Daniel de Roulet „Zehn unbekümmerte Anarchistinnen“, Limmat

Ein Roman über zehn mutige Frauen, die sich vor mehr als 150 Jahren trauten, ihrer Sehnsucht nach einem autonomen Leben zu folgen. Die auf der Basis historischer Dokumente nacherzählte Geschichte einer Suche nach Glück, einem Leben ohne Hierarchie, sei sie von Männern in der Gesellschaft oder in der Kirche inszeniert.

Die Geschichte ist mehr als abenteuerlich. Aus heutiger Sicht fast unglaublich, wie viel Leidensdruck es auf der einen und Sehnsucht auf der andern Seite geben musste, dass junge Frauen eine Reise ins Ungewisse wagten. Eine Reise, bei der es meist nur dann ein Zurück gab, wenn man(n) reich zurückkehren konnte.

Daniel de Roulet, dessen Romane sehr oft eine starke politische Komponente mittragen, lässt Valentine Grimm erzählen, die letzte der zehn Frauen. Valentine ist alt. Ihr „Wir-Gefühl“, das sie in der Vergangenheit zuerst nach Patagonien, später auf eine „Robinson-Insel“, dann nach Tahiti und schlussendlich nach Buenos Aires führte, ist so gross, das Valentine selbst als letzte ihrer zehn in der „Wir-Form“ erzählt. Die Geschichte von Colette, Juliette, Émilie, Jeanne, Lison, Adèle, Germaine, Mathilde, Valentines ältere Schwester Blandine und Valentine selbst. Sie alle wuchsen in der Gegend um die jurassische Stadt St. Imier auf. Eine Stadt, in der damals die Uhrenindustrie erwachte, sonst aber unsichere Zeiten durchlebte, erst recht als im Jahr 1851 die Unzufriedenheit vieler gegen die Obrigkeit Waffengewalt provozierte, Unruhestifter gejagt wurden, Ortschaften wie St. Imier bevölkerungsmässig förmlich explodierten. Doch die Aufbruchstimmung setzte sich nicht bis in die Familien und Traditionen durch. Die Frauen trafen sich, lasen in Zeitschriften vom Paradies in Übersee und schmiedeten Pläne. Die beiden Ersten, Colette Colomb und Juliette Grosjean, wanderten jede mit einer Longine A20 als Kriegskasse aus. Sie wollten unbedingt fort, in der Hoffnung, dort ihre gegenseitige Liebe ausleben zu können. Doch wenige Monate nach ihrer Abreise erhielten die noch Zurückgebliebenen die Todesnachricht „erdrosselt“ und einen Koffer mit den Habseeligkeiten der beiden Verlorenen. Die beiden Longine A20 aber blieben verschwunden.

“Wir fassten die Emigration ins Auge, um uns ein neues Leben zu erfinden.“

Im Juni des Jahres 1873 machten sie sich auf, acht Frauen, Émelie schwanger, zur Südspitze Amerikas, an die Ufer der Magellanstrasse, jede eine Longine A20 als Talismann und Kriegskasse im Gepäck. In den Zwiebeln der Uhren liessen sie drei Geheimbuchstaben und eine Zahl von drei bis zehn eingravieren, denn die Eins und die Zwei gehörten den unglücklich Vorangegangenen. Im August 1873 besteigen sie in Brest die Fregatte La Virgine. Neben Passagieren und Besatzung sind auch fast 300 Strafgefangene an Bord, auch mutterlose Kinder, die ihre Väter begleiteten. Verurteilte Aufmüpfige, Abgeschobene, „Randale“. Schon auf dem Schiff beginnt der unablässige Kampf ums Überleben. Émelie und ihr auf dem Schiff Geborenes schaffen es nicht. Nur sieben steigen im chilenischen Punta Arenas aus. Ein Ort, der die sieben Frauen erst einmal mit Kälte und Nässe „empfängt“.

Die von Valentine Grimm erzählte Geschichte ihrer Truppe unerschrockener Frauen ist nicht nur eine Aneinanderkettung unglücklichen Leidens, Misserfolgs und ewigem Kampf. Die Sieben schaffen es, etablieren sich, leben ihr Leben und ihre Lieben, kriegen Kinder, gründen Geschäfte, leben vieles von dem, was in den engen Strukturen ihrer Heimat nie möglich gewesen wäre. Daniel de Roulet schrieb ein Denkmal all dieser Mutigen. Frauen, die nicht in erster Linie Politik machen wollten, aber in ihrer neuen Art des Zusammenlebens höchst politisch waren. Selbst die Art und Weise wie sie ihre Kinder erzogen, ist aus heutiger Sicht revolutionär. Daniel de Roulet schrieb mit diesem Roman über Frauen, die sich neu erfinden mussten, die herausgerissen waren aus scheinbar sozialer und gesellschaftlicher Sicherheit und in der Fremde, die nicht weniger frauenfeindlich war, nur als Gemeinschaft, als Kollektiv überleben konnten.

Ein beeindruckendes, ungeheuer spannendes, wichtiges Buch. Bei weitem nicht das erste Buch von Daniel de Roulet, das man gelesen haben sollte.


Daniel de Roulet, 1944 in Genf geboren, war Architekt und arbeitete als Informatiker. Seit 1997 gewann er als Schriftsteller, Autor zahlreicher Romane und Essays viele Preise, vor allem in Frankreich. Er lebt in Genf. Im Limmat Verlag ist ein Grossteil seiner Werke auf Deutsch erschienen.

Maria Hoffmann-Dartevelle, die Übersetzerin von „Zehn unbekümmerte Anarchistinnen“, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre ist sie u.a. als freiberufliche Übersetzerin französischer, schweizer, spanischer und südamerikanischer Autoren tätig.

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