Sun Wei, Gast im Bodman Haus in Gottlieben TG

Sun Wei, eine der originellsten und führenden Stimmen Chinas, ist für zwei Sommermonate Gast und Stipendiatin der Kulturstiftung Thurgau und der Bodman Stiftung im Bodman-Haus in Gottlieben am Bodensee. Zusammen mit der seit zwei Jahrzehnten in der Schweiz lebenden chinesischen Schriftstellerin Wei Zhang, stellte Sun Wei sich ein erstes Mal dem Publikum und gab Kostproben ihres vielfältigen Schaffens.

Sun Wei, 1973 während den Zeiten der Kulturrevolution in China geboren, war vor ihrer Profession als Schriftstellerin Journalistin, Dokumentarfilmerin und Geschäftsführerin eines Betriebs. In «the confession of a baer» erzählt Sun Wei Geschichten über das zeitgenössische Shanghai, gibt Einblicke in die moderne chinesische Gesellschaft. Das geschäftige Treiben im Shanghai des 21. Jahrhunderts dient als Hintergrund für eine Geschichte voller Intrigen.

Ein tief verunsicherter Mann hat die Aufgabe, eine gespendete Satellitentelefonausrüstung in ein abgelegenes Dorf zu liefern, in dem die Menschen ihren Traditionen folgen und ein Leben führen, das dem Gegenteil in der Stadt entspricht. In diesem abgelegenen Dorf lernt der Mann die wilden Bären kennen, Symbol für längst verlorene Tugenden. Seine Anwesenheit verändert das Dorf, während ihn seine Abwesenheit von der Arbeit zu einem unwissenden Spieler in einem Spiel macht, das sein Leben zwischen Guten und Schlechten pendeln lässt.

Sun Wei veröffentlichte bereits 23 Bücher, die mit vielen Preisen ausgezeichnet wurden. Ihr Roman «The Map of Time» wurde 2017 in China ein Verkaufsschlager. Ihre Novellen «Farewell», «Ignition» und «Second Son» wurden ins Englische, Französische, Spanische, Bulgarische übersetzt. Sun Wei sticht in die vielen psychologischen und sozialen Probleme der chinesischen Stadtbewohner. Ihre Arbeiten spiegeln Einsamkeit, Stolz und das Gefühl der Entfremdung wider.

Sun Wei bedankte sich nach Lesung und Gespräch innig bei all jenen, die ihr diesen Aufenthalt an diesem magischen Ort ermöglichen. Allen voran bei den beiden Stiftungen und beim Schriftsteller und Stiftungsratsmitglied der Kulturstiftung Thurgau Peter Höner, der Schriftstellerinnen und Publikum im Bodman-Haus begrüsste.
Sun Wei meinte, sie werde sich bemühen, die deutsche Sprache zu erlernen, von der sie schon jetzt die Melodie liebe, um endlich all jene grossen Autorinnen und Autoren zu lesen, die ihr sonst verschlossen blieben.

Sun Wei, Stipendiatin und Wei Zhang            ©Martin Geier

 

If I Were a Girl in Fairytales

By Sun Wei

If I were Sleeping Beauty,
An alarm clock could have worked
Much better than a kiss from an unpunctual princess.

If I were Snow White,
I would have never married a man who
Merely fell in love with my body in coffin.

If I were Cinderella,
No fairy godmother could have convinced me to
Dress up for a dance,
Smile sweetly for attention,
Display in the corner as a candidate,
Disguise as someone else.
Why should I be running like hell at every midnight,
Only for running away from
Who I really am?

If I were Little Mermaid,
Why should I give up my voice to trade for
Whatever between human legs,
Whatever makes me the same as others,
Whatever is said to be the
Most necessary to please a king-to-be in order to
Get a marriage,
Certificated by human world,
Go through all these humiliations,
Give up my own soul,
In order to
Achieve a so-called human soul,
A soul belonging to a mass,
A common sense leading to the immortality of the soul,
A reward for ignorance,
A prison for eternity.
I don’t want a soul like this,
I’d rather become bubbles on the sea to
Smell the free life,
Swim with whales,
Slide into my own dreams,
Disappear with pride.

10,7,2019, Bodmanhaus, Gottlieben

 

The Dusk

By Sun Wei

Hallo Dusk,
I’ve come to visit you again
For our private date.
No third can share the secret land of us,
No sage can provide maneuver,
No spectator can define us.

People always said,
Let’s go to see sunset together.
They never mean it.
You never show up.

You never show up if I am not alone,
You prefer a quiet observer,
A patient admirer,
A non-instrumental soul,
One of your kind.
Wind down over a drink after a long day,
You look tipsy and rosy,
You can’t hide yourself
Before my gaze,
You are luminescent when I stare
Into your eyes,
You are waiting patiently for me
To approach and have a word with you.
But I’d rather stay silent with you,
For the last hours we have,
Staying away from the human world,
Staying away from our terrene lives,
Staying away from aging and death,
Staying away from past and future,
Staying together for now,
For the last and the first glance.

Look into my eyes,
I am reading you at the moment,
I am listening to you at the moment.

22,6,2019, Bodmanhaus, Gottlieben

Webseite des Bodman Literaturhauses in Gottlieben

Webseite der Autorin

Highlights aus den 41. Solothurner Literaturtagen

Fast gleich viele wie im letzten Jahr, als es einen neuen Besucherrekord zu verzeichnen gab! Die Solothurner Literaturtage leben, glänzen und tun genau das, was die Besuchenden an diesem Festival zu schätzen wissen.

Aber Solothurn ist auch „Familientreffen“ der kleinen Schweizer Literaturszene. Die Schriftsteller-Nationalmannschaft spielt die sich ewig wiederholende Revanche gegen Rakete Solothurn (1:1!), im Park auf der anderen Aareseite performen die alten Hasen Bänz Friedli, Patrick Tschan, Wolfgang Bortlik, Maurizio Pinarello und Franco Supino ihre Texte unter dem ausladenden Geäst der Uferplatanen, in denen sich ebenso lautstarkes schwarzes Gefieder eingenistet hat. An langen Tischen zwischen der Geburtsstädte der Solothurner Literaturtage, dem Restaurant Kreuz, in dem 1978 Autoren wie Peter Bichsel und Otto F. Walter das Festival gründeten und dem Landhaus branden engagierte Gespräche zwischen den „wilden Jungen“, den „Literaturaktivistinnen“, die sich mit Recht gegen Verkrustungen, betonierte Hierarchien und die ewig Gestrigen auflehnen und aufregen. Und zwischen allen sitzt, plaudert und pafft der ungekrönte König von Solothurn, der mittlerweile 84jährige Peter Bichsel.

Ferdinand von Schirach, Foto © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Es gab sie, die grossen Namen, auch wenn die aktuelle Deutsche Buchpreisträgerin Inger-Maria Malke mit ihrem preisgekrönten Roman „Archipel“ fehlte. Ferdinand von Schirach, Judith Schalansky, Thomas Hürlimann oder der in Paris lebende Türke Nedim Gürsel oder alt gediente Säulen der Schweizer Literaturszene; Lukas Hartmann, Milena Moser, Ruth Schweikert, Klaus Merz oder die nimmer müden Ernst Halter und Beat Brechbühl.

Aber was muss unbedingt gelesen werden:
„Kaffee und Zigaretten“ von Ferdinand von Schirach. Kein Nahrungsratgeber, obwohl die beiden momentan meistverkauften Bücher im deutschsprachigen Raum solche sind. Ferdinand von Schirach verkauft seine Süchte auch nicht als Eingangstore in die grossen Erkenntnisse der Welt. Es geht in seinem Buch um die grossen Fragen des Lebens. Gibt es eine Grenze zwischen Gut und Böse? Wann gilt ein Leben als erfolgreich oder gescheitert? Ferdinand von Schirach ist verstörend ehrlich, direkt und auf seine Weise authentisch. Nach Bestsellern mit den Titeln „Tabu“ oder „Strafe“, in denen er von seinen zwanzig Jahren Erfahrung als Strafverteidiger erzählt, ist „Kaffee und Zigaretten“ sein persönlichstes Buch über eine Jugend voller Traumatisierungen. Ferdinand von Schirachs Auftritt, etwas zischen welt- und staatsmännisch und empfindsamer Scheu beschreibt exakt, was im Buch geschieht. Er breitet aus, sich und die Welt, macht kein Geheimnis aus seinen Depressionen und dem Leiden an der Welt und fordert mehr als deutlich, dass ihm ein Leben mit Respekt und deutlich gelebter Ethik überlebenswichtig erscheint.

Wild wie die Wellen des Meeres“ von Anna Stern und „Balg“ von Tabea Steiner. Wie gut, waren sie da! Zwei engagierte junge Autorinnen in so gänzlich verschiedener Lebens- und Schreibsituation. Anna Stern, eine Akademikerin, die sich in ihrem Brotberuf wissenschaftlich mit Umweltfragen beschäftigt, Tabea Steiner eine „junge Wilde“, die sich auf ganz vielen Bühnen und Wirkungsfeldern innerhalb des Literaturbetriebs bewegt. Anna Stern erzählt vom Fluchtversuch einer jungen Frau, eine Geschichte, die sich geographisch aus der Heimat entfernt und Tabea Steiner jene eines Ausgegrenzten, das eingezwängte Dasein in dörflicher Enge. Beide Bücher sind auf literaturblatt.ch besprochen. Ich würde mich nicht wundern, wenn die beiden Titel im September auf der ominösen Shortlist des Schweizer Buchpreises erscheinen würden.

Franco Supino, Foto © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Auch wenn Simonetta Somaruga ihrem Mann bei seiner Lesung am Sonntag einen Besuch abstattete und ich mich einmal mehr wunderte, dass eine Ministerin in der Schweiz wie jede andere als Privatperson durch die Solothurner Innenstadt spazieren kann, ohne dass an jeder Ecke ein bis auf die Zähne bewaffneter Soldat jeden Anwesenden mit durchdringendem Blick nach seinem Gewaltpotenzial scannt und mir der neue Roman ihres Mannes ausgesprochen gut gefällt (Eine Rezension und Interview mit Lukas Hartmann folgt!), war es der Rückkehrer Thomas Hürlimann, der mit seiner ersten Lesung aus seinem vor einem Jahr erschienen Roman „Heimkehr“ den Solothurner Literaturtagen einen grossartigen Abschluss bescherte.
Thomas Hürlimann ist unbestritten einer der Grossen, nicht nur in der Schweiz, sondern in der ganzen deutschsprachigen Literatur. „Das Gartenhaus“, eine Novelle, die die Geburtsstunde des vielvermissten Ammann-Verlags bedeutete, ist genauso Eckpfeiler, wie fast alle folgenden Publikationen, Prosa oder Theater. Und jetzt, nach Krankheit, langer Abwesenheit, las Thomas Hürlimann zum ersten Mal vor grossem Publikum aus seinem Roman „Heimkehr“. Heinrich Übel, Fabrikantensohn, hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater. „Heimkehr“ beschreibt die Rückkehrversuche eines Sohnes in die verlassene Welt der Familie. Ein Autounfall katapultierte ihn aus seinem Leben, seiner Identität. „Heimkehr“ ist ein vielschichtiger Roman mit einem grossen Bruder, Max Frischs „Stiller“. Dem Tod von der Schippe gesprungen, sei alles neu gewesen, erzählte Thomas Hürlimann. Auch das Schreiben. Ein zu der Zeit fast fertiger Roman musste noch einmal neu erzählt werden. Die Frage „Bin ich oder bin ich nicht mehr?“ war in der Fassung vor der Krankheit und dem drohenden Tod nicht vorhanden. Thomas Hürlimanns Roman sprudelt vor Fabulierlust, Witz bis hin zur „Klamotte“. Ein grosses Buch!

Beitragsbild zeigt Viola Rohner © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Meyer vs Bierce, Wörterbücher

Es gab einmal eine Zeit, in der sich das selbstbewusste Bürgertum vielbändige Lexiken kaufte, ob sie gebraucht wurden oder nicht, um Wissen und Geist zu demonstrieren. Das Mass aller Dinge war der Brockhaus, den man mittlerweile in Antiquariaten und Brockenstuben nicht mal mehr annimmt. Thomas Meyers «Meyers kleines Taschenlexikon» soll eine Hommage sein an des 1986 letztmals erschienene Meyers Grosses Universallexikon, jenes Nachschlagewerk, dass sich auch der Kleinbürger leisten konnte.

Als Spiel mit dem Grossen gibt Thomas Meyer, der sich mit dem Roman «Wolkenbruchs wundersame Reise in die Arme einer Schickse» ins Bewusstsein der Schweizer schrieb, erst recht mit dem Drehbuch zum gleichnamigen Film, «Meyers Kleines Taschenlexikon» heraus – «150 Stichwörter von A bis Z und ihre schmählichen Bedeutungen».

Zugegeben die Idee hat was, zumal Thomas Meyer von Haus aus Werbetexter ist und es durchaus versteht, Einsichten und Ansichten in allerkürzeste Form zu bringen. Amüsant und auf dem Klo durchaus unterhaltsam; das eine raus, das andere rein. Aber dafür 20 Franken hinblättern ist schon fast frech. Da schätze ich doch Beat Gloors Ratgeber «Erziehung als Aufgabe» für 10 Fr. bei lektorbooks, wo einem versprochen wird, dass alle Fragen bis ins Jahr dreitausend gelöst und in zehn Sekunden auswendig gelernt werden können. Jenes wirklich tiefgründige Buch (Es ist leer!) kostet die Hälfte und ist wenigstens als Notizbüchlein zu verwenden.

vergriffene Ausgabe von 1986, erschienen im Haffmans Verlag Zürich

Wer ein wirklich stacheliges Wörterbuch lesen will, wer stöbern will, wie man es früher tat, als man sich mit einem der dicken Lexiken etwas Wissen anlesen wollte, um beim nächsten Besuch des Vorgesetzten mit Allgemeinbildung zu glänzen, der schaffe sich «Des Teufels Wörterbuch» des US-amerikanischen Schriftstellers Ambrose Bierce an, der 1842 in Ohio zur Welt kam und 1914 irgendwo in Mexiko während der Mexikanischen Revolution von der Bildfläche verschwand. Ambrose Bierce war auch Journalist und hatte ein ausgesprochenes Faible für Horrorgeschichten, die auch hundert Jahre nach seinem Verschwinden noch immer gelesen werden.

Absoluten Genuss aber liefert «Des Teufels Wörterbuch». Viel mehr als bloss eine zündende Idee mit ein paar flockigen Sätzen drin. Hier kann man mit Schaudern schmökern. Vieles, was der Autor 1906 zum ersten Mal unter dem Titel The Cynic’s Word Book verkaufte, hat bis in die Gegenwart nichts von seiner Aktualität und «Allgemeingültigkeit», seinem Biss und seiner Schärfe verloren.

«Bei der Zusammenstellung seiner Misanthropismen ließ «Bitter Bierce» die reine Willkür walten. So folgt auch in der Übersetzung auf die «Braut» das «Brechmittel», auf «Betragen» das Wort «betrügen» und auf den «Erzbischof» der «Esel». Bierce’ Spott gilt sozialen, politischen und charakterlichen Missständen, seine Geißel trifft Machthaber und Autoritäten jeden erdenklichen Kalibers. Mit weit über 1000 Stichworten präsentiert die vorliegende Ausgabe diesen Klassiker der satirischen Literatur so umfangreich wie nie zuvor in deutscher Sprache.» Manesse Verlag

Kein Buch fürs Klo, sonst werden Sitzungen noch viel länger!

Das 45. Literaturblatt hofft auf AbonnementInnen!

Reaktionen auf das 44. Literaturblatt:

«Ich möchte ihnen ein großes Kompliment dafür aussprechen, was Sie da quasi „nebenher“ auf die Beine stellen – ein großartiges und wunderbares Zeugnis für das, was Leidenschaft vermag!“
Christian Torkler, Schriftsteller

«Ich komme gerade zurück aus Hamburg und habe das analoge Literaturblatt im Postfach gefunden. Vielen Dank, Gallus! Das war eine richtige Überraschung. Ich bin sehr froh, dass dir das Buch gefallen hat. Vielen Dank für was du geschrieben hast über ‹Unter den Menschen›. Ich glaube, du hast das Buch nicht nur mit deinem Kopf, auch mit deinem Herzen gelesen. Hartelijke groet uit Amsterdam!»
Mathijs Deen, Schriftsteller

«Es ist sehr schön geworden, ist ein richtiges Objekt.»
Katrin Seddig, Schriftstellerin

«Herzlichen Dank für die treffende Rezension von „Stromland“ im Literaturblatt, ein wirklich sehr besonderes und aussergewöhnliches Format, das ich so noch nicht gesehen habe. Ich hoffe, sie führen es noch lange Zeit weiter!»
Florian Wacker, Schriftsteller

«Wieder liegt so ein wunderschönes Literaturblatt vor mir. Ein jedes ist ein Kunstwerk. Man kann sie nicht nur mit Freude lesen, sondern auch mit Freude anschauen. Danke Gallus. Einfach grossartig.»
Margrit Schriber, Schriftstellerin

Anna Stern «Wild wie die Wellen des Meeres», Salis

Ava hat sich abgesetzt. Was formell ein Praktikum in einem schottischen Naturschutzgebiet ist, ist eigentlich die Insel, auf die sich Ava absetzen will, um ein neues Leben zu beginnen, all jene Fragen für sich zu beantworten, die die «untergegangene» Heimat nicht mehr beantworten konnte. «Wild wie die Wellen des Meeres» macht die Gischt spürbar, das Salz auf den Lippen, den Schmerz des Verlorenen und die Sehnsucht nach Liebe und Ordnung.

«Wild wie die Wellen des Meeres» ist ein Sedimentroman, der beim Lesen Schicht um Schicht freilegt, als sei ich der Archäologe, als würde ich die Stein gewordenen Wurzeln eines Lebens freilegen, Wurzelfaden um Wurzelfaden.

Ava ist schwanger, erfährt dies erst kurz bevor sie nach Schottland abreist. Aber sie reist trotzdem. Sie braucht Distanz zu einem Leben, dass sich in der Enge verkeilt hat. Distanz zu Paul, dem werdenden Vater, dem Mann, der nicht zu ihrem Mann an ihrer Seite werden kann, solange die Geister der Vergangenheit sie nicht in Ruhe lassen. Distanz zu ihrer Familie oder dem, was davon übrig geblieben ist, dem Tod ihrer Mutter, dem Unfall ihres Vaters und den Beinahekatastrophen um ihre jüngeren Geschwister. Distanz vor dem Gefühl, viel mehr als Heimat verloren zu haben. Distanz zu Therapie und Zwängen, aus denen sie sich nur selbst befreien kann.

Ich bin manchmal nicht ich, sagt Ava, es tut mir leid.

Die Feldstation des Reservats (Das Beinn Eighe National Nature Reserve) liegt unweit des kleinen schottischen Dorfes Kinlochewe an der Westseite des Landes mit Sicht auf Loch Maree. Ava will dort Ruhe finden, um einen Weg, vielleicht einen Ausweg zu finden. Gegen den Willen fast aller, trotz der Bedenken Pauls, ihres Freundes, der nicht verstehen will und kann, dass man Probleme gemeinsam lösen kann. Paul ist Polizist, daran gewöhnt und daraufhin geschult, dass man Probleme anpacken soll. Ava und Paul sind seit ewig ein Paar. Ava kam als junges Mädchen in Pauls Familie, ausgesiedelt aus einer Familie, der der Boden entzogen wurde. Paul, zuerst mehr ein grosser Bruder, acht Jahre älter, wird Vertrauter, Freund. Und als Ava Studentin wird, ziehen sie zusammen, in eine kleine Mansardenwohnung. Aber nicht nur die Wohnung wird Ava schnell zu eng. Es ist die Vergangenheit, die sich nicht abschütteln lässt, auch wenn Ava sich den Fragen verweigert.

Sorgen, sagt Ava, ich mag es nicht, wenn man mit Fesseln anlegt.

Ava kämpft. Sie kämpft mit sich und der Entscheidung, ob sie ihr ungeborenes Kind behalten kann oder nicht. Sie kämpft gegen die Geister aus der Vergangenheit, die selbst ihre Träume dominieren. Sie kämpft gegen die Liebe, weil sie ihr nicht traut, weil sie sich fürchtet, damit neuen Katastrophen Platz zu geben. Sie kämpft mit Fragen an Die Welt, ohne je eine Frage an sie selbst zuzulassen. Aber sie kämpft vor allem gegen sich selbst. Ein Kampf, der sie letztlich in Lebensgefahr bringt. Ava will in ihrer Enge Weite spüren, das Meer, dieses verlorenen Gefühl Everything is going to be alright.

Anna Stern schrieb einen facettenreichen Roman, bildstark, verspielt und mit grosser Sogwirkung. Ein Roman, der die Umweltwissenschaftlerin nicht ausklammert, voller Engagement für alles, was Leben bedeutet, für die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, Fragen die Ava seit ihrer Kindheit an das Leben stellt. So wie Ava (Avis hiesst Vogel) mit zwei ungleich farbigen Augen sich weder der Vergangenheit noch der Zukunft stellt, so ungleich sind Lee und Luv ihres Lebens, von abweisender Kälte wie die Winde in Schottland bis irritierende Wärme wie unter der Decke zusammen mit Ava. „Wild wie die Wellen des Meeres“, eine Collage aus Realität und Traum, Songtexten und Briefen, Familienfotos und Polaroid-Bildern, Notizen und Erzähltem.

Anna Stern, geboren 1990 in Rorschach, lebt in Zürich. Studium der Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich. Seit 2018 Doktorat am Institut für Integrative Biologie. 2017 Teilnahme an der Kunstausstellung EAM Science Meets Fiction mit den Kurzgeschichten «Karte und Gebiet» und «Quecksilberperlen». 2014 erschien ihr erster Roman «Schneestill», 2016 «Der Gutachter», in dem Ava Garcia und Paul Faber zum ersten Mal auftauchen (beide Salis). 2017 folgte der Erzählband «Beim Auftauchen der Himmel» bei lectorbooks. Die Arbeit am neuen Roman wurde von der Pro Helvetia und dem Kanton St. Gallen mit Werkbeiträgen unterstützt.

Anna Stern liest an den Wortlaut-Literaturtagen 2019 in St. Gallen, vom 28. – 31. März. Moderiert wird die Lesung von Gallus Frei.

Webseite der Autorin

Beitragsbilder aus dem Roman, mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags. Vielen Dank! © Anna Stern (Titelbild: © Anna Stern, nach leagueoflostcauses.com)

Buchpremière mit Anna Stern im KOSMOS Zürich

Mal rückwärts, mal vorwärts und voll lyrischer Lakonie erzählt Anna Stern in ihrem dritten Roman die Geschichte eines jungen Paares von ihrem vermeintlichen Ende hin zu ihren Anfängen. Sie legt damit einen beeindruckenden Text über den Umgang mit Trauer, die Unausweichlichkeit der Vergangenheit und die trügerische Authentizität von Erinnerungen vor.

Gerne laden wir Dich zur Buchvernissage im Buchsalon des KOSMOS ein, am Dienstag 12. Februar um 20.00 Uhr. Anna Stern wird lesen und mit Gallus Frei (literaturblatt.ch) über ihren Roman sprechen, wir offerieren einen Apéro danach.

«Menschenrechte. Weiterschreiben», herausgegeben von Svenja Herrmann und Ulrike Ulrich, Salis Verlag

Die Menschenrechte werden 70, erreichen das Greisenalter, drohen zu sterben, auch wenn die hohen Hallen der UNO Ewigkeiten ausstrahlen. Svenja Hermann und Ulrike Ulrich, zwei Schriftstellerinnen, die sich vor zehn Jahren schon einmal daran machten, als Herausgeberinnen den Menschenrechten zu einem Jubiläum eine literarische Stimme zu geben, luden zusammen mit Amnesty International und dem Literaturhaus Zürich zur Buchtaufe von „Menschenrechte. Weiterschreiben“ ein.

Art. 1
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Vor 70 Jahren, von den Schrecken eines Weltkriegs gebrannt, im Wissen darum, dass nur Toleranz und Völkerverständnis, gleiche Rechte für alle und ein einigermassen verbindliches Gefühl für Sicherheit eine weitere kriegerische Katastrophe verhindern kann, formulierte man 30 Artikel allgemein gültiger Menschenrechte. Die UNO machte sich zum Hüter des Grals, baute hohe Häuser, hisste viele Fahnen, schützte sich mit blauen Helmen und glaubte daran, dass Dialog der einzige Weg sein müsste, die Welt vor einem erneuten Aufflammen globalen Krieges zu schützen.

Art. 5
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Statt dessen sind Politik und Wirtschaft der Welt der Arroganz wie niemals zuvor ausgeliefert. Wer die 30 Artikel der Menschenrechte liest, schüttelt den Kopf. Nicht über deren Inhalt, sondern über ihre Bedeutungslosigkeit angesichts selbstverliebter Potentaten und allmächtiger Konzerne. Wer sie wirklich liest und sich auf sie einlässt, spürt die Hoffnung, die darin steckt, den Glauben an die Menschheit, den ungebrochenen Glauben an eine menschenwürdige Zukunft, dass Wissen, dass einzig Toleranz und Respekt einer drohenden Katastrophe entgegenwirken können. Das Lesen der 30 Artikel der Menschenrechte schmerzt, tut weh, dieser selbstverständliche, gradlinige Ton, diese Sätze, die offensichtlich und überall mit Füssen getreten werden, sei es von den eigenen Politikern im Land, den umsatz- und wachstumsgeilen Wirtschaftskäpitänen oder selbstverliebten Staatsoberhäuptern diesseits und jenseits der grossen Wasser. Die Distanz und Diskrepanz zwischen formuliertem Recht und globaler Wirklichkeit sind hanebüchen.

Art. 12
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

30 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus allen Landesteilen der Schweiz wurden von den Herausgeberinnen angefragt und durch das Los an einen der 30 Artikel der allgemeinen Menschenrechte zugeteilt. Entstanden sind 30 unterschiedlichste Texte, Geschichten, Gedichte, Gedanken, Essays. Literatur als Trägerin universeller Werte, die durch die Menschenrechtserklärungen verdeutlicht werden. Ein Zeugnis davon, wie weit diese Erklärungen gefasst werden können, wie leidenschaftlich sich die und der Schreibende dazu äussert.

Art. 23
Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.

Das Buch soll zum Nach- und Weiterdenken anregen, beweisen, dass nicht gezweifelt wird an ihrer Relevanz und Stärke. In einer Zeit, in der es 70 Jahre nach der Verschriftlichung nicht mehr um Forderung, sondern um bitternotwendige Verteidigung geht. Menschenrechtskriege, Menschenrechtsverletzungen geschehen nicht nur in der Ukraine, in der Türkei, in den Strassenschluchten amerikanischer Grossstädte und staatlich organisiert an Völkern wie den Uiguren in China. Wer die Menschenrechte liest, und dazu braucht es keiner besonderen Interpretationen, stellt fest, dass es vor der Haustüre brennt, dass man uns selbst in der Schweiz fast jedes Jahr dazu zwingt, an der Urne gegen die gesetzlich verankerte Verletzung anzukämpfen.

„Das Gewissen ist ein Gefäss mit Löchern.“ Gianna Molinari

Autorinnen und Autoren:
(D) Amina Abdulkadir, Sacha Batthyany, Urs Faes, Catalin Dorian Florescu, Lea Gottheil, Petra Ivanov, Daniel Mezger, Gianna Molinari, Werner Rohner, Ruth Schweikert, Monique Schwitter, Eva Seck, Henriette Vásárhelyi, Benjamin von Wyl, Julia Weber, Yusuf Yeşilöz
(F) Odile Cornuz, Isabelle Capron, Daniel De Roulet, Heike Fiedler, Max Lobe, Noëlle Revaz, Sylvain Thévoz
(I) Laura Accerboni, Vanni Bianconi, Francesco Micieli, Alberto Nessi, Fabio Pusterla
(R) Göri Klainguti, Leo Tuor
Svenja Herrmann, 1973 in Frankfurt a. M. geboren, Schriftstellerin, Studium der Germanistik und Rechtsgeschichte, Schriftstellerin (Lyrik), seit vielen Jahren als Begabungsförderin im Bereich Literatur tätig, vor mehr als zehn Jahren hat sie »Schreibstrom« ins Leben gerufen: Ein Projekt für kreatives und literarisches Schreiben für Kinder und Jugendliche in und um Zürich, Lerntherapeutin i.A.  Jüngstes genreübergreifendes Vermittlungsprojekt in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Bettina Eberhard: Video Poem für Jugendliche. Für ihre literarischen Arbeiten wurde Svenja Herrmann mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit einem Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung (2015) und mit einem Werkbeitrag des Kantons Zürich Herbst 2015.
Ulrike Ulrich, 1968 in Düsseldorf geboren, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik. Seit 2002 lebt und arbeitet sie in der Schweiz. 2010 erschien ihr Romandebüt »fern bleiben« im Luftschacht Verlag in Wien. 2008 erschien die Anthologie »60 Jahre Menschenrechte – 30 literarische Texte« im Salis Verlag. Sie ist Mitglied der Literaturgruppe index (www.wortundwirkung.ch). Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie 2010 den Walter Serner-Preis und einen Anerkennungspreis der Stadt Zürich, 2011 den Lilly-Ronchetti-Preis.

Beat Gloor «Wir sitzen alle im gleichen Boot. Aber nicht alle rudern.», Salis Verlag

«Eine leise, zärtliche Gleichgültigkeit ist die Haltung, die dem Leben gegenüber wohl angebracht ist.»

Beat Gloor, Wortakrobat und Silbentrenner, veröffentlicht nicht zum ersten Mal im Salis Verlag den Bodensatz seiner Spitzfindigkeiten. Nach den Sprachbeobachtungen «staat sex amen», den Worttrennungen «uns ich er» und den literarischen Miniaturen «Wir verlieren hoch» ist der neue Band eine erfrischende und zum Nach-Denken animierende Sammlung gloorreicher Weisheiten.

Ein Buch ohne Seitenzahlen. Ein Buch ohne Beschriftung auf Buchrücken und Buchrückseite. Ein Brauch-Buch. Ein Buch mit genug Platz zwischen den Gedankenblitzen des Wortkünstlers. Luft und Platz für eigene Gedanken.

«Als ich glücklich war, wusste ich es nicht. Als ich es wusste, war ich nicht mehr glücklich.»

Ein Buch zum Mitnehmen. Ein Buch, das zerfleddern soll. Ein Buch in Taschengrösse. Für die Hosentasche, die Westen- oder Jackentasche. Fürs kleine Fach in der Mappe, im Aktenkoffer. Fürs Nachtischchen, fürs stille Örtchen, fürs Handschuhfach, zum Liegenlassen, Weitergeben. Endlich das richtige Buch, das als einziges in der Nachttischschublade des Hotelzimmers zu finden ist.

«Wenn die Kinder dieselben Fehler haben wie die Eltern, gilt die Erziehung in der Regel als abgeschlossen.»

Für die losen Momente im Zug und Bus, zum Warten beim Zahnarzt, als Rettungsboot bei langweiligen Sitzungen, für den Selbstunterricht, für die Augenblicke dazwischen, zum Tee, als Gedanken in den Schlaf, als Brevier, als Aufforderung mit dem Denken zu beginnen, statt Gratiszeitungen, als Zitatesammlung, als Lückenbüsser, als erste oder letzte Worte…

«Die Welt ist surreal. Sie bleibt derart unter ihren Möglichkeiten, dass man auf die Idee kommen kann, sie würde gar nicht existieren, wenn niemand sie sähe.»

Beat Gloor, 1959 geboren, hat Erfahrungen als Programmierer, Pianist und Papperlapappi gesammelt. Seit 1989 führt er das verlagsunabhängige Unternehmen Text Control, das sich mit Lektorat, Stil, Schreiben und Namensfindung beschäftigt. Beat Gloor interessiert sich für alle Formen des Schreibens, des Sprechens und des Denkens. Er lebt in Klingnau.

Webseite Beat Gloor

Webseite des Autors: Willkommen im Textbausteinbruch!

Die Texte aus dem Buch «Wir sitzen alle im gleichen Boot. Aber nicht alle rudern.» durften mit freundlicher Genehmigung des Salis Verlags hier wiedergegeben werden. Vielen Dank!

(Titelbild: Sandra Kottonau)