Micha Friemel «Kompost», Plattform Gegenzauber

Ich esse Giannas After Eights. Ich war nur zwei Tage weg. Aber wie ich hier sitze, wie ich in der Küche sitze, wie still es hier ist, wie still ich es auszuhalten vermag – so kenne ich mich nicht. Es ist, als sitze hier eine andere. 

Gianna hatte mich wie verabredet angerufen. Ich hatte seit ihrer Abreise darüber nachgedacht, was ich sagen würde, wenn es so weit war. Ich mache das oft: Ich spiele im Voraus Varianten durch von Gesprächen, die ich beunruhigend finde. 

Als ich in Santa Maria aus dem Postauto stieg, ging ich wie selbstverständlich die Strasse hoch Richtung Umbrail. Ich hatte zur Sicherheit die Adresse gegoogelt. Es wäre nicht nötig gewesen. Als ich da war, erinnerte ich mich. 

Ich betrat Madlainas Haus. Ich blieb lange im Flur. Ich betrachtete die Aquarelle, die in einer langen Reihe hingen. Porträts von Bergen. Ich stand vor ihnen, als sei ich eigens gekommen, um sie zu betrachten. Ich hatte kalte Füsse. Die Tür wurde ständig geöffnet. Leute kamen, Leute gingen. Dann kam Gianna, sie nahm meine Hand. 

Es tut mir so leid, sagte ich. Immerhin hatte sie keine Schmerzen.
Gianna lachte. Hast du wieder einmal Sätze auswendig gelernt? Komm herein. Ich bin froh, bist du da. 

Da war die Stube, wie ich sie kannte. Da war das leise Zurren der Uhr, der Ofen, die Ofenbank mit dem gewobenen Kissen. Mein Blick floh aus dem Fenster. Draussen versammelten sie sich in der Kälte. Die Bäume und Wiesen waren weiss gepudert, dabei war erst September. Auch in Zürich hatte der Herbst sich verabschiedet. So plötzlich, dass man denken konnte, er bringe nur eben ein paar Gläser Eingemachtes in den Keller und kehre dann wieder. 

Letzte Woche noch hatten wir im T-Shirt im Garten gestanden. Gianna grub den Kompost um. Sie trug keine Handschuhe. Ich fragte sie nicht, ob sie sich ekelt. Es war offensichtlich, dass sie es nicht tat. Ich ekle mich nicht nur vor Würmern. Ich trage sogar Handschuhe, um Salat zu ernten. Ich hasse die Asseln, die sich unter den Blättern verstecken. Die Schnecken, die Tausendfüssler, im Grunde alle Vielfüssler – die Spinnen und Käfer.

Schau mal, wie hübsch, sagte Gianna und zeigte auf Nester von Schneckeneiern. In der dunklen Erde sahen sie aus wie silberne Perlen. Sie sammelte sie ein und verstreute sie am Wegrand, auf dass die Vögel sie frässen. Ich habe Gianna im Garten nie schimpfen gehört. Nicht einmal im letzten Sommer, als die Schnecken fast die ganze Salaternte weggefressen hatten.
Ich bin sicher, als Kind hast auch du Schnecken und Würmer gestreichelt, sagte Gianna.
Ich kann mich nicht erinnern.
Gianna sagte, das Kompostieren mache sie glücklich. Denk an den Mangold und an die Erdbeeren, die wir bald essen werden. 

In der Stube roch es nach Weihrauch. Ich lehnte mich an die Wand. Gianna lehnte sich an mich. Ich mochte Weihrauch nicht, so wie ich früher After Eights nicht gemocht hatte. Beides überwältigt mich, beides ist mir zu viel. Weihrauch zu viel an Bildern, After Eights zu viel an Geschmack. Doch hier in dieser Stube war Weihrauch nicht mehr als Rauch, der entsteht, wenn Harz brennt. 

Ich frage mich, was es ist. Warum neben Gianna alles so einfach ist. Sie hielt mir eine Packung After Eights hin und sagte: Zucker, Kakao, Fett, Minze, Salz. Es sind nicht so viele Bestandteile, dass sie dich erschrecken müssten. 

Wenn ich früher den Kompost wegbrachte, bemühte ich mich, die Abfälle nicht zu berühren. Ich hatte einen Plastiksack über den Eimer gespannt, den ich beim Entsorgen sorgsam ausschüttete und so faltete, dass meine Finger sauber blieben. Den Sack entsorgte ich danach im öffentlichen Abfall. Ich hätte ihn nie zurück nach Hause genommen. Schon so hatte ich das Gefühl, den Geruch nicht mehr loszuwerden. Ich roch die sich zersetzenden Abfälle noch lange. Einmal beobachtete Gianna mich dabei und sah mich an, als käme ich vom Mars. 

Beim Kompostieren letzte Woche hielt sie mir einen Maiskolben hin. Ich begriff nicht, was sie mir zeigen wollte, und wagte nicht nachzufragen. Es war mir peinlich, so wenig vom Gärtnern zu wissen. Hätte der Maiskolben nicht auf den Kompost gehört? Gianna legte ihn auf die kleine Mauer, die unseren Schrebergarten von den anderen trennt. Als sie sich wieder dem Haufen zugewandt hatte, ging ich hin und betrachte den Kolben. Man erkannte noch die einzelnen Kämmerchen der Körner. Sie waren durch filigrane Wände voneinander abgetrennt. Während die Kerngehäuse der Äpfel, ihre Schalen, die Zucchiniabschnitte, die Fenchelstängel, die Kürbiskerne, die Kartoffelschalen sich vollkommen zersetzt hatten, war der Maiskolben in Form geblieben. Ich war sonderbar berührt. 

In der Stube war es ruhig. Viel ruhiger, als ich es mir hatte vorstellen können.
Die Katze ist anders als sonst, raunte Gianna. Sie sass einer Statue gleich auf dem Stuhl neben der Tür, inmitten des Gedränges. Normalerweise flieht sie vor den Menschen. 

Madlainas Sarg war schlicht. Er war aus Arve oder aus Lärche. Aus irgendeinem Nadelholz jedenfalls. Innen war er wattiert und mit festem Leinen bezogen. Gianna hatte Madlainas Zöpfe frisch geflochten. Sie hatte sie auch angezogen, ihre Lieblingshose gewählt und ein schlichtes Hemd, darüber die Weste, die Madlaina fast täglich getragen haben soll. Gianna hatte ihr Kornblumen zwischen die Finger gesteckt. 

Als ich Gianna in Zürich kennenlernte, war ich neugierig, wo sie herkommt. Wir frotzelten, dass wir uns irgendwann zeigen würden, wo und wie wir aufgewachsen waren.
«Wir besteigen ein Raumschiff und reisen zurück auf unsere fernen Planeten.»
Gianna ist dermassen anders als ich. Bei all dem Vielen, was sie macht, scheinen ihr die Gedanken nie davonzufliegen. Sie kocht. Sie isst. Dann wäscht sie ab. Sie sagt, wenn sie nicht da ist. Sie schimpft, wenn sie wütend ist. Sie spricht mit mir. Sie schaut mich an. Sie sieht mich. Sie ist bei mir. Ich brauchte nicht lange mit Madlaina zu sprechen, um Gianna in ihr zu erkennen. Ich kenne sonst niemanden, der so genau spricht. Sie sind oft still. Aber wenn sie reden, ist es, als genössen sie jeden Vokal, jeden einzelnen Konsonanten. 

Meine Familie ist anders: Wir machen immer fünf Dinge zugleich und alle schlecht. Wir sind laut. Wir kommentieren, was wir machen, was wir gemacht haben. Wir sagen etwas und meinen etwas vollkommen anderes. Mein Vater rennt immerzu. Ausser er fährt Rad. Er ist stets besorgt, er könnte das Beste verpassen. Und Mama? Auch sie macht alles zu schnell. Sie verschluckt Worte. Sie führt ihre Sätze selten zu Ende. Als ich Gianna kennenlernte, war mir, als atme ich zum ersten Mal aus. 

Während ich Madlaina betrachtete, versuchte ich, meine Hände ruhig zu halten. Da war immer ein Zucken. Ich versuchte, still zu stehen. Ich versuchte, beide Füsse gleich zu belasten. Meine Beine standen ruhig. Nur was mache ich mit meinen Händen? Ich faltete sie probeweise wie zum Gebet. 

Ich würde das Aussprechen von Konsonanten auch gerne geniessen.
M-A-D-L-A-I-N-A. Es ist sonderbar, den Namen einer Toten zu denken. Es ist, als hätte etwas den Namen verlassen. Als sei da nur noch ein bleiches Buchstabenskelett. 

Der Pfarrer sprach den letzten Segen. In Gedanken legte ich Mama in den Sarg. Meinen Vater. Meinen Bruder. Und mich selbst. 

Ich hätte mir gewünscht, die Stille aushalten zu können. Nichts sagen zu müssen. Ich schaffte es nicht. «Sie sieht zufrieden aus.» Danach kniff ich die Lippen zusammen. Ich streichelte Giannas Hand. Ich hörte uns atmen. 

Vier Männer in dicken Daunenjacken betraten die Stube, sie hoben den Deckel und verschlossen den Sarg mit dicken Schrauben. Sehr hübschen Schrauben. Jemand schluchzte. 

In einem solchen schlichten Sarg will ich irgendwann liegen. (Wenn sich das Sterben schon nicht vermeiden lässt.) 

Wir gaben Madlaina das letzte Geleit. Die Kirchenglocken läuteten. Ich ging neben Gianna. Auch auf dem Friedhof stand ich neben ihr. Sie senkten den Sarg ab. Es war nicht meine erste Beerdigung. Aber zum ersten Mal in meinen Leben hatte sie nichts Surreales. Zum ersten Mal floh ich mich nicht anderswo hin. Nicht in den Himmel. Nicht zurück. Da war Holz. Hinter dem Holz lag Madlaina. Da war ein Loch in der Erde. Das Loch war an einer Stelle zu eng. Sie hoben den Sarg an den Seilen nochmals hoch. Einer nahm die Schaufel. Er grub kurz und energisch. Danach passte der Sarg in das Loch. 

Gianna löste sich aus meiner Umarmung, sie machte einen Knicks. Sie liess die Lilien aus ihrer Hand aufs Grab hinabfallen.
Ich zog die Handschuhe aus und schüttete etwas Erde auf den Sarg. 

Der Tod war hier dermassen beiläufig. 

Jetzt mag ich After Eights. 

Micha Friemel, geboren 1981 in St. Gallen, hat in Basel Deutsch und Geschichte sowie in Biel Literarisches Schreiben studiert. Heute lebt sie mit Mann und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Nebenbei führt sie eine kleine Pension für «kreativen Rückzug» (www.chasa-parli.ch). Mit ihrem Text «Kompost» hat sie 2019 den Schreibwettbewerb Open Net der Solothurner Literaturtage gewonnen. Im kommenden Frühling erscheint ein Kinderbuch von Micha Friemel zusammen mit der Zeichnerin Jacky Gleich bei Hanser!

Beitragsbild © Nina Mann

Lukas Hartmann «Der Sänger», Diogenes

Einer der grossen Namen an den 41. Solothurner Literaturtagen; Lukas Hartmann. Nach bald drei Dutzend Romanen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene brilliert der Altmeister des historischen Romans mit seinem Buch über den einst berühmten Sänger Joseph Schmidt, der sich 1933 mit «Ein Lied geht um die Welt» in die Herzen einer Generation sang und 1942 krank und vergessen in der Schweiz starb.

1942 flüchtete der einstmals gefeierte jüdische Sänger Joseph Schmidt in die Schweiz, den Ort seiner letzten Hoffnung, weil er in Zürich einen Bekannten wusste, der ihm helfen würde. Gelandet ist er in einem Auffanglager, schwer erkrankt, entkräftet, mutlos und mit schwindender Hoffnung. Im einzigen Land in Europa, das ihm Rettung versprach, eine Rettung, die ihm hinter Pflichterfüllung und latentem Antisemitismus nicht zum Überleben die Hand reichte, die ihn sterben liess, obwohl der Schritt zur Rettung und die Menschen, die es dazu gebraucht hätte, so nah waren.

Der 1904 im damals österreichischen Czernowitz (heute Ukraine) geborene und deutsch aufgewachsene Sänger, der auf Bühne und im Film berühmt und gefeiert wurde, erlebte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten einen steilen Niedergang. Der Mann, der in überbordendem Luxus von Veranstaltungsort zu Veranstaltungsort reiste, von den Frauen verehrt und angeschmachtet und von Musikkennern auf Händen getragen wurde, war unaufhaltsam gefallen, mit Berufsverbot stumm gemacht, wenn auch nicht aus der Erinnerung so doch aus der Zeit getilgt. Und als ob die Flucht und die Sorge um seine Familie nicht genug gewesen wären, plagen ihn eine aggressive Kehlkopfentzündung und Herzprobleme. Die wenigen Menschen, die ihm an der Seite bleiben, selber Juden sind, schaffen es nicht, gegen eidgenössische Pflichterfüllung und unverhohlenen Antisemitismus anzukämpfen. Joseph Schmidt stirbt, alleine gelassen, obwohl er nichts lieber getan hätte, als seinem Gastland seine Kraft als Gegenleistung anzubieten. Aber amtliches Misstrauen und Vorhaltungen, alle Krankheitssymptome seien blosses Simulieren, brachten den Mann schliesslich um sein Leben.

Lukas Hartmann beschränkt sich in seinem Roman auf die letzten Monate im Leben des gebrochenen Sängers. Auf Erinnerungsfetzen an seine Mutter, an Otto, den Sohn aus einer Liebschaft, den Sohn, den er gerne gehabt hätte, aber nie akzeptiert hatte. Lukas Hartmann schlüpft in gequälte Seele und Körper eines Mannes, der es gewohnt war, seine Umgebung mit seiner Stimme zu betören, dem mit dem Klang seines Singens fast alles gelang. Aber auf der Flucht vor den Nazis, krank, kraftlos, wird ausgerechnet der Hals, der Kehlkopf zum Epizentrum seines körperlichen Zerfalls.

Es wäre für den Autor ein leichtes gewesen, die Geschichte dieses Mannes episch auszubreiten. Aber Lukas Hartmann ging es ganz offensichtlich nicht in erster Linie um die Biographie eines Gestrandeten. Als die Schweiz im August 1942 ihre Grenzen für die flüchtenden Juden schloss, begründete man dies mit der Angst vor «Überfremdung», obwohl mehr als deutlich bekannt war, was mit abgewiesenen Juden passiert. Man knickte ein im vorauseilenden Gehorsam, weil man es auf keinen Fall mit dem mächtigen Grossdeutschland verspielen wollte. Heute sind «Überfremdungsängste» so aktuell wie damals. Lukas Hartmanns Buch ist die Stimme eines Mannes, der nicht ankommen kann und dabei zu Grunde geht. Keine anklagende Stimme, eine Stimme, die sich dem Schicksal ergibt. Darum ist dieses Buch ein besonderes Buch. Die Stimme eines Mannes, die abstirbt. Nicht nur weil eine Krankheit seinen Hals im Würgegriff hat, sondern weil Demütigung, Hass und «fatale Binnensicht» Tausende Existenzen vernichten.

Ein kleines Interview mit Lukas Hartmann:

Wo lag die erste Motivation, über Joseph Schmidt  zu schreiben? Wie geschieht ein solcher Findungsprozess bei all den historischen Personen, über die sie schon Romane schrieben?

Ich kann mich nicht genau erinnern. Der Name begleitete mich schon lange, aber ich wusste bloss, dass er ein berühmter Sänger gewesen war und in einem Schweizer Internierungslager starb. Aber als mir ein Musiker, mit dem ich befreundet bin, mehr über ihn erzählte, war meine Neugier oder mein literarischer Instinkt geweckt, und ich machte mich auf meinen Rechercheweg, in dessen Verlauf – er kann sehr steinig sein – ich ja auch immer etwas über mich erfahre.

Zuhörer an der Lesung von Lukas Hartmann © Lea Frei

„Der Sänger“ ist keine Lebensgeschichte, sondern eine Leidensgeschichte, ein Passionsweg. Die Geschichte eines Mannes dem nicht nur die Stimme, sondern sein Leben geraubt wird. Sie beschränken sich beim Erzählen auf ganz ausgewählte Rückblenden, wenige Motivtafeln in dieser Passionsgeschichte. Mussten sie sich strategisch beschränken angesichts der aufregenden Biographie dieses Mannes?

Ja, Passion trifft es nicht schlecht, das war mir gar nicht bewusst. Es ist eine von unzähligen jüdischen Leidensgeschichten während der finsteren Zeit zwischen 1933 und 45. Ich wollte mich in der Tat auf die letzte Etappe von Schmidts Leben beschränken und mit atmosphärisch dichten Rückblenden arbeiten. Darum reiste ich zum Beispiel in die Gegend, in der er aufwuchs, in die Bukowina, nach Czernowitz, wo auch Paul Celan und Rose Ausländer in ihren frühen Jahren lebten.

„Überfremdungsängste“ waren es 1942, „Überfremdungsängste“ sind es heute, wo der Ruf „Das Boot ist voll!“ wieder deutlich zu hören ist. In ihrem Roman sind es die kleinen Gesten, die einem, wenn sie denn möglich sind, versöhnlich stimmen. Vielfach sind es Frauen; eine treue Freundin, eine Krankenschwester, eine Wirtin. Menschlichkeit nur noch als Form des Guerillawiderstands?

Zuhörerin an der Lesung von Lukas Hartmann © Lea Frei

Es gehört wohl zu den grausamen Epochen der Menschheitsgeschichte, dass gerade die kleinen Gesten den Glauben an die Möglichkeit des Mitmenschlichen nicht ganz erlöschen lassen. Darin zeigt sich eine Gegenkraft, die es mir ermöglicht hat, das Buch zu schreiben. Es ist nicht einfach ein billiger Trost, sondern die Überzeugung, zu der ich mich hinschrieb, dass in solchen Schicksalen die kleinen liebevollen Gesten ebenso viel zählen wie die grossen Taten. 

An der Hauswand des ehemaligen Gasthauses Waldegg in Girenbad im Kanton Zürich hängt eine Gedenktafel auf der steht: „In diesem Haus starb am 16. November 1942, achtunddreissig Jahre alt, einer der berühmtesten und beglückendsten Sänger der Welt – Joseph Schmidt – als Flüchtling und Opfer einer gnadenlosen Zeit. Dankbare Freunde“. Ihr Buch; Denk- und Mahnmal?

Sie können es so lesen, auch als Appell, den Mut zu haben, in unserer Vergangenheit die Schattenseiten der Gegenwart zu entdecken und zugleich zu erkennen, wo es damals und heute Leuchtpunkte gab und gibt.

© Bernard van Dierendonck

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Spiegel bei Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen, zuletzt «Ein Bild von Lydia», regelmässig auf der Bestsellerliste.

Rezension zu «Ein passender Mieter» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild mit freundlicher Genehmigung des Joseph-Schmidt-Archivs In Dürnten im Kanton Zürich

Lea Frei zeichnet an den Solothurner Literaturtagen

Lyrikerin «Auch Götter haben Gärten»
Schriftsteller, Lyriker «Mund und Amselfloh»
Moderator und Autor
Ruth Schweikert, Schriftstellerin «Tage wie Hunde»

Viola Rohner, Schriftstellerin «42 Grad»
Rolf Hermann, Schriftsteller «Flüchtiges Zuhause»
Tim Krohn, Schriftsteller «Julia Sommer sät aus», «Engadiner Abgründe» (unter dem Pseudonym Gian Maria Calonder)
Katja Alves, Moderatorin und Schriftstellerin

Auf dem Beitragsbild von links nach rechts: Donat Blum (Moderator, Schriftsteller «Opoe», Micha Friemel (Schriftstellerin und Preisträgerin des OpenNet Schreibwettbewerbs 2019), Ruth Schweikert (Schriftstellerin «Tage wie Hunde» 2016 Trägerin des Solothurner Literaturpreises), Ralph Tharayil (Schriftsteller, arbeitet an seinem Debütroman) und Rolf Hermann (Schriftsteller, Lyriker «Flüchtiges Zuhause»)

Alle Zeichnungen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)

Daniel de Roulet «Wenn die Nacht in Stücke fällt», Limmat

Ferdinand Hodlers Todestag jährte sich vergangenes Jahr zum 100. Mal. Der Genfer Schriftsteller Daniel de Roulet, ein leidenschaftlicher Verehrer Hodlers Spätschaffen, schrieb zu diesem Anlass einen langen, leidenschaftlichen Brief. Ein Brief eines Bewunderers, keines ‹exaltierten Patrioten, der die grösste Sammlung besitzt› und diese auch gerne für seine vaterländischen Reden ‹zitiert›.

Neben Alberto Giacometti hat sich wohl kein anderer Maler so tief in das Bewusstsein der Schweiz hineingebrannt wie Ferdinand Holder, der mit seiner Deutschschweizer Herkunft fast während seines ganzen Schaffens in der Westschweiz lebte und in den Wirren des 1. Weltkriegs zwischen die Fronten von Deutsch- oder Frankreichgesinnung fiel.

1908, Ferdinand Hodler war 55, traf der mittlerweile berühmte und reich gewordene Maler die zwanzig Jahre jüngere Pariserin Valentine Godé-Darel, die frisch geschieden zuerst Modell, dann Geliebte wurde. Eine leidenschaftliche Liebe neben der zur Zweckehe gewordenen Beziehung zu seiner Frau Berthe. Eine Liebe, aus der ein Kind entstand, Pauline, während die Ehe mit Berthe kinderlos blieb. Eine Liebe, die mit Valentines Krebserkrankung schon wenige Jahre später tiefe Schatten bekam. Eine Liebe, die Leidenschaft transformierte, von obsessiver Körperlichkeit zu innigstem Nebeneinander am Kranken- und Sterbebett. Eine Liebe, die auch den Blick und das Schaffen des Künstlers transformierte. Mit einem Mal war es nicht mehr Symbolismus und Verklärung, sondern ganz direkter Realismus. Die Liebe zu Valentine und das Sterben dieser Frau erschütterten nicht nur sein Dasein, sondern auch seinen Blick auf die Welt, seine Malerei, jene Malerei, die der Schriftsteller Daniel de Roulet so sehr erschüttert und zu verstehen versucht.

«Wenn die Nacht in Stücke fällt» ist ein Brief an einen Mann, der in seinen Bildern die Antworten auf die Fragen des Schriftstellers gibt. «Wenn die Nacht in Stücke fällt» ist aber auch eine Verteidigungsschrift für alle Vereinnahmungsversuche verschiedenster Seiten, sei es jene des einen grossen Sammlers, der sich mit dem Besitz der Bilder seine Gesinnung illustriert oder jene der schreierischen Kunst- und FrauenversteherInnen, die Ferdinand Oder vorwerfen, er habe das Sterben seiner Geliebten mit seinen vielen Zeichnungen und Bildern zur Obsession gemacht und damit Valentine Godé-Darel instrumentalisiert.

So leidenschaftlich jene Liebe zwischen Valentine Godé-Darel und Ferdinand Holder ist, so leidenschaftlich die Verehrung des Schriftstellers Daniel de Roulet. So sehr der Maler im von der Krankheit gezeichneten Gesicht seiner Geliebten den Zeichen der Vergänglichkeit nachging, so kritisch bleibt der Schriftsteller Daniel de Roulet bei den Widersprüchen des grossen Malers. Genau das macht den Wert dieses schmalen Büchleins aus. Kein verklärter Blick, aber ein überaus gelungenes Denkmal für Valentine Godé-Darel, Ferdinand Hodler, seine Malerei und die Liebe.

Für sein Lebenswerk erhielt Daniel de Roulet anlässlich der Solothurner Literaturtage den Grand Prix de Littérature 2019 der Kantone Bern und Jura.

© Yvonne Böhler

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Er lebt in Genf.

Webseite des Autors

Rezension von «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen», Limmat Verlag 2017

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Beat Brechbühl an den Solothurner Literaturtagen 2019

Am 28. Juli 2019 wird Beat Brechbühl 80. Die 41. Solothurner Literaturtage feiern ihn als Dichter, Schriftsteller, Typograph und Verleger, als kreativen Geist und Initiator zahlreicher kultureller Projekte.

Das übliche Gehetze, so doof
Da wollte ich ein
einziges winziges Mal in diesem Jahr
mit mir gemütlich sein
und einen halben Abend (fast 3 Stunden) lang
nichts tun,
nur für mich was kochen, die
Seele und den Körper baumeln lassen, und
vielleicht einen Krimi –
da! bei ein bisschen Wein und Fernsehen:
schlaf ich ein, drei volle, gar traumlose, Stunden lang – ich
Trottel

(aus «Flügel der Sehnsucht – Alte und neue Gedichte» im Wolfbach Verlag)

Beat Brechbühl wirkt und arbeitet seit Jahrzehnten in Frauenfeld. Mittlerweile in einem Kellergeschoss des Eisenwerks, in prallvollen Räumen, in denen das entsteht, was den Waldgut Verlag und die Bodoni-Blätter unverwechselbar macht; Hier riecht man das Drucken. Hier prägt sich der Druckstock noch ins Papier, hinterlässt die Letter noch eine regelrechte Spur. In einem Gewölbe voller Papier, Schubladen, Setzkästen und Regalen öffnet sich ein Kosmos, wenn man Beat Brechbühl und seine Arbeit, seine Wirkungsstätte, wenn man ihn in seinem geistigen Zuhause besucht. Er sprudelt und schwärmt. Und überall hängen Zeugnisse einer langen Vergangenheit, wichtiger Begegnungen.

«Ich bleibe ein Papiermensch.»

Höchste Zeit, dass sich die Welt der Buchstaben, der Lyrik, der Literatur bei Beat Brechbühl mit einer gebührenden Ausstellung beim Streiter für das Schöne und Gute (und zwar nicht nur im Scheinwerferlicht) bedankt. Wie viele Lyrikerinnen und Lyriker hätten ohne Beat Brechbühls unermüdlichen Einsatz nie eine Stimme bekommen oder man hätte sie im deutschsprachigen Raum rechtlos vergessen.

Das Künstlerhaus S 11 an der Schmiedengasse in der Solothurn zeigt vom 30. Mai bis 16. Juni auf vier Stockwerken eine Ausstellung, die unter dem Titel «Das Leben ist rund wie ein Dreieck» Beat Brechbühls vielfältiges Wirken vor Augen führt und erleben lässt.

Im Parterre wird eine Druckmaschine stehen, die in Brechbühls Atelier Bodoni zu Hause war, bis sie vor etlichen Jahren der Schule für Gestaltung Bern und Biel geschenkt wurde, die sie jetzt für die Ausstellung ausleiht, samt Personal. Hier kann ein Gedicht von Beat Brechbühl gedruckt werden.

In den oberen Stockwerken werden Handpressendrucke und Bücher aus dem Atelier Bodoni zu sehen sein. Zudem gibt es einen kurzen Stummfilm über das Atelier Bodoni und eine Dia-Schau zur 1992 von Beat Brechbühl gegründeten Handpressen-Messe, die 2018 bereits zum 14. Mal im Eisenwerk in Frauenfeld stattfand, mit rund 50 Ausstellern aus verschiedenen Ländern Europas.

Eine Lese-Ecke wartet auf LeserInnen, eine Hörstation mit Geschichten aus Beat Brechbühls beliebten Schnüff-Kinderbüchern auf HörerInnen jeden Alters.

Eine grosse Auswahl der bekannten Bodoni Blätter mit Texten teils berühmter, teils noch zu entdeckender AutorInnen wird zu sehen, zu lesen und auch zu kaufen sein: «Besser ein guter Text an der Wand als ein schlechtes Bild im Schrank», sagt Beat Brechbühl.

Weil ich nicht…

Weil ich nicht öffentlich reden kann
und im Live-Interview nicht viel tauge,
bin ich Schriftsteller geworden.

Weil ich nicht singen kann,
bin ich Lyriker geworden.

Weil ich nicht zeichnen und malen kann,
bin ich Gestalter geworden.

Weil ich eine charakterlose Handschrift habe,
bin ich Typograf geworden.

Weil ich nicht lügen kann,
bin ich Dichter geworden.

Weil ich nicht die Geduld habe,
dürftige Gedichte von andern zu lesen,
habe ich Lieblings-Dichterinnen und -Dichter;
nach dem Umzug nur noch ca. 4 Laufmeter.

Weil ich nicht immer höllisch aufpasse
und deshalb oft das wuchernde Leben verpasse,
habe ich Lücken in meiner elften Biografie;
in diesen Lücken wohnen meine Poetischen Tiere
und das himmlische Flugvolk. Alle machen sie
Kinder; es sind die letzten.

Anders gelaufen –
Weil ich nicht Englisch kann, geriet
ich gleich aus dem Kindergarten nach Italien, dort flog mir
ein Buchverlag entgegen, den ich später gründete,
und nun laufen mir seit 30 Jahren die Bücher anderer so hartnäckig
nach und davon, dass ich meine eigenen Bücher schreiben möchte und
ich möchte laufen auf meinen Füßen, und mit
dem Körper und Hirn. Trotzdem war ich noch nie
in Paris.

30.6.2012
© Beat Brechbühl, Frauenfeld

Zu hoffen ist, dass auch der Kanton Thurgau jenen Mann zu würdigen weiss, der ein Leben lang viel weiter sah als bis zum eigenen Tellerrand, der die Literatur zu einer ganz eigenen Mission machte und Frauenfeld für viele Autoren zu einem Angelpunkt ihres Lebens.

Beitragsfoto © Martin Stiefhofer