösen“ Traum erwachen, wenn man sie ein halbes Leben in die eine Richtung drillte?

Helga Bürster «Als wir an Wunder glaubten», Insel, 2023, 285 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-458-64388-3

Helga Bürster erzählt von einem Moordorf; Unnenmoor, nicht weit von Oldenburg. Noch vor dem Krieg heirateten die beiden Freundinnen Edith und Annie. Aber von beiden Männern kam ziemlich schnell kein Zeichen mehr von der Front. Während sie als verschollen galten, hatten die beiden Frauen in der Heimat zu kämpfen; Edith gegen das Klischee, das man mit ihren flammend roten Haaren verband und Annie mit dem stummen Sohn Willi, den sie kaum zu bändigen weiss. Beide sind eingespannt in ihre Pflichten als Zurückgelassene und ausgesetzt als Frauen, die man für eigene Zwecke einspannen will. Im Dorf, etwas ausserhalb, lebt Guste, die ihren Mann schon während des ersten Weltkriegs verloren hatte, die ihr Alter längst vergessen hat und in ihrer Kate lebt, als wäre sie noch Jahrhunderte vom anbrechenden Fortschritt entfernt. Betty, Ediths Tochter, die Guste immer wieder mal einen Topf mit Suppe bringt, freundet sich mit der alten Guste an, eine Freundschaft, die ebenso argwöhnisch beobachtet wird, wie die Tatsache, dass sich ihre Mutter mit dem Dorfjournalisten anfreundet, wo doch nicht einmal klar ist, ob Ediths Mann aus dem Krieg zurückkehren wird.

Eines Tages kehrt dann wirklich einer zurück. Einer, der nicht nur beide Beine in einem russischen Sumpfloch zurückgelassen hatte, sondern sämtliche Erinnerungen. Das einzige, was blieb, war ein Ring mit eingraviertem Namen, der aber auf keinen seiner Finger passte. Je näher der Versehrte der Gegend kommt, in der man seine Sprache spricht, desto mehr bricht Erinnerung hervor. Erst glaubt er Otto, der Mann einer Edith zu sein, bis Annie feststellt, dass es Joseph, ihr Mann ist. Da ist einer zurückgekehrt. Aber schon nach wenigen Wochen bricht durch, was der Versehrte an Grauen mit aus dem Krieg nahm. Genauso wie das, was im Dorf und im Lager am Rande des Dorfes in den verwundeten Seelen der Einwohner weiterwirkt. 

Edith soll für alles Mögliche und Unmögliche im Dorf verantwortlich sein, sie sei eine Hexe, so wie die alte Guste, und mit Sicherheit auch Ediths Tochter Betty. Während Joseph sich kaputtsäuft, der ehemalige Lageraufseher Fritz Renken als «Spökenfritz» und Wunderheiler den Dorfbewohnern die Welt erklärt und sie gegen Edith aufhetzt, während man mit einem riesigen Moorpflug, dem Mammut, die Untiefen der Moorlandschaft in fruchtbare Wiesen umzugraben beginnt und damit dem Fortschritt den Weg ebnen will, heizen sich die Geister, die wirklichen und unwirklichen, an den Verschwörungstheorien der Unbelehrbaren auf. 

© Helga Bürster

Helga Bürsters Roman wird zur atemlosen Lektüre, vielschichtig ineinander verschränkt , von ungeheurer Unmittelbarkeit. Die Autorin spiegelt die Gegenwart ebenso, wie sie Unverdautes an die Oberfläche reisst. “Als wir an Wunder glaubten“ ist sowohl dramaturgisch wie sprachlich Feinkost.

Interview

Ihr Buch beruht auch auf einem Prozess, der 1956 gegen einen Mann geführt wurde, der es mittels fragwürdiger Methoden und Behauptungen schaffte, ein ganzes Dorf durch Aberglauben und Hexenbanner-Tätigkeit gegen einzelne Frauen aufzuwiegeln. Kein Mittelalterprozess, sondern ein Teil des 20. Jahrhunderts. Die Coronazeit hat verdeutlicht, dass auch die Gegenwart nicht vor den abstrusesten Verschwöhrungs- und Erklärungsversuchen gefeit ist. So wie es die Religion für Jahrhunderte schaffte, auf schwierige Fragen einfache Antworten zu geben, schaffen dies auch Diktaturen bis in die Gegenwart. Dort hocken die Schuldigen, vernichten wir sie. Wir schaffen es zwar auf den Mond, aber erliegen der grassierenden Dummheit trotzdem. Macht sie das nicht manchmal mutlos.
Um ehrlich zu sein: Ja, es frustriert mich. Wenn es eng wird, wird das Denken, so scheint es, zur Qual. Es wird anstrengend, die vielen Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß, die Zwischentöne in all dem Gebrüll, noch wahrzunehmen. Zu viel Komplexität verwirrt. Einfache Antworten sind gefragt. Der Diskurs wird unversöhnlich, befeuert noch vom Barbarismus im Internet. In unseren Köpfen brennen die Scheiterhaufen. Aber, um auch dies zu hinterfragen: Wir dürfen die vielen Menschen nicht vergessen, die tagtäglich dagegen anleben. Es gibt, wie immer, Hoffnung. 

Viele leben im irrigen Glauben, der 2. Weltkrieg wäre mit der Kapitulation des Dritten Reichs zu Ende gegangen. Ihr Roman ist die Verdeutlichung dieses Irrglaubens. Kriege hallen und wirken nach. Unrecht hallt und wirkt nach. Nicht auszudenken, was mit all den Wunden passiert, die aktuelle Kriege aufreissen. Wer heute durch Berlin geht und nicht viel über das vergangene Jahrhundert weiss, sieht nichts. Da steht wohl ein Mahnmal, dort ein Museum. Aber man sieht nur, wovon man weiss. War das Schreiben dieses Romans Museum und Mahnmal zugleich?
Kriege gehen nie mit dem Friedensschluss zu Ende. Zwar fallen keine Bomben mehr, aber die Schrecken wirken über Generationen weiter. Von transgenerationellen Tramata ist hier die Rede. Ich kenne das aus meiner eigenen Familie. Die Aufarbeitung, wenn sie überhaupt stattfindet, ist zäh, schmerzvoll und schambehaftet. Warum sollte man im Frieden noch am Krieg leiden? Nach den Lesungen kommen immer Menschen, die ihr eigenes Erleben erzählen. Oft wissen Betroffene gar nicht, dass die Panik, die sie manchmal überfällt (um nur ein Beispiel zu nennen) nicht ihnen gehört, sondern der Mutter, dem Grossvater, Onkel und Tanten, die im Krieg Schreckliches erlebt haben. Um besser damit umgehen zu können, bräuchte es Bildung, Bildung und nochmal Bildung. Wie hängen die Dinge zusammen, was war vor uns, woher kommen wir, wohin gehen wir. Nur so könnten wir, um in Ihrem Beispiel zu bleiben, einer Berliner Fassade seine Geschichte ablauschen. Oder einer räudigen Moorhütte. So gesehen ist der Roman Museum und Mahnmal zugleich und ein bisschen auch Therapie.

eine trocken gelegte Moorlandschaft © Helga Bürster

Jeder, der in einem Dorf aufgewachsen ist, weiss von der Eigendynamik einer Dorfgemeinschaft. Einer Gemeinschaft, die wirklich Gemeinschaft sein kann, aber in seiner Enge und Nähe auch unkontrollierbare Feuer entfachen kann. Hier die dörfliche Unausweichlichkeit, dort die Anonymität der Stadt. Magazine wie „Landleben“ nähren eine Sehnsucht; jene nach Unmittelbarkeit und Authentizität. Die Stadt suggeriert „unbegrenzte Möglichkeiten“. Sind wir nicht genauso Opfer unserer Sehnsüchte wie unserer Ängste?
Ich wüsste nicht, wie wir das vermeiden könnten. Ich habe in der Stadt gelebt und mich nach dem Land gesehnt, nun lebe ich auf dem Land und sehne mich immer mal wieder nach der Stadt. Habe ich ein paar Tage Berlin hinter mir, bin ich froh, in mein stilles Dorf zurückzukehren. Sitze ich wochenlang einsam an meinem Schreibtisch, muss ich raus in die Grossstadt, um zu spüren, dass ich noch lebe. Es kommt darauf an, wie ich damit umgehe. Mein Rezept heisst Abstand von mir selbst und ein Schuss Selbstironie. Solange ich mich selbst hinterfrage, bin ich kein Opfer. Aus solchen Ambivalenzen entstehen Stoffe für Geschichten. Es ist anstrengend, aber ich liebe es. 

Katie, eine Hausiererin, von vielen argwohnisch beobachtet, taucht eines Tages nicht mehr mit dem Handwagen vor Ediths bescheidenem Hof auf, sondern aufgemotzt mit einem Auto und dem Versprechen, auch Edith etwas von dem Wohlstand ins Haus zu bringen. Edith soll Spitzenwäsche schneidern, neben erotischen „Hilfsmitteln“ ein neues Geschäftsfeld von Katie, die so etwas wie eine Freundin Ediths wurde. Ein bisschen die Geschichte von Beate Uhse. Eine Frau, der der Erfolg Recht gab, die aber an ihrer Kollaboration mit den „Dorfhexen“ hätte scheitern können. Warum schafft Beate Uhse, was in der kleinbürgerlich verklemmten Gesellschaft der Nachkriegsjahre so gar nicht hineinzupassen schien?
Was mich bei den Recherchen fasziniert hat, war der Umstand, dass es nach dem Krieg ein grosses weibliches Bedürfnis nach sexueller Freiheit gab und ich war überrascht, wie offen und modern die vermeintlich muffigen 50er Jahren auch waren. Die Frauen, im Krieg als Gebärmaschinen und Lückenbüsser missbraucht, hatten die Nase gehörig voll. Beate Uhses «Schrift X», ein Aufklärungsheftchen, in dem es u.a. um Verhütung ging, fiel da auf sehr fruchbaren Boden, nicht nur in der Stadt. Es wurde zum heimlichen Bestseller. Die Frauen hatten gewaltig an Selbstbewusstsein gewonnen. Die Scheidungsrate war immens hoch. Es brodelte so gewaltig in der Gesellschaft, dass sich sogar der Bundestag mit dem «Zerfall der Familie» beschäftigte. Ich war erstaunt, dass dies heute so wenig bekannt ist. Aus diesem Grunde habe ich Katy ein bisschen von der Biografie Beate Uhses angedichtet, obwohl Frau Uhse nicht als Einzige in Sachen Erotik unterwegs war, aber sie war die erfolgreichste. 

Moorsee © Helga Bürster

Männer sind tot oder Fracks, verwundet, traumatisiert, aus den Angeln gehoben oder Verdränger. Nach einem Krieg, der sechs Jahre dauerte und Millionen von Toten forderte, kein Wunder. Frauen halten zusammen, was übrig blieb, kompensieren, räumen auf. Auch in den Kriegen der Gegenwart sind Rollenverteilungen alles andere als „modern“. Ändert sich nicht erst dann wirklich etwas, wenn man „Menschsein“ über das Rollenmodell und das Geschlechtliche hinaus zu leben beginnt?
Auf jeden Fall. Wenn wir nicht mehr in Geschlechtern denken, wenn Stereotype, dass eine Frau besser pflegen und ein Mann besser den Hammer schwingen kann, endlich der Vergangenheit angehörten, wenn alle Arbeit gerecht verteilt wäre, je nach Fähigkeit und Neigung, erst dann hätten wir echte Gleichberechtigung. Eine schöne Vorstellung. 

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/ NDR sowie vom SWR Hörspiele von ihr ausgestrahlt. 2019 erschien ihr literarisches Debüt «Luzies Erbe«.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Uwe Stalf/Insel 

Daniel de Roulet «Die rote Mütze», Limmat

In Zeiten, in denen das historische Bewusstsein mehr und mehr schwindet und man glaubt, im Internet die Wahrheit über Vergangenes zu finden, sind Autoren wie Daniel de Roulet wichtiger denn je. „Die rote Mütze“ (damals Symbol der Revolution) ist ein Stück Geschichte, das sowohl bei den Protagonisten wie beim Autor physisch ins Leben eingreift.

Mag sein, dass jede Form des literarischen Schreibens eine Art der Vergangenheitsbewältigung ist, selbst dann, wenn das Geschriebene in der Zukunft geschieht. Aber wir leben und erzählen, was wir an Geschichten und Geschichte mit uns herumtragen. Aber nicht alle, die schreiben, kann man als „politische“ oder gesellschaftspolitische AutorInnen bezeichnen. Ich begleite das Werk von Daniel de Roulet schon seit Jahrzehnten. Er ist nicht nur ein Urgestein der Schweizer Literaturszene, Daniel de Roulet ist ein Autor, dessen Geschichtsbewusstsein, sein gesellschaftpolitisches Bewusstsein stets Niederschlag in seinem Schreiben finden. Und trotzdem ist sein Schreiben weder belehrend noch von Mission durchsetzt. Aber sein Schreiben schärft das eigene Bewusstsein.

„Die rote Mütze“ ist in vielfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Roman. Zum einen beschreibt er Geschehnisse vor und nach der Französischen Revolution aus einer eigenen Betroffenheit. Daniel de Roulet muss feststellen, dass einer seiner Vorfahren in jener Zeit eine mehr als nur ungute Rolle spielte, der Roman wendet sich weniger den Ursachen hin als den Auswirkungen, Auswirkungen bis in die Gegenwart. Und nicht zuletzt überrascht der Roman formal.

Daniel de Roulet «Die rote Mütze», Limmat, 2024, aus dem Französischen von von Maria Hoffmann-Dartevelle, 168 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-066-9

Stellen sie sich vor, sie müssten feststellen, dass einer ihrer Vorfahren eine unrühmliche Rolle in der Vergangenheit spielte, vielleicht auch erst aus heutiger Sicht und obwohl man demjenigen ein Dankmal setzte. Denke man nur an all jene Namen, die erst heute im Zusammenhang mit Sklavenhandel gebracht werden.
Daniel de Roulet muss feststellen, dass auf einem goldgerahmten Stich, den er von seinem Vater erbte, ein Vorfahr mit Louis-XVI-Perücke abgebildet ist. Jacques-André Lullin de Châteauvieux war Besitzer eines Söldnerregiments, ein Menschenschinder, der einen Aufstand seiner Söldner wegen ausbleibenden Solds blutig niederschlagen liess. Aber weil Daniel de Roulet Daniel de Roulet ist, erzählt er in seinem Roman „Die rote Mütze“ nicht einfach die Geschichte jenes royalen Zöglings nach. Es geht auch nicht darum zu verstehen, wie Menschen damals funtionierten, die sich nicht vorstellen konnten, dem „gemeinen“ Volk ein Mitspracherecht oder gar die Demokrtie zuzugestehen. Daniel de Roulet erzählt von den Opfern, jenen Söldnern, die die Konsequenzen auch mit dem Leben bezahlen mussten oder nur mit viel Glück mit dem Leben davonkamen.

Samuel wächst in Genf auf, einer Stadt, die von Patrizierfamilien regiert wird und sich ganz der französischen Monarchie verpflichtet fühlt. Aber schon Samuels Vater akzeptiert die scheinbar göttliche Ordnung nicht mehr. Samuel gerät zwischen die Fronten, muss Genf verlassen, heuert als Söldner an, wird festgenommen, muss mitansehen, wie seine Kameraden gefoltert und erhängt werden und entkommt erst im letzten Moment dem sicheren Lagertod, um schlussendlich in einer Heldenparade von Festakt zu Festakt geschoben zu werden, um nach Jahren festzustellen, dass sich das Leben, das er einst mit so viel Hoffnung begonnen hatte, ein Trümmerfeld ist.

Beeindruckend an Daniel de Roulets Roman ist zum einen die Perspektive, aus der er erzählt, aber auch die Klarheit und Schlichtheit der Art seines Erzählens. Nichts ist aufgeblasen, aufgebauscht und ausgeschmückt. Daniel de Roulet vermeidet jede Form der Verklärung oder Entfremdung. Er hält sich an Fakten, lässt diese sprechen. Was sich auch formal niederschlägt, denn der Text ist im Flattersatz geschrieben (linksbündig), abgespeckt und schlank.

Ein wichtiger Einblick in ein Stück Geschichte, die sich immer und immer wiederholt!

Am 4. Februar feiert Daniel de Roulet seinen 80. Geburtstag. Herzliche Gratulation und eine tiefe Verneigung vor dem engagierten, vielfältigen und eigenständigen Werk des Schriftstellers!

Interview

Historische Romane haben ein grosses Publikum. „Die rote Mütze“ ist durchaus ein historischer Roman. Und doch unterscheidet er sich in vielem von den meisten dieses Genres. Was mich am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass sie keine „Guten“ und Bösen“ konstruieren, die Handlung nicht emotionalisieren und aus einer ganz eigenen Perspektive erzählen. War die Form von Beginn weg klar?
Seit 1688, als die Krankheit die Schweizer Söldner traf – und nur sie – wird sie «Nostalgie» genannt (etymologisch, Die Krankheit der Rückkehr). Das war eine ansteckende Krankheit, die tödlich verlaufen konnte. 
Wenn ein Soldat eines Regimentes an ihr erkrankt war, musste man ihn nach Hause schicken, bevor er andere anstecken konnte. Ausserdem waren die Schweizer Söldner bekannt als sehr grausam im Kampf. Auf der einen Seite die Nostalgie (das Heimweh), auf der anderen Seite die Grausamkeit. Wie also diese Widersprüchlichkeit in Worte fassen? Der klassische, historische Roman vermeidet solche Widersprüche. Ich hatte verschiedene Arten ausprobiert und habe mich schlussendlich für eine Form entschieden, ähnlich wie eine Ballade, wie «Vreneli am Guggisberg». Keine Psychologie, ein objektiver Blick von aussen. Die unterbrochene Prosa entspricht, für mich, einer angelsächsichen Tradition in der die Poesie Geschichten erzählt. 

Ein politischer Autor. Stört Sie dieses Etikett? Man setzt Sie in eine Reihe mit Dürrenmatt, Frisch und Meienberg. Ist es nicht erstaunlich, dass es in der Schweizer Literaturszene nicht mehr politische AutorInnen gibt? 
Für mich ist es schwierig, dass ein Autor Stellung beziehen kann, ohne von den Gerüchten der aktuellen Zeit beeinflusst zu werden. Man kann die Literatur nicht produzieren wie Tomaten ohne Erde ‘hors-sol’.
Also ja, ich befinde mich im Jahrhundert, ich schliesse mich der Tradition deutschsprachiger Schweizer Autoren der Generation vor mir an. In der Westschweiz ist die Literatur oft intim und misstrauisch gegenüber der Politik. Für mich hat Literatur mit Aktivismus nichts zu tun. Ich schreibe keine Flugblätter, ich erzähle Geschichte und versuche diese in einen Kontext zu betten, der das literarische Feld überschreitet. Das heisst, es gibt auch engagierte Autorinnen und Autoren, die nicht den Anspruch erheben, Politik im klassischen Sinn zu betreiben, sondern die sich für Feminismus, Ökologie, etc. engagieren.

Sie waren lange Jahre Informatiker und betrieben das Schreiben neben Ihrem Brotberuf. Erst mit über 50 Jahren widmeten Sie sich ganz dem Schreiben. Wenn heute junge Menschen mit dem Traum der Schriftstellerei Ihr Schreiben intensivieren, sind das ganz andere Vorzeichen. Wie hat sich Ihr gelebter Berufsalltag auf Ihr Schreiben später ausgewirkt?
Ich habe bis 50 verdient, um es danach für die Literatur auszugeben. Mit 50 Jahren habe ich zu schreiben und zu veröffentlichen begonnen. Davor habe ich nur Bücher gelesen, die etwas mit meinem Beruf zu tun hatten, keine literarischen Werke, Romane usw. Die wissenschaftliche und die literarische Welt kehren sich den Rücken zu. Ich wollte die beiden Welten versöhnen, für meine alten Kollegen schreiben, aber das ist unmöglich, diese zwei Kulturen sind zu unterschiedlich. Themen die ich behandle, wie das des Atoms, bedürfen einer wissenschaftlichen Erläuterung. Es bietet sich nicht offensichtlich an, daraus einen Roman, Literatur zu machen. Aber ich habe es versucht. Der Vorteil für mich, der ich spät angefangen habe, war, dass ich nie das Syndrom der weissen, leeren Seite hatte. Es scheint als hätte ich einen unerschöpflichen Vorrat an inneren Bildern und erlebten Situationen. Der Nachteil des späten Beginnens ist, dass man nicht getragen wird von einer Generation von Autorinnen und Autoren, die die gleichen Anliegen haben und so den Mainstream der Literatur formen. 

Wenn man in der Schule die Geschehnisse um die Französische Revolution auswendig lernt, scheint Geschichte eine logische Folge verschiedener Kausalitäten. Genau das widerlegt „Die rote Mütze“. Und nicht zuletzt ist Geschichtsschreibung stets eine Frage der Perspektive. Gerade heute wird „Geschichtsschreibung“, auch jene der aktuellen Geschichte, immer mehr in Frage gestellt. Müssen wir akzeptieren, dass sich Historie und Objektivität auf ewig streiten?
Es gibt die offizielle Geschichtsschreibung, die von den Herrschenden geschrieben wird und den Figuren der Macht folgt. Darum kann die Geschichte erzählt werden wie ein Loblied der Macht, wie eine Erfolgsstory oder eine Mythologie. Für mich muss die Literatur die Geschichte von unten her erzählen, um sichtbar zu machen, wie das Individuum, der einzelne Mensch die Geschehnisse, welche ihm durch das Handeln der Mächtigen quasi aufgezwungen wurde, erlebt hat. Das Problem, das sich im Zusammenhang mit dem Söldnertum stellt, ist, dass das Leben der Offiziere und der Inhaber der Regimente wohl gut dokumentiert ist, über das Leben der einfachen Söldner aber keine Dokumente vorhanden sind. Die Literatur muss diese Leben wiederbeleben, sogar erfinden. Historiker können sich nicht mehr mit den grossen Schlachten begnügen oder mit dem Beitritt der Kantone zur Eidgenossenschaft nicht mehr zufrieden geben. Jedes noch so kleine Leben und seine persönliche Erzählung zählt, was die voreiligen Synthesen in Frage stellt. Die Literatur lässt den Leser, die Leserin eintauchen, mittels Empathie, in die Details einer persönlichen Geschichte, die eine Epoche mindestens ebenso erfahrbar und verständlich machen wie die Liste der Französischen Könige. 

„Die rote Mütze“ ist auch die Geschichte Vertriebener, Heimatloser. Etwas, was man sich als satter Schweizer nur schwer vor Augen halten kann, obwohl das Weltgeschehen millionenfach solche Geschichten schreibt; kleine Leute, die durch die Machtgier weniger mit dem Tod im Rücken durch die Zeit gehetzt werden. Sie rütteln und schütteln uns mit Ihrem Schreiben. Packt Sie nie der Zweifel?
Ich habe mich entschieden, die Schweiz von unten zu erzählen. So habe ich auch die Geschichte der Schweizer Söldner erzählt («Die rote Mütze»). Es gab deren zwei Millionen über die Jahrhunderte. Ein Viertel davon ist nie in die Heimat zurückgekehrt. Ich erzähle auch aus der Schweiz während des 19. Jahrhunderts, gezeichnet durch die erzwungene Auswanderung («Zehn unbekümmerte Anarchistinnen»). Ich erzählte die Atom-Saga («Die menschliche Simulation») und die Geschichte der Gründung des Kantons Jura («Staatsräson»). Oder dann die Geschichte meiner Generation während der Zeit des kalten Krieges («Ein Sonntag in den Bergen»). Jedes Mal frage ich mich, wofür das gut sein soll. Aber sobald meine Bücher publiziert sind, freue ich mich zu sehen, dass sie meine Mitbürger, auch ausserhalb eines gewissen, ausgesuchten literarischen Kreises, interessieren. 

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.

Maria Hoffmann-Dartevelle, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre u.a. als freiberufliche Übersetzerin tätig.

Rezension von «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Wenn die Nacht in Stücke fällt» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Brief an meinen Vater» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Jörg Magenau «Liebe und Revolution», Klett-Cotta

Deutschand kurz vor dem Mauerfall. Paul studiert Philosophie in Berlin, spürt dass sich etwas zusammenbraut und hat das unbedingte Bedürfnis, ein Teil dieses Etwas zu sein. „Liebe und Revolution“ beschreibt eine, aus der Gegenwart betrachtet, fast unwirklich erscheinende Zeit des Aufbruchs. 

Die Gegenwart ist unbarmherzig, das Gefühl einer kollektiven Machtlosigkeit scheint sich wie ein lähmender Virus auszubreiten. Mit den Protestbewegungen in Ostberlin vor dem Mauerfall, dem Mauerfall selbst, den Befreiungskämpfen in Nicaragua und El Salvador damals, glaubte man noch an die Macht der Revolution, die Macht der Liebe für eine Sache. Auch Paul nimmt diese Kraft mit und entschliesst sich im Sog von konspirativen Lesekreisen und aktivistischen Zirkeln nach Nicaragua zu reisen, um bei Aufbauprojekten mitzuarbeiten. Es ist der unbedingte Wunsch, Teil einer Bewegung zu werden, dazuzugehören, nicht bloss Zuschauer zu sein. Obwohl er mit Beate in Berlin zum ersten Mal das Gefühl hatte, etwas vom Gefühl der grossen Liebe gelebt zu haben, fliegt er ins Land der sandinistischen Revolution, nicht mit der Absicht, eine Waffe in die Hand zu nehmen, sondern bei Bau- und Aufbauprojekten mitzuhelfen.

«Er lebte mit der schmerzlichen Gewissheit, mit allem zu spät zu kommen, vor allem aber mit dem Begreifen.»

Nach einem halben Jahr kommt er zurück, ein Stück weit desillusioniert und von vielen seiner Hoffnungen verloren. Nicht nur, dass die Revolution in jenem fernen Land längst sandinistischen Sand im Getriebe hatte, man sich in Positionen eingegraben hatte, Parolen zu leeren Floskeln wurden. Jene Frau, die er dort kennen und lieben lernt, die im Gegensatz zu ihm zu allem entschlossen ist, die er im Bus wenigstens ein Stück weit näher an die Front begleitet, wird umgebracht und Paul, nur durch Zufall der Katastrophe entronnen, nimmt das Trauma dieser Bluttat mit zurück nach Deutschland.

Jörg Magenau «Liebe und Revolution», Klett-Cotta, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-608-98748-5

Aus Nicaragua zurück trifft er Beate wieder. Mittlerweile arbeitet sie bei der FAZ und versucht möglichst nahe an jenem Geschehen zu sein, dass Berlin kurz vor dem Mauerfall in ein brodelndes Epizentrum verwandelt. Aber so sehr Paul von den Geschehnissen in der Hauptstadt mitgerissen wurde, konfrontiert ihn Beate mit dem, was er mit seiner Reise nach Mittelamerika zurückgelassen hatte. Er, der aufbrechen, er, der sich einbringen wollte, verliess unwissend eine schwangere Frau. Beate, entschlossen, sich nicht zu einer Zurückgelassenen machen zu lassen, liess das Kind in ihrem Bauch wegmachen, eine Nachricht, die Paul erschüttert. Einmal mehr fühlt er sich nicht dort, wo man ihn gebraucht hätte, nicht bei Beate damals, nicht bei jenem Kind, aber auch nicht dort, am Nerv des Lebens.

«Dies war eine Zäsur, ein Schnitt durch die Zeit, durch den Raum. Die Mauer war ein Raumteiler aus Beton, aber auch ein Damm gegen das Verstreichen der Zeit, ein erzwungener Stillstand…»

„Liebe und Revolution“ ist eine Liebesgeschichte, eine Liebesgeschichte, die fast alle Ernüchterungen mit einschliesst. Eine sehnsüchtige Liebesgeschichte eines Mannes auf der Suche nach dem unmittelbaren Leben, nach einem Mittelpunkt, einem Platz im Leben. Paul ist auf der Suche nach dieser Liebe. „Liebe und Revolution“, auch wenn es noch nicht einmal ein halbes Jahrhundert her ist seit den Geschehnissen, in die der Roman eingebette ist, ist ein historischer Roman. So wie der Aufbruch damals in Mittelamerika längst geglättet ist, so ist vom Aufbruch mit der Wende nur noch wenig zu spüren. Was damals wabberte, ist institutionel verschraubt. So wie der Aufbruch in einer Liebe schnell von Gewohnheiten in Form gebracht werden will. Jörg Magenaus Roman verschränkt nicht nur im Titel zu seinem neuen Roman Liebe und Revolution, Revolution und Liebe.

Bestechend an Magenaus Roman ist auch die Nähe, die er erzeugt. Magenau spinnt ein feines, mehrschichtiges Erzählnetz, setzt sein Geschehen sowohl in grosse, äussere Zusammenhänge, wie in jene einer ganz engmaschigen, labilen menschlichen Psyche. Man erkennt im Roman die Betroffenheit des Autors deutlich. Magenau erzählt nicht aus distanzierter Abgeklärtheit. Es ist, als ob der Roman ein 300 Seiten langer Erklärungsversuch ist; Was passierte damals? Was ist geblieben? Wenn es Wenderomane gibt, dann ist Jörg Magenau mit „Liebe und Revolution“ ein ganz besonderer gelungen!

Interview

Ich bin von ihrem Roman schwer beeindruckt. Klar, es ist ein Roman über Auf- und Umbrüche, ein Liebesroman, ein grossfomatiges Zeitbild. Aber sie tauchen in einer Art und Weise mitten ins Geschehen, die mich selbst taumeln lässt. Die mich auch ziemlich heftig reflektieren lässt, wie sehr ich im Laufe meines Lebens an meine „kleinen“ Probleme gebunden war und gar nicht erfasste, was um mich herum geschah und geschieht. Ist der Roman auch ein ganz persönlicher Versuch des Ordnens und Einordnens?
Jedes Erzählen ist ein Versuch, nachträglich zu ordnen, zu sortieren, zu konstruieren. Es kann gar nicht anders sein, weil jede Erzählung einen Anfang und ein Ende in der Zeit setzt und dazwischen nur das zur Sprache bringt, was irgendwie zur Sache gehört. Alles andere, also fast alles, wird ausgeblendet. Da das Erzählen immer erst im Nachhinein einsetzt, ist zumindest die zeitliche Distanz zum Geschehen vorausgesetzt, also eine Art Draufsicht. Das gilt auch dann, wenn die Erzählinstanz das verhindern möchte und, wie in meinem Roman, so dicht bei der Hauptfigur bleibt, dass sie nur ganz selten über deren unmittelbares Erleben hinaussieht. Eines der Themen, um die es mir geht, hat damit zu tun: Paul ist einer, der in der Zeitgeschichte drinsteckt, der dabei sein will, der aber immer im jetzt gerade gegenwärtigen Moment gefangen bleibt, ohne zu verstehen, was geschieht. Weder in der Nacht des Mauerfalls am 9. November 1989 in Berlin, noch im Jahr 1987 in Nicaragua begreift er, was um ihn herum vor sich geht und wohin das alles führen wird. Aber genau darin, in diesem Nicht-Erkennen, besteht zu weiten Teilen das menschliche Dasein, auch wenn wir uns gerne vormachen, den Überblick zu bewahren und wenigstens aufs eigene Leben bezogen Superchecker zu sein. Dabei verschlägt es einen im Leben immer wieder ganz woanders hin, als man gedacht hätte, und meistens kapiert man die politischen Zusammenhänge, in denen man existiert, erst zehn Jahre später und hat nochmal zehn Jahre später wieder eine ganz andere Einschätzung. Trotzdem leben wir unsere Leben unausweichlich in der nichtdurchschauten Gegenwart. In revolutionären Situationen wie in meinem Roman, in denen die Verhältnisse in Bewegung geraten, ist das besonders deutlich spürbar.

Paul hadert mit dem Gefühl, nicht dazuzugehören, irgendwie ausgeschlossen, aussen vor zu sein. Ist das nicht ein Problem ausschliesslich der Menschen des sogenannten Informationszeitalters? Mit der Individualisierung scheint der Mensch immer mehr an seiner Bedeutungslosigkeit zu leiden. Weshalb sind wir sonst gezwungen, dauernd Selfies von uns zu machen und uns auf allen (un)möglichen Kanälen einzumischen.

Das stimmt. Mit den Möglichkeiten des Informationszeitalters wachsen auch die Illusionen der Zugehörigkeit und die Freude an narzisstischer Selbstinszenierung. All die „Freunde“ oder „Follower“, die man auf den Social Media-Kanälen gewinnt, erzeugen eine virtuelle Gemeinschaft, die nicht völlig irreal ist und die ein enormes Suchtpotential besitzt, weil sie Aufmerksamkeit verschenkt. Da zerfliessen die Grenzen zwischen sehr persönlichen und öffentlichen Angelegenheiten, und es entsteht etwas Neues, das sich in seinen Folgen auch noch nicht wirklich begreifen lässt. Vielleicht in zehn Jahren. Wie verändert sich das Denken einer Menschheit, die lieber twittert als komplexe Bücher zu lesen? Sich lieber mit Einzelerregungen befasst als mit grösseren Sinnzusammenhängen? Das Gefühl der Unzugehörigkeit aber war in den 80er Jahren bestimmt nicht kleiner als heute. Für Paul, der als Student nach Westberlin kommt, ist die Unzugehörigkeit in der Stadt ebenso wie in der riesigen Freien Universität aber selbst gewählt. Diese Unzugehörigkeit ist der Ausgangspunkt für all das, was damals „Engagement“ hiess. Unzugehörigkeit bedeutet ja auch Ungebundenheit, Freiheit. Und aus dieser Freiheit heraus wächst sein Bedürfnis, an etwas Teil zu haben und die Welt zu verändern. Das gelingt ihm nicht zu Hause in Berlin, sondern in der Ferne, in Lateinamerika. Dort kann er Revolution als Teilhabe erleben, egal wie sinnvoll oder sinnlos das ist, was er tut. Das Ende des Sozialismus, das vielleicht weniger Revolution als Konkurs eines Staatsunternehmens war, kommt ihm dagegen als etwas Fremdes entgegen, das er wie ein Jahrmarktspektakel betrachtet. 

Liebe ist genauso wenig Zustand wie Revolution. Das wurde mir mit der Lektüre ihres Romans mehr als bewusst. Beide brauchen Feuer, die brennen und Hitze erzeugen. Aber kein Feuer brennt ewig. Wie viel Ernüchterung schwingt in ihrem Roman mit?

Gar keine. Ich finde, es ist ein optimistischer Roman. Dass etwas schiefgeht, in der Liebe genauso wie in der Politik, ist ja kein Argument dagegen, es zu probieren. Was Paul ausmacht, ist – bei aller Zögerlichkeit und Ahnungslosigkeit, die ihn charakterisieren – seine Bereitschaft, sich einer Situation auszusetzen, etwas zu erleben, zu lernen. Diese Offenheit zeichnet ihn aus. In Nicaragua lernt er, dass die Sache mit der Weltveränderung nicht so einfach ist, dass er aber, indem er dort ist und mitwirkt, sich selbst verändert, und dass die Selbstveränderung ja auch eine Form der Weltveränderung ist – vielleicht sogar die einzige, auf die es wirklich ankommt. So erlebt er auch die Liebe, weil zu lieben nichts anderes bedeutet als die Bereitschaft, sich verändern wollend verändern zu lassen.

Angesichts der globalen Probleme ist die fehlende Bereitschaft, wirkliche Veränderungen herbeizuführen, erstaunlich. Sei es bei gesellschaftlichen, politischen oder ökologischen Herausforderungen. Paul erscheint mir dabei exemplarisch. Paul reist nach Nicaragua, will Teil einer Bewegung werden. Wann wird aus Entschlossenheit Selbstzweck?

Paul ist gar nicht entschlossen. Das schützt ihn vermutlich. Er ist im Unfertigen, im Provisorischen, im Werden beheimatet. Aber er bewundert Entschlossenheit bei anderen in seiner Nähe, wahrscheinlich deshalb, weil sie ihm fehlt. Beate und Sigrid, die beiden Frauen, die ihn faszinieren, sind sehr viel konsequenter als er. Hartmut, der Chef der Brigade, auch. Der ist nun wahrlich ein Mann der Tat. Die Gefahr bei allen Veränderungsbemühungen, in der Liebe ebenso wie in der Revolution, besteht in der Erstarrung, im Beharren auf festen Positionen, in der Ritualisierung der eigenen Handlungen. Das erleben wir derzeit zum Beispiel bei den Klima-Aktivisten, die sich auf Strassenkreuzungen festkleben. Wenn das Ziel die Mittel rechtfertigt, ohne sie in Frage zu stellen, dann schlägt das Engagement in Selbstzweck um. Oder noch schlimmer: in Selbstbefriedigung. Dann macht man weiter, auch wenn man ahnt, dass sich das eher kontraproduktiv auswirken wird. Weil es sich besser anfühlt, etwas zu tun, als nichts zu tun. Und vielleicht stimmt das ja sogar.

Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ihr Roman in ihrem Umfeld ziemlich Wellen geschlagen hat. Die Generation, die beim Mauerfall zwischen zwanzig und dreissig war, ist heute im Pensionsalter. Wellen der Erinnerung, Wellen der Rechtfertigung. Warum wurde nicht, wofür man damals kämpfte!

Dafür muss man sich nicht rechtfertigen. In der Menschheitsgeschichte ist es noch nicht vorgekommen, dass das Resultat einer Bewegung den zugrundeliegenden Absichten entsprochen hätte. Das ist eben der Lauf der Geschichte, dass die Einzelnen Dinge in Gang setzen, jeder etwas anderes will, das Ergebnis aber nie dem Einzelwillen und auch nicht der schlichten Summe aller Willensanstrengungen entspricht. Was Nicaragua betrifft, so ist aus der sandinistischen Revolution die Herrschaft eines korrupten Familienclans geworden, das Land befindet sich heute in einer fürchterlichen Lage und gehört nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt. Das spricht aber keineswegs gegen die internationale Solidarität und die Unterstützung der Linken in den 80er Jahren. Nur lag deren Bedeutung auf einem anderen Feld, weniger im politischen als im sozialen. Dass Solidarität dort spürbar wurde, dass Freundschaften entstanden und teilweise bis heute hielten, dass Gemeinschaft erlebbar wurde, das ist für alle Beteiligten eine wichtige Erfahrung gewesen. Paul erlebt das als Liebe zu Land und Leuten. Das ist nicht wenig, auch wenn das politische Experiment grandios gescheitert ist. Das gilt übrigens genauso für die Bürgerbewegung in der DDR und der Nachwendezeit. Auf solchen Erfahrungen lässt sich dann in anderem Kontext wieder aufbauen. In meinem Roman kommt immer wieder die „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss vor als zentrale Lektüre in jenen Jahren. Weiss beschreibt gut marxistische Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen und als endlose Kette von Niederlagen der Unterdrückten. Und er fragt danach, warum trotzdem aus allen Niederlagen so etwas wie Hoffnung resultiert. Das hat, meine ich, etwas mit der Erfahrung der Gemeinschaftlichkeit zu tun, mit Zusammengehörigkeit, mit Solidarität. Oder, individuell betrachtet, eben mit Liebe. Deshalb heisst das Buch auch so, „Liebe und Revolution“. Die Liebe steht dabei ausdrücklich an erster Stelle. 

Jörg Magenau, geboren 1961 in Ludwigsburg, studierte Philosophie und Germanistik in Berlin. Er ist einer der bekanntesten deutschen Feuilleton-Journalisten und schrieb u. a. Biographien über Christa Wolf, Martin Walser und die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger. Bei Klett-Cotta erschien die literarische Reportage «Princeton 66» und zuletzt sein erster Roman «Die kanadische Nacht» (2021).

Beitragsbild © Olaf Kuehl

Jaroslav Rudiš «Weihnachten in Prag», Luchterhand

Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš und sein bester Freund Jaromir 99 nehmen mich an einem Weihnachtsabend mit in ihre Stadt Prag, Jaroslav Rudiš mit seiner literarischen Imagination, der Zeichner, Comiczeichner und Maler Jaromír Švejdík mit seinen wunderschönen Illustrationen. Ein schmales Buch mit einer ganz speziellen Aura!

Prag ist ihre Stadt, ihre Heimat, aufgeladen mit Geschichten von Verstorbenen und Gegenwärtigen, von Geistern und Begeisterten. Ein Winterspaziergang an einem 24. Dezember, wenn alles auf jenes erhellende Licht wartet, wird mit den beiden zu einem ganz besonderen, vielsinnlichen Abenteuer!

Illustration von Jaromir99 © Luchterhand

„Ich wusste nichts von Kafka, von Hašek und Hrabal. Ich wusste nicht, dass ich später einmal in Prag leben und mit dem Ertrunkenen in einer Band singen werde. Dass ich mal eine Italienerin aus Milano treffen werde, deren Mann Strassenbahnfahrer war und sich immer gewünscht hatte, Strassenbahnfahrer in Prag zu sein. Ich wusste nicht, dass sich in Prag Dichter, Maler und Musiker in Vögel und Fische verwandeln. Ich wusste nicht, das mir mal der König von Prag im Anker beibringen will, wie man alle Prager Schlösser aufsperrt.“

Jaroslav Rudiš «Weihnachten in Prag», Illustrationen von Jaromir99, Luchterhand, 2023,

Auch ich weiss nicht viel über diese Stadt. Nur eines weiss ich mit Sicherheit; wenn ich dereinst mit dem Zug nach Prag fahre und wie der Erzähler am Bahnhof stehe, werde ich mich mit diesem Buch in der Tasche auf den Weg machen, über die Karlsbrücke in die schmalen Gassen der Altstadt. Ich werde in die Geschichten eintauchen und in diesen Tagen vielleicht sogar das eine oder andere Bier trinken, weil tschechisches Bier zu den besten gehört, und weil man wohl Bier trinken muss, um einen Schlüssel, einen Zugang in all den alt eingesessenen Spelunken der Stadt mit ihren seltsamen Namen zu bekommen. Einen Schlüssel zu den Menschen, zu den Geistern, zu den Erleuchteten und Verschatteten, zu den Lebenden und den Toten. 

Prag ist die Stadt von Jaroslav Rudiš. Und nur wer wie er eine Stadt kennt, kennt das, was für Touristen unsichtbar in den Zwischenräumen und Mauern, in der Moldau, die leise und träge durch die Stadt fliesst, in den Schichten darunter und darüber ist und wirkt, was die Vogel in die Stadt tragen, was an Schatten durch die Stadt geistert.

Der Erzähler trifft sie wieder; Hana, die er mit 17 kurz vor der Wende im Sommer 1989 in Prag in einer vollen Kneipe, im Schwarzen Ochsen trifft, den Leuchtturm, den Mann, dessen Kopf leuchtet, der ihm vom letzten Atemzug Franz Kafkas erzählt, dass dieser wie alle Künstler nun einer der Krähen wäre, der Leuchtturm, der eigentlich Kavka heisst, alle aber bloss Kafka nennen, so wie jenen Franz, den alle kennen. Er trifft den König von Prag. Nicht jenen von der Burg hoch oben über der Stadt, sondern jenen aus der Gasse, der weiss, wie Schlösser zu knacken sind, durchaus methaphorisch! Er trifft die Italienerin, die von Prag schwärmt als wäre sie die schönste aller italienischen Städte. Sie treffen sich und ziehen von Kneipe zu Kneipe, warten auf den Moment, wo ihnen das Christkind ein Geschenk bringt.

Illustration von Jaromir99 © Luchterhand

„Weihnachten in Prag“ ist ein magisch, surrealer Spaziergang durch eine Stadt, der auch Kälte und Schnee den Liebreiz nicht vertreiben kann – ganz im Gegenteil. Wer eine Stadt so kennt wie Jaroslav Rudiš, der weiss, dass die Stadt nicht von den Fassaden lebt, sondern von den Geschichten dahinter und den Menschen, die dort leben und lebten, von den Eigenwilligen, den Spinnern, den Verschrobenen und Verrückten. Wer diesen literarischen Spaziergang mitmacht, wer sich traut, dem wird ein Geheimnis zuteil. „Weihnachten in Prag“ bezaubert gleich vielfach, nicht zuletzt durch die stimmungsvollen und eigenwilligen, kongenialen Illustrationen von Jaromír Švejdík!

Wir sehen uns im Ausgeschossenen Auge!

Jaromir99 & Jaroslav Rudiš © Vojtěch Veškrna

Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane «Grand Hotel», «Die Stille in Prag», «Vom Ende des Punks in Helsinki» und «Nationalstrasse», bei btb ausserdem «Der Himmel unter Berlin». «Winterbergs letzte Reise», der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er ausserdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.

Jaromír Švejdík alias Jaromir99, geboren 1963, ist Comiczeichner, Maler sowie Sänger und Texter der tschechischen Kultband Priessnitz. Er arbeitet als Musiker für verschiedene Bands, zeichnet Storyboards für Filme und veröffentlichte mehrere Graphic Novels und Comics. Zuletzt auf Deutsch erschienen: «Alois Nebel» und «Alois Nebel ‒ Leben nach Fahrplan». Er lebt und arbeitet in Prag.

Rezension «Der Besuch von Herrn Horváth» auf literaturblatt.ch

Rezension «Nachtgestalten» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Vojtěch Veškrna

Jaroslav Rudiš liest aus «Weihnachten in Prag» an den Schaffhauser Buchtagen 2023 im Bücherfass Schaffhausen