Anna Ruchat «Neptunjahre», Limmat

„Neptunjahre“ erschien 2018 unter dem Titel „Gli anni di Nettuno sulla terra“ in Italien und bescherte Anna Ruchat mit Recht 2019 einen der Schweizerischen Literaturpreise. Aber wie sooft bei solchen Preisen und aus nicht deutsch sprechenden Landesregionen nimmt nur ein ganz kleiner Kreis Kulturinteressierter dies zur Kenntnis und beginnt gar zu lesen. Mein Lob auf den Limmat Verlag, der nach „Schattenflug“ mit „Neptunjahre“ ein weiteres Juwel der Autorin herausgibt.

„Neptunjahre“ sind zwölf Erzählungen, den zwölf Monaten übers Jahr zugeordnet, von Januar bis Dezember. Keinem bestimmten Jahr zugeteilt, dafür jeweils einer Begebenheit aus Politik, Kultur oder Gesellschaft. Zwölf Erzählungen, scheinbar wohl geordnet und doch unergründlich ineinandergestellt. Zwölf Erzählungen, zwölf Begebenheiten, zwölf Titel. 

Anna Ruchat «Neptunjahre», Limmat, übersetzt von Barbara Sauser, 2020, 144 Seiten, CHF 26.00, ISBN 978-3-85791-894-0

In der ersten Erzählung unter dem Titel „Die Seegfrörni von 1963“ begleite ich eine noch junge Frau durch einen schneestiebenden Januartag in Zürich. Alles ist weiss und die junge Frau setzt sich in eine Strassenbahn Richtung See. Sie trägt einen grauen Mantel, eng um den Leib gebunden wie einen Morgenmantel. In der Strassenbahn setzt sich ein junger Mann neben die Frau. Sie fragt ihn nach der Uhrzeit, es entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden. Die Frau bittet den Mann, sie zu begleiten. Er willigt ein. Hinunter zum See, an den Ort, wo vor zwanzig Jahren ein Unglück geschehen sein musste. Ein Unglück, dass nicht nur Leben kostete, sondern auch das Leben der Frau nie mehr aus den Fängen liess. Sie gehen weiter, der Mann und die junge Frau in Pantoffeln und einem baumwollenen Schlafanzug unter dem grauen Mantel.

Der Erzählung vorangestellt: „31. Januar 1983. In Zürich wird die Schweizerische Gesellschaft für Gartenkultur gegründet.“ Ein Ereignis, das zur gleichen Zeit stattfindet wie das, was in der Erzählung „Die Seegfrörni von 1963“ geschildert wird. Ein Ereignis, das der Erzählung einen Kontrapunkt setzt, sie ins Gegenlicht setzt, beide nur durch ein Datum berührt.

Oder die Erzählung „Der Nerz“: „16. April 2008. Bei israelischen Angriffen in Gaza werden zehn Zivilisten getötet. Darunter Fadel Shana’a, ein Kameramann der britischen Presseagentur Reuters.“
Miriam, eine Pariser Psychoanalytikerin, kommt wie jeden Tag, an dem sie arbeitet, mit einem Taxi nach Hause. Der Taxifahrer bleibt am Strassenrand stehen, bis die Frau im Haus verschwindet. Und weil am Aufzug ein Zettel hängt Ascenseur en panne ist sie gezwungen, die Treppe nach oben zu steigen. Zeit genug, um durch den Blick der Autorin in ein Leben zu leuchten, das in der Tristesse des eigenen Gefängnisses zu verdorren scheint. Eine Frau, die sich gegen alles zu wehren scheint, was nach Umklammerung riechen könnte, ein Leben geprägt durch die Geschichte und die Geschichten aus der Vergangenheit.

Anna Ruchats Geschichten sind seltsam fremd, nicht ausgeleuchtet, geheimnisvoll. Alles andere als eine zufällig zusammengestellte Sammlung netten Kurzfutters. Nichts für Zwischendurch, nicht einmal geeignet fürs Nachttischchen, denn die Geschichten haben das Potenzial, mich als Leser nicht einfach so zu entlassen. Anna Ruchat beweisst, dass eine Komposition von zwölf Erzählungen, scheinen sie auch noch so zusammenhangslos, einer grossen Ordnung angehören, wie eine gross angelegte Musikkomposition mit zwölf Sätzen. Ich wünsche der Autorin von ganzem Herzen, jene Leserinnen und Leser, die zu geniessen verstehen!

© Yvonne Böhler

Anna Ruchat, 1959 in Zürich geboren, im Tessin und in Rom aufgewachsen, studierte Philosophie und deutsche Literatur in Pavia und Zürich. Langjährige Tätigkeit als Übersetzerin u. a. von Thomas Bernhard, Paul Celan, Nelly Sachs, Friedrich Dürrenmatt, Viktor Klemperer, Mariella Mehr, Kathrin Schmidt und Norbert Gstrein. Für ihr Erzähldebüt «Die beiden Türen der Welt» erhielt sie in Italien den Publikumspreis Premio Chiara und in der Schweiz den Schillerpreis. 2019 wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Sie unterrichtet an der Europäischen Übersetzerschule in Mailand. Anna Ruchat lebt in Riva San Vitale und Pavia.

Barbara Sauser, geboren 1974 in Bern, lebt in Bellinzona. Studium der Slawistik und Musikwissenschaft in Fribourg. Nach mehreren Jahren im Zürcher Rotpunktverlag arbeitet sie seit 2009 als freiberufliche Übersetzerin aus dem Italienischen, Franzö­sischen, Russischen und Polnischen.

Beitragsbild © Yvonne Böhler

Christoph Schwyzer «Der Staubwedel muss mit», Limmat

Altersheime sind Biotope, unsichtbar eingezäunte Lebensräume, denen man wohl Besuche abstattet, aber in steter Erleichterung darüber, nicht Teil dessen sein zu müssen. Christoph Schwyzer arbeitete lange in einem solchen. Seine Geschichten aus diesem Biotop sind keine Schreckgeschichten, keine Enthüllungen. Nachdem er schon 2009 mit seinen Geschichten «und heim» seine erzählerische Präzision, seinen Witz und sein Gespür für Geschichten mit überraschenden Spiegelungen bewies, sind seine neuen Geschichten eine lange Kette literarischer Perlen.

Es breitet sich bei der Lektüre warme Melancholie aus, weil es Christoph Schwyzer versteht, jene Fein- und Eigenheiten in den Vordergrund zu stellen, die jene des Alters ausmachen, ohne sie mit dem Skalpell zu sezieren. Die Geschichten sind durch Begegnungen gewachsen, durch die Nähe zu den Menschen. Eine Melancholie, weil man unweigerlich weiss, dass man dereinst eine der Beschriebenen sein könnte, weil es fast nichts gibt, dass einem vor dem Zimmer im zweiten Stock „zu retten“ vermag.

Frau Christen
Verzweifelt suchte Frau Christen nach dem Sinn des Lebens. Die Tiere, dachte sie eines Tages, die haben es gut: Der Ameisenbär sucht Ameisen, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Die Eierschlange sucht Eier, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Der Mäusebussard sucht Mäuse, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Und ich? Ich bin doch angeblich ein Homo sapiens, ein weiser Mensch. Mehr Weisheit essen, hat der Arzt einmal gesagt. Oder hab ich ihn falsch verstanden: mehr Eiweiss essen?

Zarte Miniaturen vom Leben an der Endstation, von den Menschen, denen sich das Leben nicht unmerklich zu verschliessen beginnt, denen man sich immer weniger zuwendet, wenn nicht gar abwendet, die keine „Funktion“ mehr mit sich tragen, die man vergisst, ein- und abgestellt hat. Von Menschen, die den kleinen, letzten Rest Leben mit sich tragen, jenen Rest Stolz, auch wenn es nur eine Schublade voller bestickter Stofftaschentücher ist. Sie breiten wie Frau Judith ihre Fotos vor sich aus, „wie Inseln aus dem Meer des Vergessens“. Christoph Schwyzer breitet all die klein gewordenen Leben vor mir aus. Sie mahnen mich, dass die Wahrscheinlichkeit einer solchen Wendung in meinem Leben nicht auszuschliessen ist und es nur schwer vorhersehbar ist, was dereinst meine Welt bestimmt.

Herr Hartmann
Ins Gedächtnistraining geht er nicht. Er sagt: Ich bin so nachtragend. Besser wäre eine Methode, die gezieltes Vergessen möglich macht.

Frau Jud, Herr Hauser, Herr Bumbacher, Frau Schwarz: Ihre Welt ist geschrumpft, geschwunden auf die blosse Hoffnung, auf ein unendlich scheinendes Warten, das letzte bisschen Sehnsucht. Christoph Schwyzer will kein System kritisieren, auch nicht den routinierten Umgang mit alten Menschen, weder die Ghettoisierung noch die Sorge um die demagogische Entwicklung der Gesellschaft. Christoph Schwyzers Blick auf die Menschen ist keiner auf sie herab, sondern getränkt von Liebe und Respekt, voller Witz und Schalk. Die längeren und manchmal nur ganz kurzen Porträts kreisen immer nur um das Eine: Was bleibt?

Frau Schneebeli
Zu wenig Schlaf lässt die Haut schneller altern. Diesen Satz hat Frau Schneebeli in der „Gesundheit Sprechstunde“, im Magazin von Dr. Stutz, gelesen und mit orangem Leuchtstift markiert. Während der darauffolgenden Nacht ist sie ungewöhnlich oft aufgewacht. Und jetzt will sie sich vom Arzt die Schlaftablettendosis erhöhen lassen.

Es ist als wären die Geschichten eine lange Reihe von Besuchen, ich an der Seite des Autors. Ich lausche einer Szene, einem Gespräch, einer Geschichte aus der Vergangenheit, einem Einblick, der nur möglich ist, weil ich mich an der Seite des Autors ruhig und unauffällig verhalte. Christoph Schwyzer bedankt sich mit der Verschriftlichung der Geschichten für die vielen Geschenke, die sich nur dann einstellen, wenn den Alten jener Respekt entgegengebracht wird, den das System verweigert.

Geschichten aus einem anderen Jahrhundert, einem anderen Jahrtausend, aus den Tiefen der Vergangenheit, aus einer anderen Welt. Einer Welt, die sich dem Produktiven, Eifrigen, Fleissigen, Zielgerichteten, Gemanagten entzieht. Vom Ende der Zeit, wo Zeit keine Rolle mehr spielt, ausgerechnet dort, an ihren Rändern.

Interview mit Christoph Schwyzer:

Dein Buch ist wie eine Fotoausstellung in einer grossen Galerie. Du gingst mit dem Objektiv ganz nah an die Person, ohne ihr zu nahe zu treten. Die Gesichter erzählten dir Geschichten. Du rahmst sie mit Sprache ein, bannst sie. Ich bleibe als Betrachter stehen, einmal länger, einmal kürzer und staune, wie sehr mich der Blick aus dem Bild berührt. Bist du mehr als Träger dieser Geschichten? 

Jede Figur, die in meinem Buch auftritt, lebt auch ein Stück weit in mir selbst: Der Nörgler, die Schwermütige, die Selbstverliebte, der Büchernarr, der Aufbrausende, die Mitfühlende. Insofern gibt es zu jeder Figur eine Verbindung. Und eigentlich geht es mir als Stadtmensch, als Stadtspaziergänger jeden Tag so: Ich sehe zahllose Menschen, werde von einem Gesicht, einem Blick, einer Stimme, einer Gangart in Bann gezogen; und selbst dann, wenn eine solch zufällige, flüchtige Begegnung eher abstossend auf mich wirkt, ahne ich mehr Verbindendes als Trennendes. „Was du anschaust, schaut zurück. Du wirst ihm wieder begegnen“, lautet eine Gedichtzeile von Max Bolliger.

Sie mahnen nicht direkt. Sie erschrecken nicht. Die suhlen sich nicht. Sie reissen nicht nieder. Sie, die du porträtierst, beschenken dich und du gibst dieses Geschenk weiter. Wie reifen diese Geschichten von der Idee bis um Entschluss, sie in die Sammlung aufzunehmen?

Mein Rohstofflieferant ist mein Tagebuch. Ich halte – regelmässig zwar, aber doch eher anfallsweise – meine Eindrücke fest. Nie aber gehe ich mit der Absicht irgendwohin, auch damals als Altersheimseelsorger nicht, Menschen zu beobachten, Material zu sammeln. Ich bin ja kein Detektiv, der, mit Fotoapparat und Notizblock bewaffnet, den Menschen auflauert. Wegweisend ist für mich die Frage: Welche Bilder und Situationen, welche Erinnerungen tauchen spontan aus dem Meer des Erlebten wieder auf; suchen mich heim, ohne dass ich mich dafür heftig anstrengen müsste? Damit aus einem Eindruck ein Ausdruck auf Papier werden kann, muss dieser noch warm, in Bewegung, formbar sein.

Die Anstrengung beziehungsweise die eigentliche Arbeit beginnt dann, wenn es darum geht, meinen Tagebucheinträgen eine gültige Gestalt zu geben, sie weiterzuspinnen, in eine Geschichte zu verwandeln. Ein Beispiel: Eine Hand, die im übervollen Bus einen Haltegriff umklammert, lässt mich nicht mehr los. Die Finger sind aufgedunsen, goldene und silberne Ringe schneiden sich ins Fleisch ein, der rote Lack der Nägel blättert an den Rändern ab. Tage oder Wochen später sehe ich wieder diese Hand vor mir, nur diese Hand; denn der Körper, das Gesicht zur Hand waren im übervollen Bus nicht zu sehen. Was erzählt mir diese Hand? Wie könnte sie den dazugehörigen Menschen indirekt charakterisieren? Ich versuche eine kleine Geschichte, eine Minibiografie zu entwerfen, schreibe meistens mehrere Versionen, kürzere und längere.

Dein Buch ist nicht das Resultat einer Recherche, sondern Manifestation von Liebe, Respekt und Hochachtung. Angesichts der demagogischen Entwicklung unserer Gesellschaft drängen sich aber durchaus Fragen auf, wie wir in Zukunft mit dem letzten Abschnitt des Lebens umgehen wollen, ob es reicht, chipgesteuerte Kuscheltiere oder sprechende Roboter einzusetzen. Wohin muss es gehen? 

Wir alle, ausnahmslos, sind Sehnsuchtsreisende auf der Suche nach Heimat. Wir kommen auf dieser Welt nie ganz an; immer fehlt etwas zum vollkommenen Glück, zur störungsfreien Zufriedenheit. Aber eines ist offensichtlich: Freundschaften können retten. Wer sich in einer Gemeinschaft von Menschen aufgehoben fühlt, fällt weniger schnell ins Bodenlose. – Weder im Altersheim noch sonst irgendwo bin ich jemals einem Menschen begegnet, der nicht beachtet, geachtet, wahrgenommen werden wollte. Und oft stellt sich heraus, dass diejenigen Menschen, die einem die kalte Schulter zeigen und von sich behaupten: Ich will keinen Besuch, ich brauche keinen Besuch, unglaublich aufblühen, wenn sie dann trotz allem sich öffnen und ins Erzählen kommen. Kein auch noch so ausgeklügelter Roboter kann einem Menschen sein Ohr, sein Herz schenken, ist in der Lage, bloss mithilfe seiner Aufmerksamkeit, eines gütig geduldigen Blicks oder einer Berührung, wortlos zu sagen: Ich bin für dich da. Ich mag dich.

Du gibst jeder Geschichte einen Namen. Manchmal einen Vornamen, manchmal einen Familiennamen. Du änderst auch die erzählende Perspektive. Was entscheidet? 

Jeder Name, ob Vor- oder Nachname, birgt ja schon eine Geschichte in sich, hat seinen eigenen, eigenartigen Klang. Wenn ich „Meier“ durch „Mendes“ ersetze oder „Sepp“ durch „Siegfried“, ändert sich der gesamte Charakter der Geschichte. Dasselbe ist der Fall, wenn ich Requisiten austausche, Möbel. Das Gleichbleibende, die Konstante ist die Einzelzimmersituation.

Ich spiele gerne mit meinen Figuren. Eigentlich ist für mich eine Geschichte nie fertig. Ich habe eine unglaubliche Freude daran zu kneten, zu modellieren, alles zusammenzudrücken und wieder von vorne anzufangen – wie damals als Kind mit meinen Plastilinfiguren. Was passiert, wenn aus einer Frau ein Mann wird? Wie tönt die Geschichte, wenn sie aus dem Mund der betroffenen Person selbst kommt? Wie aus dem Mund einer Tochter, eines Sohnes? Und was ist, wenn die Figur unablässig schweigt, stattdessen aber ein Gegenstand, eine Handbewegung, ein Kleidungsstück vielsagend wird, laut zu sprechen beginnt? – Allerdings ist das übermässige Abändern mit der Gefahr verbunden, nie eine endgültige Form zu finden, gar eine bereits prägnante Geschichte wieder zu verflachen.

Ist da nie die Lust, eines dieser Porträts aus der Ausstellung mit nach Hause zu nehmen, auf den Schreibtisch zu stellen, auf den Tisch vor dem Fenster, um noch viel mehr, viel tiefer zu schauen? 

Meine Landschaften, in denen ich am liebsten spazieren gehe, sind die Menschen, soll ein Grossstädter einmal gesagt haben. Mit mir verhält es sich ähnlich. Insofern taucht in der Tat ab und zu die Idee auf, einer einzelnen Figur mehr Raum zu geben, mich von ihr an der Hand nehmen und über all die noch unentdeckten Lebenswege führen zu lassen, Lebensschicht für Lebensschicht zu erkunden – und vielleicht eine Erzählung zu schreiben.

© Paul Joos

Christoph Schwyzer (1974) lebt mit seiner Familie in Luzern. Er arbeitete an der Volksschule, im Altersheim und bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Studienaufenthalt in Hildesheim «Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus», Umzug nach Berlin, danach Fußwanderung von Hamburg nach Basel. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit tritt Christoph Schwyzer als Rezitator auf. Für seinen ersten Roman «Wenzel» war er für den Rauriser Literaturpreis 2012 nominiert.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Usama Al Shahmani «Wo die Diktatur beginnt, liegt die Kultur im Sterben – Eine Kindheit zwischen dem Krieg und dem bewaffneten Frieden»

Die Weihnachtsferien sind vorbei. Ein regnerischer Morgen. Die Autos fahren langsam. Ich bin unterwegs zur Arbeit. Auf dem Weg zum Bahnhof Frauenfeld sehe ich Kinder, die in kleinen Gruppen zur Schule laufen. Sie tragen ihre Schulsäcke auf dem Rücken – praktische Taschen mit Reflektoren zur Erhöhung ihrer Sicherheit. Ihre Kleider und ihre Taschen leuchten auf den winterlichen Strassen wie ein Feuerwerk. Die Kinder gehen langsam und sprechen miteinander. Einige von ihnen halten sich an den Händen, vor allem, wenn sie die Strasse überqueren wollen. „Ach, wie schön“, denke ich und erinnere mich an meinen eigenen Schulweg.

Als ich in die Primarschule ging, war der Weg zur Schule schrecklich. Ich versuchte, vor meinen eigenen Schritten zu fliehen. Meine grosse Angst war es, in den Krieg zu geraten; den Krieg zwischen den Kindern. Aus jeder Seitenstrasse stiessen Gruppen von Kindern jeden Alters dazu. War ein Kind, das die anderen nicht kannten, alleine unterwegs, prügelten sie auf es ein. Dieses Spiel hiess das «Krieg-Spiel». Manche Kin- der trugen Stöcke mit sich und schlugen gnadenlos zu, egal wo. Hauptsache war, dass das verprügelte Kind auf die Knie fiel und um Gnade winselte. Mein Mittel gegen diese Angst war es, so schnell wie möglich durch dieses Kriegsfeld zu rennen. Der Weg zur Schule war wie ein Marathon, begleitet von ständiger Angst.

In diesem Jahr wird der dreissigste Jahrestag des Kriegsendes im Irak gefeiert. Ein Krieg, der 1980 zwischen dem Irak und dem Iran begann. Ich war damals in der 4. Klasse der Primarschule. Als er endete, hatte ich meine Matura erst seit Kurzem in der Tasche. Aber mit diesem Ende war der Krieg noch nicht wirklich fertig; es war nur eine Übergangszeit, bis der nächste ausbrach. Zufälligerweise in einem Land geboren zu werden, in dem der Krieg kein Ende nehmen will, ist ein schreckliches Schicksal. Ich gehöre zu einer Generation irakischer Kinder, die keinen friedlichen Zustand erleben durfte. Schon mit sieben Jahren erfasste ich, dass vieles nicht stimmt. Ich wuchs unter dem fürchterlichen Lärm von Bombeneinschlägen und unerwartetem Sirenengeheul auf. Als Kinder rannten wir immer zu den Orten von Schiessereien, um Patronenhülsen zum Spielen zu sammeln.

Bevor Saddam und seine Partei 1979 die Macht im Irak übernahm, wurden Kinder meistens auf der Basis von Ehrlich- und Gerechtigkeit erzogen. Doch die Situation veränderte sich schnell. Vom Beginn dieses Krieges an hielten sich die meisten Eltern meiner Generation bei der Erziehung streng an die Regeln des Regimes sowie an religiöse Vorgaben und Sitten. Alles andere mussten die Eltern verdrängen. So wuchs ich eingekerkert zwischen den drei Mauern der Religion, der Diktatur und der Sitten auf.

Dieser anhaltende Notzustand während der Kriegsjahre gab mir keine Möglichkeit, eine normale Kindheit zu leben. Alles war eingeschränkt; es gab keine freien Räume, auch gedankliche Freiheit war gefährlich. Die Wege der Träume waren steinig oder blieben ganz versperrt. Man durfte nicht davon träumen, sich frei zu machen, irgendwohin zu reisen; fast alles war verboten. Als Kind begriff ich ganz genau, dass ich nie etwas sagen durfte, ohne zuerst an die Folgen zu denken. Diese Angewohnheit schleppe ich immer noch mit mir mit. Jeder Satz will mehrmals reflektiert werden, bevor er den Weg über meine Lippen findet. In der Schule hatte ich das Schweigen und den Umgang mit Ungerechtigkeit und Unterstellung perfekt gelernt. Über alles zu reden, was man dachte, war äusserst gefährlich. Die Angst, dass ich ein Mitglied meiner engsten Familie verlieren könnte, begleitete mich ständig. Immerhin musste ich als Kind nicht arbeiten, tröste ich mich jetzt. Vieler meiner Klassenkameraden waren Strassenarbeiter; einige verkauften an Ampeln Plastiktüten oder Zigaretten, andere putzten die Windschutzscheiben der dort stehenden Autos.

Ich weiss nicht, was aus unserem Mathematiklehrer geworden ist. Er war gross und schlank, hatte eine Glatze und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Seine Hemden waren fast immer zu eng. Als Kinder warteten wir ständig darauf, dass ihm ein Knopf wegspickt. Er fragte oft, ob ein Kind arbeite, wenn es die Hausaufgaben nicht richtig gemacht hatte. Er sagte: „Die Strassenverkäufer können gut rechnen, aber nie still setzen.“ Manchmal erkundigte er sich, was unsere Väter arbeiteten, als ob er eine Verbindung zwischen der Leistung eines Kindes und dessen Vaters suchte. Einmal hatte ihm ein Kind unerwartet geantwortet: „Ich habe weder Vater, noch Mutter. Ich habe sie nie gesehen. Sie sind seit Jahren im Gefängnis. Auch Angehörige habe ich nicht.“ Der Lehrer wurde rot, blieb starr. Eine schreckliche Stille erfasste das Schulzimmer der 6. Klasse. Diese Szene werde ich ein Leben lang in Erinnerung behalten. Ich hatte sie auch vor Augen, als ich nach Saddams Sturz 2003 eine Sendung im irakischen Fernsehen sah, in der ein junger Iraker seine Geschichte und das, was mit seinen Eltern passiert ist, erzählte.

Ich lebte damals in einer Holzbaracke, die für Flüchtlinge in einem kleinen Dorf in der Nähe der Stadt Baden (AG) gebaut worden war. Durch das einzige grosse Fenster dieser kleinen Baracke sah man den weiten Horizont und eine mächtige Weide, auf der im Sommer viele Kühe frei herumliefen. Oft habe ich mich vor das Fenster gesetzt und den alten Apfelbaum betrachtet, der die Mitte dieser Fläche füllte. Im Winter war der Ausblick auf diese von weisser Farbe bedeckte Weite betrübender. Drei Schlafzimmer gab es in dieser Baracke, in jedem Zimmer lebten zwei Asylbewerber. Mein Mitbewohner, ein junger Araber, war unerwartet aus der Baracke verschwunden. Mit ihm sass ich oft vor dem Fernseher, vor allem im Winter. Ich verfolgte damals die Nachrichten über den Irak mit grosser Aufmerksamkeit. Ich wollte begreifen, wie dieses Land aus der grausamen Diktatur den Weg zum Leben finden konnte. Die erwähnte Sendung schaute ich mir zusammen mit einem Jungen aus dem Tibet an. Er klagte oft über den Geruch von Cannabis, der aus dem Nachbarzimmer ströme. Seine Bewegungen erschienen mir traurig und lustlos, als ob er auf einem Friedhof wäre. Der kleine Fernsehraum war sein Zufluchtsort. Die Sendereihe erzählte von Menschen, die unter der Autorität Saddams gelitten hatten.

Bis ein 32jähriger Mann, der als Kind sämtliche Familienangehörige verloren hatte, seine Geschichte öffentlich erzählen durfte, hatte es lange gedauert. Das Schicksal seiner Eltern konnte er den Akten des irakischen Geheimdiensts nach Saddams Sturz am 9. April 2003 entnehmen. Dort war das Geschehen von der Festnahme der Eltern bis an bis hin zu ihrer Hinrichtung protokolliert. Seine Mutter war schwanger, als sie mit seinem Vater im Sommer 1981 nördlich von Bagdad bei einem militärischen Checkpoint festgenommen wurde. Die beiden wurden verdächtigt, der politischen Bewegung gegen das Regime anzugehören, was sie auch zugaben. Sie versicherten jedoch, vor einer Weile die politischen Aktivitäten eingestellt zu haben, weil sie sich nur ihrer jungen Familie und dem noch ungeborenen Kind widmen wollten.

Das Militärgericht verurteilte sie dennoch zum Tode durch Hinrichtung. Die Ehefrau ersuchte mehrmals um die Verschiebung der Hinrichtung bis nach der Geburt des Kindes, doch all diese Gesuche wurden abgelehnt. In einem letzten Antrag bat das Paar um einen Kaiserschnitt vor der Hinrichtung. Mit dem Satz «Der Irak braucht keinen neuen Verräter» wurde auch diese Bitte um Gnade für das unschuldige Kind abgelehnt. Am Tag der Hinrichtung stieg der Mann auf das Podest, seine Frau wartete unten. Er wurde erhängt. Als die Frau ebenfalls die Treppe hinaufgegangen war, bat sie ein allerletztes Mal um Aufschub ihrer Hinrichtung bis nach der Geburt des Kindes. Sie war im neunten Monat schwanger. Doch auch diese Bitte wurde nur wenige Augenblicke vor der Exekution abgelehnt. Die Henker zeigten keine Gnade. Die Frau versuchte zu pressen, um so die Wehen und die Geburt zu erzwingen, doch es gelang ihr nicht. Auch sie wurde erhängt. Als sie tot auf den Boden gelegt wurde, öffnete sie sich ihr Muttermund wie durch ein Wunder. Das Kind hatte den Weg zur Welt selbst gefunden. Das war ein Schock für alle Anwesenden. Vor Ort waren ein hoher Offizier mit seinen Mitarbeitern, ein Mann aus der Moschee und ein Arzt, der den Tod verifizieren musste. Der Offizier wollte das Kind neben seiner Mutter schreien lassen, bis es stirbt. Der Arzt und einige Mitarbeiter des Offiziers widersprachen: «Die Strafe wurde dem Vater und der Mutter auferlegt und nicht dem Kind. Dieses Lebewesen kann nicht ohne Gerichtsbeschluss getötet werden.» «Das muss unbedingt geklärt werden», sagte die rechte Hand des Offiziers. Die Beteiligten einigten sich darauf, das Kind einer Person zu übergeben, die mit den Verurteilten nicht verwandt war, bis die Angelegenheit geklärt war. «Wir haben eine Putzfrau im Gebäude», sagte ein Offizier. «Sie arbeitet seit über zehn Jahren hier. Sie ist eine alte Frau, ihr können wir vertrauen. Wir können ihr das Kind geben, ohne eine Erklärung abliefern zu müssen».

Die alte Dame reinigte den blutigen Boden. Sie wickelte das Baby in ihren Schleier und nahm es mit nach Hause. Für sie war es wie ein Geschenk Gottes. Die Frau war Mitte fünfzig und lebte kinderlos mit ihrem behinderten Mann. Sie wohnten in der Nähe des Frauengefängnisses, wo die Hinrichtung vollstreckt worden war. Als dieser Junge, aus dem nun ein erwachsener Mann geworden war, seine Geschichte erzählte, sass seine Ziehmutter neben ihm. Die über achtzigjährige Dame war sichtlich stolz auf ihn und die Art wie er seine Geschichte erzählte. Über diese Sendung wollte der Mann herausfinden, wer seine leiblichen Eltern waren, wer seine Verwandten sind. Als ich das sah, brach eine alte Wunde in mir auf. Ich dachte, dass sie längs verheilt wäre. Aber es gibt Situationen im Leben, die immer abrufbar bleiben. Sie brauchen nur einen kleinen Auslöser, um uns wieder in Unruhe zu versetzen.

Ich sass wie versteinert da und fragte mich, was mir geholfen hat, all diese Grausamkeit zu ertragen. Solche und ähnliche Geschichten habe ich schon als Kind erfahren, sie prägten mein Leben während der Diktatur. Zum Beispiel führte unser Schulweg an grossen Bäumen vorbei, in welchen oft die Leichen von politischen Aktivisten hingen, die von den Sicherheitskräften der Diktatur erschossen worden waren. Wir Schüler hatten grosse Angst, diesen Weg zu gehen. Es gelang mir damals, in zwei Welten zu leben: der Welt der Bücher und der Welt der Gräueltaten draussen. Dank der Lektüren verlor ich die Orientierung nicht und konnte vorwärts gehen in diesen Zeiten des Rückschritts. Die Kraft der Worte half mir, lebendig zu bleiben und gegen den Strom zu schwimmen. Aber auch Lesen war in dieser Gesellschaft, in der ich aufwuchs, keine Alltagsbeschäftigung. Den grössten Teil meiner Kindheit hatte ich in einer kleinen Stadt im Süden des Iraks verbracht, wo es keine Buchhandlung gab – nur einen kleinen Kiosk auf der Hauptstrasse, welcher Zeitungen und Zeitschriften verkaufte. Bücher kaufen hätte ich sowieso nicht gekonnt, weil ich dafür kein Geld hatte. Ich erinnere mich an die erste Zeitschrift meines Lebens, die ich las, sie hiess „Meine Zeitschrift“. In dieser Zeitschrift wurde der Krieg für Kinder farbig präsentiert und der irakische Soldat als tapferer Held dargestellt, der dem grässlichen Feind gegenübersteht.

Als ich in die Schweiz kam, staunte ich über die vielen Kinder- und Jugendbücher, Buchhandlungen und Bibliotheken und darüber, dass die Leute an der Kasse Schlange stehen, um Bücher kaufen zu können. „Wie bei uns beim Amt des Militärdienstes, wo die Leute den Stempel erhalten wollen“, dachte ich mir.

In meinem Elternhaus gab es ausser dem Koran keine Bücher. Mein Vater war kein Leser, er brachte höchstens ab und zu einmal eine Zeitung mit nach Hause. Das alte Exemplar des Korans hatte meine Mutter mit einem feinen grünen Seidenstoff eingepackt und auf das Wohnzimmerregal gelegt. Man durfte es nicht berühren, bevor man die rituelle Waschung zur Reinigung verrichtet hatte. Gelesen wurde Zuhause nur für die Schule. Bücher lesen war ein gefährlicher Luxus. Lesende, gebildete und intellektuelle Menschen waren für das Regime eine Provokation. Wer die Diktatur überleben wollte, durfte sich nicht von der Masse unterscheiden. Andernfalls riskierte man sein Leben.

Die kleine Stadtbibliothek hatte nicht nur wenig Bücher, es gab auch kaum Leute, die sie aufsuchten. Für mich war sie trotzdem die Rettung, weil ich dort Lesestoff fand. Ohne sie wäre ich ein anderer Mensch ge- worden. Ich erinnere mich an eine grosse Menge der russischen Literatur und viele arabische Poesie, die ich dank dieser Bibliothek gelesen habe.

In der Schule gab es keine Bibliothek. Bücher zu lesen war ganz fremd. Die ersten zwei Bücher, die wir lesen mussten, erhielten wir vom Regime als Geschenk. Der Hintergrund für dieses Geschenk gründete im Pech meines Schulkameraden Haider. Wir waren in der 7. Klasse als ein Offizier des Sicherheitsdienstes ihn aus dem Klassenzimmer zum Verhör mitschleppte. Das war Anfang Sommer und im Klassenzimmer war es so heiss, dass wir kaum frische Luft bekamen. In der Pause hatte Haider mit seinem Schuh auf einen Kollegen gezielt und unglücklicherweise ein Porträt von Saddam, welches über der Tafel hing, getroffen. Auf dem Porträt sass Saddam auf einem majestätischen Sessel. Ihm hing eine kubanische Zigarre aus dem Mund, welche er mit seinen Fingern abstützte, und er starrte scharf in den Raum – das ganze Schuljahr über. Das Bild fiel auf den Boden ohne kaputt zu gehen. Eine ungeheure Stille trat ein, bis die Schüler wieder zu schwatzen begannen: „Haider hat Saddam mit einem Schuh geschlagen.“ Innerhalb von zwanzig Minuten stand der Schulleiter vor der Klasse und begann zu brüllen. Haider erschrak so fest, dass sein Gesicht aus- sah, als hätte er die Toten auferstehen sehen. Vor unseren Augen schlug der Schulleiter gnadenlos auf Haider ein, dann nahm er ihn mit in sein Büro. Der Schulleiter war gross, seine wenigen Haare waren weiss, selten haben wir ihn lächelnd gesehen. Es gab Gerüchte in der Schule, dass er schon einmal im Gefängnis gewesen sei und man ihn gefoltert habe. „Er benimmt sich wie ein Wahnsinniger“, sagte unser Mathema- tiklehrer, als er die ganze Schule an einem eiskalten Wintermorgen versammelt hatte und die Schüler zu schlagen begann, die an einem Schultag gefehlt oder ihre Fingernägel nicht geschnitten hatten. Der Schulleiter hatte militärische Ordnung und Drill in der Schule durchgesetzt. Er verprügelte Haider, zog ihn an den Haaren hoch und liess ihn auf den Boden fallen. Noch vor dem Ende der Schule kam ein Auto des Sicherheitsdienstes, um Haider abzuholen. Zwei Wochen später kehrte er wieder ins Klassenzimmer zurück. Er war bleich und sprach wenig. Auch wir hatten Angst ihn auszufragen. Meine Mutter hat mir mehrmals eingebläut, dass ich nicht neben Haider sitzen oder etwas mit ihm zu tun haben soll. „Wenn ihr euch auf der Strasse über den Weg läuft, musst du sofort die Strassenseite wechseln“, sagte mir mein Vater mit erhobener Stimme. Auch seine Augen wurden mit jedem Wort grösser mit dem er den Satz vervollständigte. Der Schulleiter und einige militärisch gekleidete Männer begleiteten Haider bei seiner Rückkehr ins Klassenzimmer. Letztere trugen glänzende Pistolen, und ihre Schuhe waren so schön sauber und poliert, dass sich ihre Gesichter darin spiegelten. Einer von ihnen, vermutlich der Chef, sagte zu uns, dass wir gute Schüler seien und den Führer und die Partei gerne hätten. Danach hielt ein anderer eine lange Rede, und jedes Mal, wenn unser Schulleiter klatschte, mussten auch wir klatschen. Am Schluss verabschiedeten sich die Männer bei jedem Schüler per Händedruck. Wir standen auf. Ich spüre immer noch den Druck ihrer Hände auf meinem Handballen. Sie übergaben jedem Schüler zwei dünne Bücher. Das eine trug den Titel „Lebe lang Generation der Partei“, das andere „Die Helden des Vaterlands“. Wir sollten diese zwei Bücher lesen und darüber einen Aufsatz schreiben. Mit diesem Auftrag verliessen diese Männer unser Klassenzimmer, Saddams Blick aber entmachtete uns weiter.

Die Lektüre von Büchern gehörte in der Primarschule und der Oberstufe nicht zum Alltag. Das änderte sich im Gymnasium, wo es eine kompakte, kleine Büchersammlung gab. Hin und wieder kamen Leute vom Geheimdienst, um die Bibliothek zu durchsuchen. Jedes Mal gingen sie mit einigen Büchern in der Hand wieder hinaus. Die Lücken in den Bücherregalen füllten sie mit Exemplaren, die Saddam und die Partei rühmten. Von diesen Büchern, die in grosser Zahl gedruckt und kostenlos an Schulen verteilt wurden, gab es Hunderte. Sie handelten von der arabischen Nation und ihren Feinden.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem alle Exemplare des Romans von Nagib Machfus „Die Kinder unseres Viertels“ aus den Bibliotheken und Buchhandlungen verschwanden. Ich war damals im ersten Stu- dienjahr und sagte mir: „Diesen Roman muss ich lesen.“ Jedes Mal, wenn das Regime ein Buch bannte, löste das bei vielen den Reiz aus, das Buch erst recht zu lesen. Ich lernte, dass eine Menge verbotener Bü- cher kopiert wurden und über den Schwarzhandel ihren Weg machten. Man nannte das die „kopierte Kultur“. Es gab Geschäfte in der Nähe der Universität Bagdad, die diese Bücher verbreiteten. Ihre Händler riskierten dafür ihr Leben. Auf fast dunkles Recyclingpapier gedruckt mit einfachem Einband und Buchstaben, die entweder ganz schwarz oder kaum sichtbar waren – so sahen philosophische und literarisch wichtige Werke in dieser Parallelkultur aus; und ich konnte sie mir leisten, denn sie kosteten wenig. Meistens wurde die Titelseite des Buches nicht mitkopiert und man erhielt ein Werk ohne Titel. Freunde von mir hüllten verbotene Bücher in Einbände von Büchern des Regimes ein, um die wahre Identität des Inhaltes zu verbergen. Nach der Lektüre mussten diese kopierten Papiere so schnell wie möglich verschwinden.

„Schwöre mir, dass du diese Kopien nach der Lektüre nicht weitergibst“, sagte mir der junge Mann im Geschäft, bevor er mir das Geld abnahm. „Ja, ich verspreche es“, erwiderte ich und verstaute Machfus’ Buch, das ich ohne Nennung des Autorennamens auf A4-Blättern bekam, in meiner Tasche.

Je älter ich werde, desto intensiver nehme ich Saddams Zeitalter wahr; eine verstümmelte Zeit, die sich in meiner Erinnerung für immer festgesetzt hat.

Am Abend auf dem Heimweg von Kreuzlingen nach Frauenfeld betrachte ich die Weihnachtsdekorationen aus dem Zugfenster. Die Häuser, Strassen und Bäume leuchten hell. Einige Kinder sitzen in meiner Nähe. Sie sprechen mit ihren Grosseltern über die Geschenke, die sie zu Weihnachten erhalten haben. Die Farben ihrer Geschenke harmonieren mit dem Spektakel des Sonnenuntergangs. Die Aussicht über den Säntis, der in Ferne zu sehen ist, ist farbenprächtig. Der Berg trägt eine strahlend weisse Krone inmitten dieses Naturfeuerwerks, als ob auch er das neue Jahr auf seine Art und Weise feiert. Eines der Kinder zieht ein Buch aus seinem Rucksack heraus und fordert die Grossmutter auf, ihm daraus vorzulesen. Die Dame, sie muss über siebzig Jahre alt sein, beginnt zu lesen. Immer wieder hebt sie ihren Blick immer unter ihrer filigranen Brille, um ihr Enkelkind anzuschauen. Ich lausche still, wie sie die Geschichte vorträgt, genauso wie mir meine Grossmutter damals Geschichten erzählte. Sie hatte nie Schreiben oder Lesen gelernt, dafür konnte sie umso besser erzählen. Die Schichten ihrer traurigen Erzählungen wurden in ihren feinen Humor gewickelt und waren wie ihre köstlichen, gefüllten Weinblätter dicht und sättigend. Jede dieser Geschichten, die ich als Kind erzählt bekam, hat nicht nur meinen Geist geprägt, sondern auch meine Seele beeinflusst. Sie wa- ren für mich der erste Geistöffner oder Wegweiser, der in Richtung Hoffnung gezeigt hat.

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad, und aufgewachsen in Qalat Sukar (Al Nasiriyah), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert und im Irak mehrere Bücher über arabische Literatur publiziert. 2002 kam er als Flüchtling in die Schweiz. Heute arbeitet Usama Al Shahmani als Autor, Kulturvermittler und Dolmetscher, und er übersetzt deutsche Literatur ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann, «Der Dichter am Bahnhof» von Ivo Zanoni, «Der Islam» von Peter Heine und «Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern» von Friedrich Schleiermacher. Er lebt mit seiner Familie in Frauenfeld. «In der Fremde sprechen die Bäume Arabisch» ist sein beim Limmat Verlag erschienener Roman.

Im Mai 2019 erhielt Usama Al Shahmani einen Förderbeitrag des Kantons Thurgau. Er arbeitet an seinem nächsten Roman: „Im Fallen lernt die Feder fliegen».

Rezension von «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» auf literaturblatt.ch

Daniel de Roulet «Wenn die Nacht in Stücke fällt», Limmat

Ferdinand Hodlers Todestag jährte sich vergangenes Jahr zum 100. Mal. Der Genfer Schriftsteller Daniel de Roulet, ein leidenschaftlicher Verehrer Hodlers Spätschaffen, schrieb zu diesem Anlass einen langen, leidenschaftlichen Brief. Ein Brief eines Bewunderers, keines ‹exaltierten Patrioten, der die grösste Sammlung besitzt› und diese auch gerne für seine vaterländischen Reden ‹zitiert›.

Neben Alberto Giacometti hat sich wohl kein anderer Maler so tief in das Bewusstsein der Schweiz hineingebrannt wie Ferdinand Holder, der mit seiner Deutschschweizer Herkunft fast während seines ganzen Schaffens in der Westschweiz lebte und in den Wirren des 1. Weltkriegs zwischen die Fronten von Deutsch- oder Frankreichgesinnung fiel.

1908, Ferdinand Hodler war 55, traf der mittlerweile berühmte und reich gewordene Maler die zwanzig Jahre jüngere Pariserin Valentine Godé-Darel, die frisch geschieden zuerst Modell, dann Geliebte wurde. Eine leidenschaftliche Liebe neben der zur Zweckehe gewordenen Beziehung zu seiner Frau Berthe. Eine Liebe, aus der ein Kind entstand, Pauline, während die Ehe mit Berthe kinderlos blieb. Eine Liebe, die mit Valentines Krebserkrankung schon wenige Jahre später tiefe Schatten bekam. Eine Liebe, die Leidenschaft transformierte, von obsessiver Körperlichkeit zu innigstem Nebeneinander am Kranken- und Sterbebett. Eine Liebe, die auch den Blick und das Schaffen des Künstlers transformierte. Mit einem Mal war es nicht mehr Symbolismus und Verklärung, sondern ganz direkter Realismus. Die Liebe zu Valentine und das Sterben dieser Frau erschütterten nicht nur sein Dasein, sondern auch seinen Blick auf die Welt, seine Malerei, jene Malerei, die der Schriftsteller Daniel de Roulet so sehr erschüttert und zu verstehen versucht.

«Wenn die Nacht in Stücke fällt» ist ein Brief an einen Mann, der in seinen Bildern die Antworten auf die Fragen des Schriftstellers gibt. «Wenn die Nacht in Stücke fällt» ist aber auch eine Verteidigungsschrift für alle Vereinnahmungsversuche verschiedenster Seiten, sei es jene des einen grossen Sammlers, der sich mit dem Besitz der Bilder seine Gesinnung illustriert oder jene der schreierischen Kunst- und FrauenversteherInnen, die Ferdinand Oder vorwerfen, er habe das Sterben seiner Geliebten mit seinen vielen Zeichnungen und Bildern zur Obsession gemacht und damit Valentine Godé-Darel instrumentalisiert.

So leidenschaftlich jene Liebe zwischen Valentine Godé-Darel und Ferdinand Holder ist, so leidenschaftlich die Verehrung des Schriftstellers Daniel de Roulet. So sehr der Maler im von der Krankheit gezeichneten Gesicht seiner Geliebten den Zeichen der Vergänglichkeit nachging, so kritisch bleibt der Schriftsteller Daniel de Roulet bei den Widersprüchen des grossen Malers. Genau das macht den Wert dieses schmalen Büchleins aus. Kein verklärter Blick, aber ein überaus gelungenes Denkmal für Valentine Godé-Darel, Ferdinand Hodler, seine Malerei und die Liebe.

Für sein Lebenswerk erhielt Daniel de Roulet anlässlich der Solothurner Literaturtage den Grand Prix de Littérature 2019 der Kantone Bern und Jura.

© Yvonne Böhler

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Er lebt in Genf.

Webseite des Autors

Rezension von «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen», Limmat Verlag 2017

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Ein bezaubernder Abend mit Julia Weber

Auch wenn sich im windig kalten St. Gallen an diesem Dezemberabend kaum jemand in das kleine Theater 111 aufmachte, zu viele weiche, rote Sessel verwaist blieben, performten Julia Weber mit ihrem Roman «Immer ist alles schön», dem Gitarristen Christian Berger und dem Schlagzeuger Dominic Doppler Text und Musik derart tief, dass man den Boden unter den Füssen verlor. Nicht wegen Verunsicherung, sondern weil einem das Dargebotene aufhob.

Warum lassen sich nicht mehr Literaturinteressierte an einen Ort locken, der versucht, aus einem Buch, einer Lesung mehr als nur einen eine Stunde «Vorlesen» zu machen? «Wortklang – Klangwort» will Text und Musik ineinander verweben, sowohl den Sound des Textes wie den der Musik verstärken. Wer im Publikum sitzt, dem werden Türen geöffnet, die sonst verschlossen bleiben. Türen, die sich selbst den AkteurInnen auf der Bühne erst während des Zusammenspiels erschliessen.

„Immer ist alles schön“ ist die Geschichte von Anais und Bruno. Sie versuchen sich und die Mutter zu schützen vor der Aussenwelt, die in Gestalt von Mutters Männern mit Haaren auf der Brust in der Küche steht. Oder in der Gestalt von Peter, der ihre Wohnung seltsam findet und nichts anfangen kann mit den tausend, auf der Strasse zusammen gesammelten Dingen. In Gestalt eines Mannes vom Jugendamt, der viele Fragen stellt, sich Notizen macht, der Anais und Bruno betrachtet wie zu erforschendes Material, und in Gestalt einer Nachbarin, die im Treppenhaus lauscht. Je mehr diese Aussenwelt in ihre eigene eindringt, desto mehr ziehen sich die Kinder in ihre Fantasie zurück.

 

«Als draussen Wind und Menschen um Ecken bogen, etwas kalt und auch wütend. Wurde es innen im Theater 111 immer wärmer. Auch weil ein Mann sich die Fingernägel feilte und ein anderer Nüsschen schälte und Nüsschen ass und Nüsschen Geräusche machten. Auch weil Scheinwerferlicht und Musik und Wort. Ich, die auf der Bühne sitzend in der Musik sass und vergass, dass ich auf einer Bühne war. Die Musik, die sich unter und auf und zwischen meine Worte legte. Dann Applaus und ein Bier und nun ein Dank von mir dafür.» Julia Weber

Fotos © Sandra Kottonau

literaturblatt.ch macht ERNST

Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

ERNST 4 / 22

ERNST 3 / 22

ERNST 2 / 2022

ERNST 1 / 2022

ERNST 3+4 / 2021

ERNST 2 / 2021

ERNST 1 / 2021

ERNST 4 / 2020

ERNST 3 / 2020

ERNST 2 / 2020

ERNST 1 / 2020

ERNST 4 / 2019

ERNST 3 / 2019

ERNST 2 / 2019

ERNST 1 / 2019

ERNST 4 / 2018

ERNST 3 / 2018

Literatur ist Musik, Musik sind Geschichten! Julia Weber mit Sound!

Wortklang – Klangwort will Literatur und Musik zueinanderführen. Zwei Künste, die sich um Bilder und Geschichten bemühen, die Emotionen wecken. Eine ganz besondere Eventreihe mit junger CH-Literatur!

„Was für ein wunderbarer Abend im Theater 111 in St. Gallen! Mit Musik zu lesen, war für mich eine neue Erfahrung.“ Dana Grigorcea, Schriftstellerin

Im ehemaligen Kinok, einem Kleintheater mit Kinobestuhlung, verschmelzen Text und Musik, entsteht Kopfkino der besonderen Art. Bisher traten Yael Inokai (Trägerin des Schweizer Literaturpreises), Arja Lobsiger und Dana Grigorcea zusammen mit dem Musikerduo Stories auf.

„Es war ein einzigartiges, unvergessliches Erlebnis, mit Dominic Doppler und Christian Berger auf der Bühne zu stehen und meine Worte in ihren Klangteppich zu weben.“ Arja Lobsiger, Schriftstellerin

Zusammen mit den Musikern Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler (Drums) wächst eine ganz besondere Lesereihe im Theater 111 in St. Gallen. Eine Lesereihe mit jungen Schweizer Autorinnen in Verbindung mit improvisierter Musik.

„Hier gegangen und gesessen, ein ganzes Filmuniversum durchschritten, ich hab einen Abend hier verbracht oder ein komplettes Romanleben.“ Yael Inokai, Schriftstellerin

Am Samstag, den 8. Dezember, um 20 Uhr, im Theater 111 in St. Gallen ist der nächste Gast Julia Weber (Franz Tumler Literaturpreis, Alfred-Döblin- Medaille). Sie liest aus ihrem Roman „Immer ist alles schön“.

Julia Weber, 1983 in Tansania geboren, gründete 2012 den „Literaturdienst“ und 2015 die Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert“, die sich mit weiteren Autoren zusammengetan hat, um mit ihrem Schreiben Menschen auf der Flucht zu helfen. 2017 erschien ihr Debütroman „Immer ist alles schön“. Der Roman erhielt viele Preise und stand unter den Nominierten des Schweizer Buchpreises 2017. Anais und Bruno versuchen sich und die Mutter zu schützen vor der Aussenwelt, die in Gestalt von Mutters Männern mit Haaren auf der Brust in der Küche steht. Oder in der Gestalt von Peter, der ihre Wohnung seltsam findet und nichts anfangen kann mit den tausend, auf der Strasse zusammen gesammelten Dingen. In Gestalt eines Mannes vom Jugendamt, der viele Fragen stellt, sich Notizen macht, der Anais und Bruno betrachtet wie zu erforschendes Material, und in Gestalt einer Nachbarin, die im Treppenhaus lauscht. Je mehr diese Aussenwelt in ihre eigene eindringt, desto mehr ziehen sich die Kinder in ihre Fantasie zurück.

Ausblick: Am Samstag, 12. Januar, 2019, liest Noëmi Lerch aus ihrem Roman „Grit“.

Infos unter theater111.ch, christianberger.ch oder literaturblatt.ch!

Usama Al Shahmani „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, Limmat

Sommer 2007. Usama spaziert mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn am Bodensee, als ihn sein Bruder Naser anruft und ihn bittet, ein Foto anzusehen. Ein Foto von jungen Männern, die alle zur gleichen Zeit in Bagdad getötet wurden und auf einem Friedhof auf ihre Identifizierung warten. Aber da ist kein Bildschirm aufzutreiben, dafür ein Mann zwischen den Welten; 2002 aus dem von Saddam Hussein beherrschten Irak geflohen, mit dem Herz und der Seele irgendwo zwischen Irak und der Schweiz hängengeblieben.

Vielleicht ist genau das eine Facette der Faszination, die vom Roman „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“ ausgeht. Usama lebt in der Schweiz, bewegt sich in jenem Teil des Landes, das ich wie meine Westentasche kenne. Gleichzeitig ist seine Welt noch immer, auch nach fünfzehn Jahren und allen Bemühungen, sich zu integrieren und die Qualitäten jenes Landes zu erkennen, das seiner Familie ein neues Zuhause gibt, jene seiner Geschwister, seiner Eltern, der Erinnerung. Ein Land, das es nicht mehr gibt, wohl auf der Karte, aber nicht einmal dann, wenn er es besucht. Ein zerrissenes Land, der man die Geschichte genommen hat. Ein Land, das in krassem Kontrast zu dem Land steht, in dem er im Asylverfahren und Arbeitsprogrammen beschäftigt wird. Einem Land, in dem die Menschen „wandern“, etwas, was ein Iraker nie tun würde, höchstens als Pilger. Hier puppenhausartige Orte wie Stein am Rhein, Frauenfeld oder Weinfelden mit ihren sauberen Fassaden und den Wanderwegen durch grüne Wälder mit Sicht auf den See. Dort Bagdad oder was in der Erinnerung und Realität davon geblieben ist. Ein Ort an dem ein Mensch verschwindet, Ali, Usamas Bruder.

Von einem Moment auf den anderen ist Ali unauffindbar, geschluckt von den schrecklichsten Ahnungen. Der Augenstern einer ganzen Familie, der mit seinem Verschwinden tausend Fragen offen und eine verzweifelte Familie zurücklässt. Eine weitere Facette des Romans; die Geschichte einer aufgeladenen Schuld. Was geschieht mit all jenen, die aus welchen Gründen auch immer ihrer Heimat meist für immer den Rücken kehren und andere zurücklassen, die nicht folgen können oder wollen? Wie weit zieht man mit Flucht seine Familie mit ins Unglück? Wie ist das Leben in dieser perfekt scheinenden Kulisse zu ertragen? Auch hier ein Buch der Kontraste. Über einen Mann, der den Westeuropäer, den Schweizer zu verstehen versucht, dem vieles ein Rätsel bleibt.

Usama arbeitet nach verschiedenen Gelegenheitsjobs, die einem Mann im Asylverfahren zur Verfügung stehen in einem Beschäftigungsprogramm, in dem eine bunte Gruppe in den Wäldern der Ostschweiz Bäume pflanzt, den Wald pflegt. Er, der seiner Familie im Irak nur schwer erklären kann, was es in einem Wald zu tun geben könnte. Aber Usama findet einen ganz speziellen Zugang zu Bäumen. So auf einer Wanderung auf den Säntis, dem höchsten Berg der Ostschweizer Voralpen. Eine noch nicht alte Birke, der er verspricht, noch einmal vor ihr zu sehen ,“wenn die Falten in meinem Gesicht tiefer geworden sind und der Stamm sieben weitere Ringe zählt“. Usama offenbart sich den Bäumen, spricht mit ihnen, weil sie uneingeschränkt zuhören. Der Baum, der Liebe, der Baum der Hoffnung, der Baum der Ungewissheit, der Baum des Todes, der Baum der Heimat, der Baum des Traums, der Baum der Geduld – so wie die Kapitel seines Romans überschrieben sind.

„In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“ ist die Annäherung Usama Al Shamanis an zwei Heimaten, die verschiedener nicht sein könnten, an eine Geschichte, an Schicksal und den tiefen Schmerz einer ganzen Sippe über einen für immer verlorenen Sohn. Ein zart erzähltes Buch, dem man die Tradition des arabischen Geschichtenerzählers anmerkt, das einen klaren Blick verrät, nicht nur den in die Fremde und in die Nähe, sondern auch den in die Tiefe des Herzens.

Usama Al Shamani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Al Nasiriyah), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert, er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 als Flüchtling in die Schweiz kam. Er arbeitet heute als Dolmetscher und Kulturvermittelter und übersetzt ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann und «Der Islam» von Peter Heine. Usama Al Shamani lebt mit seiner Familie in Frauenfeld.

literaturblatt.ch an der 1. Kulturnacht Amriswil

Amriswil geht ein Licht auf!

Am 22. September bricht sie an, die 1. Kulturnacht Amriswil. An über dreissig Standorten, in Geschäften, Ateliers, in Galerien, Stuben und Sälen, auf Plätzen und in Kirchen, in Bars und Restaurants pulst Kultur bis in den Morgen. Über dreissig weisse Farbeimer leuchten in dieser Nacht und locken neugierige Amriswiler, wenn Amateure und Vollprofis in Sachen Kultur zeigen, was das Jahr über ihre Seele bewegt. Die weissen Maleimer sind mit Licht gefüllt, wenn sie an Türen, Ampeln, an Wänden und auf dem Boden den Weg weisen. Vielleicht bleibt ja etwas von dem Licht, weil Kultur meist dort geschieht, wo Uhren anders ticken, Pflichten fast verschwinden, das Licht sich anders bricht und wie einst ein Bundesrat feststellt „Freude herrscht“. Vielleicht ist das Licht mehr als ein Schein, sondern ein lebendiger Beweis dafür, dass Amriswil sich mit Recht einst den Slogan gab „Leben mit Kultur“. Die Eimer sind leer, mit Licht gefüllt, das ausfliessen und sich in seine Farben verteilen soll. Amriswil wird am 22. September ein Licht aufgehen!

Peter Höner, Schriftsteller und Schauspieler, liest anlässlich der 1. Amriswiler Kulturnacht aus seinem Krimi „Kenia Leak“ in der Aula der Polizeischule Amriswil. Die Lesung mit Apéro und Büchertisch beginnt um 18.45 Uhr und dauert eine Stunde. Der Eintritt ist kostenlos!

Ein kenianischer Clan, der bis nach Europa operiert, ein blinder, kenianischer Ermittler im Ruhestand mit einer brisanten CD, eine afrikanische Liebesgeschichte in der Schweiz, eine Freundschaft alter Männer, die an den Grenzen der Legalität zu zerschellen droht, ein Flüchtlingsheim, in dem die Hoffnung strandet und veritabler Fremdenhass.

Rezension «Kenia Leak» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Lea Frei, angehende Illustratorin, zeigt am Buchladen Brigitta Häderli in Amriswil am 22. September erstmals ihre Schnellporträts von verschiedenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, gezeichnet am Wortlaut-Literaturfestival in St. Gallen und an den Solothurner Literaturtagen.

Lea Frei wird an diesem Abend nicht nur ihre ausgestellten Zeichnungen präsentieren, sondern weitere Einblicke in ihr Schaffen zeigen und spontan zum Stift greifen. Im zweiten Teil des Abends wird aus verschiedenen Werken der portraitieren Autorinnen und Autoren vorgelesen. Literatur zum Sehen und Hören! Literatur zum Geniessen! für Speis und Trank ist gesorgt!

Webseite von Lea Frei

Beginn der Lesereihe (Lesereise) im Theater 111, St. Gallen

Am Samstag, den 9. Juni ist es soweit. Yaël Inokai liest im Theater 111 in St. Gallen aus ihrem preisgekrönten Roman «Mahlstrom». Eine Lesung, in der sich Literatur und Musik begegnen. Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler (Percussion) garantieren zusammen mit der Autorin für ein besonderes Hörvergnügen!

aus der aktuellen Nummer des Ostschweizer Kulturmagazins «Saiten»