Gallus Frei verabschiedet sich mit Gästen im Literaturhaus Thurgau

Und damit endet meine Intendanz am Literaturhaus Thurgau. Nicht weil es mit nicht gefallen hätte, weiterhin die verschiedensten Gäste ins schmucke Gottlieben am Seerhein einzuladen. Aber eine Amtszeit im Literaturhaus Thurgau ist stets zeitlich begrenzt und die Idee, mit jeder Neubesetzung frischen Wind ins Haus zu bringen, eine gute.

Mein Dank an die Bodman-Stiftung für das entgegengebrachte Vertrauen, den Geschäftsstellenleiterinnen der Stiftung Brigitte Conrad und Monika Fischer für die Zusammenarbeit, der Buchbinderin Sandra Merten für die Unterstützung, Sandra Kottonau für die in Freundschaft geschossenen Fotos. Ganz speziellen Dank gebührt Lea Le für all die Illustrationen, die meiner Intendanz ein eigenes Gesicht gaben.

«Lieber Gallus, während dreieinhalb Jahren hast du im Bodmanhaus ein ausserordentlich vielseitiges und spannendes Programm gestaltet. Du hast viele Autorinnen und Autoren eingeladen und das Publikum mit einer grossen Zahl von Büchern bekannt gemacht, die kennenzulernen sich jedes Mal lohnte. Zu Hilfe kam dir bei der Programmgestaltung deine enorme Belesenheit und deine grosse Neugier auf alles, was im Literaturbetrieb geschieht, auch dass du persönlich viele Autorinnen und Autoren kennst und mit vielen auch befreundet bist. Das alles konnte man beobachten in diesen dreieinhalb Jahren, und das Publikum hat davon profitiert. 
Zum Programmgestalten kamen dann auch die Moderationen deiner Veranstaltungen. Dank deiner Feinfühligkeit und Empathie sowohl den Autorinnen und Autoren als auch den Texten gegenüber ist es dir gelungen, jede Lesung zu einem interessanten Gesprächsanlass mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu machen, der dem Publikum den jeweiligen Text und die Autorin oder den Autor näherbrachten und zu neuen Einsichten führte. Der Besuch einer von dir moderierten Lesung hat sich immer gelohnt.

Du hast die Programmleitung in einer schwierigen Zeit übernommen. Kaum hast du angefangen, kam die Pandemie, was hiess, dass viele Veranstaltungen abgesagt oder umgeplant werden mussten. Das bedeutete viel Arbeit für dich, zum Teil auch vergebliche. Du hast dich aber nicht unterkriegen lassen. Nach der Pandemie wurde die Welt nicht besser, wie wir leider wissen. Da stellt sich die Frage, welchen Platz die Literatur in diesen Zeiten hat. Durch dein Programm hast du gezeigt, dass sie sehr wohl einen Platz hat, nicht nur in deinem Herzen oder im Bodmanhaus, sondern in der Welt – gerade auch dann, wenn diese aus den Fugen ist.
Für deine grosse Arbeit und dein Engagement für das Bodmanhaus danke ich dir im Namen des Stiftungsrats ganz herzlich. Ich freue mich darauf, dir bei weiteren Literaturveranstaltungen begegnen zu dürfen.» Lorenz Zubler, Präsident der Bodman-Stiftung

Meine Gäste an diesem Abend:

«Kalt war’s, und schön war’s. Wörter flogen auf, der Himmel segelte übers Wasser, das Ufer wurde unterspült, jemand bekam kaum Luft – Schreiben im Geborgenen, im Getriebenen. Darüber sprachen wir, und zum Glück hat Urs Faes all das gesagt, was ich vergaß zu sagen. Gallus Frei Tomic hat’s gebündelt und zu einem guten Ende zusammengeführt.» Alice Grünfelder 

«Durch tiefverschneites Land auf langen Umwegen zur Lesung (ein Abschied) gekommen. Atmosphäre über Fluss und Ort und unterm Dach: eine Musik, die trägt; Worte, Bücher, Gesichter, und noch einmal diese ganz besondere Stimmung, die Gallus schafft: so gerät man ins Gespräch, das tief und leicht zugleich ist, ein Abend, der unverwechselbar und erinnerungsdicht bleibt, eine nachklingende Freude.» Urs Faes

«Seit vielen Jahren sind Dominic Doppler am Schlagzeug und ich an den Saiten mit Gallus unterwegs. Unsere gemeinsame Liebe zum Geschichtenerzählen, sei dies in Worten oder mit Musik, verbindet uns. Der Verabschiedungsabend von Gallus in Gottlieben war wunderbar. Einmal mehr erlebten wir ihn als Menschenfreund, aufmerksamen Zuhörer und intelligenten Fragesteller. Durch seine Moderation erschliessen sich die gelesenen Texte in mehrdimensionaler Form. Das wir einmal mehr mit unserer Musik mit dabei sein durften, macht uns glücklich.» Christian Berger & Dominic Doppler

«Wir sind dir für die vielen Begegnung neben der einzigartigen literarisch-musikalischen Lesung in Gottlieben unendlich dankbar. Schwierig in Worte zu fassen, waren es doch tief beglückende Stunden, in denen alle Sinne angeregt wurden. Wir freuen uns, wenn du weiterhin als «Literaturblatt» am Bücherhimmel strahlst.» der Bär, ein Freund

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Ich lade Sie ein ins Literaturhaus Thurgau! 2. Dezember 18 Uhr!

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung im Literaturhaus Thurgau waren es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künstlerinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Autorenwohnung, die das literarische Leben im Bodmanhaus ausmachten. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten und Interessierten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein. Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen („Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land“, u. a.) und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen bei Suhrkamp «Halt auf Verlangen» und «Untertags«. Urs Faes lebt in Zürich. Er nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren Projekten bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können. 

Datum: Samstag, 2. Dezember 2023
Zeit: 18.00 Uhr / Türöffnung 17.30 Uhr
Ort: Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 15.- regulär // CHF 10.- Freunde des Bodmanhauses // CHF 5.- in Ausbildung und KulturLegi

Hier zur Anmeldung!

Über das Unsichtbare – Gianna Olinda Cadonau im Literaturhaus Thurgau

Wir leben zwar im Zeitalter der Information und Kommunikation und trotzdem leben wir in einem Zeitalter, in dem das Dialogische immer schwieriger zu werden scheint. Ob in der Politik, in Betrieben, in Familien, in Beziehungen, überall. In „Feuerlilie“ von Gianna Olinda Cadonau ist das eines der Themen, die angesprochen werden, aber eben in einer ganz eigenen, sehr oft verschlüsselten Art. 

«Gottlieben ist regenverhangen, in der Nacht soll es stürmen. Umso schöner ist es, in dieses alte Haus einzutreten, ins grüne Zimmer hinaufzusteigen, zusammen mit dir, Gallus, und einem sehr aufmerksamen Publikum über die Figuren, die Landschaft und alles Unsichtbare in meiner „Feuerlilie“ nachzudenken. Das Bodmanhaus ist einer dieser Orte, an den ich immer wieder zurückkommen möchte, den ich mitnehme, in meinen Alltag. Danke!» Gianna Olinda Cadonau

Gianna Olinda Cadonau ist in Scuol aufgewachsen, hat in Genf internationale Beziehungen und in Winterthur Kulturmanagement studiert und ist gegenwärtig an der Lia Rumantscha in Chur für die Kulturförderung verantwortlich. Vor ihrem belletristischen Debüt veröffentlichte Gianna Olinda Cadonau bereits zwei Gedichtbände mit den schönen Titeln „Letzte Stunde der Nacht“ und „wiegendes Land“. 
Kennengelernt habe ich Gianna Olinda Cadonau an der SAL, der Schule für angewandte Linguistik, in Zürich. Und vor fast einem Jahr lud ich eine kleine Gruppe jener StudentInnen hier ins Literaturhaus ein. Gianna Olinda Cadonau war eine von ihnen.

Heute, nachdem ihr Debüt mit dem Studer/Ganz-Preis ausgezeichnet wurde, liegt ihr erster Roman „Feuerlilie“ auf den Verkaufstischen und ist bereits heftig im Gespräch. „Feuerlilie“ ist ein Buch, dass sich nicht ganz so einfach einordnen lässt. Zum einen wegen seiner Erzählart, aber auch wegen seiner Sprache. Ich würde sogar behaupten, „Feuerlilie“ setzt einiges voraus. Wer bloss in einer konsumierenden Rolle unterhalten werden will, findet den Roman wahrscheinlich ziemlich anstrengend.

Drei Menschen. Die junge Journalistin Vera, die sich ins Engadin, ins Dorf ihrer Kindheit zurückziehen will, um an diesem Ort zu schreiben. Ihre ältere Schwester Sophia, die sie manchmal besucht, auch wenn sie in ihrer ganz eigenen Welt lebt und Kálmán, ein Fremder, der sich dort in einem alten geerbten Haus mit seiner Kriegsvergangenheit auseinandersetzen muss. Ein Berühungsroman, ein Roman um ein empfindliches Gravitationsfeld dreier Planeten, die es aus der Bahn zu werfen droht. Vera flüchtet, wenn auch im „Kleinen“ (vor ihrem Partner, dem Rummel, dem Stress), Sophia vor ihren Schwierigkeiten, ihre Psyche in den Griff zu bekommen, Kálmán vor einer Vergangenheit.

„Feuerlilie“ schert sich in seiner Machart nicht um aktuelle Strömungen, sehr wohl aber in seinen Themen; Isolation, Trauma, Auswirkungen von Gewalt… Cadonau erzählt von der Begegnung dreier Menschen, zweier Schwestern und eines Mannes in einem Ort im Engadin. Es kann nicht einmal gesagt werden, Cadonau erzähle die Geschichten, weil sie in ihrem Roman nicht ausleuchtet, nicht ausbreitet, nicht darlegt. Wer ihr Buch liest, ist bis zum Schluss mit Geheimnissen, Schatten und Leerstellen konfrontiert.

Es sind Räume, Häuser, Zimmer, Türen. Judith Hermann erzählte mir in einem Gespräch, Romane seien Häuser. Manchmal wie Puppenstuben. Mit versteckten, verborgenen Zimmern. Und eine Schriftstellerin jene, die mit Licht gerade soviel erhellt, dass sich Konturen zeigen, sprachliche Konturen. Gianna Olinda Cadonau geht es nicht um Klärung, nicht um Er-klärung, nicht um Durchsicht, nicht einmal um Einsicht. 
Vera will sich zurückziehen. Sie braucht Zeit, um in ihrer Arbeit voranzukommen. Und sie braucht Abstand von ihrem Partner. Umstände, die nicht weiter erläutert werden. Aber Umstände, die ausstrahlen. Denn ausgerechnet sie tritt in den Bannkreis eines Mannes, der eigentlich auch nur in Ruhe gelassen werden will.
Ob „Feuerlilie“ auch eine zarte Liebesgeschichte ist, darüber liesse sich diskutieren. Aber zwischen Vera und Kálmán knistert es, wenn auch nur zaghaft, verhalten und durchsetzt von Unsicherheiten, um nicht noch mehr „versehrt“ zu werden. 

Es sind Gegensätze; die Idylle eines Engadiner Ortes mit seinen schmucken Häusern, die menschlichen Abgründe, die tiefen Verletzungen, ein Ort in der Schweiz, Sinnbild für Konstanz und Standhaftigkeit, Menschen darin, die hypersensibel festen Untergrund zu finden versuchen. Die Wirkung verstärkt sich so.

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

Alice Grünfelder „Jahrhundertsommer“, dtv

In ihrem Roman «Jahrhundertsommer» zeichnet Alice Grünfelder das Schicksal einer Familie in einer Kleinstadt im östlichen Baden-Württemberg nach. Magda, die Hauptfigur, wird in den Nachkriegs-Wirtschaftswunderjahren von ihrem ‘Alten’ verlassen.

Gastbeitrag
von Franco Supino 

Die nicht einmal 40jährige Magda lebt als Geschiedene mit ihren zwei erwachsenen Kindern stigmatisiert und mittellos am Rande der Gesellschaft, und es braucht Snezana, die Arbeitskollegin in der Fabrik, die sie ermuntert, doch mal auf ein Fest mitzukommen. Hier lernt Magda einen in der Umgebung stationierten US-Army-Soldat kennen. Wir erleben die unbeschwertesten Momente im Buch – eine tiefe, heimlich gelebte Liebe und einen Jahrhundertsommer.

Kurz darauf wird John nach Vietnam versetzt, Magda bleibt schwanger mit Ellen in Murrheim zurück. Ursula, die dritte Figur, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird und Tochter von Magda, findet trotz ihrer ehrenlosen Mutter einen eitlen spiessigen Bürolisten, der später sogar Bürgermeister wird, der ihr ein Kleinbürgeridyll – dank vieler Entbehrungen der Familie – als Hausfrau in der Neubausiedlung ermöglicht. Der Spiesser, der immer Dankbarkeit von Ursula verlangte, lässt sie eines Tages wegen einer anderen sitzen. Auch hier: eine Scheidung müsste man sich leisten können, weshalb Ursula ein sozialer Abstieg bevorsteht. Ursula sucht zudem die nächste toxische Abhängigkeit eines Mannes, weil sie an ihrer Mutter sieht, was einer Frau ohne Mann blüht. Die vierte Perspektive bringt Viktor in den Roman ein, Ursulas Sohn, der im Gegensatz zu seinem Namen ein Looser ist. Trotz der Schläge des Vaters schafft er knapp eine Elektrikerlehre, aber schon als Jugendlicher ist er vor allem ein dem Bier zugeneigtes Grossmaul, das er in den 300 Seiten von Alice Grünfelders Roman hektoliterweise in sich schüttet. Ellen, hofft man eine Zeitlang, könnte sich dem Sumpf, in den sie geboren wurde, entziehen. Sie schafft es bis nach Paris – kämpft sich hoch, studiert, findet einen interessanten Mann, aber auch sie scheitert schuldlos und muss nach Murrheim zurückkehren. Viktor entpuppt sich überraschenderweise als Kitt der Familie, und sorgt für Magda, Ursula und Ellen zwar für keinen weiteren Jahrhundertsommer, aber immerhin für ein «Zwischenhoch» (dessen abruptes Ende der Leser und die Leserin allerdings ahnen).

Alice Grünfelder «Jahrhundertsommer», dtv, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-423-28345-8

Alice Grünfelder hat einen lebensklugen Epochenroman geschrieben. Angesiedelt in der miefigen schwäbischen Provinz der späten 60 Jahre bis in die Zeit nach den Attentaten von 9/11 zeigt er, dass die deutsche Gesellschaft sich zwar verändert hat, aber keineswegs zum Besseren. Wie Magda wird Ellen, eine alleinstehende Frau mit einem nicht weissen Kind, nach ihrer Rückkehr ausgegrenzt: sie findet weder Arbeit, noch Anschluss. Etwas Farbe und Aufbruchstimmung bringen die Protestierenden gegen die Stationierung der Pershing II Raketen («Unser Mut wird langen, nicht nur in Mutlangen» skandieren sie) – aber als die Amis 1990 abziehen, verbiedern auch die Friedensbewegten.

Im Zentrum stehen die prekären sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Protagonistinnen – ja, in diesem Roman geht es dauernd um Geld und Status, dem die Figuren nachjagen –; wer kein Kapital hat, weder monetäres noch soziales – wissen wir seit Bourdieu -, kommt auf keinen grünen Zweig. Bezeichnend ist, dass die Figuren nicht einmal merken, wie tief unten sie sind – etwa als Magda eine Anstellung in einer Gärtnerei kriegt und nicht merkt, dass auch sie eine ‘Klientin’ des Sozialprojekts ist. Aber Magda lässt sich nicht kleinkriegen. Das sieht man am besten in der grandiosen letzten Szene des Romans, die hier nicht verraten sei!

Romane, die sich dem Leben der Menschen der Unterschicht annehmen und dieses glaubhaft darstellen können, sind in der deutschen Literatur der Gegenwart selten. Alice Grünfelder schafft dieses Kunststück. Und sie weiss, wie man das macht, welche Détails wichtig sind, welche Bögen geschlagen werden müssen und wie man für überraschende Wendungen sorgt: sie ist eine geborene Erzählerin!

Alice Grünfelder, 1964 im Schwarzwald geboren, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane. Das Buch «Wolken über Taiwan» (2022) schaffte es auf die Hotlist der Unabhängigen Verlage.

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch

«Welche Frau bin ich dann?» Laura Vogt liest und diskutiert im Literaturhaus Thurgau und an den Weinfelder Buchtagen 2023

Laura Vogt ist mutig. Mutig, wie sie sich mit den Themen ihres neuen Romans «Die liegende Frau» auseinandersetzt, wie sie sich in Untiefen wagt und wie sehr sie sich mit ihrem Buch in meine, in die Intimsphäre von LeserInnen vorwagt. Alle ihre Roman bisher beschäftigen sich mit Familie. In immer neuen Spiegelungen und direkten Konfrontationen setzt sich Laura Vogt mit einem Konstrukt auseinander, ob Familie oder Ehe, dass wie kaum ein anderes Sozialgefüge von tektonischen Verschiebungen betroffen ist.

Selbst Mutter von zwei Kindern weiss sie sehr genau, wie sehr Tradition und Freiheit aneinander reissen.
Dass an diesem Abend eine junge Frau und ein älterer Mann auf der Bühne sassen, hätte einiges an Zündstoff mit sich bringen können. Glücklicherweise knallte es nicht. Ihr Roman tut es aber ganz bestimmt.

Der Titel ihres neuen Romans liess mich, bevor ich das Buch gelesen hatte, mit all den Gemälden aus verschiedenen Epochen assoziieren, auf denen eine mehr oder weniger nackte Frau liegt. In Laura Vogts Roman liegt auch eine Frau, Nora. Sie liegt in ihrem ehemaligen Kinderzimmer, spricht zu Beginn des Romans mit niemandem, hat sich in sich selbst zurückgezogen. Meret, ihre noch ganz kleine Tochter, wird von ihrer Mutter Anni betreut. Ein seelischer Zusammenbruch. Wenn man so will, ein Burnout. Aber ‹Mutter› und ‹Burnout› scheint nicht kompatibel, obwohl Statistiken dagegensprechen. Und schon steckt man mitten in den Zwängen und Festschreibungen von Rollenverständnissen.

„Die liegende Frau“ dreht sich um Romi, ihre Mutterschaft, ihre Beziehungen, ihre Familie, ihre Herkunft. „Die liegende Frau“ dreht sich aber auch um drei Freundinnen; Romi, Nora und Szibilla. Über Romis Lieben zu Phil und Dennis. Schon allein diese Aufzählung macht bewusst, in welch feingliedrigem Netz sich sich die Schriftstellerin bewegt.
Romi ist Mutter und schwanger. Der Vater der beiden Kinder ist Phil. Eine Beziehung, in der ausgesprochen war, dass man nicht mit dem Anspruch beständiger Monogamie leben würde. Der Roman ist die offene Auseinandersetzung mit Beziehungsmustern.
Romi liebt Phil, den Vater ihrer Kinder. Romi liebt aber auch Dennis, den sie noch nicht lange kennt. Phil und Dennis wissen voneinander. Und während Dennis sich nach Romi sehnt, tut das Phil auch, auch wenn in die Menage à trois trotz Offenheit schmerzt.

Den Roman als Roman über den Sinn und Unsinn eines Treueversprechens zu reduzieren, wird dem Roman «Die liegende Frau» bei weitem nicht gerecht. Der Roman ist ein klares Abbild dessen, was ‹Beziehung› heute einschliesst. Wie soll und kann Familie funktionieren, nachdem Rollen über Jahrhunderte fix verteilt waren? Das Aufbrechen dieser Rollen hat die Schwierigkeiten nicht minimiert.


Was mich beeindruckt, ist die Komplexität ihres Romans, der die Komplexität der Themen perfekt widerspiegelt.

„Schön, einen weiteren Abend im Literaturhaus verbracht zu haben, lieber Gallus – es war mir eine Freude, über Gesellschaft zu sprechen, über Rollenbilder und Veränderungen, über Liebe und die Möglichkeiten von Literatur. All das schwingt weiter … Bis bald!“ Laura Vogt

Zsuzsanna Gahse mit «Zeilenweise Frauenfeld» im Literaturhaus Thurgau

All jenen, die sich in der Ostschweiz auf Literatur einlassen, all jenen, denen das Literaturhaus Thurgau ans Herz gewachsen ist, müsste man Zsuzsanna Gahse nicht vorstellen. Dass Zsuzsanna Gahse 2019 den Schweizer Grand Prix Literatur überreicht bekam, gibt ihr neben all den anderen Preisen, die sie erhielt, jenen Platz, an dem die Autorin seit 1983 über vier Jahrzehnte, damals mit ihrem Prosadebüt „Zero“ beginnend, unablässig schreibt.

Als ich vor vielen Jahren die Schriftstellerin und Dichterin zum ersten Mal traf und mit meinen Büchern nach der Lesung bei ihr zum Signieren hinstand, bestätigte sich, was zuerst bei der stillen Lektüre und dann in der ersten Begegnung mit der Künstlerin sicht- und spürbar wurde; jene Liebenswürdigkeit, jene Sorgfalt, jene Empathie, die die Künstlerin ihrem Gegenüber zeigt, sei das nun in ihren Büchern, oder in den Begegnungen über die Bücher hinaus.

Dass Thomas Kunst, Dichter, Kleistpreisträger und auch schon Gast im Literaturhaus Thurgau spontan bereit war, zu ihrem neuen Prosaband „Zeilenweise Frauenfeld“ eine Rezension auf meiner Webseite literaturblatt.ch zu schreiben und diese zu einer Liebeserklärung an die Kunst der Autorin werden liess, zeigt die Verbundenheit mit einer Schriftstellerin, die die Welt mit einem ganz eigenen Blick zu sehen vermag: „Zeilenweise Frauenfeld“ ist ein Bühnengewässer, in welchem die Dinge durcheinandergeraten können, wenn man das entlarvende Lesen gegen ein nachdenkliches Lesen eintauscht. Die Frauen an den Treppen. Die Frauen auf den Demos. Die kleine Kellnerin. Die Tochter der Wienerin. Damen und Frauen. Manu. Die Welsche. Nandu. Nora. Die Unbrennbare. Eine schwarz gekleidete Frau. Die Frau in Indigo. Frauen von vor etwa hundertfünfzig Jahren. Frauen beim Stolpern, Stürzen und Sterben. In einer Frauenfelder Inszenierung. Popkonzerte. Illusionen. Bahnhofsvorplätze. Festivals.“

Zsuzsanna Gahse schreibt ausserhalb üblicher Kategorien. Ihre Bücher sind nicht nur haptisch Schwergewichte in einem immer leichter werdenden Bücherangebot. Matthias Zschokke, einer der Nominierten für den Schweizer Buchpreis, schrieb mir auf die Frage, was denn Literatur ausmache: “Literatur ist das Andere. Wobei mir wichtig scheint zu ergänzen, … das Andere, ohne das sein zu wollen.» In diesem Sinne repräsentiert Zsuzsanna Gahse genau das.

Müsste ich Zsuzsanna Gahses Buch beschreiben, ist es für mich wie ein Sprachfries, quer durch einen Zivilisationsgarten. Als würde sich das Personal ihres Buches auf einem breiten Band bewegen und ich wäre der Zuschauer, der aber nur immer kleine Fetzen des Geschehens wahrnehmen kann. Nicht dass ich glaube, dass die Dichterin keine Geschichten erzählen würde; Kleinstgeschichten und Geschichten, die sich durch das ganze Buch spinnen, gibt es viele. Aber Zsuzsanna Gahse scheint es nicht darum zu gehen, eine Story zu erzählen, mich mit einer linear erzählten Chronologie eines Geschehens zu fesseln. Ihr Buch erscheint mir viel eher als eine Sehschule. Sie schaut auf das Geschehen. Sie ist Beobachterin. Die Erzählerin ist Beobachterin. Ermittlerin. Sie spinnt die Fäden zwischen den Personen, die sie sieht. Es sind Betrachtungen. Aber auch Selbstbetrachtungen. So wie Schreiben doch immer Selbstbetrachtung ist. „Manchmal erkenne ich mich selbst nicht, wenn ich mich in einem Schaufenster gespiegelt sehe.“

Es gibt einzelne Sätze, die ebenso faszinieren wie verunsichern: „Schmuggeln ist Ansichtssache.“ Oder „Welsch ist eine somnambule Bezeichnung.“ Oder „Selbstbegeisterung ist ein Enzym.“ – Sätze, die stolpern lassen, die sich nicht so einfach überlesen lassen.  Sätze mit einer ungeheuren theatralischen Kraft: „Mitten auf dem Fussgängersteg stand eine feuerfeste Frau. Eine Unbekannte, mit interessanten Furchen im Gesicht. – Sie hielt eine Ansprache mit ausgebreiteten Armen.»

Zsuzsanna Gahse zur Lesung im Literaturhaus Thurgau: «Wie Bilder laufen lernen, wie ein geschriebener Text filmisch wirken kann oder sogar szenisch, als würde man soeben ein Theaterstück erleben: Solche Partikel haben mir in unserem Gespräch besonders gefallen. Und weil wir gut und gerne eine weitere Stunde hätten reden können, wünsche ich uns eine baldige Fortsetzung.»

Irgendwo schreibt Zsuzsanna Gahse, dass nicht jedes beliebige Buch klüger oder empfindsamer macht. Ihres mit Sicherheit.

Rezension von Thomas Kunst

Gianna Olinda Cadonau «Feuerlilie», Lenos

Selten bekam ich einen derart zarten Roman zu lesen wie diesen von der noch jungen Gianna Olinda Cadonau. Obwohl er klassisch aus der Sicht dreier ProtagonistInnen erzählt, geht es ihm nicht darum zu klären. „Feuerlilie“ ist eine literarische Symphonie von Bildern, Stimmungen, Stimmen und Träumen. Eine Reise in die Tiefe der menschlichen Psyche.

Ein Leben ist ein Haus mit vielen Türen und Zimmern. Die Geschichte, die Geschichten, die alle mit sich herumtragen, sind Häuser mit vielen Türen und Zimmern. Manche Türen sind angelehnt oder offen, andere geschlossen oder gleich mehrfach verriegelt. Noch andere Türen gar ausgehängt. So bleiben die einen Zimmer dunkle Geheimnisse, andere hell und aufgeräumt, noch andere leer und kalt. Türen sind in Gianna Olinda Cadonaus Debüt Symbol, Metapher und Bild zugleich. Ihr Roman ist voller solcher Bilder. Bilder, die mich förmlich einsaugen, die mich einwickeln und lange nicht loslassen. Wer es nicht mag, dass alles hell ausgeleuchtet, klar und unmissverständlich erzählt wird, für den ist die „Feuerlilie“ eine Blume, die sich niemals auftut.

«Das, was geschehen ist, ist unsichtbar, sie sind in Ritzen und Zwischenräumen, die Erinnerungen.»

Gianna Olinda Cadonau «Feuerlilie», Lenos, 2023, 171 Seiten, CHF ca. 26.00, ISBN 978-3-03925-031-8

Vera zieht sich in das Bündner Dorf ihrer Kindheit und Jugend zurück, weil sie glaubt, sich dort besser auf ihre Arbeit, das Schreiben, konzentrieren zu können als in der Stadt. Es ist das Haus, das sie und ihre ältere Schwester Sophia erbten. Ein altes Haus aus Stein. Aber Vera hat sich nicht nur für ihre Arbeit zurückgezogen, auch von ihrem Leben in der Stadt, von ihrem Mann. Ihre Schwester Sophia, immer wieder einmal in einer Klinik, besucht sie zuweilen, manchmal angekündigt, manchmal als müsste auch sie fliehen.

Schon im Zug hinauf ins Tal fiel ihr der junge Mann mit dunkler Haut und Narbe im Gesicht auf. Wie sie entsteigt er an der selben Station dem Zug, mit Koffer und sichtbar hinkend. Vera verliert ihn zwar aus den Augen. Aber in dem kleinen Ort begegnet man sich wieder, ganz behutsam, immer wieder, bis man sich mit zaghaften Gesprächen näher kommt. Auch er, Kálmán, ist ein Zurückgezogener. Irgendwann erfährt Vera, dass die Narbe und das Hinken Zeichen einer traumatischen Vergangenheit sind. Kálmán ist ein aus einem Kriegsgebiet Geflohener, Opfer von Misshandlungen und Folter, tief eingeschlossen von den Dämonen seiner Geschichte.

«Er hört zu, fragt nicht nach, und ich frage mich, was er macht mit dem, was ich ihm erzähle, wohin er es tut in seiner Ordnung, ob er einen Ort dafür hat.»

Der Roman bebildert aus der Sicht dieser drei Personen. Sie sind alle versehrt, verwundet, in ihren Geschichten eingesperrt. Vera fühlt sich von dem Mann mit der Narbe im Gesicht angezogen und Kálmán spürt, dass von Vera eine Kraft ausgeht, die Ordnung in sein Leben bringen kann. Sophia spürt das gegenseitige Hingezogensein, auch wenn sie sich selbst nur schwer aus ihrer Einkapselung winden kann. Gianna Olinda Cadonau begleitet ihr Personendreieck in ein Labyrinth aus Winkeln und Sackgassen, beobachtet die empfindsamen Annäherungen von Menschen, die sich wie bei den Fühlern von Schnecken sofort zurückziehen. Und so wie die Autorin erzählt, ist auch ihre Sprache. Eine Sprache, die nie erklären will, schon gar nicht dokumentieren.

Wäre dieses Buch, die Art und Weise wie Gianna Olinda Cadonau erzählt, ein Bild, dann wäre ich ein Betrachter, der lange davorsteht, um mal aus der Distanz, mal aus der Nähe zu ergründen versucht. Und genau die Tatsache, dass es ein Versuch bleibt, macht den Zauber dieses Romans aus.

«Es ist ein Garten. Das hier. Aber durcheinander. Ich weiss nicht wie. Wie ich die Ordnung zurückbringen kann.»

Aus der Jurybegründung des Studer/Ganz Preises: …Sprachlich überzeugend und mit starken Bildern unterläuft der Roman Erwartungshaltungen und schafft eine über das Heute hinausführende Aktualität.

Gianna Olinda Cadonau, geboren 1983 in Indien, wuchs im Engadin auf, studierte Internationale Beziehungen in Genf und Kulturmanagement in Winterthur. Bei der Lia Rumantscha ist sie für die Kulturförderung verantwortlich, darüber hinaus engagiert sie sich in verschiedenen Institutionen für die Kultur im Kanton Graubünden. Sie schreibt Lyrik und Prosa auf Romanisch und Deutsch. Bisher erschienen zwei Gedichtbände in der editionmevinapuorger. «Feuerlilie», der mit dem Studer/Ganz Preis ausgezeichnet wurde, ist ihr erster Roman. Gianna Olinda Cadonau lebt mit ihrer Familie in Chur.

Laura Vogt «Die liegende Frau», Frankfurter Verlagsanstalt

Laura Vogt liest im Literaturhaus Thurgau und an den Weinfelder Buchtagen

Wir alle suchen nach dem Glück. Noch vor hundert Jahren schien das Glück festgeschrieben zu sein. Es war eines, das ganz aus männlicher Perspektive geschrieben war. Wie Familie, Liebe, Karriere und Erfolg auszusehen hatten, war noch bis vor wenigen Jahrzehnten männergeprägt. Laura Vogts neuer Roman ist einer, der aufbrechen will, die Geschichte von Frauen, die nach neuen Lebensentwürfen suchen.

Mit dreissig stehen Romi, Szibilla und Nora mitten im Leben – und doch nicht dort, wo sie ihre Träume hätte hinbringen müssen. Sie sind eingespannt in ein Leben, das von Zwängen, Sackgassen und Vorgegebenem dominiert wird, in atemlosem Takt, turbulent und mit der dauernden Angst, von Konventionen stillschweigend eingefangen zu werden. Drei Freundinnen, zerrieben in längst angezählter Vergangenheit und dem Traum einer Zukunft, in der sie sich endlich der Enge ihrer eingeschriebenen Rollen befreien können.

«Der Mann, die Frau mit Schwangerschaftsbauch und das Kind sitzen auf einem Sofa in einem frisch gestrichenen Wohnzimmer und lächeln, glücklich und gelassen. Aber diese Frau bin ich im Grunde nie gewesen. Welche Frau bin ich dann?»

Eigentlich hätten die drei Frauen gemeinsam ein paar Tage Urlaub machen wollen. Noch bevor Romi ihr zweites Kind zur Welt bringen würde. Aber ihre Pläne werden durchkreuzt, weil es Nora nicht mehr schafft, weil Nora liegen geblieben ist, im Zimmer ihrer Kindheit, einem Ort, den sie eigentlich schon längst hätte hinter sich lassen wollen. Weil sie aus einem Leben fliehen musste, das mit fehlender Perspektive zu ersticken drohte. Aber dort ist Meret, Noras  Tochter, nicht allein, behütet von Noras Mutter Anni. Romi und Szibilla mieten sich in einem schmuddeligen Wellnesshotel ganz in der Nähe ein, warten, dass Nora aus ihrem Dämmerzustand aufwacht und sehen sich im eigenen Dämmerzustand verloren, einem Leben im Dazwischen.

«Warum muss es immer dieses Entweder-oder sein. Warum unbedingt die Monogamie.»

Laura Vogt «Die liegende Frau», FVA, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-627-00314-2

Romi reflektiert. Zum einen weil mit einem weiteren Kind die Pflichten einer Mutter nicht kleiner werden, weil sich Fragen aufdrängen, die seit Jahrzehnten nach Antworten schreien, Ereignisse in ihrer Familie, die sie nicht loslassen, weil Phil, dem Vater von Leon und dem werdenden Kind in ihrem Bauch zuhause die Ungewissheit den Atem nimmt und weil Dennis, ihre neue Liebe ihr genau das zu bieten scheint, wonach sich Romi sehnt. Nora, entflohen aus einer toxischen Beziehung, Szibilla, gepeinigt von Regelschmerzen und dem Unverständnis darüber, in diese Welt Kinder zu setzen und Romi, im Ungewissen, wie sie ihr Leben führen, wieder zurück auf eine Spur kommen will, wie sie all das auf die Reihe bekommen will, das ihr für ihr Leben unausweichlich erscheint – drei Frauen im Sturm dessen, was Aufbruch, Selbstbestimmung und tatsächliche Emanzipation aufwirbelt.

«Früher konnte man sich noch auf die Dinge verlassen.»

Romi liebt Phil. Romi liebt ihren kleinen Jungen Leon. Romi liebt das Kind, das sich im Bauch mit sich trägt. Aber Romi liebt auch Dennis, seine Art, sie ernst zu nehmen, seine Zärtlichkeiten. Und Romi liebt das, was sie als Möglichkeiten in sich trägt, was nach Klärung ringt in einer Welt, die noch immer fest verklebt mit Konventionen ist.

„Die liegende Frau“ ist ein leidenschaftlicher Roman über Weiblichkeit und Rollenverständnis, über kompromisslose Ehrlichkeit und den Wunsch, ein eigenständiges Leben führen zu können, ein Leben ohne Verstümmelungen. Laura Vogt schreibt vielstimmig, ernsthaft darum bemüht, allen Betroffenen Eigenleben zuzustehen. „Die liegende Frau“ ist ebenso fordernd wie herausfordernd, nicht zuletzt für Leser wie mich, die in einem ganz traditionellen Rollenverständnis gross wurden. Laura Vogt stellt Fragen, deren Antworten Konsequenzen fordern.

«Ich will mich häuten, Schicht um Schicht, wenn ich spreche, wenn ich schreibe.»

Laura Vogt, geboren 1989 in Teufen (Schweiz), studierte Kulturwissenschaften in Luzern und Literarisches Schreiben in Biel. 2016 erschien ihr Debüt «So einfach war es also zu gehen», mit dem sie u. a. zu den Solothurner Literaturtagen und zu PROSANOVA – Festival für junge Literatur eingeladen wurde. 2020 folgte der Roman «Was uns betrifft», der ins Englische übersetzt wurde. Sie schreibt neben Prosa auch lyrische, dramatische und journalistische Texte und ist als Schriftdolmetscherin und Mentorin tätig. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Ostschweiz.

Rezension von «Was uns betrifft» von Laura Vogt

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Zsuzsanna Gahse «Zeilenweise Frauenfeld», Edition Korrespondenzen

Buchtaufe im Literaturhaus Thurgau

Ich habe mir zuhause einen Vorrat an Zsuzsanna Gahse Büchern angelegt. Warum? Weil ich ihre Bücher, erschienen in der Edition Korrespondenzen, über alles liebe. Ihre Prosaminiaturen, die für mich reine Poesie sind, nennt sie Störe;„Störe bewegen sich zwischen langen Erzählweisen und Gedichten, zwischen Essays und Novellen, szenischen Texten und Performance-Vorlagen“.

Gastbeitrag von Thomas Kunst
Schriftsteller, Dichter, Kleist-Preiträger

„Zeilenweise Frauenfeld“ ist ein Bühnengewässer, in welchem die Dinge durcheinandergeraten können, wenn man das entlarvende Lesen gegen ein nachdenkliches Lesen eintauscht. Die Frauen an den Treppen. Die Frauen auf den Demos. Die kleine Kellnerin. Die Tochter der Wienerin. Damen und Frauen. Manu. Die Welsche. Nandu. Nora. Die Unbrennbare. Eine schwarz gekleidete Frau. Die Frau in Indigo. Frauen von vor etwa hundertfünfzig Jahren. Frauen beim Stolpern, Stürzen und Sterben. In einer Frauenfelder Inszenierung. Popkonzerte. Illusionen. Bahnhofsvorplätze. Festivals.

Das Bühnenwasser der Murg. Die Brücken und Stege von Frauenfeld. „Viele setzen sich bei der diesjährigen Trockenheit einfach ins Gras, aber wir haben uns vor Kurzem kleine, leichte Klappstühle besorgt, mit denen wir sogar durch die Stadt ziehen und beliebig Pausen einlegen, die zu unserer Langsamkeit passen.“ Die Chance, dass Texte zu großer Literatur werden, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit. Zsuzsanna Gahse schafft es, uns auf ihre Prosafelder zu entführen, ohne uns daran zu erinnern, dass das Denken auch eine konzentrierte Fortbewegungsart des Sehens sein kann.

Ich musste beim Lesen von Zsuzsannas Buch an ein Gedicht von einem meiner amerikanischen Lieblingsdichter denken, das ich Mitte der neunziger Jahre zufällig beim Durchblättern einiger Ausgaben der Grazer Literaturzeitschrift „Manuskripte“ gefunden hatte: „Kriminalroman“ von Robert Kelly, ein Titel, der in seiner deutlichen Bezeichnung hoffentlich nur liebevolle Genreirritationen ausgelöst hat. Dieses Gedicht hatte von Anfang an kein Entkommen für mich parat, zog mich, von seinem Tempo, von seiner Gelassenheit her, sofort in seinen ambivalenten Kreis, beeindruckte mich vor allem durch die verhaltene Ökonomie im Gebrauch seiner Mittel, ein Gedicht, das klar und stringent war, elliptisch und karg, fast nur aus Hauptwörtern bestehend, wie es vielleicht seinerzeit Gottfried Benn in seiner Rede „ Probleme der Lyrik“ vorgeschwebt sein mag, ein Gedicht, geräumig entschlackt von verbalem Geraune und adjektivistischer Ausgelassenheit, einer der unverbindlichen Arten überzeichneter Wahrnehmungsplusterung.

„…Bei der Klinke. In der Schublade.
Mit einem Taschentuch in der
Hand. In der Hand. Im Zimmer
die Hand. Im Zimmer. Auf dem Vorleger
neben dem Bett. Neben dem Bett. Im
Bett. Chenille. Auf dem Bett. Im Bett.
Im Zimmer im Bett. In dem Zimmer
In dem Bett…“

Zsuzsanna Gahse «Zeilenweise Frauenfeld», Edition Korrespondenzen, 2023, 150 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-902951-78-6

Genauso fühle ich mich beim Lesen der grandiosen Bücher von Zsuzsanna Gahse, das Glücksgefühl der Anstrengung bei der Lektüre auf sich zu nehmen, nicht nachzulassen in einer Art von musikalischer Konzentriertheit, den Einzelsätzen zu vertrauen, den sprachlichen Herzstücken der Gedanken niemals die Kondition bei der Durchblutung der poetisch-intuitiven Verästelungen zu versagen, wie es der kubanische Dichter José Lezama Lima einmal formuliert hat. „Nur die Anstrengung kann uns anregen, nur der Widerstand, der uns herausfordert, kann unser Erkenntnisvermögen geschmeidig krümmen, es wecken und in Gang halten.“ 

Verzeih mir, liebe Zsuzsanna, dass ich versucht habe, mich mit fremden Federn deinem neuen Buch zu nähern. Es ist deine Freiheit. Es ist meine Demut und auch ein Scheitern in Liebe.

Die Chance von Texten, große Literatur zu sein, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit.

Es gibt Störe in der Murg. Wenn man sich Klappstühle ans Wasser stellt, kann man sie zählen, bestaunen und bei austauschbaren Temperaturen auswendig lernen, denn Die alten Jahreszeiten gehören zum Weltkulturerbe. Für diese Sätze liebe ich dich und deine Bücher. 

„Ein Buch soll eine innige Mischung meiner wahren und falschen Erinnerungen sein, meiner Ideen, Hypothesen und imaginären Erfahrungen – all meiner verschiedenen Stimmen, ein Buch, das sich als Ausdruckswille dessen zu erkennen gibt, der da spricht, mit der freiesten Phantasie und mit äußerster Genauigkeit, in Prosa und Vers, beim Erwachen des Denkens zu sich selbst.“ (Paul Valery, Faust III)

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Jochen Kelter mit «Verwehtes Jahrhundert» im Literaturhaus Thurgau

Jochen Kelters Dichtung, sein neustes Buch „Verwehtes Jahrhundert“, erschienen im Caracol Verlag, als Lyrik zu bezeichnen, wird dann seiner Dichtung nicht gerecht, wenn man unter Lyrik jenen weichgezeichneten, verklärten Blick eines Entrückten versteht.

Jochen Kelters Lyrik ist alles andere als verklärt und weltentrückt, sondern kämpferisch, manchmal scharf, sonnenklar und ganz und gar nicht altersmilde. Jochen Kelter ist kein Mann der leisen Töne, auch wenn in diesem Band Gedichte zu finden sind, die wie zarte Lieder einen liebenden Blick verraten. Gedichte, die man am liebsten mit Farben an die Wand schreiben würde, um sie beim Aufstehen in einen neuen Tag als erstes zu lesen. Gedichte, die mich beflügeln!

„Verwehtes Jahrhundert“ – einen stimmigeren Titel wird es für den neuen Gedichtband kaum geben können. In den bündig vorgetragenen Zeilen werden mindestens hundert Jahre sichtbar, und diese Zeiten wehen tatsächlich herbei. Manchmal blitzen sogar weit entfernte Vergangenheiten auf. Daneben zeigt sich überraschend die jüngste Gegenwart, zum Beispiel mit der Pandemie, die jedem noch in den Knochen sitzt, was derzeit mit einer erstaunlichen Emsigkeit gerne überspielt wird. Aber Kelter beleuchtet die irritierende Ruhe und Stille dieser Jahre. Er zeigt die beinahe stehengebliebene Zeit. Zsuzsanna Gahse

 

Wetterleuchten
Am schwarzen Nachthimmel
immer wieder das entfernte
Leuchten des zuckenden gelben
Lichts und dichte Vorhänge
schweren Regens undurchdringliche
Wände aus Wasser die strömen
und strömen unsichtbar rauschen
du bist noch immer nicht auf den
Grund deiner Seele gelangt
undurchschaubar fließendes
Selbst das dir zuraunt die Nacht
der Regen die Wasser sind nicht
von Dauer sie vergehen wir sind
noch lange nicht auf den Grund
unserer Geschichte gekommen

 

Jochen Kelter kann wie kaum ein anderer poltern, den Finger in die Wunde legen. Er zeigt sich kämpferisch und widerborstig, streitlustig und unversöhnlich. Er wühlt im brutalen Geschehen der Gegenwart, erinnert an Vergangenheiten, von denen andere nur vergessen wollen, rüttelt an unserer Bewegungslosigkeit. Das reisst mitunter an der Seele und zeigt, dass der Dichter sich mit Vielem sprachlich anzulegen weiss und nicht zurückhält, wo andere nur die Stirn in Falten legen.

Jochen Kelter sieht keinen Frieden, wo sich das Grauen offenbart, sei es im Klaren oder im Verborgenen, im Kleinen oder im Grossen. Und doch geht es dem Dichter nicht darum, seinen Weltschmerz auszubreiten. Jochen Kelter ist grosser Stilist, jung und spritzig geblieben in der Art wie er nach der Musik in seiner Sprache sucht. Da ist nichts antiquiert oder verstaubt.

Jochen Kelter „Verwehtes Jahrhundert“, Caracol, 2023, 136 Seiten, CHF ca. 20.90, ISBN 978-3-907296-27-1

Seine Gedichte sind Geschichten. Zsuzsanna Gahse, die den Abend freundschaftlich moderierte, bezeichnete viele seiner Gedichte als Romanminiaturen, Kurztexte, die ganze Geschichten erzählen, eingänglich, mit Schwung und dem untrüglichen Gefühl für die sprachliche Einheit.

 

Verwehter Traum
Wie schnell wir vom Tonband
auf CDs und USB-Sticks umgestiegen
sind wir haben es nicht einmal bemerkt
wie schnell die Menschheit von einem
Krieg in den nächsten gestiegen ist
wir haben es längst schon vergessen

In meinem Traum stehst du
auf einer hellen Wiese mit offenem Haar
weißhohem Blusenkragen die spitzen
Schuhe ineinander auseinander gekehrt
ich spüre du willst mir rückhaltlos gut
wir sind eins aus ganzer Seele

Wie schnell wir von der Jugend ins Alter
steigen du bleibst mir unendlich jung
wie wir von Menschen und Kriegen
überholt werden wie von einem
Weltsystem zum nächsten Leichtsinn
und Leid drehen sich ohne uns um

Und um wir aber bleiben jung
und also verschwinden wir nach
und nach vor uns selbst bleiben zurück
als Schemen derer die wir einmal
gewesen sind und also ratlos im Spiegel
vor unserem eigenen Angesicht

 

Dass sich mit Zsuzsanna Gahse und Jochen Kelter zwei Schwergewichte über Dichtung und Wahrheit unterhielten, zwei, die mit diesem Haus ganz tief verbunden sind, garantierte einen vielstimmigen, spannenden Abend.

 

Postboten
Lautlos rollen sie auf ihren Elektrorädern
heran vollgepackt vor dem Lenker
vollgepackt der Karren hinter ihnen
manchmal sehe ich ihre Ankunft durchs Fenster
Achmed stammt aus Bagdad am Tigris
Karim ist aus dem steinigen Kabul
Lejla kam aus dem bergigen Sarajevo
ich öffne das Fenster und rufe
was gibt’s Neues? Nichts Besonderes
was macht das Wetter?
Na ja so lala
und wie geht es daheim?
Ach wie immer – nichts Neues
so erleben wir die Fremden der Welt
und unsere Kriege vor der eigenen Türe

 

Jochen Kelter ist 1946 in Köln geboren. Studium der Romanistik und Germanistik in Köln, Aix-en-Provence und Konstanz. Lebt seit 50 Jahren auf der Schweizer Seite des Bodensees in Ermatingen (von 1993 bis 2014 zudem in Paris). Lyriker, Erzähler, Essayist.
1988 bis 2001 war er Präsident des European Writers’ Congress, der Föderation der europäischen Schriftstellerverbände, und von 2002 bis 2010 Präsident der Schweizer Urheberrechtsgesellschaft ProLitteris. Jochen Kelter hat Lyrik aus dem Italienischen, Französischen und Englischen ins Deutsche übersetzt.

Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic