Béatrice Bader Sollberger «Böse kleine Fische», 10. und letzte unschöne Weihnachtsgeschichte

Wenn sie nicht so schnell als möglich etwas veränderte, würde alles wieder seinen Lauf nehmen wie im letzten Jahr. Der einzige Unterschied bestand einzig darin, dass Helga in die kleine Wohnung im dritten Stock gezogen war, gemeinsam mit ihrem Vetter Klaus. Eigentlich war Klaus schuld am Umzug. Helga gefiel die Parterrewohnung viel besser. Aber weil Klaus die Miete bezahlte, musste sie sich wohl oder über fügen. Helgas eigenes Gehalt war viel zu klein um Wohnungsmiete und Lebensunterhalt zu bestreiten. Die neue Wohnung war zugig, besonders jetzt, im Dezember. Zündete Helga eine Kerze auf dem langen Tisch an, flackerte deren Schein nervös und liess die Schatten der Möbel wie ein Reigen ekstatisch zuckender grosser und kleiner Monster über die Zimmerwand tanzen.

Der Tisch
Helga erinnerte sich an vergangene Weihnachten. Eigentlich ist es nicht ihre Geschichte. Vielmehr ist es die Geschichte der Andern. Ihre Erinnerung zeigt ihr einen lichtdurchfluteten Raum. In seiner Mitte steht der lange Tisch mit vielerlei Spuren auf dem Kerbholz. Gezeichnet von kreisrunden Abdrücken gläserner Füsse. Dazwischen dunkle Flecken, welche Helga nicht zuordnen kann. Kratzer, vielleicht von der Gabel eines hungrigen Gastes. All diese Spuren über die Jahrzehnte verewigt in diesem Tisch. Dazu Stühle. Und auf diesen Stühlen die Gäste. Der Tisch steht in einer Länge parallel zu Fensterflucht, ausgerichtet nach diesem Rechteck, durch das jetzt der Himmel in seiner Nachtschwere zu stürzen schien wie eine müde gewordene Wand. Drinnen ist es wie draussen, dunkel und irgendwie leer. Das Fenster ist das Auge in die Unendlichkeit des Tages. Stirnseitig an der Tischkante, gut verborgen unterhalb des Tischblattes ist eine hölzerne Schublade eingelassen. Kaum wahrnehmbar für den Gast, der sich an seinen Platz am Tisch setzt. Sie klemmt ein wenig, wenn Helga sie versucht herauszuziehen. Eine Schublade voller unsichtbarer Geschichten, die darauf warten, zum Leben erweckt zu werden. Die Schublade der wartenden Geschichten, so nennt Helga sie. Da finden sich weggeräumte und vergessene Notizen, verloren geglaubte Fotografien wie Phantasiewesen aus einer vergessenen Zeit. Wo steht dieser lange Tisch? Im grossen Zimmer der Parterrewohnung? Oder vielleicht doch in Helgas Kopf? Sein gezeichnetes Tischblatt zeugt von heiteren, sorgenvollen, von Traurigkeit getränkten, hoffnungsvollen, verlogenen, liebevollen, wahrheitssuchenden Erinnerungsspuren gleich einem Buch vergangener und zukünftiger Geschichten. Helga ordnet diese Schätze mit spitzen Fingern immer wieder auf’s Neue, jedes Jahr am vierten Advent.

Die Gäste
Die Versammlung leerer Stühle – zwölf an der Zahl – dienstfertig wartend. Sie säumen den Tisch wie der Zaun ein fruchtbares Beet. Zwölf hölzerne Zeugen, aus unterschiedlichen Epochen stammend, schweigend. Trotzdem hört Helga jeden vierten Advent die Stimmen, die sich summend emporschrauben wie kleine Insekten im letzten Sonnenlicht. In der Tischmitte steht ein hoher Lüster mit wächsernen Kerzen gleich einem Wächter, dem nichts entgeht. Eben erst neu besteckt, warten auch sie darauf, ihren Dienst zu tun und mit hellem Licht die in den Winkeln des Zimmers hockenden Schatten zu vertreiben und sich in den Augen der erwarteten Gäste zu spiegeln. Noch erhellt letztes fahles Winterlicht das Zimmer. Strahlen fallen durch die Fensterscheiben wie von der Kälte erstarrte Vögel und bleiben auf dem Parkett liegen. Langsam wachsen die Schatten und schleichen sich aus ihren Winkeln hervor ins Zimmer, hinter die Lehnen der leeren Stühle, wo sie unbeweglich verharren. Helga zündet die Kerzen an. Eine erwartungsfrohe Stimmung breitet sich aus. Alles ist bereit für die Gäste. Das Abendrot stirbt flammend am Dezemberhimmel, Baumsilhouetten ragen dramatisch aus der Erde wie Finger, die nach etwas zu greifen scheinen. Durch die gläsernen Scheiben beugt sich die Stille des Abends. Helga lauscht hinter sich ins Treppenhaus. Künden Schritte bereits von den erwarteten Gästen. Sie atmet flach vor Aufregung die erwartungsgeschwängerte Luft, harrt angespannt dem, was da kommt, gemeinsam mit den erwarteten Gästen. Auf dem Tisch liegen Bücher unterschiedlicher Herkunft. Ihr Eigenleben, wird von der Geschichte genährt, die zwischen den Buchdeckeln wohnt. Titel und schön gestaltete Einbände versprechen Unerwartetes, Unbekanntes. Die Bücher wollen, dass ihre Geschichte gehört wird. Weisse Papiere halten die schwarzen Buchstaben an ihrem Platz, sorgfältig darauf achtend, dass sie nicht davon tanzen und die Geschichte durcheinanderbringen. Wie jedes Jahr am vierten Advent holt Helga die Fotografien aus der Schublade und ordnet jede zu einem Stuhl. Rund um den Tisch haben sich nun die Gäste versammelt, alle haben sich eingefunden, wie jedes Jahr. Eine illustre Schar säumt nun Helgas Tisch, ausgewählte Persönlichkeiten, die einen mit grosser Vergangenheit, andere jünger und neugierig, teils wichtigtuerisch im Feuer der Überzeugung. Alle zusammen sind sie eine Gesellschaft der grossen und kleinen Geschichten, die sich um vier Uhr früh wie jedes Jahr am vierten Adventssonntag um Helgas langen Tisch herum versammelt. Helga greift mit geschlossenen Augen zu einem der auf dem Tisch liegenden Bücher, schlägt es irgendwo auf und beginnt an einer zufälligen Stelle laut zu lesen. Ihre Stimme erfüllt das Zimmer und verdrängt die Schatten der Leere und der Einsamkeit, die Helga immer im Dezember besonders spürt, wenn sie sich wie ein warmes weiches Tier um ihren Hals legt.

Béatrice Bader, geb. 1968, ist eine Schweizer Konzeptkünstlerin und arbeitet multimedial. Als visuelle Kunstschaffende ist Béatrice Bader tätig im Bereich der künstlerischen Forschung und Konzeptkunst, Collage, Performance, Installation und Interventionen im öffentlichen Raum. In ihrer künstlerischen Auseinandersetzung bewegt sie sich an der Schnittstelle von Kunst und Theorie sowie hybriden Erzählformen (Bild-Text-Kombinationen).

Webseite der Autorin

Ruth Geiser «Zweigstelle», 9. unschöne Weihnachtsgeschichte

Martin zog seine Regenjacke an und ging.
„Immer, wenn’s schwierig wird, ziehst du Leine!“, rief ihm seine Frau hinterher. Und dann noch: „Du bist ein Feigling…..“, mehr hörte er nicht, auch wenn sie noch nicht fertig war.

Sie wusste auch nicht weiter. Es war verzwickt.

Draussen regnete es und er zog sich die Kapuze ins Gesicht. Da drin war alles so konzentriert und unausweichlich. Draussen erschien ihm alles einfacher, der Schmerz, der ihn immer wieder überflutete, war dort gemessen.
Unter freiem Himmel war ihm klar, dass er nicht alleine war. Der Wind, die Sterne, die Sonne, der Lärm, all das trug eine Botschaft: Du bist nicht so wichtig, du bist ein Teil vom Ganzen, dein Leben wird vorbeigehen und so auch der Schmerz.

Julian war immer auch dabei. Er hörte ihn, wie er sang, oder mit Lauten und Buchstaben spielte. Er musste noch alles ausprobieren, sein Aufenthalt in der Welt hatte ihm nur einen Vorgeschmack erlaubt. Jetzt war Martin dafür da, dass er Erfahrungen machen konnte. Martin spürte, wie sehr er ihn brauchte.

Lisa erzählte er nichts von seiner Verbindung zu Julian. Zu gross war seine Angst, sie würde sich über seine Vorstellungen lustig machen, oder sie in einem Streit gegen ihn verwenden. Das würde er nicht ertragen.

Sie wollte ihn weinen sehen, er sollte sich die Haare raufen und im Bett liegen bleiben. Das waren die Elemente ihrer Trauer und seine sah sie nicht.
Er spielte auf einer Bühne ohne Licht und sie sass im Zuschauerraum und rief ständig: „Ich kann dich nicht sehen, bist du überhaupt da?“
Und wenn sie ihn hörte, glaubte sie nicht, dass er wahrhaftig war, denn er war ja für sie nicht sichtbar

Wahrscheinlich galt für sie genau das gleiche, sie fühlte sich nicht wahrgenommen, nicht respektiert. Sie konnten ihre Trauer nicht teilen, sie teilten nur noch Misstrauen.

Martin realisierte, dass er im Kreis gegangen war. Schon zum zweiten Mal kam er am Eingang des botanischen Gartens vorbei. Es nieselte. Er ging durch das Tor. Es roch nach tiefgründiger Feuchtigkeit.
Bäume und Pflanzen bedrängten ihn nicht. Sie taten ihm gut. Seit Julian nicht mehr da war, sandten sie tröstende Wellen. Vor allem die Laubbäume waren ihm nahe. Sie wussten, was Abschied nehmen heisst. Martin musste lachen. So einfach war seine Welt.

Er konnte sich ohne Probleme mit einem Laubbaum anfreunden,weil er sah, wie er sein Laub der Erde spendete, zur Nahrung für andere Pflanzen. So möchte er auch handeln.

Aber mit seiner Lisa konnte er nicht mehr reden. Die Sätze waren Fallgruben , die einfachsten Mitteilungen waren Handgranaten, die oft zu nah bei ihm explodierten. Die Sitzungen mit dem Trauerberater fanden auf Minenfeldern statt. Nach jedem Termin gingen sie noch verwundeter heim.

Zwar hatte dieser letztes Mal etwas sehr Wichtiges gesagt, was ihm sofort einleuchtete: „Ihr solltet damit aufhören, dem andern die Schuld für den Verlust zuzuschieben. Niemand trägt Schuld. Ihr könnt nicht mal Verantwortung dafür übernehmen, Das Leben ist nicht in eurer Hand.“

Auch Lisa musste es begriffen haben, denn seither hatte er keinen ihrer „hätte ich doch, wären wir doch“ – Sätze mehr gehört.

Im botanischen Garten wurde es ruhiger. Das Nieseln hatte sich zum Regen gewandelt. Regen tat ihm gut. Er hatte etwas Reinigendes, aussen und innen. Dennoch ging Martin in ein Schauhaus. Dort setzte er sich auf eine Bank. Der Garten war noch eine Stunde offen.

Zwei Kinder spielten Familie.“Morgen musst du den Baum holen“ , sagte das Mädchen. „Baum holen“, das hörte sich seltsam an in einem botanischen Garten.

Die Kinder setzten sich neben Martin. Sie waren noch immer vollkommen vertieft in ihr Familienspiel.
„Ja“, sagte der Junge, „ich mach das übermorgen.“ Das Mädchen war damit nicht zufrieden. 
„Nein, du gehst mir morgen¨“

„Aber Julia, morgen ist Sonntag“

„Aber wir spielen doch und im Spiel ist es Mittwoch und morgen hättest du Zeit,“

„Das sagst du nur, weil du nicht daran gedacht hast, dass morgen Sonntag ist“

Das Spiel wurde zum Streit und die Kinder liefen davon um die Eltern zu finden.

Martin hob seinen Blick. Da waren nur kahle Äste.
Waren Lisa und er in einem grausamen Spiel gefangen, bei dem das einzig wichtige war, nicht rauszufallen? Würde ein Verlassen des Spiels noch mehr weh tun?
Sie spielten immer noch Vater Mutter Kind. Nur das Kind fehlte so schmerzlich.
Würde das je gut enden können

Martin wusste es nicht. Aber irgendwie spürte er sich freier und weniger getrieben.

Endlich konnte er sich auf den Heimweg machen. Er verliess den Garten und streckte sich. Er hatte das Gefühl, dass sich seine Schritte harmonischer zum Gang fügten.

Schon merkwürdig, das Mädchen hiess Julia. Irgendwas rumorte in ihm.
Beim Gehen fiel ihm ein, dass sie auch noch keinen Baum hatten.
Dieses Fest würde wehtun.
Wie würden sie da durchkommen?

„Ein Kind ist euch geboren, Fürchtet euch nicht“ ging es durch seinen Schädel.
Und sofort auch. „Ein Kind ist uns gestorben und wir fürchten uns sehr.“

Martin wusste, dass Weihnachten ihr Test sein würde. Wenn sie dieses Fest als Paar überlebten, wären sie gerettet, das wollte er glauben.

Auf dem Heimweg kommt er an einer Verkaufsstellte für Christbäume vorbei. Das meiste Nordmanntannen, viele etwas asymetrisch. Letztes Jahr hätte er sie genauer inspiziert um festzustellen, ob es klug wäre, hier zu kaufen.

Plötzlich hellt sich sein Gesicht auf, er stapft bergan. Geht vorbei an der Strasse, wo er abbiegen müsste um nach Hause zu kommen und erreicht ausser Atem den Waldrand.
Äste wollte er oder Zweige. Er erinnerte sich an die Barbarazweige, welche seine Tante immer Anfang Dezember im Wald holte.
Sie brauchten Wasser und Wärme und würden mit etwas Glück an Weihnachten blühen.

 

Ruth Geiser, geb. 1956 von Roggliswil LU, Ausbildung zur Primarlehrerin, Abschluss 1977, unterrichtete als Primarlehrerin, 1984 Diagnose Parkinson, Studium Geschichte, Englische Literatur und Europäische Volksliteratur, Assistenz bei Professor Schenda, Europäische Volksliteratur, unterrichtete Englisch und Geschichte an Gymnasien, Fachhochschule und in der Erwachsenenbildung, Aufgabe der Berufstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen 2005, schreibt Gedichte, Kurzgeschichten, sowie autobiografische Texte.

Gabriela Cheng-Voser «gluät of dä huut», 8. unschöne Weihnachtsgeschichte

häsch mer gseit
i söll doch bliibä
mögischs nöd verliidä
wänn i nümm
um di umä ben

besch chli vorbi cho
chli gange
i dä zwöscherüüm
häsch mi
lang
la hange

weisch
häsch gseit
wänns druf aah chond
besch mis nummero eis
das hät mer en bode gäh
sesch sowiit cho
wiäs niä hätti dörfä

mängisch seisch
au wänns weisch
was nöd meinsch
das esch halt ä so besch chli vorbii cho
chli gange
i dä zwischerüüm
häsch mi
la hange

dänn han i der gseit
i chöng das nöd verträge
teilziitliäbi seg nöd so miis
du häsch gmeint
das liess sich nöd änderä
es seg dini verpflechtig
das müesst i doch wüssä
dänn esch mer i sinn cho
dass du eine besch
wo mängisch seid
au wänn er s weiss
was er nöd meint
das esch halt ä so

besch einä wo siis
verspräche haltet
au wänn er s scho
längschtens
brochä hät chli cho
chli gah
chli hange lah
chli bliibä
chli liäbä
chli pfupf uselah

han dech gfröged
öb sech dis konzept
nöd gäge dech richtet
öb das diä art esch
wiä du läbe wellsch
s gaht no om vell meh
esch dini antwort gsi
wellisch nöd alles verlüre
was du der uufbaut hegsch

verschtah di scho
han i zu der gseit
was hätti au soscht
no wellä

weht tuäts mer scho
ond öppe so
wiä gluät of dä huut
ha de glii afaah chränkelä
der versuecht z erkläre
wiä s mer so gaht
häsch gfundä
nemms doch locker
mach der kei gedankä
so wiä ech
han i probiert
häd nöd funktioniert

mängisch seisch
au wänns weisch
was nöd meinsch
zwingsch dis muul
öppis z plapperä
wo i der drinn nöd esch
kei ahnig wiä du
of so en idee cho besch

diä schpuur wo du mer gleit häsch
han i falsch verschtandä
wiä du seisch
ond wänn du öppis seisch
dänn esch es gültig
nemmä alles of mini chappä
s tuät öberall öppä glich fescht weh
wiä gluät of dä huut

han mini lippä wond küsst a der
mech i der neu geboräh
han glaberet
vo geborgäheit
ond vertrouä
be blend gsi
taub
ond resischtänt
han zu der gseit
was i nöd gwüsst han
aber gmeint
han mis glück
wellä erzwingä
met dem
was i der inne
nöd esch

schön gsi
so en momänt lang
wie zäme flüügä
mit tuusigä vo schmätterling
well mi no einmol met der betrügä
mech a dech verschänke
i der umächrüchä
a der schnupperä
met der zäme schnuufä
ond du seisch mer
was nöd meinsch
ond ech meine
was i nöd weiss
ond wänn du dänn
chli gasch
esch es för emmer
soscht würdsch
weder
chli cho
chli bliibä
chli liäbä
chli pupf uselah
för langi ziit
mech hange lah
würdsch mer
de schmuus bringä
am telefon
e paar pics vo der schickä
ond so
mini gfühl wäred
nöd so wechtig
wie dini verpflichtig
vo mir chli träume
häsch immer gseit
sig doch au no schön

han dech lieb
du mech au
nur nöd so richtig
verbring dis läbe
met dinä träum
s esch bald wiehnachtä
han s etz begriffä
lah dech la gaah
besch nöd min maah

s tuet öberall öppe
glich fescht weh

wiä
gluät
of
de
huut

säge der zum abschied
wird dech niä vergässe
dänn mängisch seisch
obwohl das weisch
nöd was meinsch
zwingsch dis muul
öppis z plapperä
wo i der drinn
nöd esch
kei ahnig
wiä du
uf so en idee
cho besch.

 

Gabriela Cheng-Voser ist fasziniert vom Schreib-Sog. Veröffentlichung von Prosa in Anthologien und als Gastautorin seit 2014. Lesungen u.a. 2019 Brüche im Literaturhaus Zürich, „Albert“ Hörgang München, 2021 mit „Acht Gramm“ Shortlist Deutscher Kurzgeschichtenwettbewerb (publiziert auf storyapp.de). Beschäftigt sich aktuell intensiv mit lyrischmusikalischen Reisen. Wird hierbei von Nic Niedermann an der Gitarre begleitet. Arbeitet mitunter neu unter dem Pseudonym Iggy. Führt weiters einen Roman im Gepäck, den sie schon viermal neu begonnen hat. Die Verzettelung wartet auf sie in einem Karton, den sie erst wieder öffnet, wenn sie genügend Zeit dafür hat, den Roman so zu schreiben, wie er geschrieben werden will.

https://www.storyapp.de/ (Die Namen der gewünschten Autorinnen und Autoren können in der Suchfunktion eingegeben werden).
https://www.qultur.ch/artikel/lila

Beate Tröger «Weihnachten 1944», 7. unschöne Weihnachtsgeschichte

Sie hat die Geschichte gegen Ende ihres Lebens an jedem Heiligen Abend ihrer jüngsten Enkelin wiedererzählt. Da lebte sie schon seit Jahren allein, manchmal einsam, oft aber umringt von Besuch, in dem kleinen Haus auf dem Hügel, das sie in den späten Dreißigerjahren auf dem Grundstück gemeinsam mit ihrem Mann gebaut hatte, den sie letztlich um 13 Jahre überlebte.
„Wir haben uns das Grundstück urbar gemacht“, sagte sie, wenn sie davon sprach, wie sie und ihr Mann, der dahergelaufene Katholik, der Tagelöhner im Granitsteinbruch, der mit anderen wandernden Gesellen zu Mitte der Dreißigerjahre aus Niederbayern ins protestantisch geprägte Oberfranken gekommen war, weil es dort, anders als im Bayrischen Wald, zumindest noch Arbeit gab. Die jungen Männer schliefen auf einer Tenne im Dorf, abends bekamen sie ihren Lohn und konnten etwas essen.
Das Dorf ist klein, bis heute, es liegt am Ende einer Straße, die von der nächstgrößeren Ortschaft aus durch den Wald dorthin führt. Bis heute kennt dort jeder jeden. Das war auch damals so. Es war nur eine Frage der Zeit, dass sie ihn kennenlernte, vielleicht dauerte es länger, bis sie sich verliebte, aber es geschah. Er, der schön singen konnte und einen wilden, strahlenden Humor hatte, dazu dunkle Haare, die verschmitzten dunklen Augen einer Amsel. Sie wurde schwanger. Sie wusste es zuerst, sie sprach nicht darüber, zuerst nicht, auch nicht, als sie bei einer Tante einige Dörfer weiter zu Besuch war, die Tante erzählte, ein Mädchen aus dem Dorf habe sich in einen Katholiken verliebt, sie werde ihn heiraten. Die Tante sagte: Pfui Teufel. Sie aber, mit dem winzigen Fötus im Bauch, sagte später immer: „Als ich das hörte, wusste ich, wie über mich gedacht werden wird.“
Das Kind wuchs. Sie gestand die Schwangerschaft und die Verliebtheit den Eltern. Der Vater, der sich schon ausgerechnet hatte, dass sie den reichsten Bauernsohn aus dem Nachbardorf heiraten sollte, war außer sich, aber immerhin pragmatisch genug, dem ungeliebten Tagelöhner ein Bett im Haus für so lange zu gewähren, bis später das Grundstück oberhalb des Dorfes gerodet, das Wurzelwerk aus dem Acker gezogen, das Fundament des kleinen Hauses mit dem Satteldach, mit den Schrägen in den drei kleinen Zimmern des ersten Stocks, mit dem ausgemauerten Keller, fertig war.
Da war die erste Tochter schon geboren. Sie kam im Dezember 1936 zur Welt. Im Oktober zuvor war die Trauung vollzogen worden. Es gibt bis heute ein Foto davon. Man sieht die beiden vor einem dunklen Vorhang im Photoatelier der Kreisstadt, sie trägt ein dunkles Kleid, das den schon recht sichtbaren Bauch kaschiert, er einen dunklen, schlecht sitzenden Anzug. Ihre Eltern waren an diesem Tag auf dem Feld, Kartoffeln graben, seine Mutter schon seit Jahren tot, am Heiligen Abend im Stall des Hofes von einer Kuh beim Melken zwischen die Rippen getreten, sein Vater zwar noch am Leben, aber die Reise zur Eheschließung hatte er nicht angetreten.
Nach dem Vollzug der Eheschließung, auch das gehörte zu ihrem festen Geschichtenrepertoire, hatte ihre Patentante den beiden Brautleuten einen Kaffee gekocht, danach waren sie wieder heimgelaufen. Was sie wohl miteinander geredet haben? Waren sie wenigstens für Momente ausgelassen, weil jung und sie guter Hoffnung?
Als das Haus auf dem Hügel fertig war, zogen sie hin, es blieben ihnen zwei Jahre dort, die er tagsüber arbeitend im Steinbruch verbrachte. An den Abenden und am Sonntag legte er einen prachtvollen Obstgarten an, er wusste, wie man Bäume veredelt, ein Birnbaum vor dem Haus trug, nachdem er ihn gepfropft hatte, zweierlei Sorten Birnen, er schaffte Bienen an, damit die Bäume bestäubt wurden.
Dann kam der Krieg. Er wurde gleich nach dem 1. September des Jahres 1939 eingezogen. Sie blieb zurück mit der knapp Dreijährigen. Wovon sie lebte, davon sprach sie später nicht mehr. Es wird auch dank der Unterstützung der Eltern möglich gewesen sein, die sich gegen die Hochzeit gewandt hatten.
Die Jahre gingen ins Land, der Krieg dauerte an. 1939 war sie 26 Jahre alt, eine junge Frau, die gut nähen, kochen, tanzen konnte, die gerne lachte, bis ihr das Lachen verging. Sie sah in der Nachbarstadt den Pfarrer, der von SA-Männern durch die Straßen getrieben wurde, um den Hals ein Pappschild: „Ich bin das allergrößte Schwein, ich lass‘ mich auch mit Juden ein!“. Sie sah von ihrem Grundstück auf dem Hügel am Ende des Dorfes die unten auf der gegenüberliegenden Seite des Dorfs im Tal vorbeigetriebenen Trosse von Inhaftierten, die nach Flossenbürg getrieben wurden. Als sie es zum ersten Mal sah, sagte sie zu ihrer Mutter, man müsse diesen Menschen doch wenigstens Wasser bringen und erhielt zur Antwort: „Anna, versündige dich nicht, du hast ein kleines Kind!“ Sie verdunkelte die Fenster ihres etwas abseits liegenden Dorfes und hörte BBC. Später sagte sie oft diesen Satz: „Wir haben es alle wissen können, wir haben es alle gewusst.“
Hin und wieder kamen Briefe aus dem Feld. Harmlose Briefe, man wusste um die Zensur und war vorsichtig in der Wahl der Worte.
Im Frühjahr 1944 erhielt ihr Mann Heimaturlaub. Er kam aus Russland, hatte die Schlacht von Stalingrad überlebt, durfte auf dem Hof seiner Schwiegereltern bei der Aussaat helfen, die in dieser kalten, kargen Mittelgebirgsgegend spät anberaumt worden war.
Was sie in dieser Zeit miteinander sprachen, bleibt ihr Geheimnis.
Einige Wochen später schrieb sie ihm: „Alois, wir erwarten ein zweites Kind“. Der Brief kam zurück, ein „Vermißt“-Stempel war ihm aufgestempelt worden.
Weihnachten 1944, so hat sie es wieder und wieder erzählt, war bitterkalt, die Gegend war tief verschneit. Um die Mittagszeit am Heiligen Abend packte sie etliche Päckchen mit selbstgebackenen Keksen, sie zog sich und die kleine Tochter warm an und lief mit ihr durch den Wald in den Nachbarort, wo im Lazarett zahlreiche Verwundete zur Versorgung untergebracht waren. An sie verteilte sie die Päckchen.
Wenn sie die Geschichte erzählte, vergaß sie nie zu erzählen, wie sehr sich die Männer freuten und wie sehr sie sich wünschte, ihr Mann möge noch leben und etwas zu Weihnachten bekommen.
Sie ging nachher mit ihrer Tochter in den Gottesdienst, dann liefen sie durch den Wald wieder nachhause. Das Angebot der Mutter, doch im Elternhaus im Dorf zu feiern, hatte sie ausgeschlagen. Sie habe ihre eigene Familie, sagte sie, und so erzählte sie es immer wieder, sie habe sich dessen bewusst sein und bleiben wollen und sei erst am nächsten Tag hinunter gegangen ins Dorf
Wenn sie, die weniger fromme als weltliche, aber doch tief ihrem Glauben Verbundene die Geschichte erzählte, immer nur am Heiligen Abend, sagte sie: „Weihnachten 1944 war mein einsamstes und traurigstes Weihnachten, aber ich wusste in diesem Moment, dass ich so nah bei Gott war, wie man es im Leben sonst kaum sein kann.“ Sie hatte die Tochter ins Bett gebracht, saß am Fenster ihres kleinen Wohnzimmers und schaute hinaus in die Weite, man hatte einen wunderbaren Ausblick aus diesem Fenster, hinunter zu den Lichtern des Dorfes, hinter dem das Tal in eine bewaldete Hügelkette überging, und in Schneenächten erleuchtete der Schnee die Dunkelheit in eine paradoxe Helligkeit.
Bis ins Jahr ihres Todes verbrachte sie seitdem Jahr um den Heiligen Abend dort, in diesem kleinen Wohnzimmer. Nie nahm sie später für diesen Abend Einladungen ihrer Kinder an, weder von der älteren, die damals mit ihr unter einem Dach lebte, noch von der jüngeren Tochter, die am 27. Januar 1945, also einen Monat nach diesem besonderen Tag, in einer eiskalten Winternacht auf die Welt kam.
Im Sommer 1949, die jüngere Tochter spielte draußen vor dem Haus, kam der Mann unverhofft und unangekündigt aus russischer Gefangenschaft zurück. Ein fremder, abgemagerter Mann, so erzählte die jüngere Tochter, sei den Hügel hinan nähergekommen, er sei wortlos an ihr vorbei durch die offene Haustür in die Küche gegangen und habe gesagt: „Ich habe Hunger,“ vom Essen, das ihm hingestellt wurde, aß er, bis seine Frau es ihm entschieden wegnahm.
Als sie die Geschichte der jüngsten Enkelin erzählte, die dank einer frisch erworbenen Fahrerlaubnis von Weihnachten 1991 an immer in den Nachmittagsstunden des Heiligen Abends zu ihrer Großmutter fuhr, um die Geschenke der Familie zu bringen, saßen die zwei immer am gleichen Platz auf dem einen der zwei Sofas in dem kleinen Wohnzimmer. Sie saßen nebeneinander, sie tranken Tee, die Geschichte wurde erzählt, es gab kaum Varianten im Text. In der Stube war es warm. Der Großvater war 1982 an den Spätfolgen des Kriegs, gestorben, der ihm große Teile seines Magens gekostet und Gelenkrheumatismus eingebracht hatte.
Wenn sie die Geschichte von Weihnachten 1944 erzählt hatte, wenn der Tee ausgetrunken war, sagte sie: „Es ist schön, wenn man nicht allein ist an Weihnachten, aber es ist auch gut, es zu lernen, dass es so sein kann. Du fährst jetzt wieder zu den Deinen, und ich weiß, wie es geht.“ Ihr Lächeln war weich, ihre Umarmung herzlich wie immer.
Als sie im Juli 1995 starb, war die Kirche zu klein, um die Trauergemeinde aufzunehmen. Die Leute standen im Vorraum der Kirche und die gesamte Kirchentreppe hinunter bis auf den Dorfplatz.

Für meine Großmutter Anna Klessinger (1913-1995), meinen Großvater Alois Klessinger (1912 -1992) und meine Mutter Rita, geborene Klessinger, die am 27. Januar 1945 auf die Welt in die Ungewissheit gekommen ist. Und für alle Schwangeren, alle Mütter, Väter und Kinder, die aufgrund eines Krieges voneinander getrennt worden sind, und zur Stunde nichts voneinander wissen.

Beate Tröger, geboren in Selb/Oberfranken, studierte Germanistik, Anglistik und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Erlangen und Berlin. Sie ist Literaturkritikerin, Moderatorin und Jurorin und lebt in Frankfurt am Main. Tröger ist Jurorin der SWR-Bestenliste, kürt mit Björn Jager und Carolin Callies die Träger des Wiesbadener Orphil-Preises für Lyrik. 2018 war Beate Tröger eine der Jurorinnen beim Münchner Lyrikpreis und 2018, 2020 und 2021 für den GWK-Förderpreis Literatur, ab 2019 gehört sie den Jurys für den Gertrud Kolmar Preis und den Peter-Huchel-Preis an, seit 2021 auch der Jury für den Brüder Grimm-Preis der Stadt Hanau und der Jury für das „Buch des Monats“, Darmstadt.

 

Uli Wittstock «Bescherung auf Station 17», 6. unschöne Weihnachtsgeschichte

Schwester Gerlinde hat wohl das Flurlicht abgedunkelt, und ist in die Küche gewechselt, um die Reste des Stollens zu entsorgen. Das zumindest vermutet Pjotr, denn sie beide sind jetzt noch das Rumpfteam auf der Station, das allerdings in einer halben Stunde aufgefüllt werden wird, um dann einen guten Eindruck zu hinterlassen. Die Bewohner der Station waren nach dem Mittag alle noch einmal gebadet worden, doch Frau Mönkemeier hatte ein Stück Stollen zu gierig verschluckt, obwohl Pjotr ihn schon in Bonbongröße geschnitten hatte. Erst kamen aus ihrem Mund der Husten und in der Folge noch etwas mehr, Reste des Mittagsbrotes vor allem. Pjotr hatte bereits die Tischdecke in dem Wäschesack gestopft, Frau Mönkemeier in ihr Zimmer gefahren und ihre Bluse gewechselt, eine grüne, die nicht so recht zu ihrer beigen Jogginghose passen mochte. Aber vor Monaten, als Frau Mönkemeier noch sprach, hatte sie von der mit hellen Rüschen besetzten Bluse als ihrem Lieblingsstück gesprochen. Der Stoff ist inzwischen ein wenig verblichen, doch zeigt der Schnitt noch immer deutlich, dass Frau Mönkemeier in ihrem Leben viel Wert auf Eleganz gelegt hatte. Dass jetzt ein Lächeln über ihr Gesicht gleitet, könnte Pjotr sich einbilden, dazu allerdings ist er zu lange auf der Station, um solchen Täuschungen noch zu erliegen. Er knöpft die Bluse bis zum Hals zu, was kein Problem ist, da Frau Mönkemeier offenbar immer kleiner wird und zwischen den Hautfalten des Halses und dem Kragen nunmehr ein fingerbreit Platz ist. Dann dreht er den Rollstuhl in Richtung Fenster, mit Blick auf den Garten und das dezemberkahle Geäst zweier Platanen, wetterseitig Krähenschwarz. Im Speisesaal hat die Frühschicht bereits die Festtafel eingedeckt, Pjotr geht zum Weihnachtbaum und schaltet die Beleuchtung ein, buntes Geflacker, was eigentlich die Hausleitung mit Verweis auf die Energiekosten untersagt hat. Nur noch zu den Festtagen und nur von 18 bis 20 Uhr, so die Mail, die an alle im Haus ging. Doch seit dem Mittag ist der Parkplatz der Geschäftsleitung verwaist, und mit Flatterband abgesperrt, wohl für den hohen Besuch, der erwartet wird. „Ja mach ein bisschen Stimmung für den trüben Laden.“ Schwester Gerlinde steht hinter ihm und schaut nun ebenfalls auf die flackernden Lichter und die großen Kugeln dazwischen, die sich irgendwie lieblos in den dürren Zweigen der Fichte verteilen. Für den Weihnachtbaum ist der Hausmeister zuständig. An den Weihnachtsfeiertagen übernimmt Schwester Gerlinde grundsätzlich den langen Dienst. Sie habe wohl eine Tochter, so munkelt man im Team, doch der Kontakt sei vor Jahren abgebrochen. Pjotr wird noch heute Abend zu Hause anrufen, auf einer knarzenden Leitung weit über den Grenzfluss Richtung Osten, wenn dort die Bescherung vorbei ist, die auch in diesem Jahr gesichert ist, nicht zuletzt dank seiner monatlichen Überweisungen. „Die olle Steinberg kommt nachher persönlich.“ Schwester Gerlinde streicht, während sie spricht, mit ihrer rissigen Hand über die Tischdecke, um die letzten Falten zu glätten. Es sind genau diese Feinheiten, auf welche die Chefin großen Wert legt, und es das Team noch tagelang spüren lässt, wenn sie es für nötig erachtet, mit einem Bombardement von Mails, die gesamte Einrichtung an ihrer Enttäuschung teilhaben zu lassen. Nur der inzwischen nicht mehr zu leugnende Personalmangel hält sie offenbar davon ab, in solche Fällen schärfer zu reagieren. „Du kannst doch schon mal die Geschenke holen“ sagt Gerlinde und blickt mit einer gewissen Zufriedenheit über den Tisch, bevor sie die Teller so dreht, dass sie exakt ausgerichtet sind. Pjotr fühlt sich an das Schneidwerkzeug einer Erntemaschine erinnert, die sichelscharfen Teller, mit dem das alte Kraut vom Acker gesenst wird. Im Aufenthaltsraum steht seit gestern der Korb mit den Geschenken, dreiundzwanzig exakt gleiche Pakete, eingeschlagen in ein grünes Weihnachtspapier, und aus naheliegenden Gründen nicht mit einer Schleife umwickelt. „Sie glauben gar nicht, was der Mensch alles schlucken kann“ hatte jüngst die olle Steinberg bei einer der Stationsversammlungen erklärt und dabei gegrinst, als sei ihr die Mehrdeutigkeit des Satzes selber aufgefallen. Doch die Chefin ist niemand, die sich in Mehrdeutigkeiten ergeht. Pjotr wuchtet den Korb auf den Essenswagen und rattert ihn über den Flur zum Baum. An einer besonders kahlen Stelle stapelt er eine Art Weihnachtspyramide auf, für deren Spitze er allerdings noch einen Stern benötigt hätte oder auch ein Kreuz. Aber ein solches sucht man auf der Station vergebens, was nicht wundert, denn die wenig einladende Region, für welche die Einrichtung ihre Dienste vorhält, hat der Heilige Geist schon vor mehreren Generationen verlassen. „Noch zehn Minuten“ ruft Schwester Gerlinde vom Flur und öffnet die Zimmertüren. Die wenigsten der Stationsbewohner werden selbstständig den Weg zur Bescherung finden. Einige von ihnen verlassen ihr Bett ohnehin nicht mehr, die müssen nun zuerst in Richtung Baum geschoben werden. Geübt bugsiert Gerlinde den Herren aus Zimmer sechs und dreht das Bett so, dass der Weihnachtbaum gut im Blick ist. Pjotr folgt mit einer weißhaarigen Dame, deren Haut so durchscheinend ist, wie das Papier der Sterne am Fenster, hinter denen sich nun allmählich jene Dunkelheit ergießt, welche wohl zur Weihnacht gehört und die Lichterketten besonders glänzen lässt. „Das sieht doch jetzt wirklich gut aus“ sagt Schwester Gerlinde mit einer gewissen Zufriedenheit, als hätte sie gerade das Personal einer Weihnachtskrippe eingewiesen. Der Herr aus Zimmer sechs bewegt wie zur Bestätigung seinen Kopf. Kurz darauf haben sie die Betten im Flur so zusammengeschoben, dass für den Besuch noch ausreichend Platz bleibt. Dann huscht ein Lichtschein über die Wand, nicht der Weihnachtsstern, sondern das Fernlicht der Limousine, die nun in den Hof einfährt. Es sind offenbar mehrere Fahrzeuge, denn nun tanzen weitere Lichtflecken über den Flur. Pjotr läuft nun auf die andere Seite bis ans Ende des Gangs, um Frau Mönkemeier zu holen, der Herr aus Zimmer drei kommt ihm bereits entgegen. Frau Mönkemeier scheint sich kein bisschen bewegt zu haben, seit Pjotr sie zum Fenster geschoben hat, hinter dem die Dunkelheit nunmehr ziemlich vollendet ist. Nach einem kurzen prüfenden Blick löst Pjotr die Bremsen und schiebt die Dame zur Festtafel neben dem Baum. Der Herr aus Zimmer drei ist bereits angekommen und die übrigen Bewohner folgen allmählich, teils von Schwester Gerlinde unterstütz. Dann springt die Stationstür auf, als hätte sie jemand eingetreten. So pflegt nur die olle Steinberg durchs Haus zu poltern, im Schlepptau hat sie drei sogenannte Freiwillige aus der Frühschicht, die jetzt das Team verstärken sollen, damit der Heilige Schein im Pflegeheim auch wirklich gewahrt ist. „Toll, toll, toll – sehr weihnachtlich“ schnarrt sie über den Flur. In einer anderen Zeitrechnung soll sie Pionierleiterin gewesen sein. „Heute darf nichts schiefgehen, wir sind nachher immerhin in den Spätnachrichten zu sehen.“ Sie wirft noch einen kurzen Blick über das Arrangement mit Weihnachtsbaum, Geschenken und Festtafel, dann nimmt sie neben der Tür Aufstellung, bereit den hohen Besuch zu empfangen. „Uowarchs“ – plötzlich hallt ein Schrei über den Flur, der eher nach einem schwarzen Vogel als nach einem Menschen klingt. Der Herr von Zimmer drei äußert sich so, wenn er wegen irgendetwas aufgeregt ist. Pjotr geht zum ihm hinüber und legt die Hand auf seinen Arm. In diesem Moment geht die Tür erneut auf, und zwei große Rücken zwängen sich hindurch, mit geschulterter Kamera und einer Mikrofonangel. Der mit der Angel schiebt die olle Steinberg zur Seite, stellt sich dann vor sie und ruft „Kannst“. Nun folgt ihm der Kameramann, noch immer vorsichtig rückwärts gehend, und dann, deutlich kleiner, der Ministerpräsident, dessen dünnes Haar im Licht der Kamera aufscheint wie ein brennender Dornbusch. Die olle Steinberg will sich vordrängeln, doch der Mann mit der Mikrofonangel versperrt ihr weiter den Weg. Als nächstes, nahezu Türfüllend, folgen drei junge Männer, die den Eindruck erwecken, als würden sie Weihnachtsbäume mit der Hand pflücken, wahrscheinlich die Bodygouards. Der kleinste von ihnen stellt sich neben den Tonangelmann, so dass die olle Steinberg nun regelrecht eingekeilt ist. „Im Kasten“ ruft der Kameramann. Nun strömen weitere Menschen nach, ein Fotograf mit einem Ofenrohrartigen Objektiv vor dem Bauch, eine junge Frau mit Notizblock sowie mehrere junge Männer im Anzug, wahrscheinlich aus der Protokollabteilung. „Dann machen wir jetzt die Begrüßung.“ Der Kameramann stellt sich in Richtung Baum. „Herr Ministerpräsident, bitte hierher“ ruft er und winkt zugleich zur ollen Steinberg. „Achtung und Bitte.“ Während die Chefin versucht, sich am Tonmann vorbei zu schlängeln, schreit erneut der Herr von Zimmer drei. Die drei Bodyguards straffen sich und blicken noch finsterer, als sei schon Karfreitag und nicht erst Weihnachten. „Herzlich willkommen Herr Ministerpräsident. Wir freuen uns sehr, sie hier bei uns begrüßen zu können. Weihnachten feiern wir hier immer in großer Familie und sind stolz, dass sie heute unter uns weilen.» Warum die olle Steinmeier den Text von einem Zettel abliest, versteht Pjotr nicht, ebenso wenig wie die Antwort des Ministerpräsidenten, der sich nicht nur ins Amt genuschelt hat, sondern auch seitdem daran festhält, weitgehend unverstanden vor sich hin zu regieren. Der Fotograf hat das Objektiv in Stellung gebracht, das nun kanonenartig vor seinem Gesicht in den Raum ragt und schießt Blitzsalven ab. Dann, gewohnt voran zu gehen, wendet sich der Ministerpräsident in Richtung Weihnachtsbaum. Freundlich lächelnd und winkend geht er an den Betten vorbei, greift mal eine heraushängende Hand und schüttelt sie kräftig und hätte beinahe auch nach einem Fuß gegriffen, wenn die olle Steinberg ihn nicht einfach weitergeschoben hätte. Der Tross bewegt sich in Richtung Baum. „So jetzt noch mal bitte zu mir schauen.“ Der Kameramann steht mit leicht gebeugten Knien, hinter ihm der mit der Tonangel. Mit beiden Händen, als würde er nach einem Betonblock greifen, packt der Ministerpräsident eines der Geschenkpakete und bringt es hinüber zum Tisch. „Moment, sie sollten es direkt jemanden übergeben“ ruft der Kameramann und dreht sich zurück in Richtung Baum. „Also bitte noch einmal.“ Der Ministerpräsident greift erneut zu, blickt sich kurz um und geht dann zielstrebig auf Frau Mönkemeier zu. Pjotr hat in diesem Moment ein irgendwie ungutes Gefühl, doch da steht der kleine Mann schon vor ihrem Rollstuhl und legt das Geschenk vorsichtig auf ihre Knie. Diesen Augenblick nutzt nun der Mann mit dem Kanonenobjektiv und sorgt mit einer Kaskade von Serienblitzen für heftiges Geflacker. Später wird man darin möglicherweise den Auslöser für die weiteren Vorfälle sehen, was aber jetzt noch keiner wissen kann. Dieser Ort ist kein Platz für Hellseherei. Zunächst geht ein Zittern durch den dünnen Körper von Frau Mönkemeier. Ihre Hände krallen sich in die Griffe des Rollstuhls, so dass ihre Knöchel weiß hervorstehen. Ihr Mund bewegt sich, doch es fehlt nicht an Luft, sondern offenbar an Worten. Pjotr versucht am Kameramann vorbei zu kommen, um die Dame zu beruhigen, als sie sich plötzlich aufrichtet, mit einer Hand noch immer den Rollstuhl festhält und den anderen allmählich nach oben hebt. Dazu parallel strafft sich ihr kleiner Körper. Dann, mit einer überraschend jugendlichen Stimme, ruft sie: „Heil Hitler, mein Führer.“ Der Arm sinkt herab und sie versucht einen Schritt in Richtung des Ministerpräsidenten, doch der weicht zurück. Von rechts wirft sich nun der kleine Bodyguard dazwischen, die anderen beiden kommen von der anderen Seite, bringen Frau Mönkemeier zu Boden, wobei der Rollstuhl stört. Von einem kräftigen Tritt in Schwung gesetzt, rollt der in den Weihnachtsbaum, der erst gefährlich schwankt und dann schließlich umstürzt und mit der Spitze den Kameramann trifft, der vor Schreck in Knie geht und dann nach hinten kippt, die Kamera wie eine Truppenfahne nach oben haltend. „Uowarchs“ schreit der Herr aus Zimmer drei. Dann zieht für einen Moment weihnachtliche Stille ein. Pjotr blickt in die ramponierte Weihnachtlandschaft, aus der nun der Ministerpräsident herausgezogen wird, als hätte es einen Erdstoß gegeben. Die Spätnachrichten werden wohl ihre Programmplanung ändern müssen.

Uli Wittstock, geb. 1962 in Lutherstadt Wittenberg, aufgewachsen in Magdeburg. Nach dem Abitur hat er einen dreijährigen Ausflug ins Herz des Proletariats unternommen: Arbeit als Stahlschmelzer im VEB Schwermaschinenbaukombinat Ernst Thälmann. Anschließend studierte er evangelische Theologie. Nach der Wende hat er sich dem Journalismus zugewendet und ist seit 1992 beim MDR. Er schreibt regelmäßig Kolumnen und Kommentare.

Martina Altschäfer «Ginger und Fred», 5. unschöne Weihnachtsgeschichte

Eigentlich hatten Tom und ich geplant, nur einen Wellensittich anzuschaffen. Dann aber wurden wir belehrt, es gäbe für gesellige Papageienvögel nichts Schlimmeres, als ihr Leben in Einzelhaft in einen Käfig eingesperrt verbringen zu müssen und kauften doch zwei. 
Die beiden Wellensittiche, die wir direkt von einem Züchter erwarben, waren dottergelb und, wie er uns versicherte, in seiner Voliere bestens miteinander ausgekommen.
Das erwies sich leider als Fehlinformation. Vielleicht hatte er sie verwechselt – Wellensittiche können einander sehr ähnlich sehen – vielleicht hatte er sie uns absichtlich angedreht, weil er sie los sein wollte, denn bereits kurz nach ihrem Einzug in ihr neues Zuhause zeigten sie deutlich, wie wenig sie einander mochten. Auch waren die Vögel mit Sicherheit älter, als der Züchter angegeben hatte. Das schlossen wir aus dem umfangreichen Schatz übelster Schimpfwörter, den sie sich nicht von heute auf morgen angeeignet haben konnten und aus dem sie in lautstarken Auseinandersetzungen ausdauernd schöpften.
Als uns bewusst wurde, dass unser Sohn Bruno, der damals anderthalb Jahre alt war und eben mit dem Sprechen begann, ihnen allerhand Schwachsinn ablauschte, war es für einen Umtausch bereits zu spät. Da hatten wir die Vögel schon Ginger und Fred getauft und uns durch die Namensgebung emotional selbst die Hände gebunden.

Bruno stand zu dieser Zeit bereits stabil auf seinen dicken Beinchen und verbrachte viel Zeit vor dem Vogelbauer. Er hatte große Freude an Ginger und Fred, und wenn er sich an den Gitterstäben ihres Käfigs festhielt und „Ginnifett“ krähte, nahmen die beiden das als willkommene Einladung und sausten zu seinem Entzücken wie wildgewordene Torpedos durch den Käfig. Obwohl wir unseren Sohn immer wieder ermahnten, die Finger von ihrem Türchen zu lassen, fummelte er ständig daran herum. Zu spannend war die Herausforderung, ob es ihm gelingen würde, den Klemmhaken ebenso geschickt zu lösen, wie wir es ihm Tag für Tag demonstrierten.
Wir hatten unseren offenen Wohnbereich so gut es ging wellensittichsicher gemacht und ließen die Vögel regelmäßig und immer um die gleiche Zeit zum Fliegen aus ihrem Bauer. Zugegebenermaßen taten wir das nicht nur, weil wir Wert auf eine möglichst artgerechte Haltung legten, es war auch eine gehörige Portion Eigennutz dabei. Die täglichen Flugstunden brachten nämlich nicht nur den Wellensittichen Entspannung. Wenn sie sich ausgetobt hatten und wieder in ihrem Käfig hockten, waren sie so müde, dass sie für eine Weile ihre schandmäuligen Schnäbel hielten.
Für ihre Stunde in Freiheit hingen sie bereits lange vorher ungeduldig zappelnd an den Stäben ihres Türchens, und wenn es geöffnet wurde, drängten sie sofort hinaus. Man hätte meinen können, sie würden dann, um endlich Ruhe voreinander zu haben, in unterschiedliche Richtung fliegen, aber sie flogen vollspeed und Flügel an Flügel zum Fenster und hängten sich dicht nebeneinander kopfüber oben in die Gardine. Dabei verhedderten sich jedes Mal ihre kleinen Krallen im Gewebe. Außerhalb unserer Reichweite fochten sie dort einen täglich wiederkehrenden Wettbewerb miteinander aus, aus dem der als Sieger hervorging, dem es zuerst gelang, die Krallen aus den Schlingen zu befreien.
Der Kampf mit den Fesseln dauerte Minuten, in denen sie bis zur Erschöpfung mit den Flügeln schlugen und unverständliches Zeug vor sich hin krächzten. Der Abstand zwischen Sieger und Verlierer betrug stets nur Sekunden, so dass sie zum Schluss doch wieder gemeinsam gen Boden segelten. Hier verzogen die Kontrahenten sich unter einen Stuhl und hüpften mit letzter Energie in Drohgebärden gegeneinander an, als trüge der jeweils andere Schuld an der Gefahr, der sie soeben ausgesetzt waren.
So ging das jeden Tag und änderte sich selbst dann nicht, als kurz vor Weihnachten zwei Katzen bei uns einzogen.

Das mit den Katzen war keine kluge Entscheidung und zu unserer Entschuldigung kann ich nur anführen, dass wir sie auch nicht bewusst trafen. Aber eines Abends saß zitternd ein kleines getigerte Katzenbaby auf der Matte vor unserer Terrassentür und miaute herzzerreißend. Es waren noch sieben Tage bis Weihnachten, draußen war es ungemütlich kalt und windig und um das Elend des Kätzchens zu untermalen umwehten die jämmerliche Gestalt erste Schneeflocken. Ich hatte umgehend vor der Gesamtsituation und dem mitleidheischenden Kullerblick kapituliert, ohne lange zu überlegen die Tür geöffnet und das frierende Etwas aufgehoben. Das Kätzchen war leicht wie eine Feder und schien nur aus Knochen, Fell und eben diesen riesengroßen Augen zu bestehen. Ich brachte es ins Warme und erst als der Winter wieder ausgesperrt war, bemerkte ich eine zweite Katze, die sich hinterrücks ins Haus geschlichen hatte und nun um meine Beine strich.
Selten hatte sich eine gute Tat so schnell verdoppelt.
Wir überschlugen kurz die Konsequenzen und dann setzte Tom sich ins Auto und fuhr zum Supermarkt, weil die Katzen Hunger hatten. Er kaufte eine ganze Palette Bio-Katzenfutter der Marke „cat royal – servierfertig“. Ich fand das etwas übertrieben, denn das Futter kostete ein Vermögen, aber Tom hatte den Etiketten, die zarte Häppchen in Gelee vom Geflügel mit Herz oder feines Ragout vom Weiderind an Pastinakencreme versprachen, nicht widerstehen können. Er brachte auch eine Katzentoilette und
geruchsmindernde Einstreu mit. Das wiederum erwies sich als sinnvolle Anschaffung, denn einmal im Warmen weigerten sich unsere neuen Mitbewohnerinnen, das Haus auch nur für den kleinsten Moment zu verlassen.

So kurz vor Weihnachten verstand es sich von selbst, dass wir die Katzen, die offensichtlich Mutter und Tochter waren, über die Feiertage beherbergten. Obwohl uns bewusst war, dass es danach, wenn viele Menschen ihre tierischen Fehlkäufe wieder los werden wollten, schwieriger werden würde, für sie einen Platz im Tierheim zu bekommen, hätte es sich falsch angefühlt, sie gleich dort hinzubringen.
Sicherheitshalber gaben wir ihnen keine richtigen Namen. Wir wollten nicht in die Ginger-und-Fred-Falle tappen und uns eine distanzierte Haltung bewahren und nannten sie daher einfach Mam und Babe.
Denn dass sie nicht bei uns bleiben konnten, stand spätestens nach der ersten Flugstunde unserer Wellensittiche felsenfest. Die Schwierigkeiten hatten eigentlich schon damit begonnen, dass Mam den alten Sessel im Wohnzimmer zu ihrem Lieblingsplatz erwählte. Von ihm aus hatte sie den perfekten Blick auf den Vogelbauer im Esszimmer und ließ sich im Weiteren auf keines der Tauschangebote, die wir ihr unterbreiteten, ein.
Von morgens bis abends lag sie wie eine Königin auf diesem Sessel und verfolgte interessiert Ginger und Freds Treiben. Fairerweise muss ich ihr zugestehen, dass sie keine Anstalten machte, sich den Vögeln zu nähern. Sie schien sogar ihrer Tochter beizubringen, die Wellensittiche zu respektieren. Ich konnte förmlich hören, wie sie Babe instruierte, Ginger und Fred wären keine Beute, es wären so eine Art Brüder, die von uns Menschen geliebt, gehegt und gepflegt würden. „Genau wie du und ich!“, schnurrte sie, die Katzenaugen zwei schmale Schlitze und ihr Maul zu einem gefälligen Lächeln verzogen. Sie seufzte, dehnte sich, streckte die Beine, spreizte die Zehen und fuhr gedankenverloren die Krallen aus. Dann rollte sie sich wieder zusammen und gähnte gelangweilt. Dabei entblößte sie ihre spitzen Zähne, die in ihrem Mund wie frisch geschliffene Messer blinkten. Ich traute ihr nicht über den Weg und hatte mir geschworen, sie nicht mit den Vögeln während ihrer Flugstunde allein zu lassen.
Bruno war unberührt von jedem Misstrauen. Er hatte sich vom ersten Moment an in Babe verliebt, was kein Wunder war, so süß, tapsig, verspielt und knuddelig wie sie war.
Ich hatte ein zerknülltes Blatt Papier an eine Schnur gebunden, und es waren Momente großen Glücks für unseren Sohn, wenn er es durch die Wohnung zog und Babe hinter ihm hersprang. Das Kätzchen schmeichelte um seine Beine, ließ sich von ihm streicheln und schnurrte so laut, dass unser Sohn vor Behagen mitschnurrte.
Mam beobachtete die beiden von ihrem Thron und schien nichts dagegen zu haben, dass Bruno mit Babe spielte. Aber auch das war mir nicht geheuer und ich fragte mich, ob sie ihr Kind vielleicht aus reiner Berechnung gewähren ließ, um uns von seiner und ihrer Harmlosigkeit zu überzeugen und in Sicherheit zu wiegen.

Am Nachmittag des Weihnachtstages hatten wir alle Hände voll zu tun. Wir erwarteten Besuch, meine Eltern und Toms Schwester wollten mit uns zusammen feiern. Es war das erste Weihnachtsfest, das Bruno bewusst erlebte und sie wollten dabei sein, wenn er zum ersten Mal die Geschenke auspackte. Nicht nur weil Toms Schwester eine schwach ausgeprägte Katzenhaarallergie hatte, hatten wir ihnen von den Katzen erzählt, aber das hatte sie nicht von ihrem Besuchsvorhaben abbringen können.
Als es dunkel wurde, waren wir immer noch nicht mit all unseren Vorbereitungen fertig. Immerhin war der Baum mit bunten Kugeln, Strohsternen und zweierlei Kerzen geschmückt. Die Wachskerzen wollten wir während der Bescherung und wegen der Stimmung anzünden, die Lichterketten waren für die Stunden danach gedacht.
Bruno war an diesem Tag kaum zu bändigen. Er wusste zwar nicht genau, was auf ihn zukam, aber dass etwas Besonderes bevorstand, spürte er genau. Er war so aufgeregt, dass er mittags nicht schlafen wollte, was in der Folge bedeutete, dass er wahrscheinlich pünktlich zur Bescherung müde und knatschig sein würde. Er ließ uns keine Sekunde alleine. Ständig wuselte er zwischen unseren Beinen herum, Babe im Schlepptau, die unermüdlich hinter ihrem Papierknäul herjagte. Tom und ich waren durch die unberechenbaren Aktionen des Duos mehrfach ins Stolpern geraten und wir konnten von Glück sagen, dass sie uns nicht zu Fall gebracht hatten. Das hätte gerade noch gefehlt, dass einer sich verletzte und wir den Heiligen Abend in der Notaufnahme verbringen mussten.
Auch Ginger und Fred hatten sich von der allgemeinen Hektik anstecken lassen. Sie hörten überhaupt nicht mehr auf zu schimpfen und veranstalteten ein derart hysterisches Theater hinter ihren Gitterstäben, dass der Boden rund um den Käfig mit Sand, Samenkörnern, Spelzen und kleinen Federn völlig verdreckt war und ich weiß, ich sagte, da müsse nochmal einer mit dem Staubsauger ran.
Die einzige, die das ganze Durcheinander kalt ließ, war Mam. Sie lag auf ihrem Sessel und hatte ihre schrägen Katzenaugen überall. Sie hatte gesehen, wie wir weihnachtlich gestylt aus dem Schlafzimmer kamen und mit welcher Mühe ich mich in die Absatzschuhe zwängte. Sie sah Tom in immer kürzeren Abständen den Garpunkt des Gänsebratens überprüfen, sah ihn die Terrassentür öffnen, um noch einmal frische Luft herein zu lassen und beobachtete Brunos und Babes Zug durch die Wohnung.

Ich hatte eben die letzte Kerze angezündet, als mehrere Dinge gleichzeitig passierten. Tom machte sich auf in den Keller, um doch noch den Staubsauger zu holen, es klingelte, ich hastete zur Tür, riss sie auf und da standen meine Eltern und Toms Schwester mit Einkaufstaschen voller Geschenke. Meinen scherzhaften Einwand, sie würden maßlos übertreiben und Bruno total verwöhnen, lachten sie einfach weg. Es wäre doch ein ganz besonderes Weihnachtsfest, weil das Kind jetzt alles mitbekäme, sie wären so gespannt auf seine Reaktion. Sie hatten Sekt mitgebracht, der unbedingt gleich in den Kühlschrank musste und wir redeten alle durcheinander, wie man das macht, wenn man sich lange nicht gesehen hat und glücklich ist. Dann hörten wir plötzlich Tom im Keller schreien, es wäre eine verdammte Scheiße und als ich zur Treppe lief, um zu fragen, was denn jetzt wieder los sei, stand er mit seinen guten Schuhen bis über die Knöchel im Wasser und hielt den Staubsauger wie ein erlegtes Tier in der Hand. Aus dem Staubsauger tropfte es.
Und während wir vier uns auf der Kellertreppe stauten und ungläubig auf die Bescherung schauten und überlegten, wie so viel Wasser in den Keller gekommen war, ob eine Leitung geplatzt sei, oder die Waschmaschine kaputt gegangen wäre und wie wir die ganze Sauerei wieder aus dem Keller bekommen könnten und ob überhaupt, und ob es Sinn machen würde, die Feuerwehr zu rufen und ob die überhaupt am Heiligen Abend zum Wasserpumpen kommen dürften oder generell nur zu Löscheinsätzen ausrückten, ob wir mit Eimern und Schaufeln etwas ausrichten könnten und ob die Kühltruhe jetzt kaputt wäre, und ob der Inhalt noch zu retten wäre, wenn die Kühltruhe ihren Geist aufgab und wieviel Fußbad eine Waschmaschine vertragen kann, oder der Wäschetrockner und ob das alles jetzt Schrott sei. Und während die Gans im Ofen verbrutzelte und sich unsere Vorstellung eines gelungenen Weihnachtsabend in 15 Zentimeter hoch stehendem Wasser verflüssigte, glückte Bruno zum ersten Mal das Kunststück, mit seinen kleinen Fingern den filigranen Haken umzuklappen und das Türchen von Ginger und Freds Käfig zu öffnen.

Martina Altschäfer hat Bildende Kunst und Germanistik an der Johannes-Gutenberg Universität, Mainz und Freie Malerei an der Kunstakademie Düsseldorf studiert und ist Meisterschülerin von Professor Konrad Klapheck. Im Mirabilis-Verlag sind ihr Erzählband «Brandmeldungen» und 2020 ihr Debütroman «Andrin» erschienen. Martina Altschäfer lebt und arbeitet in Rüsselsheim am Main, Deutschland.

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Ruth Loosli «Eine unschöne, beinahe wahre Weihnachtsgeschichte», 4. unschöne Weihnachtsgeschichte

Sie hatte ein Inserat gesehen, «Fett absaugen», stand da.
Genau das wollte sie sich zu Weihnachten schenken, sie wollte die ganze Familie mit einem neuen «Outfit» überraschen, an der Familienfeier, die immer am 24. Dezember stattfand.
So transferierte sie, nachdem sie den Termin festgemacht hatte, eine stattliche Summe von ihrem Bankkonto zu diesem Schönheitsinstitut, den Rest musste sie nach erfolgreicher Ausführung überweisen und dann, dann bliebe kaum noch etwas auf dem Konto.
Und kaum Speck auf den Rippen, lachte sie.
Diese Überraschung würde ihr Geschenk an die Familie sein.

Am 20. Dezember war der Termin.
Der Arzt kam, strichelte allerlei Linien auf die Dellen und Rundungen ihres Körpers, murmelte, als müsste er eine neue Formel erfinden und fragte dann, sind Sie bereit?
Ja, antwortete sie tapfer, obwohl sie am liebsten aufgesprungen wäre, ihre weiten Kleider angezogen und davongerannt. Diese Maschine, die er nun am Bauch ansetzte und sich als unerbittlicher Saugnapf an ihr festsetzte, machte ihr Angst. Laut war die Maschine nicht, doch schmerzhaft.
Der Arzt beugte sich über sie und sagte, ich bin in wenigen Minuten wieder zurück, die Maschine kann allein saugen.

Sie lag da; sie atmete flach, um dem Schmerz zu entgehen.
Sie hatte das Gefühl, dass sich ihr Körper langsam auflöste.
Sie sah, dass durch den Schlauch der Maschine eine helle Flüssigkeit kroch, das war wohl ihr Fett.

Als der Arzt wieder kam, lag vor ihm ein schmaler Körper, eigentlich nur noch ein Skelett.
Er liess sich seinen Schrecken nicht anmerken, stellte jedoch hastig das Gerät ab, was der Klientin völlig entging, denn – sie atmete nur noch sehr unregelmässig.

Der Arzt musste den Notruf betätigen, die junge Frau wurde ins Spital eingeliefert.

Nach drei Nächten auf der Intensivstation verlegte man sie auf ein Zimmer in der Allgemeinen Abteilung des Spitals.
Holt mich hier raus, schrieb sie dem ahnungslosen Vater. Der war gerade am Einkaufen für das Familienfest am kommenden Tag, er las die Nachricht, während er zum Veloständer eilte, machte einen blöden Misstritt wegen einer Unebenheit am Rande des Gehsteigs, fiel hin, mitsamt der Tasche, mitsamt dem Gerät, auf dem die Nachricht stand, hielt das Gerät fest umklammert, ein Schrei fiel mit ihm, ein Schmerz durchzuckte seine Schulter: Er musste in die Notaufnahme. Oberarmknochen angerissen. OP je nach Entwicklung im neuen Jahr.

Am folgenden Tag wurden die zwei Patienten abgeholt vom Bruder der jungen Frau, die nun unendlich dünn im Rollstuhl sass, vom Sohn des Vaters, der den linken Arm nicht bewegen durfte. Das Filet im Teig schmorte im Backofen, die Kerzen brannten um die Wette, aus dem Radio plärrte «Stille Nacht». Plötzlich begannen sie mitzusummen, ein schräges Lächeln entfaltete sich auf den Gesichtern, auf denen der Widerschein der Kerzen flackerte.

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg und im Seeland aufgewachsen. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften.
Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Weiter ist 2016 der Lyrikband «Berge falten» im selben Verlag erschienen.
2019 brachte der Waldgut Verlag den Lyrikband «Hungrige Tastatur» heraus.
Im Frühling 2021 ist im Caracol Verlag der erste Roman erschienen: «Mojas Stimmen».

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Chris Schneeberger «Eine unschöne Weihnachtsgeschichte», 3. unschöne Weihnachtsgeschichte

Es war das Jahr der Unfälle. Danach hiess es amigs, wir lebten halt hier unten im Bermudadreieck. Wobei, im Bermudadreieck wird spurlos verschwunden.
Also, zuerst kippte ein Milchlastwagen auf dem neuen Viadukt. Der Milchtanklastwagen enleerte sich und es ergoss sich nicht nur ein Strom von Milch vom Geelig oben runter ins Vogelsang abe, schön der geschwungenen neuen Strassenführung entlang, nei, es tropfte und spritzte und leuchtete ein Milch-Wasserfall vom gebogenen Viadukt über die Eisenbahngeleise Baden-Brugg herunter, dass es nur schön war.
Dann fiel ein Flugzeug vom Himmel. Also, mitten in eine Stube, genau genommen, in die Stube der Postkartenfamilie. Die machten Postkarten und konnten offensichtlich gut davon leben. Sicher waren es nicht Postkarten von hier. Auf jeden Fall landete das kleine Flugzeug mit der Nase auf dem Sofa, auf dem gerade noch die Postkartenmutter gesessen hatte, aber dann ein Glas Wasser holen ging, und Tätschbummpeng, sass die Nase von einem Flugzeug, wo gerade noch sie gesessen. Da stieg der Pilot aus und entschuldigte sich sehr. Sie bot ihm das Glas Wasser an. Er fiel um, und schlug sich den Kopf am modernen Glastisch auf.
Und dann beim Manta im Kraftwerkswehr. Auch da war es die Kurve, die einer nicht kriegte. Der Opelfahrer brach in Tränen aus, als er das havarierte Auto dann pflotschnass am Kranhaken aus dem Kraftwerkskanal auftauchen sah. Da mussten alle lachen.
Dann lag plötzlich der Onkel, der erst 17 Jahre alt war, wie eine komplett eingepackte Mumie im Spital, ich wusste nicht, wer das sei. Den Stromausfall hatten alle mitgekriegt, als der Lehrling von Papa und Bruder von Mama blöd in die Hochspannung geraten war, im Transformator. Auch er hatte Glück, aber da weinten alle.
Das war ja alles noch lustig. Aber es war auch der Sommer, ab dem wir nicht mehr in den Maisfeldern spielten, wegen den toten Kindern. In der Brockenstube hatte mich auch so ein Mann verfolgt, aber ich kannte mich im Labyrinth der Gestelle und Tische besser aus als er und konnte dann abhauen.
Ja, und jetzt wäre auch noch Weihnachten. In der Sonntagsschule bin ich immer der blöde Joseph, den es in der Geschichte ja gar nicht braucht. Ich wäre lieber etwas richtiges, ein König, vorallem Balthasar, aber der muss wie jedes Jahr Cedrik spielen, wegen der Farbe. Wegen seiner Farbe oder wegen meiner, ich finds jetzt emel blöd, und Cedrik auch – und zwar die ganze Welt. Er komme jetzt nicht auch noch in die Sonntagsschule. Dabei sahen wir uns nur dort und ich war in ihn verliebt. Nach der Feier Zuhause habe ich dann nur noch gekörbelt vor lauter Rimuss-Kinderwein und Wiehnachtschrömli und dem Braten im Teig und Grossmutters berühmter Ananascremetorte und Mama sagte, das war jetzt für dieses Jahr vielleicht doch ein Biss zu viel.

Christoph Schneeberger wird 1976 im Aargau geboren und wächst in Vogelsang und Birr auf. Er studiert zunächst am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und schliesst 2018 den Master in Literarischem Schreiben an der Hochschule der Künste Bern ab. Christoph Schneeberger verknüpft die verschiedenen Bereiche der Kunst und ist in vielseitigen Formen und Identitäten aktiv. Als X Noëme – so heisst er als Dragqueen – performt er etwa eine Lesung seines preisgekrönten Romans «Neon Pink & Blue». 2021 gewann Christoph Schneeberger den Schweizer Literaturpreis.

Nora Gomringer «Krippel“, 2. unschöne Weihnachtsgeschichte

Weiß man gar nicht, wie dunkel die Zeit der Lichter ist, bevor einer darin stirbt, statt geboren zu werden. Ähnlich ist, was sie dir ins Haus tragen, wenn du dann alle wissen lassen musst: Wir haben einen verloren. Myrrhe, Weihrauch, zu wenig Gold. Keiner bringt die Windeln mehr, die Sanitärartikel, keiner rollt die Augen, weil die Rezepte immer zum Freitag auslaufen und die Stürze als Regel immer tief in der Nacht, früh am Morgen ebenfalls zum Wochenende hin geschehen. Keiner telefoniert mehr wie wild. Und keiner weint, weil der Schnee selbst unwissend fällt. Die Natur ist Komplizin ihrer selbst, lacht ein bisschen über dich, weint verstohlen ein bisschen mit dir. Hast eine ganz neue Landkarte und wünschtest, da wäre ein Esel, ein Ochse. Ein paar große Tiere, die dich ablenken, deren Umsorgung eine Anstrengung wäre. So bist du nur ein Lebewesen ohne den anderen und das zur Weihnachtszeit. Vielleicht selbst der Ochse, der Esel – ein Tier, das man waschen und füttern muss, trotz schwerer Hufe, die man kaum anheben kann. Liegen da die Strümpfe, die engmaschigen, hautfarbigen, die man kaum über Beine und Hände zwingen konnte. Liegen da die Unmengen an Handtüchern, die Unfälle vermeiden, rasch ungesehen machen sollten. Liegen da Brille und Zähne. Engel kommen und gehen, sie lassen Federn. Das Haus wird ein Flughafen. Du hältst die aufwirbelnden Blätter fest: Fotos, Einkaufs- und Notizzettel, Beweise der Handschrift einer Hand, die nie mehr sichtbar werden wird. Du begreifst und verschiebst und verschreibst dich der Erinnerung, wirst ihr Besitzer, hängst ein Schild an dein Hirn: Cave Canem. Dieser Hund wird beißen, wer deiner Erinnerung widerspricht. Diese Phase – alles wird phasisch – hält an, wird groß und wild, deine Tränen waren nie feuchter. Nach dem Grab kommen der Frühling, das Auferstehen. Und schon im Sommer sind die Gedanken wieder voller Kerzen und du machst Yoga und lernst neue Rezepte für den Winter. Darin wird alles Schleife. So eine um die Geschenke, so eine im Hirn. Im Gottesdienst wird noch einmal der Name erwähnt, da klingt er schon fremd und wie Legende. Dann ist Weihnachten. Und die, die übrig sind, schlafen vor der Mitternacht. Schlafen im Stroh, träumen von sprechenden Tieren.

Nora Gomringer hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. 2022 wurde Nora Gomringer mit dem Else Lasker-Schüler-Preis ausgezeichnet. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.

Barbara Peveling «Befana spricht», 1. unschöne Weihnachtsgeschichte

La befana scende dal camino, e porta doni ad ogni bambino…

Die Befana kommt durch den Schornstein und bringt jedem Kind Geschenke…

Er war aus dem Norden gekommen, nicht aus dem Süden, wie sie lange geglaubt hatte. All die Jahre glaubte sie, der Süden, Mandelblüten, Lavendel, Orangen, der heiße Wind zwischen den Bergkuppen, all das gehörte zu ihm, genau wie zu ihr. Mehr noch, er verkörperte all dies für sie, schlimmer noch, sie war, überzeugt gewesen, ohne ihn würde all das nicht existieren.
Sie erinnert sich an den Besuch der Floating Piers, dort wandelten sie gemeinsam über Wasser, Hand in Hand, der Geruch von Meer, kreischende Möwen über ihnen und dieses Gefühl, alles wäre möglich mit ihm an ihrer Seite. Heute zeigte der Kompass ihres Herzens: Nord.

Sie erinnert sich an seine Ungeduld, damals beim Frühstück in dem kleinen Hotel am Iseo-See. Avanti, Avanti, rief er ihr zu, auch, als sie zögerte, sich gerne von der Masse treiben lassen wollte, die da über den See wandelte. Er aber war ihr immer drei Schritte voraus, seufzte, stöhnte, rollte mit den Augen über ihre Langsamkeit. Dass es schon immer so gewesen war, fiel ihr nach und nach auf. Während sie noch die Wäsche vor der Abreise sortierte, hatte er schon im Auto gesessen, das fesche Käppi auf dem Kopf, mehrfach gehupt, bis sie am Ende doch die Wäsche liegen ließ, aus dem Haus eilte, nur, damit sich die Nachbarn nicht beschwerten. Später bei ihrer Rückkehr, ärgerte sie sich, dass sie noch dabei war Wäsche zu sortieren, während er längst vor dem Fernseher eingeschlafen war. Es hatte eben jeder seinen Aufgabenbereich, oder nicht? Dein Vater, hatte sie dem Kind gesagt, wenn es sich über seine Härte beschwerte, weiß was gut für dich ist. Sie hatten nur dieses eine Kind gehabt. Mit dir stimmt etwas nicht, hatte er gesagt, als es nicht mehr klappen wollte, und sie sich geschämt und gedacht, was bin ich nur für eine Hexe. Aber die Sehnsucht danach, zu geben, war in ihr geblieben, doch ihr Herz war ausgetrocknet, wie ein Flussbett in der Hitze des Sommers, oder wie das menstruierende Blut in ihrem Körper, da kommt nichts mehr nach, nach und nach hatte sie verstanden, dass er nicht aus dem Süden gekommen war, so wie sie Anfangs gedacht hatte, und irgendwann fragte sie sich nicht mehr, ob er schon immer so rau und so kalt gewesen war, sie war sich sicher, er war aus dem Norden gekommen. Und das würde sie auch vor Gericht sagen, ja, sie hatte zurückgeschlagen, ihn erschlagen, morgen schon, würde sie sprechen.

Barbara Peveling, geboren 1974 in Siegen, studierte in Tübingen Ethnologie und Pädagogik, promoviert über das Zusammenleben von Juden und Muslimen in einem Viertel von Marseille und lebt mit ihrer Familie in Paris. Sie publizierte mehrere Prosastücke und Poesie in verschiedenen Zeitschriften, darunter Akzente Zeitschrift für Literatur. 2006 nahm sie am 14. Open Mike teil. «Wir Glückspilze», ihr erster Roman, erschien bei Nagel & Kimche. 

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