Éric Vuillard «14. Juli», Matthes und Seitz

14. Juli: Frankreich feiert seinen Nationalfeiertag mit Paraden, Glanz und Glorie, mit viel Militär, gibt sich macht- und selbstbewusst. Dabei war der 14. Juli 1789 genau das Gegenteil; der Untergang der Aristokratie, jener Kulminationspunkt, der mit dem Sturm auf die Bastille gipfelte und erst im in der Folge das werden liess, was sich heute Französische Revolution nennt.

Am 15. April dieses Jahres brannte Notre Dame in Paris und die ganze Welt schien den Atem anzuhalten. Am 14. Juli vor 240 Jahren brannte die Bastille, ein Bollwerk königlicher Macht. Nicht durch einen unglücklichen Umstand, sondern weil sich ein überschäumender Strom von Menschen durch die Strassen von Paris wälzte, hungrig, zornig, aufgeladen, mit der Absicht, keinen Stein auf dem andern zu lassen, schon gar nicht jene Steine, die die Massen hungern liessen, während der Adel sich hinter Mauern verlustierte. Frankreich war hoffnungslos verschuldet, der Staat drohte, sich mit wehenden Fahnen in den Bankrott zu reiten, während man die Löhne jener Arbeiter kürzte, denen das Geld so schon nicht mehr zum Leben reichte.

Während sich der Hof in Versailles, dieser Moloch aus gepuderten Günstlingen, Zubringern, Dienstboten, Glückssuchern, Profiteuren und Gaunern ganz dem Moment hingab und sich der Monarch in Gottes Gnaden suhlte, kochte und brodelte in der unkontrolliert gewachsenen Grossstadt Paris, damals wahrscheinlich eine der grössten Städte der Welt, das Volk. Versailles, heute strahlende Sehenswürdigkeit, mit seiner ebenso pompösen wie monströsen Infrastruktur war nicht nur riesiges Macht- und Kulturzentrum, sondern ein Abgrund, in dem sich Biographien verloren, Menschen verschwanden, die Dekadenz wilde Feste feierte und Reichtum und Armut Wand an Wand existierten.

Éric Vuillard schildert diesen einen Tag, schrieb mit «14. Juli» ein literarisches Denkmal. Nicht für Frankreich, keine Kulisse für die Paraden auf den Champs-Élysées, nicht für die wieder erstarkte Aristokratie, nicht für Eliten und Prominenz, sondern für all jene, die auch nach diesem Buch, trotz aller Geschichtsschreibung namenlos bleiben, die sich in der Verzweiflung über ein Leben ohne Perspektive mitreissen liessen, die Spiesse, rostige Scheren, Stuhlbeine und Mistgabeln mitnahmen, um ihrem grenzenlosen Unmut Luft zu verschaffen.

Éric Vuillard kann etwas, was ganz eigen ist. Er schreibt Literatur, die Geschichte zum Angelpunkt macht. Obwohl er sich chronologisch an die Geschehnisse jenes Tages hält, ist sein Blick weder wissenschaftlich noch historisch. Er widmet sich jenem Tag, dem Moment, als Tausende starben, unschuldig, im falschen Moment am falschen Ort, als das Chaos die Monarchie zum Sturz brachte, unsägliches Kulturgut ein Raub der blanken Zerstörungswut, die Anarchie der Beginn einer neuen Zeitrechnung wurde. Éric Vuillard beschreibt meisterhaft, mit welch kümmerlicher Arroganz sich die herrschende Elite dem aufgewühlten und euphorischen Mob entgegenstellte und bis zuletzt glaubte, man könne die Revolution mit einem weissen Spitzentaschentuch, Verhandlungen und militärischer Macht aufhalten oder wenigstens in kontrollierbare Bahnen lenken.

Der Autor glorifiziert nichts und niemanden, nicht einmal jene, die aus dem Moment zu «Helden» wurden. Éric Vuillard malt mit starken Farben, kraftvollen Sätzen und einer Eindringlichkeit, die mich als Leser bis ins Mark erschüttert. Was damals geschah, geschieht immer wieder. Weit weg in Venezuela und latent mit gelben Westen ganz nah. «14. Juli» ist perfekter Geschichtsunterricht!

© Melania Avanzato

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er grosse Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründet, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2017 bekam er für «Die Tagesordnung» den renommierten Prix Goncourt.
Nicola Denis, 1972 geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray.