Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime – eine Würdigung von Klaus Merz

Anlässlich der Buchtaufe von Markus Bundis neuem Roman «Wilde Tiere» am 10. März dieses Jahres im Gluri-Suter-Haus in Wettingen, bei der Klaus Merz, aktueller Träger des Schweizer Literaturpreises, die Veranstaltung moderierte, verfasste Klaus Merz eine mehr als treffende Einführung zu «Wilde Tiere». Hier wiedergegeben eine leicht angepasste Fassung:

«Das Kaleidoskop sei ein optisches Gerät, das häufig als Kinderspielzeug verwendet werde, so Wikipedia. Es war ursprünglich schon den alten Griechen bekannt, wurde jedoch erst 1817 als Patent angemeldet. Ein Physiker war bei seinen Untersuchungen über die Polarisation doppelbrechender Kristalle darauf gestossen, als er solche in eine spiegelnden Metallröhre schob und betrachtete.

In unserem Fall aber giesst der Schriftsteller Markus Bundi in seinem neuen Buch mit dem Titel «Wilde Tiere» ein knappes Dutzend nicht über jeden Zweifel erhabene menschliche Individuen wie unsereins, ein paar Kunstmuseen von Rang und die dazu gehörenden Kunstwerke samt einer vermuteten Leiche kurzerhand in seine verspiegelte Rollen-Prosa-Röhre.

Bundi lässt in der Folge Kollers Gotthardpost samt erschrecktem Kalb und Dalis Brennende Giraffe plus Schubladenfrau miteinander die Wege kreuzen, hortet ein gestohlenes Bacon-Porträt im düsteren Abstellraum, während Boschs Knabe mit Windrädchen leise den Wänden entlang vorüberzieht. Das Zürcher Kunstmuseum vermischt sich als Ort des Geschehens lichterdings, so übrigens der Titel eines frühen Bundi-Gedichtbandes, mit dem Kunstmuseum in Wien, die neue, lotterige Aarauer Kunsthausterrasse korrespondiert mit dem ältesten öffentlich zugänglichen Kunstmuseum der Welt im reichen Basel. Und das Putzpersonal der gehobenen Anstalt mischt sich äusserst mitteilsam unter die recherchierenden KriminalistInnen vor Ort.

Von Anfang an nicht zu übersehen der ganz und gar hiesige Hausmeister Binz sowie der alte Kunstkenner Assinger, dem Namen nach vermutlich gebürtiger Österreicher – oder ist er gar dem Umfeld von Robert Walsers Aschinger zuzuordnen? – Er trägt einen Topas als Erbstück an seinem Finger und Droste-Hülshoffs Satz «Du hast die Erde, hast den Himmel und deine Geister obendrein» stets in seinem Herzen. – Und ich kann Ihnen versichern, liebe Leserinnen und Leser, weder die Direktorin des Hauses noch Greta Thunberg kommen ungeschoren davon, sogar Frau Merkel wird fast liebenswürdig «verhundst». Und ein Zwillingsschicksal nimmt, als weiterer Nucleus eines möglichen Romans im Roman, einsam seinen Lauf, während Wärter Odradek, das kafkaeske Museumsfaktotum per se, über Olafur Eliassons geflutete Zumthor-Räume in Bregenz nachdenkt und Marco Odermatt im Kunstschnee weiter siegt.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime, 2024, 115 Seiten, CHF ca. 22.90
ISBN 978-3-99120-037-6

Nur, geneigte Leserinnen und Leser, leider weit und breit keine wilden Tiere, sondern im Grunde lauter «Denkzettel». Diese triftige Gedankensammlung Markus Bundis von 2022 findet hier ihre novellistische Fortsetzung. Als wildes Sinnieren.
Soviel als Versuch einer kurzen Einführung oder Entsprechung, will sagen, wilden Leseanleitung zu «Wilde Tiere», diesem sozusagen postmodernen Suchbild in Prosa, worin sich das Nichts und Abernichts auf Schritt und Tritt mit unserer Gegenwart vermischen und der heutige Zeitgeist bei Gelegenheit kurz und gehörig gegeisselt wird. Fast alles wird vom Autor mit einem knirschenden Lachen auf den Stockzähnen in den Prosa-Häcksler geschoben. Auch der Mord als Vorwand und Köder für die neugierige Leserschaft.

Wir sollten in diesem kaleidoskopischen Suchbild also vor allem dem Autor selber auf der Spur bleiben, da er ja – wie immer in literarischen Texten – der eigentliche Täter ist und bleibt. – In unserem Fall lautet sein Leitsatz übrigens: «Ich halte den Realismus für einen Irrtum.» Markus Bundi setzt diese Aussage von Georges Bataille als gestrenges Motto schon vor den Anfang seiner Geschichte. – Viel Vergnügen bei der Lektüre und Lesung von Markus Bundis «Wilden Tieren»!» 

Klaus Merz

Markus Bundi, 1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte, zuletzt  «Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig» und «Des Möglichen gewärtig. Ein Essay zum Werk von Klaus Merz». 2018 veröffemtlichte er sein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk «Wirklichkeit im Nachsitzen» und seit 2011 erscheint unter Bundis Herausgeberschaft die Klaus-Merz-Werkausgabe im Haymon Verlag. Bei Septime erschienen bisher der Kriminalroman «Alte Bande, Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte» und «Die letzte Kolonie».

Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Franjo Seiler

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime – Hauslesung im Literaturport Amriswil

Ein Kunstraub oder gar ein Mord im Museum? Markus Bundis Roman «Wilde Tiere» ist kein Krimi – und schon gar keine Strandlektüre. «Wilde Tiere» ist ein literarisches Abenteuer, geschrieben von einem Schriftsteller, der sich nicht gerne eingrenzen und schubladisieren lässt.

Museen sind Unorte, weder Biotop, noch Lebensraum. Man besucht sie, zuweilen gar nachts. Aber es sind Orte des Schauens. Orte, an denen die Uhr anders oder gar nicht tickt. Orte, an denen die Zeit konserviert wurde, ob Kunstmuseum, Historisches Museum oder dergleichen. Auch wenn Schulklassen manchmal etwas Leben in solche Tempel bringen, bleibt leblos, was da drin von der besten Seite gezeigt wird. Museen sind Orte des Erinnerns, eingelagertes Bewusstsein, nur durch BesucherInnen mit dem Leben, der Gegenwart verbunden.

Dass Markus Bundi in seinem neuesten literarischen Streich einen solchen Unort gewählt hat, ist für einen Philosophen wie ihn doch eigentlich nicht verwunderlich. Sind Museen doch Spiegel der jeweiligen Zeit, passen sich ihrer jeweiligen Zeit wie ein Chamäleon an, wenn auch nicht aus eigenem Antrieb. Museen wollen Antworten geben. Museen wollen zeigen, verblüffen, manchmal bluffen, festhalten, das wie alles andere der Vergänglichkeit unterworfen ist. In seinem Roman „Wilde Tiere“ leuchtet der Schriftsteller in ein ganz besonderes Terrarium.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime, 2024, 115 Seiten, CHF ca. 22.90
ISBN 978-3-99120-037-6

In diesem Haus kreuzen sich die Wege vieler, von Besucherinnen und solchen, die dort arbeiten. Bis eines Morgens die Polizei auftaucht und man im Haus ein Kapitalverbrechen vermutet. Julius Assinger, Stammgast mit Dauerkarte im Museum, wittert den grossen Kunstraub, bis durchsickert, dass in der Herrentoilette des Hauses eine Tote gefunden wurde. Kaum bekannt, überstürzen sich die Mutmassungen. Ist die Direktorin, die erst seit kurzem das Haus führt, Opfer eines Verbrechens geworden? Sie, die alles umkrempelt, dem Museum eine neue Richtung geben will, Einsparungen für notwendig erachtet und lieber Geld ausgibt für elektronische Überwachung statt für Personal? Odradek, der Museumswärter (In Franz Kafkas „Ein Landarzt“ ist Odradek eine nach Sinn und Unsinn fragende Gestalt oder ein Ding, wie eine seitlich gekippte Spule, von der nicht gesagt werden kann, wozu sie nütze wäre.), der in seiner Abstellkammer mehr Zeit mit Sinnieren verbringt, als mit tätiger Arbeit, glaubt an grosse Zusammenhänge und dass das erst der Anfang sein kann. Oder Hammi, die „Putze“, übrig geblieben von einer ganzen Putzkolonne. Oder Greta, die den Museumsshop führt und an der im wahrsten Sinne des Wortes keine und keiner vorbeikommt. Bis mit einem Mal klar wird, dass doch alles ganz anders ist, als angenommen. Kein Wunder in einem Haus, in dem die Scheinwelt eingerahmt an den Wänden hängt.

Markus Bundis Roman ist sonderbar. So museal die Szenerie, so museal die Sprache. Leicht gestelzt, als hätte der Autor beim Schreiben stets den kleinen Finger der Schreibhand nach oben gereckt. Wer ist heute noch ‹frappiert›? ‹Ehedem› und ‹einerlei› – Wörter wie aus dem Setzkasten der Vergangenheit. Markus Bundis „Wilde Tiere“ sind die Figuren im Museum, die durch das Auftauchen der Polizei in Aufruhr gesetzt werden. Hier die stoische Ruhe der Kunst, dort das hektische Treiben der Menschen im Haus. Einem Haus mit offener und versteckter Bühne, mit Räumen und Sälen für das Publikum und solchen, die auf keinem Übersichtsplan vermerkt sind. „Wilde Tiere“ hat kafkaeske Züge und liest sich dann mit Vergnügen, wenn die Lust am Geheimnis grösser ist, als deren Klärung. Was auf den ersten Seiten wie ein Krimi daherkommt und nach Verbrechern und Motiven sucht, ist ein Tiefgang in die Vieldeutigkeit. So wie es die akstrakte Kunst schon lange tut. Ein grotesk-skurriles Kammerstück voller Poesie und Witz für FeinschmeckerInnen!

Markus Bundi, 1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte, zuletzt  «Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig» und «Des Möglichen gewärtig. Ein Essay zum Werk von Klaus Merz». 2018 veröffemtlichte er sein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk «Wirklichkeit im Nachsitzen» und seit 2011 erscheint unter Bundis Herausgeberschaft die Klaus-Merz-Werkausgabe im Haymon Verlag. Bei Septime erschienen bisher der Kriminalroman «Alte Bande, Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte» und «Die letzte Kolonie».

Veranstaltungen:
So, 10. März 2024, 11 Uhr, Wettingen, Gluri Suter Huus, Buchvernissage
Moderation: Klaus Merz

Mi, 17. April 2024, 19.45 Uhr, Lenzburg, Literaturhaus, Lesung mit Gespräch
Moderation: Luzia Stettler

Sa, 4. Mai 2024, 18 Uhr, Amriswil, Maihaldenstrasse 11, Hauslesung bei Irmgard
und Gallus Frei-Tomic, Anmeldung unbedingt an info[at]literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Markus Bundi «Einer wie Lenz im Labyrinth» Ein Essay zum Werk von Urs Faes, der heute seinen 75. Geburtstag feiert

Heute feiert der Schriftsteller Urs Faes seinen 75. Geburtstag. Dass der Telegramme Verlag zu diesem Anlass ein Essay über das Werk dieses stillen Meisters herausgibt, ist löblich. Dass der Verfasser dieser Schrift Markus Bundi ist, mit Sicherheit einer der profunden Kenner hiesiger Dichtkunst, ist für all jene, die Urs Faes bereits schätzen, ein Glück, für alle anderen eine grosse Geste zur Einladung.

Seit mit «Sommerwende» 1989 Urs Faes dritter Roman erschien, ist dieser Hausautor bei Suhrkamp. Etwas, was nur wenigen vergönnt ist. Und dass in der Insel-Bücherei mit «Paris. Eine Liebe» und «Raunächte“ zusätzlich zwei literarische Preziosen erschienen sind, adelt den Autor, in einer Zeit, in der es für Schreibende nicht mehr selbstverständlich ist, sich in einem Verlag «zuhause» fühlen zu können. Urs Faes ist weder ein Autor der grossen Töne und auch keiner der reisserischen Themen. Keiner seiner vielen Romane wurde zum Kassenschlager, weil seine Bücher leise Töne anschlagen, kaum je plottorientiert sind und erst mit aufmerksamer Lektüre die Türen zu den angelegten Resonanzräumen öffnen.

Vor wenigen Wochen erschien bei Telegramme nun von Markus Bundi «Einer wie Lenz im Labyrinth». Freundlicherweise gestattete der Verlag literaturblatt.ch das erste Kapitel des Essays hier zu veröffentlichen. Als Leseangebot für all jene, die mit Markus Bundi durch den Faes’schen Kosmos reisen wollen und ein Geburtstagsblumenstrauss für den Autor: 

***

Ich bin unschuldig geboren,
aber irgendetwas ist schiefgegangen,
ich weiss nicht, wie das passiert ist.

Amélie Nothomb

«Wer am Rande der Tanzbühne steht, tanzt mit allen.» – Das schreibt Steffen dem Ich-Erzähler des Romans Und Ruth (2001). Oder schreibt Steffen das dem Ich-Erzähler im Roman – oder gar in den Roman?

Man sollte in einem Essay nicht mit solch einer Spitzfindigkeit anheben, die, weil sie gleich zu Beginn in den Fokus gerückt wird, womöglich nicht nur einer intellektuellen Pedanterie geschuldet ist, sondern darüber hinaus eine Komplexiät in sich birgt, der Leserinnen und Leser, wenn überhaupt, sich lieber behutsam annähern wollten als schon beim zweiten Satz zum Nachdenken genötigt zu werden. Nun, auch nach reiflicher Überlegung ist mir kein besserer Einstieg in den Sinn gekommen; denn in Urs Faes’ Erzählen geht es immer um Perspektiven, seine Prosa handelt explizit oder implizit von den Bedingungen der Möglichkeit des Erzählens. Das gilt zum Beispiel für die Differenz zwischen Erzählinstanz und Fokalisierungssubjekt:

Aber eine erzählte Kindheit, schrieb Steffen, ist nie eine kindliche Kindheit, weil ein Kind nie seine Kindheit beschreibt, sondern als Kind lebt. Und wenn es seine Kindheit erzählt, ist es kein Kind mehr und seine Kindheit folglich eine erfundene Kindheit, die einer so erfindet, wie er als Kind gern gewesen wäre, es aber bestimmt nicht gewesen ist.

Markus Bundi «Einer wie Lenz im Labyrinth» Ein Essay zum Werk von Urs Faes, Telegramme, 2022, 130 Seiten, CHF 21.90, ISBN 978-3-907198-56-8

Eine Schlüsselstelle aus dem Roman Und Ruth. Zum Ausdruck kommt nicht nur das zentrale Thema in Faes’ Gesamtwerk, das Erinnern, sondern auch die grundlegende Schwierigkeit im Umgang mit Erinnerungen. Die Ausführungen Steffens verweisen auf die Unmöglichkeit der Wiedergabe von Wirklichkeit, und sie handeln von der Suche nach einem Anfang: Wo sollte einer mit Erzählen beginnen, wenn nicht bei seinen Kindheitserinnerungen?

Dieser Frage ging Urs Faes bereits in seinem ersten Roman Webfehler (1983) nach. Der Titel ist Programm, nein, er ist Schicksal, wann immer man einen Schöpfer mitdenkt – und auf den Menschen angewandt: die Bedingung für jedwede Tragödie. Wer einst im Orient dem Handwerk des Teppichknüpfens nachging, achtete tunlichst darauf, einen Webfehler zu begehen – denn nur einer war unfehlbar, und das war kein Mensch. Ob wir nun, Shakespeare folgend, solcherweise Stoff sind, aus dem die Träume gemacht sind – welche Textur auch immer von uns sichtbar wird –, oder auch nur des menschlichen Treibens gewahr werden, der Makel, das Ungenügen, der Fehler ist stets offensichtlich, uns von vornherein eingeschrieben: »Es geht nicht mit den Menschen. Wir sind eine Fehlkonstruktion.« Das denkt sich Anne, eine der beiden Hauptfiguren des Romans. Und Bettina, die andere Protagonistin aus Webfehler, ergänzt:

Als hätte sich, früh und unbemerkt, in das Gewebe, das ich wurde, ein Webfehler eingeschlichen. Äusserlich ist er nicht zu sehen und fällt vielleicht gerade darum so schwer ins Gewicht. Es muss ein Webfehler sein, der nicht zu korrigieren ist, es sei denn, man zerstört das ganze Gewebe, löst es auf in die vielen Einzelfäden und setzt es neu zusammen.

Bereits in Faes’ erstem Roman sind mehrere Leitmotive zu einem Ariadnefaden versponnen. Das Bewusstwerden vom Verstricktsein in Geschichten, in kleine wie in große, führt direkt oder indirekt zu einem Schuldbewusstsein, das wiederum Abwehrreaktionen – Projektionen wie Substitutionen – hervorruft. Alkohol und Medikamente werden zu Brandbeschleunigern. Verstrickungen und Ausweglosigkeit führen zur Überzeugung, es müsse sich um einen Webfehler handeln, »der nicht zu korrigieren ist«. Eines der trefflichsten Sinnbilder für die Situation, in der vielleicht jeder Mensch schicksalhaft steckt, findet sich ebenfalls im ersten Roman, als Anne das Zimmer der Freundin inspiziert, und zwar in Form einer Blechfigur:

Am besten gefiel Anne unter all den Spielsachen ein Turner, der am hohen Reck ein Kürprogramm drehte: Handstand vorwärts und rückwärts. Felge, Kippe, nur den Absprung schaffte er nicht, blieb, wenn das Uhrwerk, das seine Bewegungen lenkte, abgelaufen war, an der Stange hängen.

Im Reckturner an der Stange, wie ihn Anne vorfindet, wie sie ihn sieht und versteht (wie Faes die Szene umsetzt), finden wir ein Paradebeispiel dafür, wozu Literatur imstande ist, uns nämlich ein Bild zu geben – oder mit dem altgriechischen Wort: eine Idee. Da hängt einer an der Stange, bleibt bei der Stange ein Leben lang, ganz egal, ob seine Zeit für das Programm – notabene handelt es sich um ein Kürprogramm – begrenzt ist. Er bleibt hängen. Gehen die Scheinwerfer an, reckt er sich, turnt, vollführt seine Kunststücke; ist die Zeit abgelaufen, wird er erneut auf Stand-by gesetzt.

Im Gegensatz zum Hamsterrad, das sich als Symbol für das Leistungsprinzip und den Konformitätszwang einer Gesellschaft etabliert hat, steht am Anfang nicht der Bewegungsimpuls eines Subjekts; der Turner an der Stange wird in Bewegung gesetzt, ungefragt. Er ist jeder Spontaneität und jeder Möglichkeit zur Selbstverwirklichung beraubt, von Beginn weg an die Stange gebunden – als wäre es der Lebensnerv. Oder doch ein hölzernes Eisen? So zeichnet Faes das Menschenleben in seinem ersten Roman denn auch weniger als ein Abstrampeln, sondern vielmehr als ein fortgesetztes Drehen um ein Zentrum, zu dem die Distanz jedoch stets dieselbe bleibt. Das Kreisen kostet das Subjekt zwar (Lebens)Energie, es dürfte früher oder später zur Erschöpfung führen, als Suchbewegung aber, zur Klärung der Sinnfrage, der eigenen Identität, bleibt es ergebnislos. Einmal in Bewegung versetzt, dreht sich jede und jeder im Kreis.

Der Frage nach dem Webfehler ging Urs Faes in seinem zweiten Roman Bis ans Ende der Erinnerung (1986) erneut nach, der, nebenbei erwähnt, einer Ruth gewidmet ist. Der Protagonist Moss leidet an einer Krankheit, die lange nicht genauer bezeichnet wird, die sich aber im Verlauf seiner Flucht als Pubertät herausstellt – oder genauer: als das Scheitern daran, aus der Pubertät herauszuwachsen, erwachsen zu werden. Es handelt sich um eine sehr hartnäckige Krankheit, die den Protagonisten Paul im Roman Alphabe des Abschieds (1991) ebenso befallen hat: »Noch immer staunte er, schien eingehüllt in den Kokon seiner Kindertage wie in einen Traum: nur nicht erwachsen werden.« Moss hinwiederum muss sich vorwerfen lassen, »jedem Zoll« seiner Kindheit nachspüren, sie in »tausend Farben« ausmalen zu wollen. Diese Spurensuche allerdings folgt einem Motiv:

Vielleicht bilde ich mir ein, dass man nur vergessen könne, wenn man versuche, jenen magischen Punkt zu finden, von dem alles ausgegangen sei.

Darin kommt die philosophische Hoffnung zum Ausdruck, letztlich den Kosmos zu verstehen, Prinzip und System, Ursprung und Entwicklung; wie schon René Descartes nach der einen »unerschütterlichen Gewissheit« fahndete, nach dem archimedischen Punkt, von dem aus die ganze Welt auszuhebeln sei, und schließlich im Zweifeln fündig wurde. Und nehmen wir für einen Moment Friedrich Dürrenmatt, den vielleicht wichtigsten Schweizer Autor des vergangenen Jahrhunderts, dazu, so stoßen wir in dessen Labyrinth (1981) auf folgendes Fazit: »Ohne das Wagnis von Fiktionen ist der Weg zur Erkenntnis nicht begehbar.« – Es könnte gut als Motto für Faes’ schriftstellerisches Schaffen stehen.

Moss, inzwischen in Gewahrsam der türkischen Polizei, scheint tatsächlich jenen »magischen Punkt«, den er dann als seinen »tiefsten Punkt« bezeichnet, den Ursprung aller Heimatlosigkeit, zu finden:

Ich sah mich als Kind, fünf- oder sechsjährig, spät in der Nacht durch das Haus meiner Eltern gehen, immerzu nach den Eltern rufend, die nicht da waren, ich irrte durch die Räume des grossen alten Hauses, öffnete die Türen, machte Licht, leer das Schlafzimmer der Eltern, die Betten unberührt, leer das Wohnzimmer und das Arbeitszimmer des Vaters, keine Spur, kein Lebenszeichen, ich rief in den Korridor hinaus, ins Treppenhaus, ich tappte vom Erdgeschoss über die Holztreppe in den ersten Stock, vom ersten in den zweiten Stock, wo nur unbewohnte Zimmer waren, die als Stapelraum dienten für altes Bettzeug und Kleider, die nicht mehr gebraucht wurden, für Stoffreste, die Mutter verarbeitete, es roch nach Mottenkugeln und Kampfer. Ich öffnete alle Türen, drehte die Lichtschalter an, Licht gegen die Gespenster, die ich unter Betten, Truhen, Schränken vermutete, hinter Vorhängen und Wäschestapeln, in Schubladen und Nachttöpfen; mit jedem Zimmer, das ich leer fand, wuchs das Entsetzen, das Gefühl des Ausgesetztseins, schutzlos ausgeliefert zu sein den lauernden Dämonen der Nacht, den Mördern und Dieben, den Fabelwesen und Geistern. Ich lehnte das Ohr lauschend gegen die Tür, die in den Estrich führte, glaubte ein Wischen und Kratzen zu hören, rannte zurück in den ersten Stock, stellte einen Stuhl ans Fenster, öffnete, kletterte auf den Fenstersims, schrie und schrie, hinaus in die Nacht, als müsste ich anschreien gegen die Welt, gegen das Entsetzen, gegen die Verlorenheit, ich schrie weiter, als in den Nachbarhäusern längst die Fenster geöffnet worden waren und erstaunte Gesichter zu mir aufblickten, ich heulte weiter, als die Eltern mich in die Arme nahmen und zu trösten versuchten. Und über Jahre blieb diese Angst, allein zurückgelassen zu werden: meine früheste Kindheitserinnerung.

Vier Sätze, die ersten drei im Sekundenstil gestaltet – als eine Erinnerung, in der jeder Schritt und jedes Geräusch, jede einzelne Empfindung aufbewahrt ist, sich für immer eingeprägt hat. Es sind insbesondere solche Textpassagen, die den Schriftsteller Faes schon in jungen Jahren als versierten Epiker auszeichnen, immer dann das Erzähltempo verlangsamend, wenn es gilt, eine Situation so präzise wie möglich und dem Gemütszustand der Figur entsprechend zu vergegenwärtigen. So dient der vierte Satz vornehmlich der Bestätigung des Leseeindrucks, eines Mitgehens und Mitfühlens, das vor allem eines evoziert: Angst. Die Angst, als Kind zurückgelassen und abgehängt zu werden, plötzlich allein dazustehen.

Die Szene erinnert nicht zufällig an ein Mädchen, das viel zu früh mit einem wesentlich älteren Baron vermählt, ihrer Jugend beraubt, an einem fremden Ort und von ihrem Mann alleingelassen, des Nachts von Angstträumen heimgesucht wird. Wenn Moss’ »früheste Kindheitserinnerung« in die oberen Stockwerke führt, Vorhänge in den Blick geraten und alsbald ein vermeintliches »Wischen und Kratzen« zu hören ist, dann sind wir im norddeutschen Kessin, sprich in Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1894/95) angelangt, exakt in jener Beklemmung Effis, als sie mitten in der Nacht ebensolche Geräusche vernimmt, sich dazu Bewegungen der Vorhänge im Stockwerk über ihr vorstellt, erst träumend, dann wachend nachgerade in Panik gerät und aus ihrer Angst nicht mehr allein herauszufinden vermag.

Das Herausgerissenwerden aus der Idylle und der damit einhergehende Verlust der jugendlichen Unschuld – das ist der Anfang von Effis Leidensgeschichte; und es ist zugleich in mehreren Variationen die Ausgangssituation der Romane von Urs Faes. Anspielungen auf Fontanes Effi Briest finden sich in Faes’ Œuvre mehrfach; zuweilen explizit (etwa in Und Ruth) oder dann implizit, wie in der eben betrachteten Szene aus Bis ans Ende der Erinnerung. Die Empfindungen des Alleingelassenwerdens sind das eine, das andere aber sind die damit einhergehenden Vorstellungen. In Effis Worten: »Aber Einbildungen sind das schlimmste, mitunter schlimmer als alles.«

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane «Paarbildung» und «Halt auf Verlangen» standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Markus Bundi, 1969 geboren, studierte Philosophie, Literaturwissenschaften und Linguistik an der Universität Zürich und lebt heute in Neuenhof AG. Er arbeitete zehn Jahre auf einer Zeitungsredaktion und unterrichtet seit 2005 an der Alten Kantonsschule Aarau Philosophie und Deutsch. Er hat mehrere Romane, Erzählungen, Gedichtbände und Essays veröffentlicht; zuletzt den Roman «Die letzte Kolonie» (2021) und «Der Vater ist der Vater» (2021) zu Heinrich von Kleist. Als Herausgeber betreute er u.a. DIE REIHE im Wolfbach Verlag, und er verantwortet die Werkausgabe von Klaus Merz.

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

4. Lyrikfestival Neonfische 7./8. März in Lenzburg

Sie stehen an einem Morgen auf, schauen zum Himmel und haben das Gefühl, dass das Blau über ihnen blauer als sonst ist? Kennen sie das? Sie sitzen in einer romanischen Kirche und die Stille umfängt sie wie sonst nirgends mehr? Schon erlebt? Lesen sie die neuen Gedichte von Albert Ostermaier aus dem Band „Über die Lippen“ und aus Sprache wird eine grosse Gebärde der Liebe.

Selten passiert, was bei der Lektüre dieses Buches passierte. Ich zog den Band aus dem Regal mit jenen Büchern, die auf mich warten, an einem Morgen, ganz früh. Ich dachte mir, es müsse ein Morgen sein, meine Wahrnehmung ganz unverbraucht, mein Geist wach, alles in mir auf Empfang.

Ich setzte mich in den Sessel vor dem grossen Fenster mit Blick in den Garten. Und während es draussen langsam dämmerte, dämmerte mir, was für ein aussergewöhnliches Buch ich in Händen hielt.

schreiben
es ist da wo du nicht bist du
bist ein gedicht ich schriebe
dich fort du bist nicht
das papier wert auf dem es
gedruckt steht sondern mehr
das überschriebene du liebst
aber ich schreibe du liebst
und unterschreibe mein urteil
ich bin hier in meiner sprache
und du aus ihr und nicht mehr
hier aus fleisch und blut und
machst einen satz den ich nicht
einholen kann auf den zeilen
selbst wenn ich springe

„Über die Lippen“ sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…

Albert Ostermeier spricht zu mir, ganz unmittelbar, zieht mich hinein, lässt mich nicht los.
An diesem Morgen wuchs mir ein Buch regelrecht ans Herz, wurde zur Reliquie einer Begegnung der besonderen Art. Ich werde das Buch lange nicht weglegen können. Und selbst, wenn es einmal liegen gelassen wird, werde ich den Klang, all jene Gefühle, die es an diesem Morgen extrahierte, weitertragen.

entwertung
ich liebe nur die liebe du
bist nichts wert ausser ihr
ich werfe mich in deine
arme my love aber werfen dich
weg ich habe dich über
alles in der Welt und keine
mit dir als meine du ziehst
mich aus ich zieh dich an
du bist reizlos das reizt mich
alles von dir zu verlangen
bis nichts mehr bleibt als
mein verlangen und du
übrig bleibt dir nur mir den
letzten stich zu versetzen
mich mit mir selbst zu
verletzen mir die lippen
mit deinen zu netzen mir
den punkt den stein im herz
zu wetzen bis er wieder funkt

Liebesgedichte, die nichts verklären, die alles sagen, selbst im grössten Schmerz, unsäglicher Erkenntnis, grösstmöglicher Nähe und klaffender Entfernung. Albert Ostermaiers Gedichte sind Beschwörungen, Texttänze um ein Gegenüber, einmal nah und einmal schmerzend fern. Seine Gedichte tragen Hysterie und Trance, Verzauberung und Entzauberung, Wut und Enttäuschung, nicht zuletzt über sich selbst. Gedichte, weit weg von jeder Sentimentalität. Geschrieben in einer Sprache, die unmittelbar anschlägt, mitten hineingreift, genau den Punkt trifft.

Albert Ostermaier umarmt mich mit Sprache, setzt mich in seinen lyrischen Szenen direkt ins Leben, ins Lieben hinein. Er schweift nicht aus, mäandert nicht. Er flüstert, fragt, schreit und hadert. Und Albert Ostermaier liest in der Schweiz!

Am Wochenende vom 7. und 8. März treffen sich im Aargauer Literaturhaus Lenzburg grosse Namen wie Esther Kinsky oder Albert Ostermaier mit NewcomerInnen wie der Bündnern Flurina Badel und der eben mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichneten Eva Maria Leuenberger. Das Herz des Festivals sind traditionsgemäss Werkstattgespräche von jeweils drei Lyrikerinnen. AutorInnen stellen dabei dem Publikum nicht nur Texte aus ihrem Werk vor, sondern befragen sich gegenseitig über ihre Texte und beleuchten an ausgewählten Beispielen die kreativen Entstehungsprozesse.

PDF Programmheft Neonfische

Webseite Aargauer Literaturhaus Lenzburg