Éric Vuillard «Der Krieg der Armen», Matthes & Seitz

Heute vor 495 Jahren starb Thomas Müntzer vor den Toren der Stadt Mühlhausen, nachdem man ihn gefoltert und ganz offensichtlich gezwungen hatte, einen Abschiedsbrief zu verfassen, in dem er die Aufständischen zum Verzicht weiteren Blutvergiessens aufrief. Thomas Müntzer, ein zorniger Theologe, der nicht einsehen wollte, dass Armut hier, Reichtum dort gottgegebenes Programm sein sollte.

Wer kennt nicht Martin Luther – oder hat zumindest von ihm gehört oder gelesen. Wer kennt Thomas Müntzer? Wahrscheinlich kennt ihn nicht einmal Éric Vuillard. Denn abgesehen von seinen niedergeschriebenen Texten, den Briefen und Predigten des zornigen Theologen und Reformators weiss man im Gegensatz zu seinem eher sanftmütigen Glaubensbruders Luther nicht viel. Sicher ist, dass er durch seine Schriften und Predigten im 16. Jahrhundert den Zorn, die Wut der Armen und Rechtlosen zu entfachen wusste, dass das Feuer Aufstand und Krieg bedeutete, dass die Obrigkeit, Klerus und Patrizier, Adel und Würdenträger die Macht der Mächtigen gegen die Ohnmacht der Armen ausspielten und Thomas Müntzer am 27. Mai 1525, also vor genau 495 Jahren, Jahrhunderte vor Revolution und Aufklärung, im thüringischen Mühlhausen gefoltert, öffentlich enthauptet und sein Haupt aufgespiesst wurde.

Éric Vuillard «Der Krieg der Armen», Matther & Seitz, 2020, 64 Seiten, CHF 21.50, ISBN 978-3-95757-837-2

Zwischen 1452 und 1454 wurden in der Druckerwerkstatt von Johannes Gutenberg in Mainz die ersten Bibeln gedruckt. Innerhalb von drei Jahren 180 Bibeln, während in Klöstern Mönche in der gleichen Zeit jeweils eine einzige in für das Volk unverständlichem Latein abschrieben. „Bücher vermehrten sich wie Würmer in einem Körper.“ Einem modrigen Körper, der sich mit allerlei Rechtfertigungen und Behauptungen stramm am Leben hielt. Aber Thomas Müntzer genügt die deutsche Bibel nicht. Er predigt auch in deutscher Sprache und seine Kirchen füllen sich. „Warum war der Gott der Armen so merkwürdig auf Seiten der Reichen, immer mit den Reichen? Warum forderte er mit dem Mund derer, die alles genommen hatten, alles zu lassen?“ In jenen unruhigen Zeiten waren solche Gedanken Häresie, Grund genug, wie Jan Hus in Konstanz auf dem Scheiterhaufen zu landen (1415). Und nachdem Thomas Müntzer vor Erbprinzen, Vögten und Bürgermeistern den Satz „Man soll die gottlosen Regenten töten“ ausspricht, ist das Ende des Fürsprechers der Armen besiegelt.

Éric Vuillars Buch ist kein Roman, kein durch Fiktion aufgeblasenes Konstrukt. „Der Krieg der Armen“ hat nie aufgehört, setzt sich in Venezuela, bei den Obdachlosen in Kalifornien, den Flüchtenden an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland fort. Die Kraft dieses Buches liegt in seinem Konzentrat!

Man kann das Buch lesen wie ein historisches Sachbuch. Aber man kann dieses schmale Buch auch lesen wie eine Warnung an die Zukunft. Damals waren es Adel und Klerus, die sich in ihren „gottgewollten“ Privilegien sonnten, die Menschen durch Steuern, Frondienst, Leibeigenschaft und Sklaverei ausnützten. Heute sind es die Oligarchen, Wirtschaftsbosse und Finanzhaie, die sich hinter Argumentationen wie „Der Markt steht allen offen, man muss nur wollen (und können)“ verstecken, die sich vor jenen fürchten, die die scheinbar in Stein gemeisselten Privilegien in Frage stellen. Thomas Müntzer machte die Bibel zum Programm, jenes Buch, das nichts von seiner revolutionären Brisanz eingebüsst hat.

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er große Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründete, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu, dem Franz-Hessel-Preis und dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

Nicola Denis, 1972 in Celle geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray.

Rezension von «14. Juli» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Melania Avanzato

Éric Vuillard «14. Juli», Matthes und Seitz

14. Juli: Frankreich feiert seinen Nationalfeiertag mit Paraden, Glanz und Glorie, mit viel Militär, gibt sich macht- und selbstbewusst. Dabei war der 14. Juli 1789 genau das Gegenteil; der Untergang der Aristokratie, jener Kulminationspunkt, der mit dem Sturm auf die Bastille gipfelte und erst im in der Folge das werden liess, was sich heute Französische Revolution nennt.

Am 15. April dieses Jahres brannte Notre Dame in Paris und die ganze Welt schien den Atem anzuhalten. Am 14. Juli vor 240 Jahren brannte die Bastille, ein Bollwerk königlicher Macht. Nicht durch einen unglücklichen Umstand, sondern weil sich ein überschäumender Strom von Menschen durch die Strassen von Paris wälzte, hungrig, zornig, aufgeladen, mit der Absicht, keinen Stein auf dem andern zu lassen, schon gar nicht jene Steine, die die Massen hungern liessen, während der Adel sich hinter Mauern verlustierte. Frankreich war hoffnungslos verschuldet, der Staat drohte, sich mit wehenden Fahnen in den Bankrott zu reiten, während man die Löhne jener Arbeiter kürzte, denen das Geld so schon nicht mehr zum Leben reichte.

Während sich der Hof in Versailles, dieser Moloch aus gepuderten Günstlingen, Zubringern, Dienstboten, Glückssuchern, Profiteuren und Gaunern ganz dem Moment hingab und sich der Monarch in Gottes Gnaden suhlte, kochte und brodelte in der unkontrolliert gewachsenen Grossstadt Paris, damals wahrscheinlich eine der grössten Städte der Welt, das Volk. Versailles, heute strahlende Sehenswürdigkeit, mit seiner ebenso pompösen wie monströsen Infrastruktur war nicht nur riesiges Macht- und Kulturzentrum, sondern ein Abgrund, in dem sich Biographien verloren, Menschen verschwanden, die Dekadenz wilde Feste feierte und Reichtum und Armut Wand an Wand existierten.

Éric Vuillard schildert diesen einen Tag, schrieb mit «14. Juli» ein literarisches Denkmal. Nicht für Frankreich, keine Kulisse für die Paraden auf den Champs-Élysées, nicht für die wieder erstarkte Aristokratie, nicht für Eliten und Prominenz, sondern für all jene, die auch nach diesem Buch, trotz aller Geschichtsschreibung namenlos bleiben, die sich in der Verzweiflung über ein Leben ohne Perspektive mitreissen liessen, die Spiesse, rostige Scheren, Stuhlbeine und Mistgabeln mitnahmen, um ihrem grenzenlosen Unmut Luft zu verschaffen.

Éric Vuillard kann etwas, was ganz eigen ist. Er schreibt Literatur, die Geschichte zum Angelpunkt macht. Obwohl er sich chronologisch an die Geschehnisse jenes Tages hält, ist sein Blick weder wissenschaftlich noch historisch. Er widmet sich jenem Tag, dem Moment, als Tausende starben, unschuldig, im falschen Moment am falschen Ort, als das Chaos die Monarchie zum Sturz brachte, unsägliches Kulturgut ein Raub der blanken Zerstörungswut, die Anarchie der Beginn einer neuen Zeitrechnung wurde. Éric Vuillard beschreibt meisterhaft, mit welch kümmerlicher Arroganz sich die herrschende Elite dem aufgewühlten und euphorischen Mob entgegenstellte und bis zuletzt glaubte, man könne die Revolution mit einem weissen Spitzentaschentuch, Verhandlungen und militärischer Macht aufhalten oder wenigstens in kontrollierbare Bahnen lenken.

Der Autor glorifiziert nichts und niemanden, nicht einmal jene, die aus dem Moment zu «Helden» wurden. Éric Vuillard malt mit starken Farben, kraftvollen Sätzen und einer Eindringlichkeit, die mich als Leser bis ins Mark erschüttert. Was damals geschah, geschieht immer wieder. Weit weg in Venezuela und latent mit gelben Westen ganz nah. «14. Juli» ist perfekter Geschichtsunterricht!

© Melania Avanzato

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er grosse Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründet, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2017 bekam er für «Die Tagesordnung» den renommierten Prix Goncourt.
Nicola Denis, 1972 geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray.