«Menschenrechte. Weiterschreiben», herausgegeben von Svenja Herrmann und Ulrike Ulrich, Salis Verlag

Die Menschenrechte werden 70, erreichen das Greisenalter, drohen zu sterben, auch wenn die hohen Hallen der UNO Ewigkeiten ausstrahlen. Svenja Hermann und Ulrike Ulrich, zwei Schriftstellerinnen, die sich vor zehn Jahren schon einmal daran machten, als Herausgeberinnen den Menschenrechten zu einem Jubiläum eine literarische Stimme zu geben, luden zusammen mit Amnesty International und dem Literaturhaus Zürich zur Buchtaufe von „Menschenrechte. Weiterschreiben“ ein.

Art. 1
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Vor 70 Jahren, von den Schrecken eines Weltkriegs gebrannt, im Wissen darum, dass nur Toleranz und Völkerverständnis, gleiche Rechte für alle und ein einigermassen verbindliches Gefühl für Sicherheit eine weitere kriegerische Katastrophe verhindern kann, formulierte man 30 Artikel allgemein gültiger Menschenrechte. Die UNO machte sich zum Hüter des Grals, baute hohe Häuser, hisste viele Fahnen, schützte sich mit blauen Helmen und glaubte daran, dass Dialog der einzige Weg sein müsste, die Welt vor einem erneuten Aufflammen globalen Krieges zu schützen.

Art. 5
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Statt dessen sind Politik und Wirtschaft der Welt der Arroganz wie niemals zuvor ausgeliefert. Wer die 30 Artikel der Menschenrechte liest, schüttelt den Kopf. Nicht über deren Inhalt, sondern über ihre Bedeutungslosigkeit angesichts selbstverliebter Potentaten und allmächtiger Konzerne. Wer sie wirklich liest und sich auf sie einlässt, spürt die Hoffnung, die darin steckt, den Glauben an die Menschheit, den ungebrochenen Glauben an eine menschenwürdige Zukunft, dass Wissen, dass einzig Toleranz und Respekt einer drohenden Katastrophe entgegenwirken können. Das Lesen der 30 Artikel der Menschenrechte schmerzt, tut weh, dieser selbstverständliche, gradlinige Ton, diese Sätze, die offensichtlich und überall mit Füssen getreten werden, sei es von den eigenen Politikern im Land, den umsatz- und wachstumsgeilen Wirtschaftskäpitänen oder selbstverliebten Staatsoberhäuptern diesseits und jenseits der grossen Wasser. Die Distanz und Diskrepanz zwischen formuliertem Recht und globaler Wirklichkeit sind hanebüchen.

Art. 12
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

30 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus allen Landesteilen der Schweiz wurden von den Herausgeberinnen angefragt und durch das Los an einen der 30 Artikel der allgemeinen Menschenrechte zugeteilt. Entstanden sind 30 unterschiedlichste Texte, Geschichten, Gedichte, Gedanken, Essays. Literatur als Trägerin universeller Werte, die durch die Menschenrechtserklärungen verdeutlicht werden. Ein Zeugnis davon, wie weit diese Erklärungen gefasst werden können, wie leidenschaftlich sich die und der Schreibende dazu äussert.

Art. 23
Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.

Das Buch soll zum Nach- und Weiterdenken anregen, beweisen, dass nicht gezweifelt wird an ihrer Relevanz und Stärke. In einer Zeit, in der es 70 Jahre nach der Verschriftlichung nicht mehr um Forderung, sondern um bitternotwendige Verteidigung geht. Menschenrechtskriege, Menschenrechtsverletzungen geschehen nicht nur in der Ukraine, in der Türkei, in den Strassenschluchten amerikanischer Grossstädte und staatlich organisiert an Völkern wie den Uiguren in China. Wer die Menschenrechte liest, und dazu braucht es keiner besonderen Interpretationen, stellt fest, dass es vor der Haustüre brennt, dass man uns selbst in der Schweiz fast jedes Jahr dazu zwingt, an der Urne gegen die gesetzlich verankerte Verletzung anzukämpfen.

„Das Gewissen ist ein Gefäss mit Löchern.“ Gianna Molinari

Autorinnen und Autoren:
(D) Amina Abdulkadir, Sacha Batthyany, Urs Faes, Catalin Dorian Florescu, Lea Gottheil, Petra Ivanov, Daniel Mezger, Gianna Molinari, Werner Rohner, Ruth Schweikert, Monique Schwitter, Eva Seck, Henriette Vásárhelyi, Benjamin von Wyl, Julia Weber, Yusuf Yeşilöz
(F) Odile Cornuz, Isabelle Capron, Daniel De Roulet, Heike Fiedler, Max Lobe, Noëlle Revaz, Sylvain Thévoz
(I) Laura Accerboni, Vanni Bianconi, Francesco Micieli, Alberto Nessi, Fabio Pusterla
(R) Göri Klainguti, Leo Tuor
Svenja Herrmann, 1973 in Frankfurt a. M. geboren, Schriftstellerin, Studium der Germanistik und Rechtsgeschichte, Schriftstellerin (Lyrik), seit vielen Jahren als Begabungsförderin im Bereich Literatur tätig, vor mehr als zehn Jahren hat sie »Schreibstrom« ins Leben gerufen: Ein Projekt für kreatives und literarisches Schreiben für Kinder und Jugendliche in und um Zürich, Lerntherapeutin i.A.  Jüngstes genreübergreifendes Vermittlungsprojekt in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Bettina Eberhard: Video Poem für Jugendliche. Für ihre literarischen Arbeiten wurde Svenja Herrmann mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit einem Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung (2015) und mit einem Werkbeitrag des Kantons Zürich Herbst 2015.
Ulrike Ulrich, 1968 in Düsseldorf geboren, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik. Seit 2002 lebt und arbeitet sie in der Schweiz. 2010 erschien ihr Romandebüt »fern bleiben« im Luftschacht Verlag in Wien. 2008 erschien die Anthologie »60 Jahre Menschenrechte – 30 literarische Texte« im Salis Verlag. Sie ist Mitglied der Literaturgruppe index (www.wortundwirkung.ch). Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie 2010 den Walter Serner-Preis und einen Anerkennungspreis der Stadt Zürich, 2011 den Lilly-Ronchetti-Preis.

Drei Tipps aus dem Koffer!

Nach drei Tagen literarischem Dauerfeuer bleibt die Frage, was geblieben ist, was bleiben wird, was überrascht hat und Lust auf mehr machte. Man spürte das Bemühen der Festivalleitung, frischen Wind und frisches Blut zuzulassen, die Bühnen aufzutun, sich selbst und den Besuchern zu beweisen, dass der Literaturbetrieb kein in sich geschlossener Club ist.

Auch wenn Terézia Mora, die Preisträgerin des diesjährigen Solothurner Literaturpreises und «herausragende Autorin des 21. Jahrhunderts» bei einem Gespräch meinte, Literaturtage wie diese seien schon eine schweizer Spezialität. Nur schon wegen seiner Grösse und der schieren Masse an Schreibenden sei in Deutschland eine vergleichbare Veranstaltung unmöglich. So sind die Solothurner Literaturtage alles; ein «Familientreffen», bei dem man höflich beiseite rückt, wenn sich Peter Bichsel an den langen Tisch vor dem Restaurant Kreuz setzt, grosse Bühne, wenn Autoren wie Terézia Mora, Alex Capus oder Franzobel lesen oder Bühne für fast alle, die sich trauen, auch wenn dann kaum jemand zuhört.

In meinem Koffer, den ich voller wieder mit nach Hause trug, sind drei Überraschungen, drei Bücher, die ich noch nicht gelesen habe, die mich aber nach Lesungen und Gesprächen nicht nur neugierig machen, von denen ich jetzt schon weiss, dass sie mich überzeugen werden.

«Seit ich fort bin» von Henriette Vásárhelyi   Mirjam packt ihre Koffer. Sie reist zur Hochzeit ihres Bruders, zurück in ihre Heimatstadt. Mit im Gepäck fahren viele Erinnerungen, Erinnerungen an Verlorenes, Erinnerungen, die Mirjam nicht loslassen. Erinnerungen an eine Freundin, die sie verlor, Erinnerungen an eine Heimat, ein Land, das es so nicht mehr gibt. «Der Schmerz ist nicht der, dass es gute und schlechte Erinnerungen gibt, sondern dass man sie nicht wirklich teilen kann.» Ein Roman über eine Freundschaft, die Spuren in Tagebüchern zurückliess, über zwei Menschen, die sich im Sumpf der Erinnerungen verloren, obwohl sie sich zu retten versuchten. Ungeheuer stark in ihrer Sprache! Mehr als der Beweis dafür, dass der Platz auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises mit ihrem Debütroman «immeer» kein Zufall war. Beide Romane sind im Dörlemann Verlag Zürich erschienen, dem «Verlag des Jahres 2017»

«Tram 83» von Fiston Mwanza Mujila   Der Autor ist 1981 in Kongo geboren und lebt seit 2009 in Graz, wo er afrikanische Literatur an der Universität unterrichtet. Fiston Mwanza Mujila nennt seinen ersten Roman «ein Buch über die Liebe und die Einsamkeit». Eine heruntergekommene afrikanische Grossstadt, in der jeder nur das eine Ziel hat; möglichst schnell viel Geld machen, egal wie. «Tram 83» ist der einzige Nachtclub in der Stadt, die Bühne seiner Geschichte. Ein Schmelztiegel, eine Hölle, ein Pulverfass, ein Nabelloch, wo sich zwischen Verlierern und Gewinnern, Profiteuren und Prostituierten, Ex-Kindersoldaten und Studenten zwei ungleiche Freunde wiedertreffen; Lucien, der Schriftsteller und Requiem, der Gauner. Auf der Bühne des Solothurner Stadttheaters spielte, sprach, schrie, lachte und sang der Autor seinen Text. So ganz anders als die teils steifen Wasserglaslesungen, die sich zur Pflichtübung reduzierten. Fiston Mwanza Mujila lebte seinen Text, machte sich zum Instrument, stülpte sein Inneres nach Aussen, an diesem Nachmittag nur duch ein Saxophon besänftigt.

«Das Floss der Medusa» von Franzobel   8. Juli 1816: Vor der afrikanischen Westküste werden 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach einer Schiffskatastrophe auf einem 20 Meter langen Floss überlebten in ein rettendes Schiff geborgen. Nach zwei grauenhafte Wochen, langes, unsägliches Leiden und Sterben. Franzobel selbst ist eine Landratte, nicht nur weil Österreich an kein Meer mehr grenzt, aber fasziniert vom Schrecken und Ekel, von Extremsituationen, wenn Grenzen gezogen werden, Gruppen sich gegenseitig bedrohen und über sich herfallen, wenn hinter Fassaden der Moral, die Situation zu kippen beginnt. Fast unglaublich ist die Tatsache, dass der Stoff auf den Schriftsteller Franzobel zu warten schien und verstörend, weil nichts am Schrecken der Geschichte erfunden werden muss, denn alles ist durch zwei Überlebende der Schiffskatastrophe historisch verbürgt. Gewartet hat der Stoff, weil der Schrecken und die Brutalität der Geschehnisse nur durch die Überzeichnung ins Groteske zu ertragen sind. Etwas, das Franzobel als Fähigkeit auf den Leib geschnitten ist.
Der Skandal ist nicht, dass die Überlebenden aus purer Verzweiflung auf dem Floss das Fleisch der Leichen assen, sondern, dass schon nach 50 Stunden genau jene Moral unterging, die die europäischen Siedler nach Afrika bringen sollten. Wer überlebt ein solches Drama? Welcher Typ Mensch? Ist es der Charakter oder schlicht die Aufgabe eines Menschen, so wie auf dem zurückgebliebenen Wrack des Schiffes, auf dem drei Matrosen überlebten, zwei dem Wahnsinn verfielen und der dritte bei Sinnen blieb, weil er die Verrückten an den Masten band und es sich zur Aufgabe machte, sie nicht sterben zu lassen.
Franzobel fabuliert lustvoll, virtuos und üppig, sich an den Szenen erlabend, stets mit dem Blick des Betrachters aus dem 21. Jahrhundert. Franzobel suhlt sich in Gerüchen, dem Gestank auf dem Schiff, den Leiden der Passagiere. Zugedröhnt von Wohlleiblichkeit wühlt Franzobel in der menschlichen Hinfälligkeit. Ekel, Schreck und Katastrophe sind nur durch Humor zu ertragen. «Humor ist die einzige wahre Religion der Ungläubigen.»
Man kann Franzobels «Das Floss der Medusa» als Abenteuer- oder Katastrophenroman lesen. Genauso gut aber auch als Allegorie auf unsere Zeit. Ein pralles Buch, vielleicht Franzobels Opus magnum.

Titelfoto: „Dokumente“ ©️ Philipp Frei