Kathrin Burger «Vor mir wird es Morgen»

Wenn es also keinen Anfang und kein Ende gibt, ist alles, was wir erkennen und erleben, dazwischen. Leben im Dazwischensein – im inter-esse – das ist die Grundierung von Kathrin Burgers fesselndem Erstling «Vor mir wird es morgen».

Gastrezension von
Franco Supino

Fesselnd nicht, weil eine abenteuerliche, actionreiche Story erzählt wird, fesselnd weil Kathrin Burger den Blick erzählerisch darauf richtig, was das Leben im Inter-esse – zwischen Erleben und Erinnern, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Natur und Kultur – ausmacht. Und das macht ihren glanzvoll poetischen Text einmalig

«Wir beginnen mit dem Anfang»: Dieses Bonmot von Karl Valentin entpuppt sich wie immer bei hintergründigem Humor als ambivalent. Sobald wir über etwas nachdenken, hat es schon begonnen – und ebenso gibt es kein Ende, denn die Instanz, die das Ende feststellt, kommt erst danach. Wenn es also keinen Anfang und kein Ende gibt, ist alles, was wir erkennen und erleben, dazwischen. Leben im Dazwischensein – im Inter-esse – das ist die Grundierung von Kathrin Burgers fesselndem Erstling «Vor mir wird es Morgen». Fesselnd nicht, weil eine abenteuerliche, actionreiche Story erzählt wird, fesselnd weil Kathrin Burger den Blick erzählerisch darauf richtig, was das Leben im Inter-esse – zwischen Erleben und Erinnern, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Natur und Kultur – ausmacht. Und das macht ihren glanzvoll poetischen Text einmalig interessant. 

Wenn ich überlege, was mich am Text fasziniert, klingt es abgedroschen, etwa: Das Leben spielt sich in Augenblicken ab. Diese wahrzunehmen und formvollendet in Sprache zu giessen … Aber das ist Kathrin Burgers grosse Kunst. Wir erleben mit der Autorin den Moment im Theater, wenn «das Licht im Zuschauerraum langsam ausgeht, die Geräusche verebben, das Stimmengewirr verstummt, das Rascheln der Programm, das Klicken der Handtaschen, das Husten, Räuspern, Schnäuzen aufhört, wie es dunkel und still wird und alle Aufmerksamkeit sich nach vorne auf den Vorhang richtet.» Oder das Ritual, das die Protagonistin uns Leser:innen täglich vorführt: Sie sitzt am Morgen vor der Dämmerung am Fenster ihres Hauses und schaut, wie sich aus den «schattenhaften Konturen Farben entwickeln», und schliesst mit: «Es wird Zeit für den Tag.» 

Kathrin Burger «Vor mir wird es Morgen», Rotpunkt, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-85869-978-7

Der Tag ist die erzählerische Einheit von Kathrin Burgers Roman, wie in Kinder-Bilderbüchern, die immer damit enden, dass die Protagonist:innen sich schlafen legen. Für Kathrin Burger ist der Morgen der Katalysator für ihren Text: Jeder Tag ist gleich und jeder Tag ist anders, das Dazwischen ist das Geheimnis der grossen Erzählerin Burger, das sie uns Kapitel für Kapitel enthüllt. Wenn es Zeit wird für den Tag, liegt vor uns nicht die Zukunft. Was wir sehen, ist ja längst entstanden, und also steckt darin die Vergangenheit. Nicht die einzelne Erinnerung ist wichtig, nicht was die Protagonistin in Paris oder im Gebärsaal erlebt hat, sondern was davon heute noch sichtbar ist. «Die Schatten der Nacht sind gewichen, die Schatten der Vergangenheit erwachen.» 

Der Reiz von Kathrin Burgers Prosa liegt darin, dass sie Poesie mit Weisheit verbindet, ohne aufzutrumpfen, einfach so. Sie ist eine Debütantin im fortgeschrittenen Alter, aber absolut keine Anfängerin. Man möchte manchen Satz immer und immer wieder lesen, und wenn es gälte, in Freundschaftsbücher zu schreiben, ihre Sätze unseren Liebsten für die Ewigkeit widmen. «Die Zukunft liegt nicht vor mir, sie wartet, für mich unsichtbar, hinter mir.»

Darum, zum Schluss, der keiner ist, noch dies: «Jeder Anfang ist leichtfüssig, jedes Ende wiegt klumpenschwer. Aber die eigentliche Herausforderung liegt dazwischen.» 

Kathrin Burger, geboren 1949 in Menziken, studierte Germanistik in Zürich und promovierte über Georg Trakl. Sie unterrichtete als Gymnasiallehrerin in Fribourg, in Baden und dreissig Jahre lang in Aarau. Daneben engagierte sie sich in verschiedenen kulturellen Institutionen sowie für die Frauenbewegung. Sie lebt mit ihrem Mann in Küttigen und hat drei erwachsene Kinder.

Matthias Zschokke «Der graue Peter», Rotpunkt #SchweizerBuchpreis 23/05

Vielleicht müsste man das Buch mit einem roten Kleber markieren, der vor Risiken und Nebenwirkungen warnt. Abgesehen davon, dass ein solcher Kleber die Verkaufszahlen eines solchen Buches mit Sicherheit positiv beeinflussen würde. Wer mit dem Buch eine Lektüre in die Nacht beginnt, muss riskieren, dass einem das Buch bis in die Träume begleitet.

Wer es am Strand liest, wird nicht sicher sein, ob es die Sonne oder die Lektüre ist, die einem den Kopf verdreht. Wer sich Spannung, eine Story verspricht, wird sich mehr als nur wundern, denn Matthias Zschokke ist wohl gewiefter Geschichtenerzähler, dessen Geschichten sich aber aller Voraussehbarkeit entziehen. Matthias Zschokke nimmt mich mit in seine leicht entrückte Welt, ein in Schieflage geratenes Kleinstuniversum.

Ein Mann in mittleren Alter wird in seinem Büro von der Polizei aufgesucht, die ihm mitteilt, dass sein kleiner Sohn von einem Lastwagen totgefahren wurde. Der Mann verlässt das Büro und torkelt durch die Stadt, torkelt durch sein Leben, das nicht erst mit dem Tod seines Sohnes aus dem Tritt gekommen ist. Peter, den man seit seiner Kindheit Saint-Blaise nennt, ist verheiratet. Aber das Leben mit seiner Frau ist zu einem funktionierenden Nebeneinander geworden. Keiner interessiert sich für das Leben des anderen. Peter fühlt sich in seinem Büro einer Verwaltung zusammen mit seinem Büropartner Prosciutto mehr geborgen, als im Ehebett zusammen mit seiner Frau. 

Eines Tages beauftragt man ihn gegen seinen Willen mit der Organisation kleinerer Feierlichkeiten zu einem Jubiläum mit einer französischen Partnerstadt. Auf dem Weg zurück nach Berlin, mit dem Zug nach Basel, wo er ins Flugzeug wechseln soll, vertraut ihm eine Fremde ihren kleinen Sohn an, wohl gerade so alt wie sein tödlich verunfallter Sohn, mit der Bitte diesen nach Basel zu seinem Onkel zu begleiten. Ein kleiner Junge mit oranger Schwimmweste und bleischwerem Skisack. Überrumpelt nimmt sich der Mann dem Jungen an, obwohl der die nervöse Mutter warnt, er habe keine Lust, den Jungen zu unterhalten. Sie unterhalten sich dann aber doch, stockend, wirr, als würde der graue Peter mit letzter Kraft der sein wollen, der er in seiner Familie als Vater nie war; ein Verbündeter, ein Freund, ein Gefährte.

Matthias Zschokke «Der graue Peter», Rotpunkt, 2023, 176 Seiten, CHF28.00, ISBN 978-3-85869-977-0

Irgendwann erzählt ihm der Junge von einer Tante Anne in Mulhouse, was den Mann veranlasst, dort eine Pause einzulegen und der Tante einen Besuch abzustatten. Sie deponieren das schwere Gepäck des Jungen in einem Kiosk, trinken heisse Schokolade in einem Café und sind, weil die eisernen Jalousien des Kiosk ganz überraschend geschlossen sind, gezwungen, in Mulhouse ein Hotel zu suchen. Was sich in dem Zimmer zwischen dem Mann und dem Jungen abspielt, ist eine Mischung aus verschrobenen Kindereien und unverständlichen Verrücktheiten. So wie sich Mattias Zschokke mit keinem seiner Bücher um Konventionen schert, so sehr weigert sich der Protagonist, „gesunden Menschenverstand“ walten zu lassen. Nichts an Zschokkes Roman folgt allgemeingültiger Logik. Zschokke, den man auf Fotos mit Nadelstreifenanzug und Taschenuhr fotografiert sieht, der wie sein Protagonist wohl nie ein Smartphone mit sich herumtragen würde und an der Rezeption jenes Hotels die Rezeptionistin fragen muss, ob er kurz seine Frau verständigen könne, es werde etwas später, ist nicht an der Art des Geschichtenerzählens interessiert, die sich mir als Leser anbiedert. Zschokke erzählt seine Bilder, seine Kleinstgeschichten, leicht verrückt, aber dafür gemalt, als wären sie kubistisch erzählt.

Es braucht mehr als die Suche nach Unterhaltung, will man den Büchern Matthias Zschokkes gerecht werden. „Der graue Peter“ entzieht sich aller Strömungen, aller Vorsicht. Die Lektüre seines Romans wird zu einer Achterbahnfahrt im Nebel. Zschokkes Literatur ist ein Monolith in der immer seichter werdenden Masse.

Interview

Ihr Buch ist ein besonderes Buch, so wie alle Ihre Bücher besondere sind. Zum einen scheinen sie nicht in die aktuellen Themen zu passen, entziehen sich all den Strömungen, denen sich viele Bücher anbiedern. Ihr Schreiben ist solitär, einzigartig. Zum andern sind die Handlungen Ihrer Bücher so gar nicht voraussehbar, bewegen sich weit weg von Klischees. Das muss man als Lesende aushalten können. Erstaunlicherweise akzeptiert man das in der Musik, der Malerei oder Bildhauerei. Man muss nicht verstehen. Und ausgerechnet in der Literatur soll alles erklärbar, logisch, rational, durchsichtig sein. Das verstehe ich nicht. Aber vielleicht hat das damit zu tun, dass der gegenwärtige Mensch das Nicht- und Unerklärbare gar nicht mehr aushält. Die Medien sind voll von Erklärern. Und die meisten widern mich an.

Sie sind lustig! Für mein Empfinden plansche ich permanent mitten drin. Vielleicht schwimme ich gegen die Themen an oder quer zu den Strömungen, aber ich fühle mich jederzeit bis in die letzte Pore getränkt von ihnen. 
Zum Beispiel erwähne ich auf einer der ersten Seiten in zwei Nebensätzen, Peter habe als Kind fürs Leben gern auf Baustellen gespielt. Das schönste sei für ihn gewesen, von Lastwagenfahrern hochgehoben, auf den Beifahrersitz gesetzt und mitgenommen zu werden, wenn frischer Teer oder Zement geholt werden musste. Der in der Gegenwart verpeilte Leser vermutet darin reflexartig einen Hinweis auf Missbrauch. Der LKW-Fahrer gehört seiner Meinung nach angezeigt, dem Kind wird drastisch auseinandergesetzt, was alles hätte passieren können. Es zieht sich verängstigt in sein Zimmer zurück, setzt sich vor seinen Computer und spielt mit Kopfhörern über den Ohren Onlinegames – das ist mir alles selbstverständlich bewusst, und während ich das sage, fällt mir siedendheiss ein, dass das vielleicht inzwischen Kopfhörerinnen heissen muss. So bestimmt die Gegenwart permanent mein Denken und beeinflusst das, was ich aufschreibe, bis ins letzte Komma.
Oder das Beispiel, das Sie erwähnen: Im ersten Satz erfährt Peter, dass sein Kind überfahren worden ist. Jede Woche mindestens einmal wird in Deutschland am Fernsehen ein Krimi gezeigt. Da wird innerhalb der ersten Minute mindestens eine Leiche präsentiert – das ist die Vorgabe der Redaktionen –, von der aus sich dann der Fall entwickelt. Jahrelang sah man abends also eine Haustür, an der zwei Polizisten klingelten. Die Tür wurde von einer Frau oder einem Mann geöffnet. Ihr oder ihm wurde mitgeteilt, dass der Partner oder das Kind oder die Mutter oder sonst jemand Vertrautes überfahren oder erstochen oder ertränkt worden sei. Daraufhin bemühte sich der Mann oder die Frau, sich auf besonders expressive Weise erschüttert zu zeigen. Diese Art von Erschütterung wurde früher an den Schauspielschulen „ein Ausbruch“ genannt. Bei Aufnahmeprüfungen musste man „einen Ausbruch“ improvisieren: „Stellen Sie sich vor, Ihre Geliebte wurde eben vor Ihren Augen erstochen. Los!“
Ich meine, mein Protagonist reagiere so nah an sich wie nur möglich. Er bemüht sich, von seinen Empfindungen nur die zuzulassen, die er beim besten Willen nicht verstecken kann. Weil wir Normalsterblichen schliesslich nicht ans grosse Drama gewöhnt sind. Wir haben gelernt, so was tut man nicht; man beherrscht sich.
Das erkläre ich selbstverständlich nicht im Buch, denn das weiss der Held ja nicht von sich. Er hat es in seinen Genen.

Peter erträgt Mitmenschen nur schwer.  Seine Frau ist die einzige, die er neben sich erträgt.  Selbst seine Eltern waren dem „grauen Peter“ fremd geblieben. Sie leben seit Jahrzehnten in Berlin. Muss es eine grosse Stadt sein, um darin verschwinden zu können? Um sich vor den Menschen zu schützen?

Ich kenne nur wenige, die die Frage vorbehaltlos bejahen würden. Es ist kaum ein Zufall, dass sich immer mehr von uns in den virtuellen Raum zurückziehen. Menschen reagieren unberechenbar. Das ist auf die Dauer ermüdend. Im Internet wird man nicht dauernd unterbrochen. Das ist leichter auszuhalten. Berlin ist besonders gut geeignet dafür, niemandem zu begegnen, da haben Sie recht. Die Distanzen sind hier gross. Wenn ich jemanden treffen möchte, den ich kenne, muss ich lange Wege auf mich nehmen und viel Zeit investieren. Selbst auf der Strasse sind die Distanzen zueinander sehr viel grösser als gewöhnlich. Wenn man jemandem begegnet, muss keiner ausweichen. Man geht mit zwei Metern Abstand aneinander vorbei. Das ist angenehm. Ein wenig traurig vielleicht, aber angenehm.

Zéphyr, der Junge, der von seiner verzweifelten Mutter im Zug in die Obhut von Peter gerät, trägt eine orange Schwimmweste und schleppt einen bleischweren Skisack mit sich herum. Ist Zéphyr Peters Spiegelbild?

Die Schwimmweste wie auch das Gewicht des Skisacks sind beide erklärt. Die Mutter des Jungen hat in den Medien von einem Fluss gelesen, der über die Ufer trat, und möchte ihr Kind vor dem Ertrinken schützen. Und sie las von Winterorkanen in den Alpen und bittet den Jungen, Bleigewichte in die Taschen zu stecken, bevor er auf die Piste geht. Ob diese beiden Informationen zusätzlich symbolische Bedeutung haben, weiss ich nicht. Ich meine, auch das ist die Gegenwart, die mitschreibt: Ich empfinde eine permanente Überfürsorge, eine Begluckung, die mir zunehmend die Luft abklemmt.

Auf aktuellen Fotos sieht man Sie mit dunklem Nadelstreifenanzug und Uhrenkette. Nicht nur ihres Aussehen wegen, denke ich oft an Robert Walser. Auch er war ein Unikat, ein Monolith. Ihre Romane scheren sich nicht um Stringenz, Plott und Spannung. Es ist das Bild des Ganzen, der Pinselstrich. Es ist die Sprache. Es sind die Fragen, die ich mir während des Lesens stelle, Fragen, die sich manchmal weit weg vom Geschehen in ihrem Roman aufzwängen. Wieviel Walserisches steckt in Ihnen?

Der Anzug hat eine Geschichte. Die ist zu lang zum Erzählen. Ich habe ihn geschenkt bekommen. Und fand, je öfter ich ihn trug, desto mehr, ein dreiteiliger Anzug sei ein perfektes Kleidungsstück, durch Jahrhunderte verfeinert, durchdacht. Mit den richtigen Taschen an den richtigen Stellen, mit der Möglichkeit, ein Teil davon auszuziehen, wenn’s zu warm wird, und umgekehrt. Ich muss fast nichts mehr einpacken, wenn ich zwei, drei Tage irgendwo hinfahre. Alles hat Platz in ihm. Es ist eine ideale Berufskleidung (fotografiert werden gehört zur Arbeit; privat mag ich mich nicht fotografieren lassen). Wenn man heimkommt, kann man ihn ausziehen und an die frische Luft hängen. Nach zwei Tagen ist er wieder wie neu. Ein grossartiges Kostüm. Privat ziehe ich ihn selten an. Da brauche ich nicht so viele Taschen.

Zur Taschenuhr: Von Armbanduhren habe ich am Handgelenk in meiner Jugend einen Ausschlag bekommen. Und ich schlug oft mit ihnen an Gegenstände und fühlte mich eingeschränkt in der Bewegung. Darum habe ich früh angefangen, Taschenuhren zu tragen. Und ich mag das Aufziehen.
Zu Robert Walser: Jeder von uns ist ein Unikat. Die meisten schleifen an sich herum, um weniger anzuecken und leichter durchs Leben zu kommen. Walser war darin wohl besonders unbegabt und musste es aushalten, ein Monolith zu sein. Ich hoffe, es steckt nicht allzu viel von ihm in mir drin. Es war bestimmt anstrengend, er zu sein.

Ihre ersten Romane erschienen bei List und Luchterhand, grossen Verlagen, später bei Ammann, dem damals renommiertesten Verlag in der Schweiz. Als Amman von der Bildfläche verschwand, war es Wallstein. Nun Rotpunkt. War Wallstein Ihr Buch zu heftig, zu risikoreich?

Keine Ahnung. In Deutschland ist die Stimmung zurzeit extrem angespannt. Jedermann und jedefrau reagiert auf alles überempfindlich. Man ist panisch darum bemüht, sich nach den Vorgaben des Justemilieu auszudrücken und bloss nicht aus Versehen zu sagen, heute sei ein besonders kalter Tag (wegen der Klimaerwärmung gibt es nur besonders warme Tage) oder die Nato habe … oder Corona …
Mag sein, es ist eine Gratwanderung, was ich im Buch mache. Da Deutschland nicht viele hohe Berge mit Grat hat, scheut man hier vielleicht mehr zurück vor solchen Wanderungen als in der Schweiz?

Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, ist Schriftsteller und Filmemacher und lebt seit 1979 in Berlin. Für seinen Debütroman «Max» erhielt er 1982 den Robert-Walser-Preis. Später wurde er u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Grossen Berner Literaturpreis, dem Eidgenössischen Literaturpreis, dem Gerhart-Hauptmann- und dem Schillerpreis geehrt – und, als bislang einziger deutschsprachiger Autor, mit dem französischen Prix Femina étranger für «Maurice mit Huhn». Aktuell läuft Matthias Zschokkes neustes Werk als Filmemacher; Z-S-C-H-O-K-K-E

Illustrationen © leafrei.ch

Franco Supino «Spurlos in Neapel», Rotpunktverlag

Franco Supinos Eltern kamen einst aus dem Umland von Neapel nach Solothurn. Franco Supino ist nicht nur als Schriftsteller ein neugierig Suchender. Ein Suchender nach dem Warum. Sein aktueller Roman „Spurlos in Neapel“ ist eine literarische Recherchereise in ein Land, mit dem er viel mehr als seine Sprache teilt.

Mafiafilme wie „Der Pate“, „Once opon a time in America“ oder „Goodfellas“, die etwas von der italienischen Ehrengemeinschaft, die sich ausserhalb jedes Rechtssystems nicht nur in Italien und in den Bronx etablierte, brannten sich in ein kollektives Bewusstsein. Die Camorra ist eine kriminelle Organisation mit Jahrhunderte langer Tradition. Und wenn es eine Stadt gibt, die sich untrennbar mit der Geschichte dieser Mafiafamilie verbunden hat, dann ist es Neapel. Jenes Leben jenseits des Rechtsstaates übt eine Faszination aus, die sich diametral unterscheidet von einer gutbürgerlichen „Spiesserexistenz“ (Auch der Schreibende zählt sich zu den Spiessern!) in der Schweiz.

Und seit man mit Buch und Film zu „Meine geniale Freundin“ gar den Duft dieser Stadt in der Nase zu finden glaubt, trägt auch Neapel selbst eine Aura in sich, die auch mich, der ich noch gar nie in dieser Stadt war, fasziniert. Ausgerechnet eine Stadt, die nicht weit von einem immer noch in der Tiefe aktiven Vulkan pulsiert, eigentlich auf einem Pulverfass, von dem die Wissenschaft schon lange warnt, er könne jederzeit zur Hölle werden.

Franco Supino «Spurlos in Neapel», Rotpunktverlag, 2022, 256 Seiten, CHF 33.00, ISBN: 978-3-85869-958-9

Aber vielleicht ist die Realität dieser Stadt die perfekte Metapher: Eine Stadt, die sich nicht um ein Morgen kümmert.
Franco Supinos Familie stammt aus Neapel. Seine Eltern kamen von dort in die Schweiz, und wären, wenn ein schweres Erdbeben im November 1980 nicht alle Rückreisepläne vernichtet hätte, damals wahrscheinlich ins Umland Neapels zurückgekehrt. Franco Supino, damals mitten in der Schulzeit, wohl immer wieder in den Ferien in der Stadt seiner Eltern, wehrte sich gegen die Pläne seiner Eltern. Aber das Beben in Irpinia, nicht weit von Neapel, vernichtete nicht nur das Haus seiner Eltern, sondern eine mögliche Familienexistenz dort. Franco Supino blieb in Solothurn, genauso wie in seinem Schreiben über die Existenzen aller, deren Herz an zwei Orte gebunden ist.

Bis in die Gegenwart gibt es für Franco Supino viele Gründe für einen Besuch in Neapel. Und wie immer bei solchen Besuchen schnappt Franco Supino Bilder und Geschichten von Menschen auf, die sich mit seinem eigenem Leben verschlingen. So wie das Leben von Nì, einem afrikanisch-stämmigen Mann, der während ein paar Jahre eine Rolle in der neapolitanischen Camorra spielte, um dann irgendwann scheinbar unauffindbar von der Bildfläche zu verschwinden. Magisch von dieser Person fasziniert, beginnt sich Franco Supino immer tiefer in die Geschichte um diesen Mann, um die Geschichte der Camorra in diesen Jahren zu interessieren. Eine Geschichte, die auch zu seiner hätte werden können, weil es in dieser Stadt kein Leben ganz ohne die Camorra gibt.

Was wäre wenn? Eine Frage, die dickflüssiger Stoff für Literatur ist. Eine Frage, die sich nicht nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller stellen. Was wäre geworden, wenn Franco Supino damals nach Neapel zurückgekehrt wäre? Franco Supino lässt sich in eine Recherche fallen, die sich aus meiner Sicht ganz nahe an die Selbstaufgabe begibt. Jene Faszination, die die Was-wäre-wenn-Frage sich mit den Leben der Familie Esposito, einer jener Dynastien, die während einiger Jahrzehnte die Spielregeln in Neapel bestimmte, vermischt. Franco Supino besucht immer wieder seinen Schneider, jene Sorte Handwerker, die auszusterben drohen. Aber auch diese Besuche scheinen Metapher zu sein, denn Franco Supino probiert Kleider, einen Anzug, schaut sich an in einem Spiegel.

Damals, als die Rückreise nach Süditalien drohte, begann der junge Supino in seiner Verzweiflung gar zu beten. Und die Erde bebte 90 Sekunden lang. Lange genug, um einem Leben eine ungeliebte Wendung zu verunmöglichen. Ein Gebet, das den Autor bis in die Gegenwart begleitet.

Franco Supino macht viele Türen auf, nimmt mich mit auf eine Reise in eine Welt, die sich komplett von der meinigen unterscheidet, eine Reise in das 20. Jahrhundert eines Landes, das eigentlich unser Nachbarland ist, sich aber in vielem wie Leben auf einem anderen Stern anfühlt. Ein Leben, das seine Fäden aber längst bis in die Schweizer Provinz gesponnen hat. Franco Supino hält sich eng an Tatsachen. Sein Roman „Spurlos in Neapel“ ist eine literarische Recherche, die spannend und mit grosser Empathie geschrieben ist. Unbedingt lesenswert!

© Franco Supino

Interview

Ein Grundmotto vieler Romane ist das „Was wäre wenn“. Was wäre passiert, wenn damals jenes Beben nicht passiert wäre, wenn du mit deinen Eltern zurück in ihre Heimat gezogen wärst, wenn du nicht viel später immer wieder an den Ort deiner Herkunft zurückgekehrt wärst.  Dieses „Was wäre wenn“ wird umso gewichtiger, je mehr man sich mit seiner Herkunft beschäftigt. Sind SchriftstellerInnen mit einem besonderen Gen ausgerüstet, das sie dauernd mit diesem „Was wäre wenn“ beschäftigen lässt?
Ich glaube, dass die Mehrheit der Menschen ein solches Gedankenspiel gar nicht zulässt. Autor:innen schreiben Geschichten, sie leben in Geschichten. Auch viele lesende Menschen tun das. Das ‘Was-wäre-wenn Gen’ stammt aus diesem Leben in Geschichten und hat wahrscheinlich nichts damit zu tun, dass sie mit ihrem Leben nicht zufrieden wären. Mein Gedankenspiel: was wäre aus mir geworden, wenn wir tatsächlich nach Neapel zurückgekehrt und das Erdbeben nicht gewesen wäre, ist der Motor für meine Geschichte, der Erzählanlass – das siehst du ganz richtig. Der Erzähler fühlt sich ja für das Erdbeben sogar verantwortlich!
Lesen ist immer ein «Was wäre wenn», respektive die Aufforderung, ein anderer Mensch zu werden. Eine Aufforderung, die wir während der Lektüre gerne annehmen – und dann kehren wir in unseren Alltag zurück. Weil wir gerne lesen, lieben wir dieses Was- wäre-wenn-Gen – nicht weil wir unglücklich sind und am Leben leiden. Weil das Leben nun mal ist, wie es ist, lesen wir. Das Leben kann man nicht immer verändern, aber wir können lesen. Lesen ist die beste Art, unser Leben zu ändern. Wenigstens eine Zeitlang. Das glaube ich. Das gleiche gilt für mich als Schreibender: Ich will eine gute Geschichte schreiben, ich schreibe nicht, weil ich leide – zum Beispiel an einer ‘gespaltenen’ Identität. Dass Schreiben und Geschichten Erzählen nebenher auch ein Nachdenken auslösen, ist das Geschenk, das gute Literatur mit sich bringt.

Am Begriff „Secondo“ lastet etwas. Ein Klotz, ein Hemmnis. Oder scheint das nur so? Kann „Secondo“ zu einem Geschenk, zu einem Schatz, einer Quelle werden? 
Secondo ist die Möglichkeit, auch Primo zu sein. Ich kann sehr gut den Italiener spielen, wie auch den Schweizer, und sehr gut alles dazwischen. All die Secondos, also all die Menschen, die von der Generation der Eltern eine andere Kultur mitbekommen als die, die ihre Umgebungswelt, in der sie aufwachsen, bereitstellt, sind eine der wichtigsten Bindemittel der Schweiz; ein Bindemittel zwischen Gemeinschaft der hier Lebenden (ob  zu ‘Ur’-Einwohner oder zu anderen Migrant:innen) wie auch zur Gemeinschaft des Herkunftslandes der Familie.  Mushinga Kambundji fühlt sich ebenso als Schweizerin wie Granit Xhaka oder Murat Yakin. Und untereinander sehen sie sich auch als Schweizer:innen, tragen dazu bei, ein gut funktionierendes Land weiter gedeihen zu lassen. Umgekehrt, in den Ursprungsländern, siehe unten, ist es schwierig, ein System Schweiz aufzubauen.

© Franco Supino

Dein Roman, deine Reisen, deine Recherchen, dein Forschen, dein Suchen – alles scheint ein Versuch des Verstehens zu sein. Warum gedeihen seit Jahrhunderten mafiöse Strukturen, nicht nur in Italien, die sich ausserhalb aller gutbürgerlicher Vorstellungen und Gesetzmässigkeiten organisieren? Haben sich Fragen geklärt oder bloss weitere Türen aufgemacht?
Das für mich Unglaublichste ist der Unterschied zwischen der Schweiz und Italien. Es sind Nachbarländer, aber die Lebensumstände sind diametral. Hier in der Schweiz haben alle mehr oder weniger Sicherheit: in Bezug auf Lohn, Arbeit, Altersvorsorge, Gesundheitswesen, Schule, Staat (im Sinne, dass der ÖV funktioniert, Müllabfuhr, es keine Korruption gibt, o.ä.) – das alles gibt es in Italien nicht oder viel weniger. Es gibt keine Garantie Napoli, dass der Müll abgeholt wird oder die U-Bahn fährt, dass man einen guten Arzt findet, wenn man ihn nicht privat bezahlt – und schon gar nicht als junger Mensch beispielsweise eine Arbeit. Und deshalb fragen sich die Leute: wozu zahle ich eigentlich Steuern?
Die Armut, die Not der Menschen einerseits, die Unfähigkeit des Staates und der absolute Mangel an Vertrauen in den Staat andererseits sind der Nährboden für das organisierte Verbrechen.
Oder, anderes Beispiel: Italien hat jetzt eine Regierung mit einer postfaschistischen Ministerpräsidentin – genau vor 100 Jahren kam Mussolini mit dem Marsch auf Rom an die Macht. Eine wirkliche, durchgehende und durchdringende Distanzierung vom Faschismus gibt es in Italien im Gegensatz zu Deutschland und dem Nationalsozialismus nicht. Viele Italiener:innen denken: Mussolini war nicht so schlimm wie Hitler – er hat vieles auch gut gemacht. In Neapel hat die Mehrheit übrigens für die ‹5 Stelle› gestimmt und nicht etwas rechts – weil sie auf den reddito minimo – das bedingungslose Grundeinkommen – hoffen. Man hat keine Hoffnung mehr in die Politik, hofft auf Gnadengeld, das von irgendwoher kommt.

Sind wir Gefangene unserer Rollen? Was passiert, wenn sich Menschen von ihren angestammten Rollen entfernen oder gar emanzipieren, bekommen wir immer wieder demonstriert. Nicht zuletzt im Literaturbetrieb, wenn ein Buchpreisträger wegen Glitzer und Lippenstift Todesdrohungen erhält. Ist „Spurlos in Neapel“ auch ein Versuch, sich von einer fixen Rolle zu emanzipieren?
Wir sind, was die Umgebung in uns sieht, aus uns macht. Meine Protagonisten, ob der Erzähler oder der Nirone, sie wollen sich in ihrer jeweiligen Umgebung bewähren, beides sind Migranten und werden ein Produkt der Umstände. Einer ein Autor, der andere ein Mafioso. Der Versuch sich davon zu emanzipieren, wenn man mal etwas ‘geworden’ ist,  fällt schwer. Wir können noch so viel tun, was objektiv beweist, zu was wir fähig werden, das wir anders sind und auch etwas anderes könnten, aber die Einschätzung unserer Umwelt grenzen uns ein. Du, Gallus, bist ja ein gutes Beispiel, wie du auch im Literaturbetrieb eine fixe Rolle zugewiesen bekommen hast, die zu verlassen fast nicht möglich ist. Hättest du vor 30 Jahren irgendeinen akademischen Titel erworben, würdest du heute der führende Literaturkritiker des Landes sein und hättest irgendeinen Posten an einer Hochschule oder sonst einer Institution wie Pro Helvetia, BAK, etc.

© Franco Supino

Du bist in der Schweiz aufgewachsen, bewegst dich aber immer wieder zwischen zwei Kulturen. In diesem Hinundher stellt sich die Frage nach Heimat und Zuhause ganz anders, als bei Menschen, bei denen Herkunft und Gegenwart fast deckungsgleich sind. Was macht die Auseinandersetzung mit der „Heimatfrage“ mit dem Schriftsteller und Privatmann Franco Supino?
Entscheidend ist für mich die Sprache, sind die Sprachen: ich bin ein Deutschschweizer, für mich ist die Mundart als mündliche Sprache und das Deutsche als Schriftsprache meine Existenz. Gleichzeitig bin ich einer aus der Umgebung Neapels, rede mit meiner Mutter neapolitanischen Dialekt und lese italienische Bücher, das ist auch meine Heimat. Ich bin gerne beides zu 100%. Als Autor macht diese Auseinandersetzung, dass ich zum Beispiel die Stadt Neapel anders beschreiben und erzählen kann als irgendjemand anders: Als Schweizer und Italiener, als Solothurner und Neapolitaner – und das spürt man hoffentlich im Text. Deshalb habe ich mich auch getraut, dieses Buch zu schreiben.

Franco Supino, 1965 geboren in Solothurn, wuchs als Kind italienischer Eltern zweisprachig auf. Er studierte in Zürich und Florenz Germanistik und Romanistik. Supino ist Dozent an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz und freier Autor. Sein erster Roman «Musica Leggera» erschien 1995. Es folgten fünf weitere Romane, in denen Supino die eigene Migrationsgeschichte und verschiedene Künstlerbiografien erzählerisch erforscht. In den letzten zehn Jahren hat er sich vermehrt der Kinder- und Jugendliteratur zugewandt. Supino lebt mit seiner Familie in Solothurn.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Nina Dick

Marie-Hélène Lafon «Geschichte eines Sohnes», Rotpunktverlag

Die „Geschichte eines Sohnes“ ist die Geschichte einer Familie über ein ganzes Jahrhundert, von 1908 bis 2008, zwischen Figeac in Südfrankreich und Paris, eine Geschichte zwischen Alltäglichem und Geheimnissen, über die geschwiegen wird, die sich aber wie ein Alp über die Familiengeschichte legten. Marie- Hélène Lafon schreibt höchst poetisch, in einer ganz eigenen Sprache, in einer eigenartigen Mischung aus Unmittelbarkeit und Respekt.

1908, in einer Zeit, als der Kontinent vor dem grossen Auseinanderbrechen steht, schüttet die Haushalthilfe Antoinette ohne Absicht dem dreienhalbjährigen Armand heisses Wasser aus dem Waschtopf über den Körper, unglücklich, weil sich der Kleine an die Beine Antoinettes wirft. Armand stirbt nach einigen Tagen und alles in dieser Familie wird anders, als hätte Armands Schrei nicht nur seinen Zwillingsbruder Paul geweckt, sondern eine ganze Familie, einen ganzen Haushalt aus der Bahn gekippt. Mutter und Tante retten sich in religiösen Übereifer, der Vater in Ehrgeiz.

Marie-Hélène Lafon «Geschichte des Sohnes», Rotpunkt, 2022, 152 Seiten, CHF 26.00, ISBN 978-3-85869-940-4

Paul schickt man in ein Internat, wo er sich in ein erotisches Abenteuer mit einer Angestellten stürzt. Gabrielle ist 15 Jahre älter als Paul, wird schwanger, will ihr Kind gebären, arrangiert sich selbstbewusst mit ihrer Familie zuhause, bringt ihre Schwester dazu, das Kind in ihre Obhut zu nehmen. Die Vaterschaft muss ein Geheimnis bleiben, weil Gabrielle überzeugt ist, der viel jüngere Paul tauge nicht zur Vaterschaft. André kommt zur Welt und spürt bald, dass das Geheimnis um seinen Vater Geheimnis bleiben wird. Erst am Abend seiner eigenen Hochzeit erfährt André den Namen seines Vaters, ein Name, der aber noch über Jahrzehnte Geheimnis bleiben wird, weil André die Konfrontation fürchtet. Bis das Geheimnis aufbricht.

Marie-Hélène Lafon erzählt die Familiengeschichte in zwölf ineinander verwobenen Kapiteln, eine Geschichte, die sich mir erst in der zweiten Hälfte des Buches ganz erschliesst, weil Marie-Hélène Lafons Roman nicht chronologisch erzählt ist und Schicht um Schicht das Geheimnis einer Familie erst nach und nach lüftet. Auch nicht ganz einfach, sich in den Namen und Familienkonstellationen zurecht zu finden. Marie-Hélène Lafon geht es nicht um Enthüllung. Geheimnisse offenbaren sich nicht mit einem Mal, oft nicht überraschend, viel mehr nach und nach wie ein leckes Fass. Was mich als Leser viel mehr fasziniert als die Geschichte, ist die Sprache. Eine Sprache, die sich mit unter mit einem Mal ganz ohne Satzzeichen aufzulösen scheint, einer Sprache, die nicht in erster Linie Geschehnisse nacherzählen, rapportieren will, sondern Stimmung erzeugen, Klang erzeugen will, ihre Eigenwilligkeit entfalten.

Nach „Die Annonce“ der zweite Roman von Marie-Hélène Lafon, der bei Rotpunkt erscheint, von einer Autorin, die von einem anspruchsvollen Publikum zu entdecken wäre!

Marie-Hélène Lafon, 1962 geboren, lebt heute in Paris. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt vorliegen, spielen im Cantal des Zentralmassivs, in der abgeschiedenen, von Landwirtschaft geprägten Bergwelt, wo Lafon aufgewachsen ist. Sie gehört zu den interessantesten literarischen Stimmen im gegenwärtigen Frankreich. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la nouvelle. «Die Annonce», 2020 beim Rotpunktverlag erschienen, wurde mit dem Prix Pages des libraires ausgezeichnet und von Arte verfilmt. Für «Geschichte des Sohnes» bekam Lafon 2020 den Prix Renaudot.

Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.

Beitragsbild © Philippe Matsas

Gottlieben – ein Text- und Bildgeschenk von Stefan Keller

Einmal standen wir Kinder dort am Ufer und liessen uns von den vorbeifahrenden Kursschiffen zuwinken, als wären wir im Schloss zu Hause. Dabei kannten doch alle die Besitzerin, sie war eine weltberühmte Opernsängerin, die manchmal sogar im Fernsehen auftrat. Wie genau meine Familie mit ihr verwandt gewesen ist, weiss niemand mehr. Die Sängerin selber, die 93 wurde, konnte es am Ende auch nicht sagen.

Zum Schloss gehörten zwei Parks und zwei Türme, auf einem der Parkwege sah ich an einem schulfreien Nachmittag die erste Schlange meines Lebens: fein in Stücke geschnitten vom Rasenmäher. Jedenfalls glaubte ich, dass es eine Schlange war. In einem der Türme sah ich die Gefängniszelle von Jan Hus, der beim Konstanzer Konzil 1414 als Ketzer verhaftet und samt einen Schriften verbrannt worden ist, obwohl man ihm freies Geleit zugesichert hatte. Die Asche streuten die Pfaffen in den Rhein, sie ist hier vorbeigeschwommen. Auch einen abgesetzten Papst sperrten sie ins Schloss Gottlieben ein, danach war es aber lange Zeit sehr ruhig.

Die Weltgeschichte kehrte zurück, als ein französischer Putschist und Mitbegründer des kantonalen Schützenvereins das mittelalterliche Gebäude im Stil eines venezianischen Palais umbauen liess. 1838 musste er von der Baustelle weg das Land verlassen, um später als Napoleon III. den Beruf eines Kaisers zu ergreifen. Der einzige Thurgauer Bürger, zum Glück, der es so weit brachte. Wichtig ist eine andere Geschichte: 1914, vielleicht gerade zur Zeit, als dieses Bild mit den Soldaten entstand, gab es in Deutschland einen Krupp-Direktor, der sich über den Ersten Weltkrieg empörte, obwohl er als Rüstungsindustrieller daran sehr gut verdiente. Schliesslich emigrierte er in die Schweiz und schrieb ein Buch über die deutsche Kriegsschuld. Wilhelm Muehlon wohnte ab 1926 im Schloss, eine Flussbreite vom Deutschen Reich entfernt. Weil die Nazis ihn als Verräter und Schurken verhetzten, wurde ihm der Ort zu gefährlich und er zog 1939 nach Klosters.

(mit freundlicher Genehmigung des Rotpunktverlags aus: Stefan Keller «Bildlegenden. 66 wahre Geschichten», S. 32)

«Schreibende Paare»: Annette Hug und Stefan Keller im Literaturhaus Thurgau

In der Reihe «Schreibende Paare» lädt das Literaturhaus Thurgau zu literarischen Gesprächen ein, die über Text, Sprache und Inhalte hinausgehen. Keine «Homestories», aber Einblicke in das Leben von schreibenden Paaren sollen es sein. Was bedeutet es, wenn sich zwei literarische Gestirne treffen? 

Annette Hug, die mit ihrem vierten Roman «Tiefenlager» die Geschichte einer ganz besonderen Gemeinschaft erzählt. Fünf Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen, mit ganz verschiedenen Herkunftsgeschichten gründen eine Gemeinschaft. «Die Müllmänner». Eine Krankenpflegerin, ein Kraftwerkarbeiter, ein Nuklearphysiker, eine Finanzberaterin und eine Linguistin gründen einen Orden und entwickeln Methoden, um das Wissen über die Gefahren des Atommülls verlässlich zu dokumentieren und von Generation zu Generation weiterzugeben. Die Vision: Kein Mensch soll durch die Strahlung eines Endlagers für nukleare Abfälle getötet werden. Annette Hug wollte keinen dystopischen Roman schreiben. Sie leuchtet in dieses Pentagon, mäandert in Perspektiven und Erzähltypen und überzeugt durch eine fein ziselierte Sprache. 

Stefan Keller, der neben Reportagen, journalistischen Arbeiten und Sachbüchern auch literarische Texte schreibt, las aus «Spuren der Arbeit». Ein erzählte Sprache gewordenes Archiv aus 200 Jahren, dass den Kanton Thurgau, die Ostschweiz zu einem Spiegel der Weltgeschichte macht. Von den feudal organisierten «Manufakturdörfern», über das Leiden von schwerst arbeitenden Kindern, das koloniale Selbstverständnis wachstumsberauschter Jungunternehmer bis nach Hinterindien, Hungersnöte und verzweifelter Aufstände bis hin zur Datenfabrik hinter Stacheldraht. Stefan Keller spinnt in seinem Buch ein feines Netz von Namen und Fakten, das Zuhörer:innen und Leser:innen bewusst macht, das Weltgeschehen vor der Haustüre stattfindet – und auf wie viel Schmerz, Leiden und Blut unser gegenwärtiger Reichtum aufbaut.

Ihnen beiden, die in zwei verschiedenen Wohnungen in Zürich leben und arbeiten, ist viel gemeinsam, nicht zuletzt die leidenschaftliche Recherche und die Fülle an Themen, über die sie gerne schreiben würden. Und doch scheint es die unterschiedliche Ausdrucksweise der beiden, die sie gegenseitig beflügelt.

Annette Hug, geboren 1970 in der Schweiz, hat in Zürich und Manila Geschichte und Women and Development Studies studiert. Nach Tätigkeiten als Dozentin und Gewerkschaftssekretärin arbeitet sie heute als freie Autorin. Für ihren dritten Roman «Wilhelm Tell in Manila“ erhielt sie den Schweizer Literaturpreis des Schweizer Bundesamtes für Kultur.

Stefan Keller, geboren 1958 im Thurgau am Bodensee, lebt in Zürich und arbeitet als Historiker und Journalist. Er hat mehrere Bücher zur Arbeiter- und Sozialgeschichte geschrieben oder herausgegeben. Insbesondere sein Buch «Grüningers Fall» war ein international beachteter Erfolg und trug wesentlich zur Rehabilitierung des St.Galler Polizeihauptmanns und Flüchtlingsretters Paul Grüninger (1891–1972) bei. Keller hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten.

Annette Hug und Stefan Keller waren von 2012 bis 2015 die Intendanten des Literaturhauses Thurgau.

Pascale Kramer «Eine Familie», Edition Blau

In zwei Wochen feiert man Weihnachten, ob Christ oder nicht, mit Weihnachtsbaum, Keksen, Geschenken und dem scheuen Blick auf die «heilige Familie», jene von Erwartung und Idealisierung zugestellte Gemeinschaft, die in den letzten 2000 Jahren nicht nur in der Kirche, sondern auch in manchen politischen und gesellschaftlichen Ideologien auf einen marmornen Sockel gehoben wurde.

Pascale Kramers neustes Meisterstück «Eine Familie» nimmt sich nicht zum ersten Mal der Keimzelle allen Glücks und aller Katastrophen an. Es ist das eigentliche Thema der grossen Autorin, der im deutschen Sprachraum nicht jene Bedeutung zugesprochen wird, die sie verdienen würde. Aber wer einmal an den Kramer’schen Kosmos angedockt hat, der weiss, wie feinsinnig, treffend und sprachlich gekonnt die Schriftstellerin der Leserin und dem Leser zeigt, was in den unendlich vielen Verschiebungen im Biotop Familie angerichtet werden kann.

Zur Geburt eines weiteren Kindes «findet» sich die Familie im Haus der Grosseltern zusammen. Vielleicht ist «finden» dabei nicht der richtige Ausdruck, denn obwohl vieles in der Familie stimmt, öffnen sich mit der Geburt jene Abgründe, über die man lange Zeit erfolgreich hinwegzuschauen versuchte.
Lou, die eben erst ihr Kind im Spital zur Welt brachte, hat die ältere Marie bei ihren Eltern zuhause, bei Danielle, ihrer Mutter und Oliver, ihrem Vater, der erst vor kurzem sein neues Leben als Rentner aufgenommen hat. Lous Schwester Mathilde ist von Barcelona hergefahren, auch der Bruder Edouard ist da. Nur einer fehlt. Einer fehlt immer. Romain, der älteste, den Danielle aus ihrer ersten Ehe in die wachsende Familie gebracht hatte. Romain, der schon als Jugendlicher nicht den Weg eingeschlagen hatte, den man ihm gewünscht hätte, der sich immer mehr verselbstständigte, sich immer mehr dem Einfluss seiner Eltern entzog. Ein junger Mann, der sich durch seinen exzessiven Alkoholkonsum bis ins Koma saufen, von dem man über Monate und Jahre nichts hören konnte, der verschwand, den Edouard irgendwann in Paris in der Gosse wiederfinden musste, weit weg von jeglicher Bereitschaft, in ein normales Leben zurückzukehren.

Romain ist der übergrosse Alp der Familie, jenes labile Terrain, auf dem die ganze Familie wegzurutschen droht. Pascale Kramer beschreibt aber nicht das aus den Fugen geratene Leben des grossen Bruders, sondern was dieses im Leben der anderen anrichtet. Ein Leben wie es in vielen Familien gibt, ein Leben, das man früher als das eines «schwarzen Schafs» bezeichnete, ein Leben, das sich aller Erklärungs- und Rettungsversuche entzieht, ein Leben, das das Glück einer ganzen Familie in permanente Relation stellt. Pascale Kramer erzählt aus der Perspektive verschiedener Familienmitglieder, fokussiert sich dabei aber nicht bloss auf die Sicht des abtrünnigen Sohnes, sondern mit hellwacher Empathie auf das feinmaschige Beziehungssystem einer ganzen Familie über drei Generationen. Pascale Kramer macht lesenden Vätern bewusst, wie unsäglich gross der Kraftaufwand ist, eine Familie aufrecht zu erhalten. Pascale Kramer macht allen lesenden Müttern bewusst, dass die Sonnen im System Familie weiblich sind und allen Lesenden sonst, dass es Dinge gibt, die weder durch Organisation noch Kraftaufwand zu lösen sind.

Pascale Kramer leuchtet in die Schatten einer Familie. Sie tut das mit derart viel Sympathie für ihre eigenen Figuren, dass man sich wünscht, ihr Verständnis wäre das eigene. Pascale Kramer zieht mich in einen literarischen Strudel, dessen Zug sowohl sprachlich wie von innenfamiliärer Dramatik beschleunigt wird.
Wer den Kosmos Kramer noch nicht betreten hat, wer die grosse Schriftstellerin noch nicht entdeckt hat – «Eine Familie» ist alle Familien!

Pascale Kramer, 1961 in Genf geboren, hat eine Anzahl Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Lausanne, verbrachte sie einige Jahre in Zürich und ging 1987 nach Paris, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Mit ihrem vierten Roman «Die Lebenden» (Prix Lipp Suisse), 2000 in Frankreich und 2003 erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler erschienen, kam der literarische Durchbruch. Für «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» wurde sie mit dem Schillerpreis, dem Prix Rambert und dem Grand Prix du roman de la SGDL ausgezeichnet. Mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2017 konnte Pascale Kramer erstmals eine Auszeichnung für ihr Gesamtwerk entgegennehmen.

Rezension von «Autopsie des Vaters» von Pascale Kramer auf literaturblatt.ch

Pascale Kramer erhält den Schweizer Grand Prix Literatur

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Romana Ganzoni «Die Taufe», Plattform Gegenzauber

An meine erste Taufe erinnere ich mich nicht. 1967, Scuol, Unterengadin. Sommer. Ich war wenige Monate alt, ein pausbäckiges Dutzendkind mit rabenschwarzen Augen. Von wem sind denn die? Auf den Fotos bettet mich meine schöne Mutter auf ihren Arm, sie trägt ein graues Deux-pièce, das man in den 60iger Jahren chic nannte, und auch meine Patin Miggi hält mich, die Halbschwester meines Vaters, die in der Familie als schön galt, in Wahrheit war sie recht gewöhnlich und dazu bösartig, aber sie war blond. In der Familie war nur sie blond. Neben Miggi steht mein Pate; er heisst Heinrich, genannt Bum-Bum, er ist Metzger, schnittlauchlang, dünne Arme, dünne Beine, mit Teigbauch, als hätte er einen dieser Sitzbälle, die später aufkamen, verschluckt, ein gutmütiger Pate, der viele Schnäpse verträgt und in der Nacht unter den falschen Fenstern singt.

Meine Taufe war, ausser dass ich in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen wurde, ein Skandal. Denn es war eine katholische Taufe, meine Mutter hatte das verlangt, aus Angst vor der Hölle, mein Vater hatte zugestimmt, mein Grossvater war auch gekommen, der alte Katholikenhasser mit dem edlen Profil. Mein Vater und mein Grossvater lachen nicht auf den Fotos. Und ich auch nicht. Ich weiss gar nicht, ob pausbäckige Kinder lachen können, die Backen, die allen als süss gelten, damit sie sie unter einem Vorwand zwicken können, belasten doch diesen kleinen Mund ungemein. Aber nicht die Nase, noch heute weiss ich, wie der reformierte Bart meines Grossvaters, den ich später Neni nannte, roch. Er roch streng. Ich liebte den Grossvater mehr als alle anderen. Ich sagte in der Primarschule: Wenn ich sterbe, holt mich der Neni ab. Das glaube ich auch heute noch.

Die zweite Taufe erlebte ich 2014 in Klagenfurt. Das ist eine Provinzstadt in Österreich. Schon wieder Sommer. Die zweite Taufe nach der ersten Taufe, die mich einst aufgenommen hatte in die Gemeinschaft der Gläubigen – fälschlicherweise sind damit die Christen gemeint. In Wahrheit wurde ich in die geschriebene und gesprochene Sprache aufgenommen, die niedergelegt ist im Alten Testament, ein ewiger Bund, dort liegt das Wort und dampft, es ist voller Zorn, voller Wucht und Kraft, es ist rücksichtslos und hart. Wo kommt es her? Von weit, du Anfängerin! – War ja nur eine Frage.

Ich war mit der ersten Taufe offiziell in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen worden, und ich wollte die Gläubigste sein von allen. Das Alte Testament nahm mich ins Wort auf, damit ich meinen Glauben ausdrücken konnte, das Evangelium nahm mich in seinen Schlepptau, und, siehe da, es erzählte die beste Geschichte von allen. Ich las und hörte zu. Ich glaubte alles, fragte mich aber, obwohl man das nicht darf: Wer erzählt hier? Wer schrieb auf? Der Meistererzähler, der Erzählmeister? Ja, ganz recht, Gott erzählt, sagte einer. Gott erzählt? Gott schreibt? Nein, nein, Gott schreibt nicht, er hat keine Hände, er diktiert nur. Aha. Das hiesse, alle Erzähler äffen ihn nach, es dürfte keine Geschichten geben. Selbst erzählen, falls das überhaupt geht, und schreiben wäre ein Verstoss. Oder aber: Gott erzählt uns alle Geschichten, wir schreiben sie nur auf? Dann blieben wir unschuldig.

Und was ist mit den schlechten Geschichten? Kommen die vom Teufel? Ja, die kommen vom Teufel oder von seiner vorwitzigen Grossmutter, sie ist die Gefährliche, weil sie so gefällig tut. Die schlechten Geschichten sind ein Hohn auf den Meistererzähler, sie äffen den Erzählmeister nach, man sollte die Ohren verschliessen, sie nie zu Ende hören oder lesen und niemals weiterempfehlen. Sind denn die schlechten Geschichten die bösen Geschichten oder was bedeutet schlecht? Schlecht bedeutet schlecht erzählt, nichts weiter. Schlecht erzählen ist des Teufels Grossmutter.

Die zweite Taufe, die in Klagenfurt am Wörthersee, war die Aufnahme in die Gemeinschaft derer, die alles aufschreiben – mit Lizenz von oben. Nennen wir die, die alles aufschreiben, die Schreiber und Schreiberinnen; es ist eine Kaste, nicht ganz oben angesiedelt und auch nicht ganz unten. Eine graue Mittelschicht aus Halbverhungerten.

Ich reiste nach Klagenfurt, weil ich in die Provinzstadt nach Österreich eingeladen worden war, im Restaurantwagen nach Salzburg ass ich drei Gänge, weil ich bald zu den Halbverhungerten gehören würde. In Klagenfurt stieg ich aus dem Zug und stand herum, ich wartete auf einen, der mich aufnehmen würde in die Gemeinschaft derer, die zum lebenslänglichen Diktat antreten wollen, die alles aufschreiben, die Geschichten erzählen, und dabei hoffen, sie seien nicht auf die vorwitzige Grossmutter des Teufels hereingefallen.

Ich wartete, aber es kam keiner, und als ich schon davon ausging, dass keiner komme, kam einer, er hiess Burkhard, er stammte aus Deutschland, das war klar, denn er sprach Deutsch und deutlich, in perfekter Intonation. Er dirigierte mich vom Bahnhof auf den Domplatz und sagte: Lesen Sie vor, was Sie geschrieben haben! Ich las vor, was dastand, und als die Geschichte zu Ende war, schaute Burkhard aus Deutschland mich böse an und sagte: Next please! Sein Wort dampfte, weil er mich Scheisse fand. Und der Gestank seines Wortes war so mächtig, dass ich auch zu stinken begann, deshalb begab ich mich gleich nach der Nichtaufnahme in die Gemeinschaft der Schreibenden in mein Hotel Zum goldenen Brunnen, um ein Bad zu nehmen, aber da ich den Hotelprodukten nicht traute, ging ich etwas benommen, aber sehr badewillig in die Kramergasse, wo ein Wunder geschah.

Adam kam auf mich zu. Er sagte, er sehe, dass ich seine Produkte brauche, er lotste mich in seinen Laden, aber ich wäre auch freiwillig mitgegangen. Als er sagte, er heisse Adam und wolle mich beraten, wusste ich, jetzt wird alles gut. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte Adam mir die neuste Handcrème der Wundermarke Kedem angeschmiert, die er als galaktisch anpries, in Wahrheit war der Geruch aufdringlich, oberkünstlich und unangenehm, ich begriff, dass ich so richtig angeschmiert war, denn mir kam Burkhard in den Sinn, der mir die Lizenz verweigert hatte, obwohl ich die Gläubigste von allen war.

Hatte er das etwa gemerkt? War alles nur eine Prüfung? Versteckte Kamera? Hatte er Adam geschickt, um zu schauen, wie ich auf ein zweites künstliches Angeschmiertsein reagieren würde? Ich dachte nach.

Adam fragte, ob ich eine Antifaltenbehandlung wünsche. Er schaute mir tief in die Augen. Nein, danke. Adam hüpfte im Geschäft herum, die Handcrème hielt er für verkauft, statt 25 Euro 19 für die Dame. Okay. Ich sagte, ich wolle baden. Einen Augenblick und tadaaa, sagte Adam. Und schon stand dieser Tiegel mit dem goldenen Deckel Salt Scrub Peach & Honey vor mir. Um Gottes Willen, nein! Da las ich: Made in Israel.

Salt Scrub aus dem Heiligen Land. Das konnte kein Zufall sein, und auch nicht, dass es saftige 60 Euro kostete. Qualität kostet, biblische ist unbezahlbar. Adam winkte ab, wir schauen dann noch mit Preis, sagte Adam, ein Ungare, der out of the Blue sagte, es sei schwierig mit den Israelis, oioioi, sehr schwierig, geschäftlich, sagte er. Ich wollte etwas sagen und so ein bisschen in Richtung Ungarn verbinden, da stand bereits das zweite israelische Top-Produkt vor mir: Body Butter Kiwi. 60 Euro. Adam machte aus 145 Euro deren 90 und strahlte.

Ich bezahlte und hastete ins Hotel, wo ich mir ein Bad einlaufen liess. Ich legte mich ins lauwarme Wasser. Nach einer geschätzten Viertelstunde stand ich auf, ohne das Wasser abzulassen, und rieb mich mit dem Pfirsich-Honig-Meersalz ein, ich griff in die Dose und verteilte das teure Mousse grosszügig auf meinem Körper. Peeling, das muss sein, zwei Mal pro Monat, hatte Adam gesagt. Ich zog das durch mit der Schälkur. Ich rieb die ganze Dose ein, ein halbes Kilogramm. Aus Israel, dem Heiligen Land, für weniger als 60 Euro. Ich war rot wie ein Hummer. Hummer sind schöne Tiere, ich esse sie nicht.

Ich setzte mich ins Bad und tauchte unter. Ich tauchte auf und tauchte nochmals unter, ich hielt die Luft an, bis es eng wurde, dann tauchte ich wieder auf, um sehr schnell, mit halb gefüllter Lunge, wieder unterzutauchen. Ich tauchte auf und sagte: Ich taufe dich, Romana, im Namen von Ingeborg Bachmann, die dich höchstpersönlich aufnimmt in die Gemeinschaft der Schreibenden, auf keinen weiteren Namen, vergiss das mit dem Pseudonym, das ist affig, ich taufe dich, weil Ingeborg Bachmann dich für würdig befunden hat, einzutreten in die Welt der Schreibenden, als du heute Morgen ihre Gedichte lasest und weintest. Sie hat dich erkannt als grosse Gläubige. Ich ermächtige dich, Romana, das zu sagen und Geschichten zu schreiben, bis du tot umfällst. Du sollst das nicht nur tun, du musst das tun, ich befehle es dir.

Ich glaubte mir, stand auf, duschte, wusch mir die Haare mit dem Billigprodukt, das das Hotel mir überlassen hatte, und stieg aus der Wanne. Nun schmierte ich mich ein mit der Kiwibutter With Dead Sea Minerals and Shea Butter (Paraben-Free) von Kedem aus dem Heiligen Land, ich schmierte meine Seele, ich ölte mich und versiegelte meinen Leib.

Romana Ganzoniwurde 1967 in Scuol, Unterengadin, geboren, wo sie auch aufwuchs. Geschichts- und Germanistikstudium an der Universität Zürich, Aufenthalt in London. Nach zwanzig Jahren Tätigkeit als Gymnasiallehrerin widmet sie sich heute ganz dem Schreiben und lebt als freie Autorin in Celerina, Oberengadin. Seit 2013 Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften. 2014 Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Förderpreis des Kantons Graubünden. Seit 2015 Kolumnen in der Schweiz am Sonntagund im Kultur­Blog der Engadiner Post. «Granada Grischun» in der Reihe Edition Blau, Rotpunktverlag ist ihre erste Buchveröffentlichung.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Laura Giannini

Von Frankreich bis nach Paris, eine Nachlese zu den 17. Sprachsalz Literaturtagen in Hall in Tirol

So sehr es für viele ein Traum bleibt, ein Künstlerleben zu führen, so sehr versteigt man sich in der Vorstellung darüber, was und wie ein solches sein kann in romantisierten Vorstellungen, die mit der Härte der Wirklichkeit nichts zu tun haben. So sehr Japan für viele ein Land der Kirschblüten und Traditionen voller Grazie ist, so sehr ist dieses Land eines der Tabus. Marie Modiano und Durian Sukegawa sind sprachmächtige Türöffner.

Eine junge Frau zieht mit einer Theatergruppe kreuz und quer durch Europa. Später als Musikerin, Sängerin von einem Ort zum nächsten. Was mit dem Theaterensemble noch den Hauch von Nobles hatte, waren es doch Häuser mit Tradition und Hotels mit Stil, wird als Musikerin von Kleinbühne zum nächsten Spielort eine Odyssee der Trostlosigkeit. Nicht nur in seiner Kulisse, sondern weil sich im Leben der Frau die Liebe auf immer verabschiedete.

Marie Modiano und Thomas Sarbacher © Yves Noir

Er sei vor Einbruch der Dunkelheit zurück, hatte er gesagt. Valentine wartet, wartet lange. Sie blättert nicht nur in den verwaisten Schreibheften, sondern über Jahre in den Erinnerungen, in der Zeit, als ihre grosse Liebe mit seinem ersten Manuskript auf seinen ersten Erfolg als Schriftsteller wartete. Valentines Warten, aus dem sie sich in ihrem eigenen Leben längst herausgenommen hat. Die kleine Rolle, die man ihr im Ensemble gegeben und die sie über Monate zu spielen hatte, beweist ihr wie Jahre später das Singen vor fast leeren Rängen und desinteressiertem Publikum mit keine Faser, dass sie richtig lebt. Und als sich der Erfolg ihrer grossen Liebe dann doch einstellt, ist dieser diesem nicht gewachsen, er versinkt im Schmerz. Je mehr er sich von ihr physisch entfernt, desto intensiver wird die Erinnerung und das Sehnen nach jener schmalen Zeit des Glücks, irgendwo in der Vergangenheit.

«Ende der Spielzeit» ist die Geschichte einer Künstlerin, die sich mit ihrem Sehnen nach künstlerischen Ausdruck auf eine endlos scheinende Reise begibt. Mit dem Theater auf Bühnen in Lausanne, Hamburg, Zürich, Bochum, Wien oder München. Als Musikerin auch in die Provinz. Meist allein, allein mit sich selbst, unter den Scheinwerfern, auf einer Bühne, weit weg vom Publikum, ihnen allen etwas vorspielend. Eine junge Frau, die, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist, möglichst Fragen stellt, um nicht über sich selbst sprechen zu müssen. Eine junge Frau, die in ihrer einzigen grossen Liebe, in ihrer allernächsten Nähe verletzt wurde und sich trotz Theater und Musik in sich selbst zurückzieht. Eine junge Frau, der man alles Zuhause genommen hat und die sich nur dort geborgen fühlt, wo Ruhe ist, im Schminkraum, in der Garderobe, im Hotelzimmer.

«Gewisse Momente im Leben dienen nur dazu, sich fast sofort in Erinnerungen zu verwandeln. Würde man versuchen, sie auszudehnen, verlören sie ihren Wert.»

Valentine reist von Ort zu Ort, ohne vorwärts zu kommen, in Rückblenden, die in anderer Perspektive erzählt sind. Verharrend, obwohl sie örtlich dauernd unterwegs ist. Kaum einem Menschen begegnend, ausser sie öffnet unvermittelt eine Tür, um einem fremden Leben mit uferloser Intensität ausgesetzt zu sein.
Ein unspektakuläres Buch, eine Reisebuch durch ein Leben, das mit einer Trennung aus dem Tritt geriet. Ein autofiktionaler Roman über die Härten eines Künsterlebens, der Sehnsucht nach tiefer Liebe.

Der Blick Marie Modianis während der Lesung der deutschen Stimme Thomas Sarbachers in die Runde der ZuhörerInnen, etwas wie ein Kontrollblick, ob und wie man reagiert. Sie ist amüsiert, wenn der Schauspieler dramatisiert, was die hexenähnliche Apothekerin mit den Raubvogelaugen krächzt oder der Wirt raunzt, als die Protagonistin in der Saufhalle eintrifft, wo das alte Klavier steht, dem sie Melodien entlocken soll.

Durian Sukegawa © Yves Noir

Durian Sukegawa gehört in Japan zu den ganz grossen, ist Verfasser von über 40 Veröffentlichungen, darunter Romane, Übersetzungen, Essays, Sience Fictions. Er schreibt, ist Musiker, Schauspieler, war Clown und Radiomoderator. Während einer solchen Radiosendung stiess er auf das Schicksal japanischer Leprakranker, die, selbst als sie gesund waren, von der Gesellschaft stigmatisiert mundtot gemacht, durch ein Gesetz von 1931 bis in die Neuzeit weggesperrt wurden. Nicht bloss diskriminiert, sondern hinter Hecken und Mauern eingesperrt und vergessen. Ein Tabuthema, das durch den Roman «Kirschblüten und rote Bohnen» zaghaft in das Bewusstsein der japanischen Gesellschaft eindrang, so explosiv, dass sich der Stammverlag des Autors erst weigerte, den Roman zu veröffentlichen.

«Kirschblüten und rote Bohnen», 2015 äusserst erfolgreich von der japanischen Regisseurin Naomi Kawase verfilmt, erzählt die Geschichte einer zaghaften Freundschaft zwischen dem Pfannkuchenbäcker Sentaro, der alten Tokue, die bei ihm zu arbeiten beginnt und den dahinsiechenden Laden zu neuer Blüte bringt, aber ein Geheimnis mit sich trägt, und dem Mädchen Wakana, das mehr als nur die Türen zu diesem Geheimnis öffnet.

Ich traf den japanischen Autor etwas abseits in der Hotellobby, in der das Festival stattfindet in sein Mobiltelefon vertieft. Aber als ich in bat, die beiden mitgebrachten Romane zu signieren, gehörte die dezidiert konzentrierte Aufmerksamkeit ganz mir, dem Leser, der seine Geschichten mag, die Melancholie, den nicht zu brechenden Glauben an das Gute im Menschen und das Wissen, dass wahre Grösse in den kleinen Gesten steckt. Zwei Stunden später ist der Pullover und die Jeans in Jacket und Bügelfalte getauscht, ein akkurat gefaltetes Stofftaschentuch neben dem Mikrofon platziert und die mehr als hundert Anwesenden lauschen den Geschichten um Kirschblüten und rote Bohnen. Unbedingt lesen (Buch) und schauen (Film).

Trailer zu «Kirschblüten und rote Bohnen»

Ich danke Heinz D. Heisl, Max Hafele, Magdalena Kauz, Urs Heinz Aerni, Ulrike Wörner, den Machern von Sprachsalz.

Beitragsbild: Ernst Molden © Denis Moergenthaler (Ernst Molden mit einem poetischen und musikalischen Blick auf seinen Wiener Kosmos, dem er zahlreiche Liebeserklärungen widmete.)

Franco Supino «Wie die alten Römer», Plattform Gegenzauber

Sie war hübsch, schlank, weiblich und auf den zweiten Blick weniger jung, als er angenommen hatte.
Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen.
Nein.
Darf ich Sie ein ander Mal zu einem Kaffee einladen?

Er hielt sich für einen Mann ohne Plumpheit. Für einen, der so etwas nicht nötig hat. Wenn nicht irgendeinmal alle Frauen, die ihm in Reichweite schienen, vergeben oder verbraucht gewesen wären. Und ein Freund ihn nicht gefragt hätte: Wozu kaufst du eigentlich diese blöden Lotterielose, du weist ja, dass man nie gewinnt.
Ich glaube nicht ans Glück, sagte er sich. Aber an den Zufall. Alles ist Zufall.

Also begann der Glücklose hin und wieder auf gut Glück Frauen anzusprechen. Ohne Not. Er war nicht ungern allein und nicht ungern ungebunden. Und er fühlte sich jung.
Das musste auch die schöne Mittvierzigerin spüren. Die sich noch nie von einem Wildfremden auf einen Kaffee hatte einladen lassen. Klar. Dafür hatte er einen Sinn. Sie hatte keinen langweiligen Mann und keine lästigen Kinder zuhause. Sie kam zurecht im Leben, auch ohne ihn.
Auf einen Kaffee?
Er gab ihr seine Nummer und war sich sicher, dass sie sich nicht melden würde.

Bald hatten sie alle Schranken überwunden und wurden ein Paar.
Dass es so gekommen war: Zufall! Glück!
Sie war auch für den erfahrenen Mann aussergewöhnlich. Ihr Berufsweg beispielsweise: Nach dem Abitur Schreinerlehre (weil sie keine Erwartungen als Tochter und Frau mehr erfüllen mochte). Dann Psychiatriepflegerin. Überstürzte Heirat mit einem genialen geisteskranken Fotografen. Vier Jahre Leidenszeit mit tragischem Ende. Flucht. Reisen. Zu Fuss durch Usbekistan allein als Frau. (Das ist ganz anders, als du dir das vorstellst. Was du vielleicht über solche Länder gehört hast. Absolut ungefährlich und vor allem herzlich, menschlich bereichernd). Zurück und unklare berufliche Ambitionen. Meeresbiologie nach zwei Semestern abgebrochen. Dann Jusstudium in Rekordzeit bis zur Promotion. Arbeitete jetzt für eine Menschenrechtsorganisation in Genf. Dass sie an dem Tag in dem Tram sass: Zufall. Sie hatte eine Gastprofessur an der Uni inne, meist fuhr sie am gleichen Tag zurück. Manchmal blieb sie über Nacht in einem Hotel und fuhr erst am Morgen. Die Mutter lebte in einem Pflegeheim ausserhalb der Stadt. Deshalb dachte sie darüber nach, sich hier eine Wohnung zu mieten und zu pendeln.

Sie sahen sich wöchentlich. Manchmal an Wochenenden. Als ihr Lehrauftrag auslief, überraschte sie ihn. Sie hatte für sich eine kleine Wohnung gefunden. Die in Genf behielt sie. Sie hätte auch bei ihm einziehen können, aber das wollte sie nicht.

Er fuhr nie zu ihr. Hatte keinen Sinn. Sie hätte keine Zeit gehabt. Sie war weltweit unterwegs, stark eingebunden. Imponierend. Und dass sie trotzdem immer wieder Zeit für ihn und ihre demente Mutter fand, herfuhr. Sie war ein Juwel. Er hat einfach Glück gehabt. Nicht das Millionenlos-Glück. Das einfache, unerzwingbare Glück.

Sie war auch deshalb schön, weil sie nicht perfekt war. Ihr Busen und ihre Pobacken hingen. Wenig, aber deutlich. Es machte ihn fast verrückt vor Lust.
Er hatte immer schönere Frauen gehabt. Sportlich, durchtrainiert, wie er. Noch nie fühlte er sich körperlich so angezogen.
Er erkannte sich nicht mehr. Er musste sich nicht rechtfertigen. Sie wies ihn nicht zurück. Auch wenn er ein zweites Mal. Ausser einer Spur Ungeduld, wenn es etwas länger dauerte, meinte er nichts wahrzunehmen.
Nicht dass er das Gefühl hatte, es mache ihr Freude, sie brauche das.
Es hätte demütigend führ ihn sein können. Anstrengend. Er war sich gewohnt gewesen, Frauen auf Händen zu tragen, und doch stets das Gefühl vermittelt zu bekommen, sich nicht genug zu bemühen.
Bei ihr war es nicht so. Sie fand etwas in ihm. Irgendetwas, das sie schätzte, brauchte und dass ihn keine Anstrengung kostete. Auch wenn er nicht wusste, was es war. Es war so. Was wollte er mehr? Wozu grübeln?

Glück macht nicht misstrauisch, das weiss man. Wir passen einfach zusammen, sagte er sich. Glück macht blind und dumm? Von mir aus.

Einmal reiste er zu ihr nach Genf. Er verbrachte während einer UNO-Konferenz einen Tag in ihrer Nähe. Sie stellte ihn als Mitarbeiter vor. Sie nahm ihn zu Meetings mit. Acht zählte er bis am Abend. Es war ein sehr erfolgreicher Tag, bilanzierte sie spätabends. Zur Feier führte sie ihn in ein Sternelokal. Ich habe den ganzen Tag kaum was gegessen, sagte sie. Er schon. An jedem Meeting gab’s Essen und er langte immer zu. Sie liessen sich ein Mehrgang-Menu auftragen. Hummer, Kaviar, Gänseleber, Taubenbrüstchen. Einfach nicht zu viel von den leckeren Brötchen essen, sagte sie, sonst schläfst du schlecht. Und nicht zu viel Wein!
Er schlief misserabel. Er hatte viel zu viel gegessen.
Sie musste am nächsten Tag früh raus. Er wollte nichts Frühstücken. Er sah sie am Tisch sitzen und sich Brötchen schmieren. Ich fahre gleich heim, sagte er.
Vielleicht ein kurzer Spaziergang durch Genf?, schlug sie vor.
Vielleicht. Zum Jet d’eau. Den hat er noch nie gesehen.

Er betrachtete den Jet d’eau. Das Essen des gestrigen Tages lag ihm schwer auf.
Er sah und verstand.
Zufall? Nein.
Glück? Sicher nicht.

Als er zuhause ankam, fuhr er zu ihrer Wohnung und wühlte im Müll. Leer-Packungen von Fertigprodukten, Keksen, Schokolade.
Der Kühlschrank voll. Der Vorratsschrank voll. Der Tiefkühler voll.
Er entdeckte, was er längst wusste.
Bevor sie zu Bett kam, war immer sie immer als letzte im Bad, erinnerte er sich. Er hörte den Strahl plätschern. Das Würgen, wenn er vor die Tür stand. Erinnerte sich, wie er kehrt machte und sich wieder hinlegte. Und hörte, wie sie spülte und spülte.
Dass sie nach jedem Essen, auch auswärts, in der Toilette verschwand. Manchmal auch zwischen den Gängen.
Sie mache sich frisch, liess sie ihn glauben. Sie putze sich die Zähne.

Er überlegte. Was mache ich jetzt?

Er habe schon etwas vor, gab er vor, als sie das nächste Mal anrief und herfahren wollte.
Sie schlug vor, zusammen in den Urlaub zu fahren.
Er war einverstanden. Auch, dass sie ihn einlud.
Skiurlaub, eine Woche. Luxushotel mit Wellnessresort. Tolles Frühstück, Mehrgangmenu am Abend. Mittagessen auf der Piste.
Viel frische, kalte Luft. Viel Sex.
Seine Nerven wurden strapaziert.
Er schwieg, wenn sie nach dem Frühstück gleich wieder alles erbrach, was sie zu sich genommen hatte, und dann im Zimmer in einen vom Buffet geschmuggelten Apfel biss.
Eine Provokation?
Sie sah gut aus, sie war lieb, herzlich. Sie machte ihn verrückt.
Ach, dachte er, was soll ich tun? Sie im Klo überraschen? Blossstellen?
Er sah die Fäden im Klo, die der Magensaft hinterlässt, auch wenn sie zweimal spült und die Schüssel fest schrubbt.

Zuhause nahm er sich vor, sie darauf anzusprechen. Wenn sie das nächste Mal herfuhr. Ganz sicher. Nur schon aus Respekt sich gegenüber.

Er wolle mehr von ihr erfahren, sagte er.
Wie mehr erfahren?
Alte Fotos anschauen zum Beispiel.
Ok. Sie brachte Alben mit. Sie als Teenager.
Sie lacht auf vielen, hat verfärbte Schneidezähne.
Ja, die Zähne seien ihr Schwachpunkt.
Jetzt sind die Flecken weg. Wie ist das möglich?
Sie habe Magenprobleme. Seit jeher, sicher seit sie 13 ist. Magensaft steige oft in ihre Mundhöhle und greife die Zähne an. Deshalb habe sie sich Kissen auf die Zähne auftragen lassen. Dieser Aufbau helfe, die Zähne zu erhalten, und habe auch gleich noch kosmetische Wirkung.

So lang geht das schon so?
Er sprach ruhig, ohne eine Spur von Vorwurf. Seit du 13 bist? Du musst zum Arzt, sagte er. Dringend.
Was meinst du? fragte sie.
Was wohl! Ich halte das nicht aus. Verstehst du? Das kann man nicht aushalten.
Du irrst dich. Sie lächelt.
Es ist ihm, als würde sich das nicht zum ersten Mal zu jemandem sagen. Als sei sie gut vorbereitet.
Ich habe dir doch erzählt, dass ich Magenprobleme habe. Von klein auf. Immer, wenn ich esse, habe ich dieses saure Aufstossen. Und dann muss ich ein bisschen was rausgeben. Aber nur wenig. Ich bin deswegen auch schon in ärztlicher Behandlung. Ich bekomme mein Problem zunehmend in den Griff, sagt auch mein Arzt. Glaub‘ mir.

Er hatte einen trockenen Mund.
Und was sind die leeren Packungen in deinem Abfall? Die vollen Vorratsschränke, die überfüllte Tiefkühltruhe? Er sollte etwas trinken. Er sagte nichts. Möchte er ihr glauben?
Es ist nicht, wie du denkst, sagte sie. Lachte auf. Ich brauche keinen Finger in den Rachen zu stecken und schon gar keine Gänsefeder wie die alten Römer. Sie schüttelte den Kopf. Ist das wichtig? Liebst du mich denn nicht mehr?
Er hat immer noch diesen trockenen Mund.
Ist vielleicht besser, sagt sie, wenn du heute Nacht bei dir schläfst.
Sie wird sich Töpfe aufsetzen, Mikrowelle einschalten, sie wird essen zubereiten, kiloweise, schlingen, wieder auswerfen, dachte er auf dem Heimweg.

Reiche Römer, las er zuhause nach, sollen in ihren Villen eigentliche Vomitorien eingerichtet haben. Archäologische Nachweise fehlen allerdings. Man kann eher davon ausgehen, dass die alten Römer zum absichtlich herbeigeführten Erbrechen die Latrina verwendeten.

Franco Supino, geboren 1965 in Solothurn, wuchs als Kind italienischer Eltern zweisprachig auf. Studium der Germanistik und Romanistik in Zürich und Florenz. Heute lebt er in Solothurn und unterrichtet an der Pädagogischen Fachhochschule. Franco Supino erhielt zahlreiche Preise, u.a. den Preis für Literatur des Kantons Solothurn 2001.

Webseite des Autors