«Und seltsam: Weniger Sehen als Gesehenwerden! Ja, es verlangte ihn, ja, er begehrte, gesehen zu werden, und mehr noch als bloss gesehen – erkannt zu werden»

Lieber Gallus

Unser Lesezirkel hat aus meinen drei Vorschlägen Maja Haderlap («Nachtfrauen«), Nina Jäckle («Verschlungen«) und Peter Handke letzteren ausgewählt. Bisher hatte ich nur «Abschied des Träumers» und «Winterliche Reise» gelesen, um die Kontroverse um Serbien zu verstehen, was nur teilweise gelang. Ich freute mich auf eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Nobelpreisträger von 2019. Ein Rezensent hat geschrieben, die 200 Seiten von der «Ballade des letzten Gastes» seien an zwei Abenden gut zu lesen, Handke hätte in diesem Alterswerk zu einer einfacheren Sprache gefunden.

Ich aber kämpfte mehrere Abende erfolg- und ratlos um das Verstehen dieses knorrigen Buches mit seiner rätselhaften Sprache und kaum zu erfassendem Inhalt. Nach fünfzig Seiten dachte ich: Dieses Buch kann ich nicht fertiglesen. Irgendwie wollte ich nicht aufgeben und kaufte die Biografie von Malte Herwig «Meister der Dämmerung». Diese Biografie ist ein Meisterwerk, voller Selbstzeugnissen Handkes, beispielsweise dessen Briefen an seinen leiblichen Vater, sehr spannend zu lesen, mit vielen Hinweisen auf die Verarbeitung persönlicher Ereignisse in den Texten und reich bebildert. Ein sehr lesenswertes Werk! Angeregt durch diese eindrückliche Lebensgeschichte las ich «Wunschloses Unglück» und «Die Lehre der Sainte-Victoire», zwei sehr persönliche und berührende Bücher, in einer mir verständlichen, wunderbaren Sprache, die ich dank der Hinweise in dieser Biografie mit Genuss lesen konnte. Dass Peter Handke seinem leiblichen Vater erst mit 18 Jahren begegnet ist und seine Mutter 1971 Selbstmord gemacht hat, dass er bereits in der Schule ein kluger genau beobachtender Einzelgänger war, das alles erleichterte mir den Zugang zu diesem widersprüchlichen Autor. Es gelang mir, die «Ballade des letzten Gastes» ganz zu lesen, die kunstvolle Sprache und die verwirrenden Bilder auf mich wirken zu lassen, auch wenn viele Passagen für mich weiterhin fremd bleiben.

Peter Handke «Die Ballade des letzten Gastes», Suhrkamp, 185 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43154-2

Für mich ist der letzte kurze Abschnitt dieser Ballade am besten gelungen, ein Gedicht voll eindrücklicher Bilder, sehr anregend und bereichernd:
«Als ich mich schnarchen hörte beim Schlaf im Bombentrichter. Aus heiterem Himmel angefallen von einem Schmetterling. Der Tag ohne Vogelflug.»
Malte Herwig schreibt: «Handkes Werke sind Bruchstücke einer grossen Konfession, und die Radikalität und Schonungslosigkeit, mit der er seine Selbsterforschung betreibt, ist einmalig. Hier schreibt einer über sich, aber stellvertretend für alle, die der Welt noch nicht so abhanden gekommen sind, dass sie sich nicht einmal mehr für sich selber interessieren.»

Mit diesen Worten hoffe ich, dass die Uraufführung von «Mein Tag im anderen Land» gestern Abend in Villach erfolgreich verlief. Dein Beitrag im Literaturblatt hat mir übrigens auch sehr geholfen, Peter Handke besser zu verstehen.

Nun wünsche ich euch noch angenehme Tage in der Heimat dieses aussergewöhnlichen Schriftstellers und sende herzliche Grüsse aus der Innerschweiz

Bär

Lieber Bär

In Griffen, einem kleinen Ort im Drautal in Südkärnten, kann man seit ein paar Jahren im ehemaligen Stift ein Handke-Museum besichtigen. Als ich das Museum zum ersten Mal besuchte, dachte ich, es wäre ein Wallfahrtsort für Handke-Begeisterte geworden, ein Blick ins Leben des Nobelpreisträgers mit allen Höhen und Tiefen, einem Shop mit Büchern von und über den Dichter, einer anwesenden Museumsleitung. Das über 500 Jahre alte Kloster, das vor 200 Jahren aufgelöst wurde, die Gebäude privater Nutzung zugeführt und die Kirchen zu Pfarren, sind mehr als bloss in die Jahre gekommen. Es war kein Mensch anzutreffen. Und als ich neugierig und etwas verunsichert durch die feuchten Räume des Stifts streifte auf der Suche nach dem Handke-Museum, sah ich bloss auf dem angrenzenden Friedhof zwei Frauen, die sich um die Blumen auf den Gräbern bemühten.

Man scheint in Griffen, in Kärnten, in Österreich durchaus stolz auf den Nobelpreisträger zu sein, bekam er doch dieses Jahr das «Große Goldene Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich». Die Ausstellung im Stift ist ein aufschlussreicher Blick in ein Leben, das schon in frühen Jahren eine deutliche Richtung bekam, in ein Schreiben, das sich wenig um Konventionen und Strömungen kümmerte, ein Wirken, das stets eigenwillig und eigensinnig ist und war. Eigenschaften, die in der Gegenwart immer schwieriger werden, in der «fremde» Ein- und Ansichten schnell zu vernichtenden Urteilen führen, in einer hyperempfindlichen Gesellschaft, die sich immer schwerer tut, andere Meinungen zu akzeptieren.

Das Handke-Museum in Griffen ist ein seltsamer Ort. Als wäre es Pflicht geworden. Als hätte man ihm das Leben entzogen. Als würde man sich ein bisschen schämen.

Peter Handke «Mein Tag im anderen Land», Bibliothek Suhrkamp, 2021, 93 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-518-22524-0

Umso beeindruckender war die Uraufführung des Stückes „Mein Tag im anderen Land“ an der «Neuen Bühne Villach«. Michael Weger, Schauspieler, Regisseur und verantwortlich für die Bühnenbearbeitung der «Dämonengeschichte» von Peter Handke, die 2021 bei Suhrkamp erschien, performte sich mitten in den Text, ganz nah ans Publikum, unmittelbar.

Ein Mann wandelt durch einen Tag. Manchmal in einer realen Welt, manchmal im Dazwischen, zwischen Traum, Wahn, Fata Morgana und Realität. Von sich selbst und seiner Schwester begleitet, manchmal ganz nah, manchmal weit abdriftend. Er geht durch einen Ort, einen Ort, ebenso unbekannt wie vertraut. Geht wie von Sinnen und doch mit scharfem Gespür für das, was sich neben der Realität offenbart. Er redet mit lauten Zungen, schwadroniert, schreit und gebärdet sich wie ein Entfesselter, verbreitet Schrecken und Verunsicherung, um dann mit einem Mal wieder der ganz Sanftmütige und Ruhige zu werden. Vielleicht erkennt man dort den Autor selbst, wenn man sich erinnert an seine selbstvergessenen literarischen Erkundungen, seine ruhigen Worte in der lichtdurchfluteten Schreibstube seines Hauses, in den Betrachtungen in seinem verwachsenen Garten. Aber ebenso in der verbalen Entgleisung, wenn man Handke zu reduzieren versucht, wenn man ihm auf die Pelle rückt.

So seltsam die Erzählung, so seltsam die Sprache. Peter Handke bedient sich einer Sprache, die wie die Geschichte selbst leicht daneben klingt, ebenso wie die Geschichte entrückt, nicht der Welt hier und der Zeit jetzt entsprechend. Eine Sprache, die beinah singt, die Haken schlägt und Kringel zeichnet, die anders ist als das, was der Realität entspricht, die mich wegzieht, meinen Blick verbaut.

Handke ist Handke.

 

«Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine grosse Lüge»

Lieber Gallus

Soeben habe ich Jens Steiners «Die Ränder der Welt» fertiggelesen.

«Dieses Ich, so nah und unausweichlich. Du kannst dich nicht daran vorbeilügen, du bist ich, und so stehe ich jetzt auf von meinem Stein, drehe mich um und blicke zurück aufs Land»

Zurückblicken auf ein Leben vor der letzten entscheidenden Begegnung mit seinem Freund: Ich bin tief berührt, begeistert, nachdenklich und angeregt nach dieser Lektüre. Mit anderen Worten: Ich lege diese eindrückliche Suche, dieses Werk voll Liebe und Leiden, Verzweiflung und auch Versöhnung, voller Fragen nach dem Sinn des Lebens, auch der Kunst, bereichert und glücklich zur Seite. Eine klare, sehr bildhafte Sprache mit Witz und Humor zeichnet dieses Buch aus. Kristian hofft auf seiner Reise durch viele Länder und mit wechselnder Beziehung zu seinem Freund Mikkel seit Kindertagen, angeregt durch einen Brief von ihm, auf der dänischen Insel Christianso endlich bei sich anzukommen. Die Auseinandersetzung mit bildender Kunst und das Bearbeiten Kristians von Stein und Fels sind Bilder, die bleiben.

«Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine grosse Lüge»

Ich bin gespannt auf deine Meinung zu diesem lesenswerten Buch.

Herzlich
Bär

***

Lieber Bär

Eben habe ich „Die Ränder der Welt“ beiseite gelegt, zumindest haptisch, denn das Buch wird mich zu meiner grossen Freude noch weiterbegleiten. Ich werde es nicht gleich ins Regal schieben zwischen die anderen Perlen aus seiner „Feder“, so wie man nach einem besonderen Stück Leben nicht einfach in die Mühlen des Alltag zurückkehren will.

Manchmal fühle ich mich als Leser Zeuge von etwas Besonderem. Schon sein Romandebüt „Hasenleben“ gewann meine Aufmerksamkeit. Auf meinem dritten Literaturblatt schrieb ich über jenen Roman: „Man ist den ProtagonistInnen ganz nah, bleibt ein Buch lang und darüner hinaus bei ihnen, fühlt mit. Die eigentliche Katastrophe ist die Summe vieler kleiner Katastrophen. Was darauf folgt, schmerzt, zerreist, fügt tiefe Wunden zu.“ „Hasenleben“ gefiel nicht nur mir. Das Debüt schaffte es gar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. „Carambol“, Jens Steiners Zweitling, glänzte dann endlich auch mit Preisen, nicht zuletzt mit dem Schweizer Buchpreis 2013. Mit diesem Buch war Jens Steiner Gast einer meiner traditionellen Hauslesungen in Amriswil. Seither sind weitere Romane dazugekommen, solche für Kinder und Erwachsene, Romane, die die Vielschichtigkeit des Autors wiederspiegeln und seine Lust, stets neues Terrain zu erkunden.

Jens Steiner «Die Ränder der Welt», Hoffmann und Campe, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 34.00, ISBN 978-3-455-01710-6

Sein neuster Roman „Die Ränder der Welt“, im Frühling bei Hoffmann und Campe erschienen, ist die Geschichte eines Mannes, der die Nabe seines Lebens sucht und dabei, wie im Titel, an die Ränder der Welt gerät, und das ist nicht nur geographisch gemeint. „Die Ränder der Welt“ ist die Reise eines Mannes ins Epizentrum seines Lebens, eine Reise von Kleinhüningen, über Paris nach Kopenhagen, von Italien bis nach Patagonien, die keine dänische Insel Christianso immer immer wieder nach Estland, wenn auch nur im Herzen. Die Reise eines Suchenden. Ein Roman, der meines Erachtens so gar nicht helvetisch erzählt, sondern mit fast südamerikanischem Gestus, ohne diesen kopieren zu wollen. Ein Roman, der mich ungeheuer mitnahm, inspirierte, manchmal gar belehrte, in gutem Sinne, und während Tagen nicht mehr losliess.

Jens Steiner ist seit vielen Jahren Redaktor der Zeitschrift „Kunst und Stein“, dem Verbandsorgan der Schweizer Bildhauer und Steinmetze. Jens Steiner hat dänische Wurzeln, lebte einige Jahre in Flensburg und heute im Burgund. Er erzählte mir einmal, als er noch in Zürich lebte, seine Schreibklause sei damals bloss wenige Quadratmeter gross gewesen. Jens Steiner öffnet die Welt, vom Kleinen ins Grosse, er fokussiert und schweift mit dem suchenden Blick in die Weite. Sein Tun ist Aufforderung!

Liebe Grüsse

Gallus

«Literatur kann vieles näher bringen, nicht bloss ein mir fremdes Land»

Lieber Gallus

Ich war zwei Wochen im Land der Pharaonen unterwegs. Tief beeindruckt von den bis 4000 Jahre alten Kulturgüter, so gut erhalten und in frischen Farben und leuchtendem Gold zu bestaunen, habe ich die teils langen Fahrten durch die Wüsten genutzt, ägyptische Autoren zu lesen. Neben Nagib Machfus, dem ersten arabischen Literaturnobelpreisträger von 1988, las ich ein Buch von Wagiuh Ghali «Snooker in Kairo».

Waguhi Ghali «Snooker in Kairo», C. H. Beck, 2018, aus dem Englischen von Maria Hummitzsch, 256 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-406-71902-8

Es ist das einzige Buch dieses Autors aus Kairo, geschrieben bereits 1964, auf Deutsch erstmals erschienen 2018. Knapp 40jährig hat sich der Autor in der Wohnung seiner Lektorin und Freundin das Leben genommen. Im Kern seines Wesens war er überzeugt, keine Liebe verdient zu haben. So die Worte seiner Freundin.
Meines Erachtens ist ein Meisterwerk entstanden! Melancholie, Verzweiflung, Witz und Komik sind literarisch bestechend umgesetzt. Aus einer reichen koptischen Familie stammend, aber mausarm kämpft der Protagonist für ein weltoffenes Leben, blitzgescheit und hochsensibel, gefährdet durch Spielen in Snooker-Club und viel Alkoholgenuss. Die Liebe zu einer Jüdin der Oberschicht gibt ihm viel Kraft, er erlebt sie aber ambivalent und toxisch.

Sehr klug und authentisch geschrieben vor dem Hintergrund vom Ende der britischen Kolonisation und zur Zeit Präsident Nassers gibt es auch einen Einblick in die damalige desillusionierte Gesellschaft.

Für mich war es eine bereichernde Ergänzung und nachhaltige Vertiefung, die mir das Erlebnis der lauten, schmutzigen und überbevölkerten Städte Kairo und Alexandria ein klein wenig verständlicher zu machen schien.
Kann Literatur einem ein fremdes Land näher bringen? Täusche ich mich? Was denkst du darüber?

Mit bestem Gruss
Bär

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Lieber Bär

In einem Interview, das ich mit Iris Wolff über ihren Roman „Lichtungen“ führte, sagt sie: „Was Bücher auf einzigartige Weise können ist: Empathie erzeugen. Weil wir mit Büchern die Welt aus den Augen eines anderen Menschen sehen. Das gilt generell für Kunst: Wir weiten – für die Dauer eines Films, eines Buchs, eines Musikstücks – die Grenzen unseres fest gefügten Selbst und begreifen vielleicht, wie sehr alles miteinander verbunden ist.“ Kunst ist nicht nur für mich neben echter Bereitschaft zur Kommunikation zur einzigen Hoffnung geworden. Wie sonst sollte sonst das Verständnis dafür wachsen, dass wir nur eine einzige Welt zur Verfügung haben, dass es nicht das Privileg der gegenwärtigen BewohnerInnen sein kann, auf diesem Planeten wie Berserker zu wüten, ganz nach dem Prinzip „Nach mir die Sintflut“. Wie sonst sollte man dem Hass, all den Vorurteilen begegnen, die es scheinbar verunmöglichen, das Geschenk Erde miteinander zu teilen?

Juri Ritchëu «Traum im Polarnebel», Unionsverlag, 2005, aus dem Russischen von Arno Specht, 384 Seiten, CHF ca. 20.50, ISBN 978-3-293-20351-8

Ja, die Literatur kann mir ein Land, Menschen, eine mir fremde Kultur, eine mir fremde Religion näher bringen. Ich erinnere mich gut an die Bücher von Juri Rytchëu, eines tschuktschischen Schriftstellers, Sohn eines Jägers eines indigenen Volkes ganz im Norden Russlands. Ich tauchte regelrecht ein in eine Welt, die mir zuvor vollkommen unbekannt war, lernte, dass Russland aus viel mehr besteht, als aus dem, was ich zuvor wusste. Juri Rytchëu starb 2008 und scheute sich in seinen späten Jahren auch nicht, die Politik Russlands zu kritisieren. Ich lernte mit diesem Autor eine Kultur zu lieben, die mir viel Respekt einpflanzte. Nicht zuletzt macht es mir die Literatur unmöglich, ein Land zu dämonisieren, alle Russen in einen Topf zu schmeissen, was ganz offensichtlich in einer breiten Öffentlichkeit passiert. Nur schon weil ich viele russische SchriftstellerInnen, auch solche der Gegenwart wie Ljudmilla Ulitzkaja, Michail Schischkin viel zu sehr schätze und verehre, ist mir ein kollektives Urteil unmöglich. Putin ist nicht Russland.

Als ich letztes Jahr in die Heimat meines Schwiegersohns reiste, war es keine Reise in die Ferien. Ich wollte Vietnam begegnen. Ich wollte in den Wochen etwas lernen. Ich wollte eine Kultur, Menschen kennenlernen. Selbstverständlich las ich AutorInnen aus diesem Land, zB. Kim Thúy mit ihrem Roman «Der Klang der Fremde» oder den vorzüglichen Sammelband literarischer Kostbarkeiten aus Vietnam „Vietnam fürs Handgepäck“ von Alice Grünfelder. Ich sah, hörte und schmeckte mehr, als ich dieses fremde Land bereiste. Aber das klappte auch nur, weil ich mich nicht bloss auf den touristischen Trampelpfaden bewegte, sondern versuchte, möglichst offen zu sein, mich einliess, was sich mir zeigte. Wer All-inclusive zwei Wochen in Ägypten in einem Fünfsterneressort verbringt, lebt auf einem anderen Planeten, wattiert in Luxus, umgeben von allen Annehmlichkeiten.

Wenn Vermummte am Rand einer Demonstration gegen Hass stehen und den rechten Arm nach oben recken, wenn Propagandisten den Krieg gegen die Ukraine mit dem Dogma des grossrussischen Reiches erklären, wenn ein Parteichef in der Schweiz den menschengemachten Klimawandel leugnet und argumentiert, die Landwirtschaft könne von einem wärmeren Sommer doch nur profitieren, dann fehlt diesen Menschen Empathie. Es mag idealisierend klingen; aber ich bin davon überzeugt, dass Menschen, die sich wirklich auf Kunst einlassen, sich auch auf ihnen fremde Stimmen einlassen, dass sie sich unweigerlich öffnen und verstehen lernen. Literatur kann vieles näher bringen, nicht bloss ein mir fremdes Land.

Liebe Grüsse

Gallus

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«Literatur kann vieles näher bringen, nicht bloss ein mir fremdes Land»

Lieber Gallus

Immer wieder denke ich an diesen Satz aus deiner letzten Mail bei der Lektüre von «Weisse Rentierflechte» von Anna Nerkagi. Dieses erste Buch in deutscher Sprache von einer nenzischen Frau ist von archaischer Kraft und sinnlicher Poesie, entführt uns in eine ganz andere Welt im Norden Sibiriens.

Anna Nerkagi «Weiße Rentierflechte», Unionsverlag, aus dem Russischen von Rolf Junghanns, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 18.00, ISBN 978-3-293-20999-2

Naturverbundenheit und Tradition beeinflussen das Leben dieser Menschen in unwirtlicher eisiger Tundra. In wunderbarer Sprache geschildert begleiten wir verschiedene, junge und alte Nenzen auf der Suche nach Liebe, nach Wahrheit, nach dem Sinn des Lebens. Der Autorin ist ein nachhaltiges Werk über Liebe, Verantwortung und Tod gelungen, das mich in der modernen Welt lebend zum Nachdenken herausfordert:

«Alte Bäume erscheinen uns als langlebige Menschen. Man möchte glauben, dass sie sich an so vieles erinnern, vielleicht sogar an das GOLDENE WORT DER WAHRHEIT, das die Menschen einst vergessen haben… Das GOLDENE WORT DER WAHRHEIT – was ist das? Ein Lied? Ein Gebet? Ein Gott?»

Ein Buch voller Fragen zum Kern unserer menschlichen Existenz. Unbedingt lesenswert!

Bär

Lieber Bär, Lieber Gallus 1:
«Die einen schwimmen auf, die andern versinken»

 

1500 Mal literaturblatt.ch – eine kleine, doch beherzte Würdigung, von Ruth Loosli

Gallus Frei ist nicht nur ein unermüdlicher Leser, sondern auch ein sorgfältiger und eigenwilliger. Er ist sich nie zu schade, auch unbekannten Stimmen eine Stimme zu geben, wenn er sich entschieden hat, ein neues Buch aufzuschlagen und es zu lesen.

Gallus Frei ist sich keines Genres zu fein: Wenn er sich zu eben diesem Buch entschließt, dann legt er es kaum weg, oder es wäre begründet, und das lässt er uns LeserInnen dann natürlich nicht wissen. Er ist ein Gentleman durch und durch, als Leser ebenso wie als Veranstalter und Moderator. Heisst, er ist immer fair und wohlwollend den SchriftstellerInnen gegenüber, ihm ist bewusst, dass sein Lesen, seine Einladungen und „Beurteilungen“ ein Gewicht haben.

Die Kritik des Germanisten interessiert ihn weniger, denn er ist kein Germanist – darauf weist er auch selbst gerne hin – sondern ein vorzüglicher und vielleicht darf man sagen, ein besessener Leser, wie es ihn vermutlich nur noch selten gibt.
Wer ein Buch – von Gallus besprochen – zur Hand nimmt, muss nicht seiner Meinung sein, lässt sich aber gerne von seiner Leseerfahrung mitnehmen und beeinflussen. Zudem gibt es sehr oft nachgehend ein Interview mit dem Autor, der Autorin, das ebenfalls manch Erhellendes zum Buch und zur Arbeit aufzeigen wird.

Von meiner Seite kommt ein übermütiger Dank und eine große Gratulation zu seinem 1500. Beitrag!
Sein 1500. Beitrag!
Man lasse diese Zahl auf sich wirken.
In diesem Sinne meine allergrößte Hochachtung.

Es grüsst eine befreundete Weggefährtin in Sachen Literatur Ende des Jahres 2023 mit den allerbesten Wünschen für sein weiteres Schaffen.
Ruth Loosli

Herta Müller «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», Hanser

Herta Müller wird wie eine Königin in den mit viel Marmor ausstaffierten Raum im ehrwürdigen Hauptgebäude der Uni Zürich geleitet. Ein krasser Gegensatz für eine Frau, die vor ihrer Vertreibung aus Rumänien ganz unten war, verraten und einsam, von einem kollektiven Verleumdungs- und Lügenapparat systematisch in die Enge getrieben.

Wird man verfolgt und mit dem Tod bedroht, wenn man «gestorben werden kann», wird man sich bewusst, dass das Leben ein Geschenk ist, sagte Herta Müller im Gespräch über ihr neustes Buch «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», organisiert durch das Zentrum für literarische Gegenwart Zürich. Leben wird subversiv, weil das Leben selbst in Frage gestellt wird. In einem totalitären Staat, in jedem totalitären Staat wird bewusstes Leben zu einem politischen Leben. Und so trägt jede Frage, die Herta Müller in ihren Büchern oder in Gesprächen zu beantworten versucht, eine starke politische Komponente. Leben wird automatisch zu einem politischen Leben, das sich permanent gegen den Wall an Verboten stemmen muss. Man kann verweigern und ausblenden, bis man dann doch irgendwann konfrontiert wird und sich für die eine oder andere Seite entscheiden muss. «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald» ist eine Sammlung von Essays und Reden, die zusammen mit dem titelgebenden «Monolog» zur niedergeschriebenen Auseinandersetzung mit staatlich inszenierter Unterdrückung werden, dem immer wiederkehrenden Thema der Autorin.

Herta Müller «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», Hanser, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-446-27848-6

Herta Müller, Verfolgte, Bestrafte und Drangsalierte wurde schon vor ihrer Flucht nach Deutschland eine Einsame, eine Ausgeschlossene, eine von Lügen und Neid Eingeschlossene. Unvorstellbar, dass die Frau, die auch über ein Jahrzehnt nach ihrem Nobelpreis Säle füllt, einst ihren Arbeitsplatz als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik wegen Verleumdung und strategischen Verdächtigungen räumen und diesen ins Treppenhaus der Firma verlegen musste, um ihre Arbeit nicht ganz zu verlieren. Totalitäre Systeme, ob Rumänien damals oder all die totalitären Staaten heute, bedienen sich stets der Lüge, der Fälschung, der Verdrehung. Man wird effizient zum Einzelnen gemacht, Lüge wird zum System. Die Behauptung, sie sei Staatsfeindin, Schwarzmarkthändlerin und prostituiere sich, wird Mittel zum Zweck. Gelogenes und Erfundenes wird Teil eines Unrechtssystems. Fatal ist, dass damit selbst die Wahrheit Schatten bekommt. Man ist sich nie sicher, ob man auf Wahrheit oder Lüge trifft. Und diese permanente Verunsicherung erzeugt Angst.

Verfolgung wurde in den Jahren in Rumänien zu einem dauernden Kampf, den die Autorin immer in Isolation und Angst abdrängte, umgeben von Opportunisten, besonders schmerzhaft dann, wenn selbst die Familie, die Eltern zum langen Arm des Staates wurden.

«Eine Fliege kommt durch einen halben Wald» ist ein Buch, das Beklommenheit auslöst, eine Beklommenheit, von der sich die Autorin nicht lösen will und kann, eine Beklommenheit, die angesichts der globalen Probleme noch vertieft. Verfolgung, grassierender Antisemitismus, offensichtlicher Opportunismus und Rassismus schlagen Wellen wie noch nie, erzeugen ein gefährliches, mehr und mehr explosives Gemisch mit unabsehbaren Folgen. Herta Müller macht Bilder von Unsäglichem, ohne Klischee, ohne Angegriffenheit. Seltsam genug, dass sich nicht nur die Literatur der Sprache bedient, auch die Politik, selbst die Diktatur. Darum ist Sprache stets Politik, Literatur Stellungnahme. Im Gespäch beschwört Herta Müller, dass gerade deshalb viel mehr über Literatur diskutiert werden müsste. Man ist verpflichtet, sich selbst zu erzählen, mündig zu werden. Ein Prozess, der nie zu Ende sein kann, für den die Nobelpreisträgerin noch immer schreibt und lebt.

Wenn ich schreibe, muss ich mich mit dem auseinandersetzen, was mich von innen bedrängt. Ein Zustand, der die Angst stets miteinschliesst. Schreiben ist der Drang, sich nicht verlieren zu wollen, ein Kampf gegen die Hässlichkeiten.

Herta Müller wurde 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf im Banat in Rumänien geboren. Sie studierte in Temeswar rumänische und deutsche Literatur. Sie arbeitete nach dem Studium in einer Maschinenbaufabrik als Übersetzerin. Weil sie sich weigerte, ihre Kollegen für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu bespitzeln, verlor sie ihre Stelle, fand danach nur noch Aushilfstätigkeiten und geriet selbst ins Visier der Securitate. Es folgten Verhöre und Hausdurchsuchungen und die Verleumdung. 1987 konnte sie nach Berlin ausreisen, wo sie heute noch lebt. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt wurden ihr der Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museum Berlin sowie der Internationale Brückepreis der Europastadt Görlitz/Zgorzelec verliehen und sie wurde in den Orden Pour le mérite aufgenommen. 2009 erhielt sie den Literaturnobelpreis.

Rezension zu «Die Lüge ist ein Klettertier«
Rezension zu «Der Beamte sagte«

Beitragsbild © Gallus Frei (anlässlich einer Lesung der Autorin an der Uni Zürich, November 2023)

(Das war der 1498. Beitrag auf literaturblatt.ch.)

Retzhofer Dramapreis 2025 – Ausschreibung

Der Retzhofer Dramapreis ist ein Preis für Einsteiger:innen im Bereich Szenisches Schreiben, er unterscheidet sich von vielen anderen Preisen im deutschen Sprachraum. Das Besondere: Bewerber:innen werden in der Arbeit an ihrem Wettbewerbsbeitrag von Expert:innen für Szenisches Schreiben (Regisseur:innen, Dramaturg:innen, Schauspieler:innen und Autor:innen) kostenlos beraten und unterstützt.

Gerade die Verbindung aus Stückentwicklung und Wettbewerb erhöht die Chancen der jeweiligen Teilnehmer:innen mit ihren Stücken in der Theaterwelt wahrgenommen und aufgeführt zu werden. Dies beweist der Werdegang von Autor:innen wie Gerhild Steinbuch, Johannes Schrettle, Natascha Gangl, Ewald Palmetshofer, Christian Winkler, Henriette Dushe, Ivna Žic, Susanna Mewe, Ferdinand Schmalz, Miroslava Svolikova, Allex Liat Fassberg, Thomas Perle, Lisa Wentz und Leonie Lorena Wyss.

Der Retzhofer Dramapreis wird in drei Kategorien ausgeschrieben. Die Ausschreibung „für Erwachsene“ richtet sich bevorzugt an Einsteiger:innen. Seit 2021 wird der Preis auch für zwei Stücke in der Kategorie „für junges Publikum“ verliehen. Mit diesen Preisen (für Kinder von 4-8 Jahren, sowie für Jugendliche von 9-13 Jahren) möchte das DRAMA FORUM junge ebenso wie erfahrene Autor:innen dazu anregen bzw. dabei unterstützen, auch für ein junges Publikum qualitativ hochwertige Texte zu schreiben.

Der Preis ist mit jeweils 7.000 Euro dotiert.

Wie bewirbt man sich?
Man sendet per E-Mail (dramapreis@uni-t.org) einen Lebenslauf, einen Stückentwurf und zwei ausgeschriebene Szenen des Stücks. Per Post bitten wir um Zusendung des Lebenslaufs, des Stückentwurfs und der zwei ausgeschriebenen Szenen des Stücks in vierfacher Ausfertigung an uniT, sowie um eine eigenhändig unterschriebene Erklärung (in einfacher Ausfertigung), dass das Stück bisher noch nicht veröffentlicht ist, von keinem Verlag vertreten wird und von den Autor:innen selbst stammt. Wichtig ist auch sowohl im Mail als auch im postalisch übermittelten Text zu vermerken, für welche Kategorie eingereicht wird.

Die ausgeschriebenen Szenen sollten den Umfang von elf Seiten nicht überschreiten. Wenn das eingesandte Stück länger ist, bitten wir die Einsendenden, die von der Auswahljury zu lesenden Seiten zu markieren. Die Einsender:innen erklären sich bereit, im Falle der Auswahl ihres Projekts an den Workshops zur Stückentwicklung von uniT teilzunehmen und ihr Stück fertig zu stellen.

Zeitplan
Der Einsendeschluss für die Bewerbungen ist der 04. Februar 2024. Bis Mitte April 2024 erfahren die Einsendenden, ob sie in den Bewerber:innenkreis für den Preis aufgenommen werden. Ende Juni starten die insgesamt vier geblockten Workshops – zumeist am Wochenende (3 x drei Tage, 1 x vier Tage). Die Termine und Orte der Workshops werden rechtzeitig bekannt gegeben. Die Kosten für Unterkunft an den Workshop-Orten sowie für die Anreise sind grundsätzlich von den Teilnehmer:innen selbst zu tragen. Die Preisverleihung wird im Juni 2025 erfolgen.

Einreichung
Die finalen Texte werden der Preisjury anonymisiert vorgelegt.

Rechte
uniT erwirbt mit der Teilnahme der Bewerber:innen das Nutzungsrecht, kostenlos Ausschnitte aus den Stücken öffentlich zu präsentieren und die Uraufführungsrechte für die fertig gestellten Stücke, um das jeweilige Stück mit den Kooperationspartner:innen zu realisieren.

Unsere Kooperationspartner:innen für die Uraufführungen:
Kategorie „für Erwachsene“: Burgtheater Wien
Kategorie „für junges Publikum“: Next Liberty gemeinsam mit TaO! Theater am
Ortweinplatz und Theater an der Parkaue –Junges Staatstheater Berlin.

DSGVO
Die Einsendenden erklären sich damit einverstanden, dass ihre Texte an die
Jurymitglieder weitergegeben werden.

Kontakt
uniT GmbH
Jakominiplatz 15/5
A-8010 Graz
Tel.: +43 316 380 7480
Mail: dramapreis@uni-t.org
www.dramaforum.at/retzhofer-dramapreis

ein Schreibwettbewerb für einen Platz im Schaufenster

Wie jedes Jahr sucht literaturblatt.ch Advents- und Weihnachtsgeschichten. Die besten Einsendungen werden im Dezember auf literaturblatt.ch und gegenzauber.literaturblatt.ch veröffentlicht. literaturblatt.ch garantiert keine Veröffentlichung, gibt auch kein Feedback zum eingesandten Text.

Bedingungen:
– Textsorte ist frei wählbar.
– nicht mehr als 2000 Wörter
– Zum Text braucht es eine Kurzvita, Hinweise auf Webseite, ein Foto mit ©
– Texte, die nach dem 13. November eingesandt werden, werden nicht berücksichtigt.

Vom Kleinod bis zum Epos – Das Sprachsalz Literaturfestival in Hall im Tirol

Seit mehr als zwei Jahrzehnten organisiert ein Team „unbändig Lesehungriger“ im beschaulichen Hall ein Literaturfestival mit internationaler Ausstrahlung. Für Literaturbegeisterte deshalb ein Abenteuer, weil Hall zu einem Wortmekka wird mit Namen, denen man sonst nur schwer begegnen kann.

Man trifft sich auf der Hotelterrasse oder in der Lobby, mit Sicherheit in einem der Säle während einer Lesung oder auch mal im Lift, oder bei einem Spaziergang durch das mittelalterliche Städtchen: Jan Carson aus Nordirland mit ihrem Roman „Firestarter“ über ein fiebrig, explosives Belfast, in dem die Mauern zwischen „christlicher“ Religionen nicht kleiner geworden sind und Fussball zum Stellvertreterkrieg wird, Dinçer Güçyeter mit seinen Gedichten und dem Buch „Unser Deutschlandmärchen“, mit dem er die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse überzeugte, die Österreicherin Waltraud Haas mit ihren lyrischen Miniaturen, die mein Innerstes mitschwingen liessen, Elisabeth R. Hager mit witzig Tiefgründigem aus ihrer Tiroler Herkunft, Wlada Kolosowa, die mit ihrem Debüt „Fliegende Hunde“ das Hungern für den Livestyle demjenigen in Kriegszeiten schmerzvoll gegenüberstellt, Judith Kuckart, die seit mehr als dreissig und mehr als einem Dutzend Bücher ihre LeserInnen stets zu überraschen weiss, Kerstin Preiwuß, die als „Dichterin bis auf die Knochen“ dem Wahrhaften nachspürt oder dem grossen amerikanischen Romancier Stewart O’Nan, der es wie kaum ein zweier versteht, die Enge us-amerikanischer Unfreiheiten zu beschreiben – und anderen mehr.

Waltraud Haas, Sprachsalz © Yves Noir

Zweien aus der Sprachsalz Gästeliste möchte ich ganz speziell nachspüren.
Es sind nicht immer die grossen Namen, die mich in Schwingung versetzen, denen ich mit Ungeduld entgegenfiebere, weil sie mich in ihren Büchern schon seit Jahrzehnten begleiten. Manchmal leitet mich die pure Neugier in eine der Veranstaltungen. Und wenn ich wie bei Waltraud Haas das Glück habe, in einem Zustand der Verzückung aufzugehen, dann hat sich die lange Reise ins Tirol bereits mehr als gelohnt.

im siebzigsten jahr
führe ich mich
innen noch jung
hinters licht

Waltraud Haas «pfeilschnell wie Kolibris», Klever, 2023, 170 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-903110-96-0

Die kleine Frau mit dem knallig roten Hut hat es faustdick hinter den Ohren. Mit messerscharfem Sprachwitz und unbändiger Lust und Freude an ganz locker scheinender Sprachkunst, die mit treffsicherem Humor den aufrechten Gang zum Stolpern bringt, setzt mir die Dichterin Waltraud Haas in ihrem neusten Band „pfeilschnell wie kolibris“ einen Spiegel vor, der sie selbst stets miteinschliesst.

liebst du mich?
ich werde dich immer lieben
das ist gut
sagt sie und geht

Die meist sehr knappen, verknappten Gedichte Waltraud Haas‘ sind, obwohl sie sich der grossen Themen wie Liebe, Schmerz und Tod annimmt, wohl melancholisch aber nie sentimental oder wehleidig. Der Biss in ihren Texten schnappt, ein Luftzug reisst, der Schlag in die Magengrube sitzt. „pfeilschnell wie kolibris“ ist das perfekte Buch sowohl für den Nachttisch (Da sammelt sich Stoff für Träume), das Wartezimmer beim Zahnarzt (nicht schmerzstillend, aber doch narkotisierend) oder für Fahrten in übervollen Zügen (Ihre Gedichte besiegen das Geplapper).

Stewart O’Nan am Sprachsalz-Galaabend © Denis Moergenthaler

Stewart O‘Nans Bücher begleiten mich schon fast drei Jahrzehnte. Einer der Namen, die mich zwingen, stets auf ihrer Spur zu bleiben, die mit ihren Romanen Suchtpotenzial erzeugen und jenen Mythos „American Dream“ mit spitzer Feder demontieren. Stewart O‘Nan beschreibt nicht die auf Hochglanz polierte Gegenwart einer selbstzufriedenen Hight Society, sondern jene Menschen, die als untere Mittelschicht oder Unterschicht von den Privilegien einer Upperclass nicht einmal mehr träumen. Sie sind liegen geblieben, abgehängt und aufgegeben. Sie wohnen in rostigen Pickups, undichten Trailern oder nach Speisefett riechenden Appartements, ernähren sich von Pizzas oder Tiefkühlkost und verlieren schon als Teenager den Traum vom Glück.

Steward O’Nan «Ocean State», Rowohlt, 2022, aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel, 256 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-498-00268-8

In seinem neusten Roman „Ocean State“ erzählt O‘Nan von einer Mutter und ihren zwei Töchtern, von Carol, die sich schon längst vom Vater ihrer beiden Töchter trennte und sich von Mann zu Mann hangelt, ihre Töchter sich selbst überlässt und ihr eigenes Leben immer mehr im Schlick ihres Unvermögens versinken sieht. Von der neunjährigen Marie, die in Selbstzweifeln und Einsamkeit von der Mutter von Wohnort zu Wohnort geschleppt wird. Und von der älteren Tochter Angel, einem tief gefallenen Engel, die mit einer schrecklichen Tat alles mit in den Abgrund zu reissen droht.

Stewart O‘Nans Romane schmerzen, weil sie schonungslos wiedergeben, was in der us-amerikanischen Gosse liegen bleibt. Und wenn einem bewusst wird, wie leicht das, was im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wie Schimmel wuchert, bis übers grosse Wasser greift, kann die Lektüre seiner Romane durchaus Bauchschmerzen erzeugen. Aber Literatur soll genau das; nichts verbergen!

Sprachsalz ins Leben!

Waltraud Haas, geboren 1951 in Hainburg/ Donau. Lebt seit 1970 in Wien. Studium der Grafik bzw. Germanistik und Philosophie. Seit 1984 freie Schriftstellerin. Publikationen in Zeitschriften („kolik“ u.a.), Anthologien und im Rundfunk.

Webseite der Autorin 

Stewart O′Nan wurde 1961 in Pittsburgh/Pennsylvania geboren und wuchs in Boston auf. Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete er als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell University Literaturwissenschaft. Für seinen Erstlingsroman «Engel im Schnee» erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. Stewart O′Nan lebt in Pittsburgh. 

Webseite des Autors

Beitragsbild © Denis Moergenthaler, Sprachsalz

literaturblatt.ch begleitet den Schweizer Buchpreis 2023, #SchweizerBuchpreis 23/01

Jedes Jahr im November wird im Theater Basel der Schweizer Buchpreis für das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autorinnen und Autoren überreicht. Am 13. September gibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband die fünf Nominierten bekannt.

Letztes Jahr war es Kim de l’Horizon mit seinem Debüt «Blutbuch», einem Roman, der die Jury durch seine Sprache, seine Erzählweise aber auch durch seine Offen- und Direktheit überzeugte: «Der Text lässt Erzählkonventionen hinter sich und erzählt auf verblüffend eigenwillige Art eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund der aktuellen Gender- und Klassendebatten.» Eine Entscheidung, die nicht zuletzt deshalb zu Diskussionen führte, weil bei den Nominierten mit Thomas Hürlimann und seinem Roman «Der rote Diamant» ein Grosser der deutschsprachigen Literatur stand, der es, gemessen an seinem Werk, sehr wohl verdient hätte, für diesen Roman mit einem grossen, publikumswirksamen Preis ausgezeichnet zu werden.

Nachdem Kim de l’Horizons Roman «Blutbuch» im vergangenen November mit dem Schweizer Buchpreis 2022 ausgezeichnet wurde, schlugen die Wellen regelrecht über dem jungen Autor zusammen. Sinnbildlich dafür die unendlich lange Schlange bei den letzten Solothurner Literaturtagen, als der grösste Saal des Festivals übervoll wurde, weil sowohl Buch wie Autor in aller Munde waren. Der Roman «Blutbuch» verkaufte sich schon vor der Verleihung des Schweizer Buchpreises ausgezeichnet. Kim de l’Horizon gewann mit seinem Buch im gleichen Jahr auch schon den Deutschen Buchpreis, ein Doppelerfolg, der erst Melinda Nadj Abonji 2010 mit dem Roman «Tauben fliegen auf» verbuchen konnte. Mit den beiden Preisen schlugen die Verkaufszahlen, zumindest für Schweizer Verhältnisse, durch die Decke.

Literaturpreise gibt es viele. Es gibt zwei Kategorien; jene, die ein Buch alleine auszeichnen und jene, die das Werk einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers auszeichnen. Preise sind wichtig, denn sie schenken nicht nur Aufmerksamkeit, sondern ermöglichen mit der Preissumme eine gewisse Zeit des Schreibens ohne wirtschaftliche Sorgen. Aber Preise sind letztlich immer der Entscheidung einer Jury unterworfen, die Vorlieben und Präferenzen unmöglich blockieren kann. Und sehe ich die Listen der Preise gewisser Autorinnen und Autoren durch, kann ich mich nicht gegen den Eindruck wehren, dass gewisse Preise weitere Preise regelrecht provozieren.

Nun denn. Der Schweizer Buchpreis prämiert das beste «Schweizer» Buch. Eine heere Absicht, der niemals und in keiner Weise entsprochen werden kann. Das eine Buch, das man im November auf den Sockel hieven wird, ist jenes Buch, das den Konsens in der Jury traf, das den Bedürfnissen des Schweizer Buchhandels in Sachen Qualität, Lesbarkeit und Verkäuflichkeit am meisten dient. 
Im vergangenen Jahr war mit «Pommfritz aus der Hölle» von Lioba Happel ein äusserst spannendes Buch unter den fünf Nominierten. Ein Buch, dass durch seine Radikalität, seine Eigenwilligkeit und Sprachkunst überzeugte. Aber das Buch war und ist keines, das man der alt gewordenen Mutter unter den Christbaum legt. Nicht mal meine Söhne hätten es gelesen. Nicht weil sie Anspruchsvolles grundsätzlich verschmähen. Aber die meisten lesen doch, weil sie unterhalten werden wollen.

Am 13. September werden wieder fünf nominierte Bücher präsentiert. Ganz viele Bücher, die es wert gewesen wären, werden fehlen, wie immer, jedes Jahr. Ganz viele Verlage und noch mehr Autorinnen und Autoren werden sich die Augen reiben. Die einen, weil sie nie und nimmer damit gerechnet hätten bei den fünf Nominierten zu sein, die anderen, weil ihre Namen schlicht fehlen auf der kurzen Liste. Und ein paar wenige werden gar beleidigt sein, weil man sie (wieder) nicht berücksichtigte.
Auch bei den Lesenden wird es viele geben, die die Nase rümpfen oder verkünden, die Liste ginge sang- und klanglos an ihnen vorbei.

Ob dem so ist oder nicht, es werden fünf spannende Bücher sein mit fünf spannenden Namen und Geschichten dahinter. Ich freue mich darauf, auch wenn es eigentlich unmöglich ist, fünf Bücher in einem Wettbewerb ohne transparente Kriterien gegeneinander antreten zu lassen.

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Bettina Scheiflinger «Erbgut», Kremayr & Scheriau

am 22. April Gast im Literaturhaus Thurgau

Was und wie Bettina Scheiflinger schreibt und erzählt, beeindruckt sehr. Ihr Debüt „Erbgut“ überzeugt durch aussergewöhnliche Reife, durch Mut und hätte es in den vergangenen Monaten verdient, einiges an Beachtung mehr zu bekommen. Mit der Einladung der Autorin ins Literaturhaus Thurgau verneigt sich der Schreibende vor der Autorin.

Ernstzunehmende Untersuchungen erklären, dass jedes Leben genetisch vorbelastet ist durch die Generationen davor. Auch wenn man solchen Aussagen gegenüber kritisch bleibt, wird es einleuchtend, wenn man zugestehen muss, dass traumatisierte Menschen, die eine Familie gründen, ihre Erlebnisse bei der Erziehung nicht einfach ausblenden können. Es ist nicht möglich, in einem neuen Leben einfach bei Null zu beginnen. All das, was sich in die Jahrringe eines Menschenlebens einfrisst, was sich als dunkle Schatten in den Seelen ablagert, was im Untergrund modert, wirkt im Tun – oder auch im Unterlassen. Dass sich Bettina Scheiflinger schon mit dem Titel ihres Erstlings unzweifelhaft in dieses Thema hineinzuwagen versucht und dabei alles andere als scheitert, ist beeindruckend. Schon der Titel selbst – „Erbgut“ – offenbart die Vielschichtigkeit des Wortes selbst. Was sich als Erbe von Generation zu Generation weitergibt, ist nicht immer ein Gut, aus dem die nächste Generation schöpfen kann. Beispiele aus der Geschichte gibt es viele. Was heute in Israel passiert, ist in vielem mit Sicherheit mit dem kollektiven Traumata mehrerer Generationen zu erklären, die in der Folge von Judenverfolgung und -vernichtung millionenfach Leben zerstörte.

Bettina Scheiflinger «Erbgut», Kremayr & Scheriau, 2022, 192 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-218-01329-1

Bettina Scheiflingers Roman erzählt aber keine grossen geschichtlichen Zusammenhänge, auch wenn die Geschehnisse des zweiten Weltkriegs eine nicht unwesentliche Rolle in ihrem Roman spielen. Die Erzählstimme ist eine junge Frau, zwischen einer schweizerischen Kleinstadt, Wien und einem Dorf, einem Haus in Kärnten. Die junge Frau löst sich gegen den Willen der Eltern aus der fürsorglichen Umklammerung ihrer Familie und zieht nach Wien. Sie ist allein, hat Arbeit, bleibt länger, hadert mit sich und ihrer Vergangenheit. Sie weiss, dass in der Familie Sperrzonen eingerichtet wurden, dass es Dinge gibt, die ausgeschwiegen werden, sei es in der Geschichte ihrer Mutter oder in der ihres Vaters. Selbst die gemeinsame Geschichte ihrer Eltern ist nicht jene, die an der Fassade präsentiert wird. Die junge Frau stolpert, schwankt und taumelt, selbst als sie schwanger wird und in einer Klinik ein Kind zur Welt bringt.

Ein weiteres Qualitätszeichen des Romans ist, dass sich Bettina Scheiflinger keines billigen Erzähltricks bedient. Da sind keine Briefe im Dachboden, kein Geständnis einer Grossmutter, kein Tagebuch. Bettina Scheiflinger erzählt in einzelnen Bildern, die sich erst während der Lektüre zu einem ungefähren Ganzen zusammenfügen. Aber schon diese einzelnen Bilder haben es in sich. Sie sind von einer derartigen Intensität, dass sie wie Selbsterlebtes in der Erinnerung bleiben. Da sitzt Arno, der Vater der Erzählerin, als Halbwüchsiger auf einem Baum und weigert sich selbst in der Nacht herunterzukommen. Sein Vater hat ihn wegen einer Nichtigkeit windelweich geschlagen. Die Mutter droht, die Schwester fleht. Aber Arno bleibt. Am nächsten Tag ringt er seiner Mutter das Versprechen ab, dass es nie wieder soweit kommen darf. Ein anderes Beispiel: Johanna, die Grossmutter der Erzählerin, die auf einem Hof mit Wirtshaus in Kärnten lebt, muss während des Krieges miterleben, wie Partisanen ihre Eltern aus dem Haus zerren und verschleppen. Franz, ihr Vater, ist Nationalsozialist. (Vielleicht ist mir diese Binnengeschichte auch deshalb so in die Kniekehlen gefahren, weil sich das immer Gleiche in der Geschichte wiederholt.)

Bettina Scheiflinger wollte kein chronologisch, stringentes Erzählen. So wie Ablagerungen, sich das Erbgut toxisch auffüllt, so erzählt Bettina Scheiflinger. Sie erzählt vom grossen Schweigen in der Familie, all den Auslassungen, die alles andere als klären. Von den Ängsten, nicht zu genügen, den Traumatas einer Kindheit, wenn Gewalt und Einsamkeit, das Gefühl von Verlassenheit, die Angst vor Verlust das eigene Tun dominieren. Wenn man sich nicht befreien kann. Wenn man im Niemandsland hängen bleibt.

Ich bin mir sicher; Da beginnt Vielversprechendes!

Bettina Scheiflinger, geboren 1984 in der Schweiz. Auf das Lehramtsstudium und einige Jahre Unterrichtstätigkeit folgte 2017 der Umzug nach Wien, um am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst zu studieren. Sie schreibt Theaterstücke und Kurzhörgeschichten, veröffentlicht Prosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. Eins ihrer Hörstücke wurde 2020 beim sonohr Radio- und Podcastfestival nominiert. 

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