«Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine grosse Lüge»

Lieber Gallus

Soeben habe ich Jens Steiners «Die Ränder der Welt» fertiggelesen.

«Dieses Ich, so nah und unausweichlich. Du kannst dich nicht daran vorbeilügen, du bist ich, und so stehe ich jetzt auf von meinem Stein, drehe mich um und blicke zurück aufs Land»

Zurückblicken auf ein Leben vor der letzten entscheidenden Begegnung mit seinem Freund: Ich bin tief berührt, begeistert, nachdenklich und angeregt nach dieser Lektüre. Mit anderen Worten: Ich lege diese eindrückliche Suche, dieses Werk voll Liebe und Leiden, Verzweiflung und auch Versöhnung, voller Fragen nach dem Sinn des Lebens, auch der Kunst, bereichert und glücklich zur Seite. Eine klare, sehr bildhafte Sprache mit Witz und Humor zeichnet dieses Buch aus. Kristian hofft auf seiner Reise durch viele Länder und mit wechselnder Beziehung zu seinem Freund Mikkel seit Kindertagen, angeregt durch einen Brief von ihm, auf der dänischen Insel Christianso endlich bei sich anzukommen. Die Auseinandersetzung mit bildender Kunst und das Bearbeiten Kristians von Stein und Fels sind Bilder, die bleiben.

«Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine grosse Lüge»

Ich bin gespannt auf deine Meinung zu diesem lesenswerten Buch.

Herzlich
Bär

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Lieber Bär

Eben habe ich „Die Ränder der Welt“ beiseite gelegt, zumindest haptisch, denn das Buch wird mich zu meiner grossen Freude noch weiterbegleiten. Ich werde es nicht gleich ins Regal schieben zwischen die anderen Perlen aus seiner „Feder“, so wie man nach einem besonderen Stück Leben nicht einfach in die Mühlen des Alltag zurückkehren will.

Manchmal fühle ich mich als Leser Zeuge von etwas Besonderem. Schon sein Romandebüt „Hasenleben“ gewann meine Aufmerksamkeit. Auf meinem dritten Literaturblatt schrieb ich über jenen Roman: „Man ist den ProtagonistInnen ganz nah, bleibt ein Buch lang und darüner hinaus bei ihnen, fühlt mit. Die eigentliche Katastrophe ist die Summe vieler kleiner Katastrophen. Was darauf folgt, schmerzt, zerreist, fügt tiefe Wunden zu.“ „Hasenleben“ gefiel nicht nur mir. Das Debüt schaffte es gar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. „Carambol“, Jens Steiners Zweitling, glänzte dann endlich auch mit Preisen, nicht zuletzt mit dem Schweizer Buchpreis 2013. Mit diesem Buch war Jens Steiner Gast einer meiner traditionellen Hauslesungen in Amriswil. Seither sind weitere Romane dazugekommen, solche für Kinder und Erwachsene, Romane, die die Vielschichtigkeit des Autors wiederspiegeln und seine Lust, stets neues Terrain zu erkunden.

Jens Steiner «Die Ränder der Welt», Hoffmann und Campe, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 34.00, ISBN 978-3-455-01710-6

Sein neuster Roman „Die Ränder der Welt“, im Frühling bei Hoffmann und Campe erschienen, ist die Geschichte eines Mannes, der die Nabe seines Lebens sucht und dabei, wie im Titel, an die Ränder der Welt gerät, und das ist nicht nur geographisch gemeint. „Die Ränder der Welt“ ist die Reise eines Mannes ins Epizentrum seines Lebens, eine Reise von Kleinhüningen, über Paris nach Kopenhagen, von Italien bis nach Patagonien, die keine dänische Insel Christianso immer immer wieder nach Estland, wenn auch nur im Herzen. Die Reise eines Suchenden. Ein Roman, der meines Erachtens so gar nicht helvetisch erzählt, sondern mit fast südamerikanischem Gestus, ohne diesen kopieren zu wollen. Ein Roman, der mich ungeheuer mitnahm, inspirierte, manchmal gar belehrte, in gutem Sinne, und während Tagen nicht mehr losliess.

Jens Steiner ist seit vielen Jahren Redaktor der Zeitschrift „Kunst und Stein“, dem Verbandsorgan der Schweizer Bildhauer und Steinmetze. Jens Steiner hat dänische Wurzeln, lebte einige Jahre in Flensburg und heute im Burgund. Er erzählte mir einmal, als er noch in Zürich lebte, seine Schreibklause sei damals bloss wenige Quadratmeter gross gewesen. Jens Steiner öffnet die Welt, vom Kleinen ins Grosse, er fokussiert und schweift mit dem suchenden Blick in die Weite. Sein Tun ist Aufforderung!

Liebe Grüsse

Gallus