„Zeugnis ablegen“, ein Schriftstellergespräch zwischen Michael Kleeberg und Catalin Dorian Florescu

Michael Kleeberg verbringt zwei Monate als Writer in Residenz im Literaturhaus Lenzburg. Eine einmalige Gelegenheit, um zwei schreibende Schwergewichten über ihre Arbeit sprechen zu hören. Der berlinkritische Hauptstädter, weit gereiste Michael Kleeberg und der aus Rumänien stammende, leidenschaftliche Geschichtenerzähler Catalin Dorian Florescu.

Zwei vor Publikum einzuladen, um herauszufinden, was so unterschiedlich Schreibende verbindet. Mich Literaturverliebten dabeizuwissen, wenn der Mann spricht, der mit „Der Garten im Norden“ vor 20 Jahren ein Buch schrieb, das in meiner Bibliothek so lange ich lebe einen Sonderstatus geniesst. „Der Garten im Norden“ strahlt noch immer aus, was er vor zwei Jahrzehnten an unvergesslichen Leseeindrücken hinterliess. So wie „Jakob beschliesst zu lieben“ 2011 von Catalin Dorian Florescu! Zwei Reliquien in meinen Bücherregalen.

Beide schrieben in ihrer Anfangszeit Theater, eine von vielen Parallelen in den Leben der beiden. Michael Kleeberg über den RAF-Terror, Catalin Dorian Florescu ein Stück in der Empörung über die Schreckenszeit im Ceaușescu-Rumänien. Aber weder das eine noch das andere wurden aufgeführt, schon gar nicht eine Komödie über den RAF-Terror in einer Zeit, als die Agitatoren in gewissen Kreisen Helden waren.

«Ein fantastisches und hartes Jahrhundert zwischen dem Schwarzen Meer und der amerikanischen Metropole New York. Ein Roman voller Tragik und Komik, eine literarische Reverenz an die Fähigkeit des Menschen, sein Glück zu suchen, zu überleben und allen Widrigkeiten zum Trotz zu lieben.»

Kleeberg übersetzt vom Französischen und Englischen ins Deutsche, reist viel und gerne, was sich auch in seinem letzten Roman „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ niederschlug, ein Roman, der niemanden geringeren als „der Idiot“ von Dostojewski zum Paten hat.
In Catalin Dorian Florescus Romanen dreht sich alles um Sehnsucht nach Freiheit. Im Roman „Der Mann, der das Glück bringt“ treffen sich zwei nach den Terroranschlägen von 9/11 in New York und erzählen sich im Schutz eines Theaters ihre Geschichten. Florescu ist durch und durch Geschichtenerzähler. Ein Mann, der zu sprudeln beginnt, sobald ihm Zuhörer ihre Aufmerksamkeit schenken. Etwas, was man Florescu gerne entgegenbringt, denn er „rauscht“, stichelt, schwärmt und legt ein Panorama aus, ufert zuweilen aus, selbst dann, wenn man ihn zu mässigen versucht. Er schwelgt in seinen Bildern und Geschichten, die er mit sich herumträgt, wie kein anderer in der CH-Literatur.

Orient und Okzident, Einwanderer, Auswanderer, Aussteiger, Islam, Christentum, Kapitalismus und die Suche nach dem Glück: Michael Kleeberg erzählt Geschichten und «Schicksale in einer globalisierten Welt. In diesem großen Wurf gelingt es ihm, die wichtigen Fragen unserer Zeit in packende Literatur zu verwandeln.»

Michael Kleeberg verarbeitete in seinem Roman „Der Idiot des 21. Jahrhundert“ 15 Jahre Erfahrungen mit dem Mittleren Osten. Seinen Ursprung nahm der Roman, als Michael Kleeberg vor vielen Jahren im Iran am Grab des iranischen Nationaldichters Hafis (1315 – 1390) stand, bei seinem Mausoleum, zusammen mit Tausenden Menschen mit ihm. Lauter Menschen, die dort die Verse des Dichters aus dem 14. Jahrhundert rezitierten, eines Mannes, der in jenem Land noch viel höher angesehen ist als Goethe in Deutschland oder Shakespeare in England. Gedichte, die damals in vollendeter Poesie Widerstand aussprachen. Worte, die heute fassen, was sich im Iran wegen fehlender Opposition niemand offen auszusprechen traut. Worte, die mit Hafis einen unantastbaren Paten haben. Eine Stimme für die sonst Stummen. Angetan von der Lektüre Goethes „Der fernöstliche Diwan“ schrieb Michael Kleeberg mit „Der Idiot des 21. Jahrhunderts ein Panorama durch das Ost-West-Verhältnis, durch die Zeit. Seine Erfahrungen, die untrennbar mit dem Mittleren Osten verzahnt sind, über die Geschehnisse dort, die sich mit Europa verbeissen und darüber wie das über Jahrhunderte labile Verhältnis zwischen den beiden Polen gerade jetzt geprägt ist von maximaler Distanz angesichts grösstmöglicher Nähe durch Internet und soziale Medien.

Sowohl Kleeberg wie Florescu sind Schriftsteller, die, bevor sie mit dem eigentlichen Erzählen und Schreiben beginnen, tief in ihre Themen hineintauchen, umfangreich recherchieren, um Wahrhaftigkeit zu generieren. Noch viel mehr aber, um das Erzählen glaubhaft, das Erzählen auf der Wahrheit abstützen zu können. Erfindung muss legitim sein, ihr Erzählen damit ein Recht bekommen. Recherche bilde den Boden, mehr als nur Kulisse. Sie prägt das Geschehen, den Weg einer Geschichte und nicht zuletzt eine Arbeitsethik. Literatur ist mehr als Behauptung. „Ein gut sitzender Anzug“, so Florescu, in dem man sich sicher schreibend bewegen kann. Recherche ist Suchen und Vergessen zugleich. Was von der Suche bleibt, wirkt durch die physische Anstrengung des Schreibens in den Text. Aus Wissen wird Intuition. Recherche ist der Erhalt der Würde jener Personen, von denen erzählt wird, selbst wenn sie „erfunden“ sind.

Ein Roman ist immer Findungsprozess, das Resultat unzähliger Spuren, die mit Hilfe der Recherche und Sprache eine literarische Spur durch die Zeit geben. „Ich will Zeugnis ablegen“, meinten beide, Michael Kleeberg und Catalin Dorian Florescu.

Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. «Ein Garten im Norden», «Vaterjahre») wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015), den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016) und hatte die Frankfurter Poetikdozentur 2017 inne.

© Lothar Köthe

 

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde  er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.

© Martin Walker

Rezension von «Der Nabel der Welt» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Die Freiheit ist möglich» auf literaturblatt.ch

 

«Menschenrechte. Weiterschreiben», herausgegeben von Svenja Herrmann und Ulrike Ulrich, Salis Verlag

Die Menschenrechte werden 70, erreichen das Greisenalter, drohen zu sterben, auch wenn die hohen Hallen der UNO Ewigkeiten ausstrahlen. Svenja Hermann und Ulrike Ulrich, zwei Schriftstellerinnen, die sich vor zehn Jahren schon einmal daran machten, als Herausgeberinnen den Menschenrechten zu einem Jubiläum eine literarische Stimme zu geben, luden zusammen mit Amnesty International und dem Literaturhaus Zürich zur Buchtaufe von „Menschenrechte. Weiterschreiben“ ein.

Art. 1
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Vor 70 Jahren, von den Schrecken eines Weltkriegs gebrannt, im Wissen darum, dass nur Toleranz und Völkerverständnis, gleiche Rechte für alle und ein einigermassen verbindliches Gefühl für Sicherheit eine weitere kriegerische Katastrophe verhindern kann, formulierte man 30 Artikel allgemein gültiger Menschenrechte. Die UNO machte sich zum Hüter des Grals, baute hohe Häuser, hisste viele Fahnen, schützte sich mit blauen Helmen und glaubte daran, dass Dialog der einzige Weg sein müsste, die Welt vor einem erneuten Aufflammen globalen Krieges zu schützen.

Art. 5
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Statt dessen sind Politik und Wirtschaft der Welt der Arroganz wie niemals zuvor ausgeliefert. Wer die 30 Artikel der Menschenrechte liest, schüttelt den Kopf. Nicht über deren Inhalt, sondern über ihre Bedeutungslosigkeit angesichts selbstverliebter Potentaten und allmächtiger Konzerne. Wer sie wirklich liest und sich auf sie einlässt, spürt die Hoffnung, die darin steckt, den Glauben an die Menschheit, den ungebrochenen Glauben an eine menschenwürdige Zukunft, dass Wissen, dass einzig Toleranz und Respekt einer drohenden Katastrophe entgegenwirken können. Das Lesen der 30 Artikel der Menschenrechte schmerzt, tut weh, dieser selbstverständliche, gradlinige Ton, diese Sätze, die offensichtlich und überall mit Füssen getreten werden, sei es von den eigenen Politikern im Land, den umsatz- und wachstumsgeilen Wirtschaftskäpitänen oder selbstverliebten Staatsoberhäuptern diesseits und jenseits der grossen Wasser. Die Distanz und Diskrepanz zwischen formuliertem Recht und globaler Wirklichkeit sind hanebüchen.

Art. 12
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

30 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus allen Landesteilen der Schweiz wurden von den Herausgeberinnen angefragt und durch das Los an einen der 30 Artikel der allgemeinen Menschenrechte zugeteilt. Entstanden sind 30 unterschiedlichste Texte, Geschichten, Gedichte, Gedanken, Essays. Literatur als Trägerin universeller Werte, die durch die Menschenrechtserklärungen verdeutlicht werden. Ein Zeugnis davon, wie weit diese Erklärungen gefasst werden können, wie leidenschaftlich sich die und der Schreibende dazu äussert.

Art. 23
Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.

Das Buch soll zum Nach- und Weiterdenken anregen, beweisen, dass nicht gezweifelt wird an ihrer Relevanz und Stärke. In einer Zeit, in der es 70 Jahre nach der Verschriftlichung nicht mehr um Forderung, sondern um bitternotwendige Verteidigung geht. Menschenrechtskriege, Menschenrechtsverletzungen geschehen nicht nur in der Ukraine, in der Türkei, in den Strassenschluchten amerikanischer Grossstädte und staatlich organisiert an Völkern wie den Uiguren in China. Wer die Menschenrechte liest, und dazu braucht es keiner besonderen Interpretationen, stellt fest, dass es vor der Haustüre brennt, dass man uns selbst in der Schweiz fast jedes Jahr dazu zwingt, an der Urne gegen die gesetzlich verankerte Verletzung anzukämpfen.

„Das Gewissen ist ein Gefäss mit Löchern.“ Gianna Molinari

Autorinnen und Autoren:
(D) Amina Abdulkadir, Sacha Batthyany, Urs Faes, Catalin Dorian Florescu, Lea Gottheil, Petra Ivanov, Daniel Mezger, Gianna Molinari, Werner Rohner, Ruth Schweikert, Monique Schwitter, Eva Seck, Henriette Vásárhelyi, Benjamin von Wyl, Julia Weber, Yusuf Yeşilöz
(F) Odile Cornuz, Isabelle Capron, Daniel De Roulet, Heike Fiedler, Max Lobe, Noëlle Revaz, Sylvain Thévoz
(I) Laura Accerboni, Vanni Bianconi, Francesco Micieli, Alberto Nessi, Fabio Pusterla
(R) Göri Klainguti, Leo Tuor
Svenja Herrmann, 1973 in Frankfurt a. M. geboren, Schriftstellerin, Studium der Germanistik und Rechtsgeschichte, Schriftstellerin (Lyrik), seit vielen Jahren als Begabungsförderin im Bereich Literatur tätig, vor mehr als zehn Jahren hat sie »Schreibstrom« ins Leben gerufen: Ein Projekt für kreatives und literarisches Schreiben für Kinder und Jugendliche in und um Zürich, Lerntherapeutin i.A.  Jüngstes genreübergreifendes Vermittlungsprojekt in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Bettina Eberhard: Video Poem für Jugendliche. Für ihre literarischen Arbeiten wurde Svenja Herrmann mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit einem Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung (2015) und mit einem Werkbeitrag des Kantons Zürich Herbst 2015.
Ulrike Ulrich, 1968 in Düsseldorf geboren, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik. Seit 2002 lebt und arbeitet sie in der Schweiz. 2010 erschien ihr Romandebüt »fern bleiben« im Luftschacht Verlag in Wien. 2008 erschien die Anthologie »60 Jahre Menschenrechte – 30 literarische Texte« im Salis Verlag. Sie ist Mitglied der Literaturgruppe index (www.wortundwirkung.ch). Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie 2010 den Walter Serner-Preis und einen Anerkennungspreis der Stadt Zürich, 2011 den Lilly-Ronchetti-Preis.

Hauslesung mit Catalin Dorian Florescu

Catalin Dorian Florescu, Schweizer Buchpreisträger 2011, besuchte im September Amriswil, erzählte und las aus seinen Büchern, verzauberte ein Wohnzimmer mit seinen Geschichten genauso wie mit seiner flammenden Leidenschaft. Geschichten spielen nicht in Büchern. Catalin Dorian Florescu findet sie in Begegnungen, in seinem Herkunftsland Rumänien, trägt sie mir sich, seine sechs Roman wie ein nie versiegender Kosmos, der seine Strahlung nie kleiner werden lässt.

Am Morgen danach sassen meine Frau und ich in der Stube mit Blick auf den Stuhl, der immer noch vor dem Fenster stand. „Catalin ist immer noch da“, sagte meine Frau. Und das stimmte. Die Luftströme im Raum wirbeln noch immer von seinen Gesten, die Erzählungen hängen im Raum vor dem Bücherregal. Es waren drei wunderbare, intensive, unvergessliche Stunden. Jenen, die da waren, brannte Catalin Dorian Florescu tief in ihre Seele.

«Liebe Irmgard, lieber Gallus,
In all den Jahren, seitdem ich schreibe und veröffentliche, sind mir immer wieder Menschen begegnet, die mich daran erinnerten, worum es beim Lesen geht: Um die Bereitschaft, sich von einem Text mit dem ganzen Wesen ergreifen zu lassen. Ihr seid zwei davon, und ich danke euch – auch bestimmt im Namen vieler anderer Autoren – dass euch beim Lesen Begeisterung, Herz, Leidenschaft leiten. Der Vormittag bei euch, umgeben von all den Büchern, mit den netten Zuhörern und den tollen Leckereien war ein Aufsteller!! Lieben Dank, Catalin Florescu»

«Fremdheimisch»: Catalin Dorian Florescu (Teil 1) Hörpunkt SRF 2

 

Catalin Dorian Florescu «Die Freiheit ist möglich», Residenz

«Wie kann man den Menschen befähigen, eine integrierte Persönlichkeit zu werden? Will er das überhaupt? Ist ihm der fragile Frieden, den er mit sich selbst für die Dauer seiner virtuellen Manipulationen geschlossen hat, nicht dienlicher?» Catalin Dorian Florescu hat keinen Ratgeber geschrieben, aber einen streitbaren Essayband darüber, was die unbegrenzten Möglichkeiten der virtuellen Vernetzung erreichen und verhindern. Und wer das Buch zum Anlass einer Diskussion lassen will, besuche die Hauslesung vom 1. September in Amriswil!

Ob uns die «Freiheit» vom Tier unterscheidet, scheint mir unsicher. Aber ich als Mensch hätte die Fähigkeit, mir durch mein Tun und Handeln, durch mein Denken und Fragen Freiheiten zu schaffen. Nutze ich diese Möglichkeit? Oder bin ich nicht längst ein fleissiger Knecht von Gesellschaft, Konsum, Politik, Medien und allgegenwärtiger Manipulation?

Nicht nur durch sein Studium der Psychologie, auch durch sein Sehen und Schreiben, «Schreiben und bewusst Leben, sind zwei Seiten der gleichen Medaille» formuliert Catalin Dorian Florescu Fragestellungen, die nachhallen, Aufforderungen zum Tun und Handeln, denen ich mich bei der Lektüre nicht selbstgefällig entziehen kann. Sei es im Umgang mit den modernen Medien, in der Art und Weise wie ich konsumiere, wie ich mich fortbewege, wie ich reise. Oder wie ich mich meinen Mitmenschen gegenüber verhalte.

Wie sehr uniformiere ich mich selbst in meinem Tun? Wie weit blende ich mich freiwillig in meiner Absicht ein Individuum zu werden, gehe den Verlockungen der virtuellen Welt auf den Leim? Bin ich einer derer, die Ökologie schätzen, aber einen grösseren, leistungsfähigeren Wagen kaufen? Bin ich gegen soziale Missstände, kaufe aber gerne bei Zalando und Amazon? Bin ich kritisch und skeptisch der Politik gegenüber, mache mich aber nicht auf, bei Wahlen und Abstimmungen mein Papier einzuwerfen?

Wir laufen Populisten mit wehenden Fahnen in ihre offenen Arme, sei es in der Schweiz, in Deutschland oder Österreich. Populisten ködern uns mit einfachen Antworten auf schwierige Fragen und Herausforderungen. Ob es bei diesen genügt, sich in eine kindliche Trotzhaltung zu begeben, sich abzugrenzen, abzuschotten, ist mehr als hinderlich bei der wirklichen Bewältigung anstehender Probleme.

Warum akzeptieren wir, dass wir die Welt, die uns die Werbung als Ziel vor Augen setzt, in der Roger Federer lässig seinen Kaffee schlürft und uns die Geissens die Welt erklären, nie erreichen werden, dass wir uns allerhöchstens den Billigurlaub an einem Strand in der Türkei leisten können. Von Genuss keine Spur, denn die permanente Angst vor dem Verlust der eigenen Sicherheit, der Arbeit oder Gesundheit lähmt uns viel zu sehr. Warum grassieren Depressionen, Burnouts und Selbsttötungen in einer Gesellschaft, die doch so perfekt ist? Warum liefern wir uns bei Erklärungen der Welt dem Einfachen und Polaren aus, statt zu akzeptieren, dass es schwierig ist, dass es Bewegung, Handeln, Erwachen braucht, um den tatsächlichen Problemen der modernen Gesellschaft entgegenzutreten?

Catalin Dorian Florescu stellt die Fragen, die es braucht. Er stellt sie mutig und genau. Er reisst die Kulissen herunter, die uns die Sicht verstellen, geht mit seinen Fragen so nahe ran, dass es zuweilen weh tut, wenn diese einem zur Reflexion zwingen. «Die Freiheit ist möglich» liest sich leicht, provoziert und verliert sich nicht in wissenschaftlichen, philosophischen oder gesellschaftlichen Erklärungen. Florescu hat es nicht nötig, seine Glaubwürdigkeit zu demonstrieren, denn was er schreibt, ist erlebt.

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timisoara, Rumänien. 1982 Flucht mit den Eltern in den Westen, lebt seitdem in Zürich. Studium der Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich, 1995–2001 Arbeit als Psychologe in einem Rehabilitationszentrum fur Drogenabhängige, Weiterbildung in Gestalttherapie, seit 2001 freier Schriftsteller. Zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. Anna Seghers-Preis 2003, Schweizer Buchpreis 2011, Joseph von Eichendorff-Literaturpreis 2012. Veröffentlichungen u. a.: „Zaira“ (2008), „Jacob beschließt zu lieben“ (2011), „Der Mann, der das Glück bringt“ (2016), „Der Nabel der Welt“ (Erzählungen, 2017). Zuletzt erschienen: «Die Freiheit ist möglich. Über Verantwortung, Lebenssinn und Glück in unserer Zeit» (2018).

In der Reihe unserer Hauslesungen an der St. Gallerstrasse 21, in 8580 Amriswil, liest Catalin Dorian Florescu am 1. September 2018 aus seinem Erzählband «Der Nabel der Welt» und dem Essayband «Die Freiheit ist möglich». Die Veranstaltung beginnt um 11 Uhr. Eine Anmeldung ist unbedingt erforderlich (info@literaturblatt.ch)! Eine einmalige Gelegenheit mit dem Schriftsteller und Schweizer Buchpreisträger in Kontakt zu kommen. Ein Büchertisch ist organisiert. Weitere Informationen hier.

Webseite des Autors

Beitragsbild: Sandra Kottonau

August 2018: Catalin Dorian Florescu liest in Amriswil!

Die Reihe der Hauslesungen wird fortgesetzt. Mitte August liest Catalin Dorian Florescu aus seinem bei C. H. Beck erschienen Erzählband „Der Nabel der Welt“ und seinem Essayband „Die Freiheit ist möglich“ aus dem Residenz Verlag. Die Veranstaltung beginnt wie immer mit einem Apéro um 11 Uhr. Auf die Lesung folgt ein Gespräch mit dem Autor und im Anschluss, wieder bei einem Glas Wein, ist Platz für ganz persönliche Gespräche. Ein Büchertisch steht zur Verfügung!

Genauere Informationen folgen. Eine Anmeldug ist wegen beschränkter Platzzahl unbedingt erforderlich! info@literaturblatt.

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.

Rezension von „Der Nabel der Welt“ auf literaturblatt.ch

Catalin Dorian Florescu „Der Nabel der Welt“, C. H. Beck

Catalin Dorian Florescu, der 2011 mit „Jacob beschliesst zu lieben“ den Schweizer Buchpreis gewann, legt seinen ersten Erzählband mit Geschichten vor, die über einen Zeitraum von 16 Jahren entstanden sind. Erstaunlich genug, dass der Band trotz allem den Eindruck eines Ganzen vermittelt. Ein Strauss an Fabulierkunst und Einsichten über Heimat und Fremdsein.

Wer Florescu als Erzähler noch nicht entdeckt hat, dem bietet sich hier die Chance. Und wer wie ich mit Hunger auf jeden neuen Florescu wartet, der wird mit mundgerechten Leckereien, zum Beispiel zum Vorlesen, nachts vor dem Einschlafen, belohnt. Aber keine süssen Geschichten, sondern Texte, die durchaus zu Träumen werden können. Und wer dann wie ich, einmal vom Florescu-Virus infiziert eine Lesung des Meistern besucht, wird staunen. Nicht nur über die Sprachkunst, die Vitalität des Autors oder die Präsenz auf der Bühne, die Nähe zum Publikum, sondern über das unerschöpflich scheinende Reservoir an Geschichten, das der Mann in sich birgt. Auch wenn man mit Recht behaupten kann, dass Catalin Dorian Florescu immer vom „Gleichen“ erzählt, seinem Thema; dem inneren und äusseren Konflikt zwischen Ost und West, dem Niedergang Rumäniens, der Flucht und der ewigen Suche nach einem Ankommen, dem Verlust von Heimat, dem Verlust von Familie.

Seine Erzählungen im Band „Der Nabel der Welt“, wie alle seine Romane, gründen im Schmerz drüber, eine Heimat verloren und nie wirklich einen Ersatz dafür gefunden zu haben. Im Schmerz darüber, dass das Leiden und die Trauer nicht weniger werden, selbst nach der Flucht ins vermeintliche Paradies. Im Schmerz darüber, dass die Sehnsucht bei all denen bleibt, die nicht gehen, nicht fliehen können oder wollen, die ausharren, längst desillusioniert nach immer wieder angekündigten Wendungen.

Florescu erzählt mit sprudelndem Witz, intelligent und gekonnt. Keine Spur von Bitterkeit, denn der Autor weiss, welch nie versiegende Quelle der Inspiration seinen beiden Seelen entspringt.

Im kommenden März erscheint im Residenz Verlag ein Essayband von Catalin Dorian Florescu: „Die Freiheit ist möglich“, über Verantwortung, Lebensinn und Glück in unserer Zeit – aus der Reihe „Unruhe bewahren“, in der schon Olga Flor und Illja Trojanow Beiträge veröffentlichten. „Wir leben in einer hysterischen Zeit, die zwar materiellen Wohlstand und unablässige Kommunikation gewährleistet, das Individuum aber mit seinen Gefühlen der Vereinzelung allein lässt. Doch nach dem Scheitern der grossen politischen Utopien sehnen wir uns umso mehr nach Glück, Verbundenheit und Nähe, sind aber in einem fragmentierten, beschleunigten Alltag gefangen.“ (aus der Vorschau des Residenz Verlags)

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.