Christoph Schwyzer «Der Staubwedel muss mit», Limmat

Altersheime sind Biotope, unsichtbar eingezäunte Lebensräume, denen man wohl Besuche abstattet, aber in steter Erleichterung darüber, nicht Teil dessen sein zu müssen. Christoph Schwyzer arbeitete lange in einem solchen. Seine Geschichten aus diesem Biotop sind keine Schreckgeschichten, keine Enthüllungen. Nachdem er schon 2009 mit seinen Geschichten «und heim» seine erzählerische Präzision, seinen Witz und sein Gespür für Geschichten mit überraschenden Spiegelungen bewies, sind seine neuen Geschichten eine lange Kette literarischer Perlen.

Es breitet sich bei der Lektüre warme Melancholie aus, weil es Christoph Schwyzer versteht, jene Fein- und Eigenheiten in den Vordergrund zu stellen, die jene des Alters ausmachen, ohne sie mit dem Skalpell zu sezieren. Die Geschichten sind durch Begegnungen gewachsen, durch die Nähe zu den Menschen. Eine Melancholie, weil man unweigerlich weiss, dass man dereinst eine der Beschriebenen sein könnte, weil es fast nichts gibt, dass einem vor dem Zimmer im zweiten Stock „zu retten“ vermag.

Frau Christen
Verzweifelt suchte Frau Christen nach dem Sinn des Lebens. Die Tiere, dachte sie eines Tages, die haben es gut: Der Ameisenbär sucht Ameisen, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Die Eierschlange sucht Eier, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Der Mäusebussard sucht Mäuse, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Und ich? Ich bin doch angeblich ein Homo sapiens, ein weiser Mensch. Mehr Weisheit essen, hat der Arzt einmal gesagt. Oder hab ich ihn falsch verstanden: mehr Eiweiss essen?

Zarte Miniaturen vom Leben an der Endstation, von den Menschen, denen sich das Leben nicht unmerklich zu verschliessen beginnt, denen man sich immer weniger zuwendet, wenn nicht gar abwendet, die keine „Funktion“ mehr mit sich tragen, die man vergisst, ein- und abgestellt hat. Von Menschen, die den kleinen, letzten Rest Leben mit sich tragen, jenen Rest Stolz, auch wenn es nur eine Schublade voller bestickter Stofftaschentücher ist. Sie breiten wie Frau Judith ihre Fotos vor sich aus, „wie Inseln aus dem Meer des Vergessens“. Christoph Schwyzer breitet all die klein gewordenen Leben vor mir aus. Sie mahnen mich, dass die Wahrscheinlichkeit einer solchen Wendung in meinem Leben nicht auszuschliessen ist und es nur schwer vorhersehbar ist, was dereinst meine Welt bestimmt.

Herr Hartmann
Ins Gedächtnistraining geht er nicht. Er sagt: Ich bin so nachtragend. Besser wäre eine Methode, die gezieltes Vergessen möglich macht.

Frau Jud, Herr Hauser, Herr Bumbacher, Frau Schwarz: Ihre Welt ist geschrumpft, geschwunden auf die blosse Hoffnung, auf ein unendlich scheinendes Warten, das letzte bisschen Sehnsucht. Christoph Schwyzer will kein System kritisieren, auch nicht den routinierten Umgang mit alten Menschen, weder die Ghettoisierung noch die Sorge um die demagogische Entwicklung der Gesellschaft. Christoph Schwyzers Blick auf die Menschen ist keiner auf sie herab, sondern getränkt von Liebe und Respekt, voller Witz und Schalk. Die längeren und manchmal nur ganz kurzen Porträts kreisen immer nur um das Eine: Was bleibt?

Frau Schneebeli
Zu wenig Schlaf lässt die Haut schneller altern. Diesen Satz hat Frau Schneebeli in der „Gesundheit Sprechstunde“, im Magazin von Dr. Stutz, gelesen und mit orangem Leuchtstift markiert. Während der darauffolgenden Nacht ist sie ungewöhnlich oft aufgewacht. Und jetzt will sie sich vom Arzt die Schlaftablettendosis erhöhen lassen.

Es ist als wären die Geschichten eine lange Reihe von Besuchen, ich an der Seite des Autors. Ich lausche einer Szene, einem Gespräch, einer Geschichte aus der Vergangenheit, einem Einblick, der nur möglich ist, weil ich mich an der Seite des Autors ruhig und unauffällig verhalte. Christoph Schwyzer bedankt sich mit der Verschriftlichung der Geschichten für die vielen Geschenke, die sich nur dann einstellen, wenn den Alten jener Respekt entgegengebracht wird, den das System verweigert.

Geschichten aus einem anderen Jahrhundert, einem anderen Jahrtausend, aus den Tiefen der Vergangenheit, aus einer anderen Welt. Einer Welt, die sich dem Produktiven, Eifrigen, Fleissigen, Zielgerichteten, Gemanagten entzieht. Vom Ende der Zeit, wo Zeit keine Rolle mehr spielt, ausgerechnet dort, an ihren Rändern.

Interview mit Christoph Schwyzer:

Dein Buch ist wie eine Fotoausstellung in einer grossen Galerie. Du gingst mit dem Objektiv ganz nah an die Person, ohne ihr zu nahe zu treten. Die Gesichter erzählten dir Geschichten. Du rahmst sie mit Sprache ein, bannst sie. Ich bleibe als Betrachter stehen, einmal länger, einmal kürzer und staune, wie sehr mich der Blick aus dem Bild berührt. Bist du mehr als Träger dieser Geschichten? 

Jede Figur, die in meinem Buch auftritt, lebt auch ein Stück weit in mir selbst: Der Nörgler, die Schwermütige, die Selbstverliebte, der Büchernarr, der Aufbrausende, die Mitfühlende. Insofern gibt es zu jeder Figur eine Verbindung. Und eigentlich geht es mir als Stadtmensch, als Stadtspaziergänger jeden Tag so: Ich sehe zahllose Menschen, werde von einem Gesicht, einem Blick, einer Stimme, einer Gangart in Bann gezogen; und selbst dann, wenn eine solch zufällige, flüchtige Begegnung eher abstossend auf mich wirkt, ahne ich mehr Verbindendes als Trennendes. „Was du anschaust, schaut zurück. Du wirst ihm wieder begegnen“, lautet eine Gedichtzeile von Max Bolliger.

Sie mahnen nicht direkt. Sie erschrecken nicht. Die suhlen sich nicht. Sie reissen nicht nieder. Sie, die du porträtierst, beschenken dich und du gibst dieses Geschenk weiter. Wie reifen diese Geschichten von der Idee bis um Entschluss, sie in die Sammlung aufzunehmen?

Mein Rohstofflieferant ist mein Tagebuch. Ich halte – regelmässig zwar, aber doch eher anfallsweise – meine Eindrücke fest. Nie aber gehe ich mit der Absicht irgendwohin, auch damals als Altersheimseelsorger nicht, Menschen zu beobachten, Material zu sammeln. Ich bin ja kein Detektiv, der, mit Fotoapparat und Notizblock bewaffnet, den Menschen auflauert. Wegweisend ist für mich die Frage: Welche Bilder und Situationen, welche Erinnerungen tauchen spontan aus dem Meer des Erlebten wieder auf; suchen mich heim, ohne dass ich mich dafür heftig anstrengen müsste? Damit aus einem Eindruck ein Ausdruck auf Papier werden kann, muss dieser noch warm, in Bewegung, formbar sein.

Die Anstrengung beziehungsweise die eigentliche Arbeit beginnt dann, wenn es darum geht, meinen Tagebucheinträgen eine gültige Gestalt zu geben, sie weiterzuspinnen, in eine Geschichte zu verwandeln. Ein Beispiel: Eine Hand, die im übervollen Bus einen Haltegriff umklammert, lässt mich nicht mehr los. Die Finger sind aufgedunsen, goldene und silberne Ringe schneiden sich ins Fleisch ein, der rote Lack der Nägel blättert an den Rändern ab. Tage oder Wochen später sehe ich wieder diese Hand vor mir, nur diese Hand; denn der Körper, das Gesicht zur Hand waren im übervollen Bus nicht zu sehen. Was erzählt mir diese Hand? Wie könnte sie den dazugehörigen Menschen indirekt charakterisieren? Ich versuche eine kleine Geschichte, eine Minibiografie zu entwerfen, schreibe meistens mehrere Versionen, kürzere und längere.

Dein Buch ist nicht das Resultat einer Recherche, sondern Manifestation von Liebe, Respekt und Hochachtung. Angesichts der demagogischen Entwicklung unserer Gesellschaft drängen sich aber durchaus Fragen auf, wie wir in Zukunft mit dem letzten Abschnitt des Lebens umgehen wollen, ob es reicht, chipgesteuerte Kuscheltiere oder sprechende Roboter einzusetzen. Wohin muss es gehen? 

Wir alle, ausnahmslos, sind Sehnsuchtsreisende auf der Suche nach Heimat. Wir kommen auf dieser Welt nie ganz an; immer fehlt etwas zum vollkommenen Glück, zur störungsfreien Zufriedenheit. Aber eines ist offensichtlich: Freundschaften können retten. Wer sich in einer Gemeinschaft von Menschen aufgehoben fühlt, fällt weniger schnell ins Bodenlose. – Weder im Altersheim noch sonst irgendwo bin ich jemals einem Menschen begegnet, der nicht beachtet, geachtet, wahrgenommen werden wollte. Und oft stellt sich heraus, dass diejenigen Menschen, die einem die kalte Schulter zeigen und von sich behaupten: Ich will keinen Besuch, ich brauche keinen Besuch, unglaublich aufblühen, wenn sie dann trotz allem sich öffnen und ins Erzählen kommen. Kein auch noch so ausgeklügelter Roboter kann einem Menschen sein Ohr, sein Herz schenken, ist in der Lage, bloss mithilfe seiner Aufmerksamkeit, eines gütig geduldigen Blicks oder einer Berührung, wortlos zu sagen: Ich bin für dich da. Ich mag dich.

Du gibst jeder Geschichte einen Namen. Manchmal einen Vornamen, manchmal einen Familiennamen. Du änderst auch die erzählende Perspektive. Was entscheidet? 

Jeder Name, ob Vor- oder Nachname, birgt ja schon eine Geschichte in sich, hat seinen eigenen, eigenartigen Klang. Wenn ich „Meier“ durch „Mendes“ ersetze oder „Sepp“ durch „Siegfried“, ändert sich der gesamte Charakter der Geschichte. Dasselbe ist der Fall, wenn ich Requisiten austausche, Möbel. Das Gleichbleibende, die Konstante ist die Einzelzimmersituation.

Ich spiele gerne mit meinen Figuren. Eigentlich ist für mich eine Geschichte nie fertig. Ich habe eine unglaubliche Freude daran zu kneten, zu modellieren, alles zusammenzudrücken und wieder von vorne anzufangen – wie damals als Kind mit meinen Plastilinfiguren. Was passiert, wenn aus einer Frau ein Mann wird? Wie tönt die Geschichte, wenn sie aus dem Mund der betroffenen Person selbst kommt? Wie aus dem Mund einer Tochter, eines Sohnes? Und was ist, wenn die Figur unablässig schweigt, stattdessen aber ein Gegenstand, eine Handbewegung, ein Kleidungsstück vielsagend wird, laut zu sprechen beginnt? – Allerdings ist das übermässige Abändern mit der Gefahr verbunden, nie eine endgültige Form zu finden, gar eine bereits prägnante Geschichte wieder zu verflachen.

Ist da nie die Lust, eines dieser Porträts aus der Ausstellung mit nach Hause zu nehmen, auf den Schreibtisch zu stellen, auf den Tisch vor dem Fenster, um noch viel mehr, viel tiefer zu schauen? 

Meine Landschaften, in denen ich am liebsten spazieren gehe, sind die Menschen, soll ein Grossstädter einmal gesagt haben. Mit mir verhält es sich ähnlich. Insofern taucht in der Tat ab und zu die Idee auf, einer einzelnen Figur mehr Raum zu geben, mich von ihr an der Hand nehmen und über all die noch unentdeckten Lebenswege führen zu lassen, Lebensschicht für Lebensschicht zu erkunden – und vielleicht eine Erzählung zu schreiben.

© Paul Joos

Christoph Schwyzer (1974) lebt mit seiner Familie in Luzern. Er arbeitete an der Volksschule, im Altersheim und bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Studienaufenthalt in Hildesheim «Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus», Umzug nach Berlin, danach Fußwanderung von Hamburg nach Basel. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit tritt Christoph Schwyzer als Rezitator auf. Für seinen ersten Roman «Wenzel» war er für den Rauriser Literaturpreis 2012 nominiert.

Beitragsbild © Sandra Kottonau