Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Janko Ferk «Am Tod eines Menschen», Plattform Gegenzauber

I Am Tod eines Menschen

Ich habe nie gesagt, dass ein Mann kein Mensch ist.

II Sein letzter Wille

Eines Abends war T., von den meisten verlassen, gestorben. Er hatte sich plötzlich dem Tod gegeben. Von Augenblick zu Augenblick. Sein Gesicht schien vom Unerwarteten mit einem Mal getroffen.
T. wurde in einen dieser billigen Särge geschleudert. In der leblosen Bewegung, die der Körper in den Holzkasten machte, kam er anders als er selbst es wollte, ausgestreckt auf dem Rücken nämlich, zum Liegen.
Kurz nach seinem Über-Tritt suchte man sein Testament. Hastig und neugierig. Ein Mensch, der wie zufällig zum allgemeinen Wühlen stieß, griff irgendwohin und erfühlte einen größeren Papierfetzen, den er kurz, aber eingehend betrachtete.
Er las das Wort Testament, das mit ungelenker Schrift hingesetzt worden war. Und darunter noch: „Mein letzter und unbedingter Wille ist, auf dem Bauch liegend begraben zu werden. Im Sarg, wie im Grab.“ Die im Raum umherstehenden Verwandten entrissen dem Lesenden das Papier und zerfetzten es dabei zu kleinsten Stücken. Nun war nichts mehr zu lesen. Man musste sich auf die zimperliche Aussage des dabeistehenden Letztlesers verlassen und nach seinem Hinweis wurde der Tote urplötzlich gepackt, in die Höhe gewirbelt und auf dem Bauch zum Liegen gebracht.
Vor dem Sterben hatte T. noch etwas zu sich genommen. Natürlich passierte auch damit etwas. Mir blieb die Spucke weg. (Und dann noch immer der grausige Gedanke, man könnte eines Tages die Innenwände des eigenen Sargs sehen.)
T. wurde später auf eine unansehnliche Bahre gelegt. Aufgeputscht mit ein paar Mittelchen, die seine Farbe erhalten sollten. So lag er steif und leichenschuppig vor den Menschen, die kamen und gingen.
Irgendein aufgeplusterter Oberbeauftragter irgendeines Vereins, beileibe kein Wortkünstler, sprach ihm eine sogenannte Ehrentotenwache, „bestehend aus zwei Männer oder Frauen“, zu. Später nahm er Ausschau und überprüfte, wer sich schon und wer sich noch nicht gezeigt hatte.
Auch mir wurde eine halbstündige Wache aufgetragen.
Ich ging, um dort zu stehen.
Ich stellte mich an seine rechte Seite. Begann zu denken. Überlegte das Leben des abgestorbenen Körpers, vor dem ich stand wie ein aufgerichteter Besen.
Dieser schutzlose Elende, der von der Welt verfolgt wurde, wurde vom Leben verlassen.
Ich stand da. Wurde angestarrt. Von tränenden Augen und vorgeschützter Traurigkeit. Immer stärker fühlte ich eine Beschämtheit über die Würdelosigkeit der schamlosen Hinterbliebenen in ihrer Prunkwäsche.
Wie ein unsichtbares und tückisches Gespenst hatte sich der Tod in seinen Körper geschlichen. Viele hatten nur Abscheu und Entsetzen für ihn über. Nicht für den Tod, sondern den Toten. Einige andere traten nach dem ersten Bekanntwerden seines Ablebens zu einer Trauersitzung zusammen. Blech und heiße Luft sind die richtigen Bezeichnungen für sie. Der eine und andere beschwor in seiner nutzlosen Rede gar sein Aufleben.
In den eigenen Reihen, der sogenannten Familie, wünschte sich niemand ein nochmaliges Erstarken oder ein In-die-Luft-Strecken-Können des rechten Zeigefingers. Niemand aus diesen Kreisen würde ihn aus seinem ersten süßen Schlummer wecken. Keiner würde den Klöppel der Auferstehungsglocke rühren. Alle würden ein Aufflackern seines Lichts verhindern.
Ich war schon eine Viertelstunde gestanden.
Da kam seine lebendige Frau. Schrittverkrüppelt ging sie durch den Saal, in dem der Tote auf dem Nabel lag. Sie war gelöst, als wäre sie die Frau eines anderen. Keine Träne. Nicht der leiseste Anflug einer kleinen Traurigkeit. Beim allgemeinen Beten dieser Speichellecker, Vater unser, der Du bist, machte sie nicht einmal zum Schein mit. Sie war völlig gelöst. Beileid wurde ihr gewunschen.
Als sie mit sich allein war, kramte sie in ihrer vergammelten Handtasche und zog einen dieser Verehrungsgebrauchsgegenstände heraus. Eine Kette. Mit Kreuz. Und dem Gekreuzigten. Sie nahm das Kleinod zwischen die Finger und sprach dazu, tonlos, aber wie beim Gedichtaufsagen, im Himmel. Alles war auf einmal so schrecklich abschreckend bühnenhaft. Wahrscheinlich betete sie. Geheiligt werde Dein Name.
Wie konnte sie jetzt bloß beten. Dachte sie nicht daran, dass sie auch andere erkannt hatte. Auch die dürftigsten, hinterlistigsten und langsamsten Männer. Dachte sie nicht gerade an das andere Glück, das sie listig ausgekundschaftet hatte. Nicht mit ihrem Ehemann, der nun gärend hier lag, auf dem Nabel, in seinem zu kurzen Totenhemd.
Mir wurde kalt.
Ich stand da.
Ruhig. Steif. Unzufrieden.
Menschen kamen angelaufen.
Sie gingen schnell.
Sie hatten kaum Zeit, sich ein bisschen zu sammeln.
Sogar der älteste seiner missratenen Söhne nahm sich nur ein paar Augenblicke. Sobald er da war, verschwand er wieder. Er musste sich die Haare schneiden lassen. Sich aufmöbeln.
Dann war meine Zeit des An-der-Bahre-Stehens abgelaufen. Ich wurde von einer dicken, ausdruckslosen Gestalt abgelöst. Ich trat vor, verblieb kurze Zeit gedankenlos, spritzte Wasser über das Holz, das ihn barg, trat zu seinen Angehörigen, drückte ihnen die Hände und sprach wie beiläufig die Beileidsredensarten. Sie bestätigten dabei nur meinen Eindruck vom Nichtberührtsein.
Jeder Äußerlichkeit ledig, entfloh ich diesem herzlosen Raum und verschwand aufgekratzt in der Dunkelheit. Ich sollte ohnehin noch zu seinem Begräbnis.

III Die Ankunft und der Abgang

Der nächste Nachmittag war gekommen. Es war ein dunkler Tag. Der Regen schlug wie irr zu Boden.
Die Totengräber brachten den Sarg. Acht dicke Eingraber kamen, die sich am Weg von der Aufbahrung zur Beerdigung Lustiges und Schlagfertigkeiten erzählten, um ihre trostlose Tätigkeit besser ertragen zu können.
In der Kirche wurde der Holzkasten auf ein lachhaftes Gestell geschoben und dort belassen bis alle Spiele um den Tod abgewickelt waren.
Da war ein Beten und Gaffen und Sagen, ein kaum zu überbietendes. Die Eitleren trugen neue Kleider und freuten sich über jeden Tod. Und die Menschen, die vom Land in die Stadt kamen, meinten, Die Hälfte wäre genug gewesen.
Ein Vertreter irgendeines Vereins sprach ein paar große Worte, jedenfalls war er selbst überzeugt, solche abzusondern. Schlecht ist die Welt. Der Mensch sucht die Ewigkeit und Lust. Er ließ die Wirkung ein bisschen eindringen und trug weiter seine Merksätze vor. Nur Ewigkeit und Lust. Danach schnitt er unvermittelt das Leben „des Verblichenen“ an. Genauso gefühllos wie er sich sein Stück Brot vom Laib säbelte. Leider hat unser Freund nie die Frau gefunden, von der …
Einer der Leichensöhne wusste sofort, worauf der Redenschwinger hinauswollte. Er war es auch, der aus seinem Polstersessel sprang, den Quatschenden lässig, aber bestimmt, ohrfeigte und ihn mit entschlossenen Handbewegungen der Kirche verwies. Du Hund, Du dreckiger!
Nebenbei erwähnt, mehrere derartige Beispiele bestimmten den Ablauf.
Und schließlich war das Loch für den Sarg zu klein. Mit den heftigsten Anstrengungen wollte man es vergrößern. Aber jede Mühe war vergebens. Niemandem gelang es, weitere Erde aus der Grube zu schaufeln. Die Wut der Totengräber wuchs. Als sie den Höhepunkt erreicht hatte, packten sie den Sarg hart an und stießen ihn, ohne viel Rücksicht auf die Friedhofsmäßigkeiten, in den zu kleinen viereckigen Graben. Mit dem Stoßen drehte sich der Leichenkasten und passte ohne Schwierigkeiten in das ausgescharrte Loch.
Mit einem Mal lag die Leiche richtig im Grab. Entgegen dem aufrichtigen Wunsch des Testamentverfassers.
Eine Schande, auch der letzte Wunsch wurde ihm abgeschlagen. Auch dieser wurde einfach verdreht.

IV Zu guter Letzt

Letztlich wurde das Grab mit dem Sand der Uhren weich verschüttet.

(aus «Zwischenergebnis. Gesammelte Prosa», Leykam Verlag, Graz – Wien, 2018)

Janko Ferk (1958) ist Richter des Landesgerichts Klagenfurt, Honorarprofessor und Schriftsteller. Bisher hat er mehr als zwanzig Bücher veröffentlicht, zuletzt die Monographie «Recht ist ein «Prozeß». Über Kafkas Rechtsphilosophie», sowie die Essaysammlungen «Kafka und andere verdammt gute Schriftsteller» und «Wie wird man Franz Kafka?» Seine neueste literarische Veröffentlichung ist die «Forensische Trilogie» (Edition Atelier, Wien 2010). Für seine literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Literaturpreis des P.E.N.-Clubs Liechtenstein.

Janko Ferk «Zwischenergebnis», Leykam

Im Laufe eines Schriftstellerlebens muss es Geschriebenes geben, das schlicht zu schade, zu wertvoll ist, um bloss in einer Schublade oder Datei dahinzudämmern. Texte, die aus welchen Gründen auch immer nie den Weg zwischen zwei Buchdeckel finden. «Zwischenergebnis» ist nach Janko Ferks sechzigsten Geburtstag ein Geschenk an seine Leser. Texte, die reizen, kitzeln, verunsichern und provozieren.

In einem der Texte begegne ich Franz K., der in seiner unsäglichen Enttäuschung über die Welt seinen Keller zu einem Schreibgefängnis ausbaut. Drei Zellen mit allem Nötigen darin, einem Durchschlupf, durch den man kriechen muss, in ein Loch, abgeschirmt von allem, was einmal Realität war. Ein Mann, der das Schreiben anderer ernten will, um es in Büchern unter die Menschen zu bringen, lockt drei Männer in sein Haus, schliesst sie in seine Höhlen ein; einen «Vorlauten», einen «Ruhmsüchtigen» und einen «Hungrigen». Dort vegetieren sie, zuerst laut protestierend, dann immer leiser werdend. Und erstaunlicherweise beginnen sie tatsächlich zu schreiben, so wie jeder Schreibende nicht zuletzt aus Not(wendigkeit) zu schreiben beginnt.

«Beim Schreiben bleiben die Augen im Kopf.»

In seiner Prosasammlung ist dies nicht der einzige Text, der sich in irgend einer Weise an den unumstrittenen Fixstern im Schreiben Janka Ferks anlehnt, an Franz Kafka. Es sind intensive Auseinandersetzungen mit dem Schreiben, seiner Sprache, dem einzigen Instrument, mit dem der Schriftsteller über das eigene Selbst hinaustreten kann. Manche Texte sind Miniaturen, die nach Innen oder Aussen strömen, die Geheimnisse bergen und solche offenbaren. Texte, in denen klar wird, dass Schreiben so existenziell wird wie Lieben, Sterben und der Tod.

«Das Schreiben gibt ihm seine zweite Hälfte zurück. Vielleicht die erste.»

Die Geschichte eines Mannes, der in seinem Testament fordert, man möge ihn mit Gesicht nach unten in den Sarg legen, sein letzter und unbedingter Wille. Ein Wille, der seinem eigenen Handeln verwehrt ist. Nicht einmal seine Frau, die als einzige keine einzige Träne zu vergiessen scheint, auch nicht der Leichenredner, sie alle bringen ihn nicht in die Lage, die er vor seinem Tod zum letzten Willen machte. Der letzte Wunsch wurde ihm abgeschlagen.

Janko Ferks Geschichten sind wohltuende Fragmente, die sich nicht darum scheren, nach der Lektüre Ordnung zu hinterlassen. Janko Ferk skizziert genau, unterlegt seine Texte mehrschichtig mit maximalem Spielraum zur Deutung. Janko Ferks Texte sind ein tiefgründiger, unterhaltsamer, vielschichtiger Spaziergang durch das Denkarchiv eines Wortkünstlers. Als ginge man durch lange Flure mit unzähligen Regalen, in denen fein säuberlich beschriftete Archivboxen stehen, die mit allerhand Textmaterial gefüllt sind.

«In mir: das Schriftstellergefühl, das beglückt und zufrieden macht. Ich schwebe in der ‹Raumundzeitlosigkeit› und preise die Gesetze, die ‹hierundjetzt› für mich gelten.»

Ein Schriftsteller sitzt an einem Tisch und schreibt ein Buch. Das ist ebenso Mythos, wie der bildende Künstler, der vor einer Leinwand steht und ein Meisterwerk malt. Die Prosasammlung ist ein Bilderreigen nie gezeigter Bilder in den unterschiedlichsten Formaten. Janko Ferks Texte passen einzeln nicht in ein Gefäss. Aber gemeinsam werden sie zu einem Schaufenster seines Schaffens, ein Geschenk des Schriftstellers zu seinem 60. Geburtstag an seine Leserinnen und Leser.

Janko Ferk (1958) ist Richter des Landesgerichts Klagenfurt, Honorarprofessor und Schriftsteller. Bisher hat er mehr als zwanzig Bücher veröffentlicht, zuletzt die Monographie «Recht ist ein «Prozeß». Über Kafkas Rechtsphilosophie», sowie die Essaysammlungen «Kafka und andere verdammt gute Schriftsteller» und «Wie wird man Franz Kafka?» Seine neueste literarische Veröffentlichung ist die «Forensische Trilogie» (Edition Atelier, Wien 2010). Für seine literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Literaturpreis des P.E.N.-Clubs Liechtenstein.

Beitragsbild © Sandra Kottonau