Katerina Poladjan «Zukunftsmusik», S. Fischer

Im Takt der Zeit

Katerina Poladjans hochaktueller Roman «Zukunftsmusik» erzählt vom 11. März 1985, einem kalten Tag im fernen Osten Russlands – doch ein neuer Frühling steht kurz bevor. 

Gastbeitrag von Sarah-Sophie Engel
Sarah-Sophie Engel studiert Deutsche Philologie und Kulturanthropologie an der Universität Basel. Ihr Interesse an Menschen und gesellschaftlichen Themen führt sie oft zur Literatur.

Die Zukunft ertönt im Viervierteltakt. Chopins Trauermarsch schallt durch das Radio der Kommunalka an jenem Morgen, an dem Matwej schon früh in der Küche sitzt. Diese Küche befindet sich irgendwo tausende Kilometer östlich von Moskau, in Sibirien – mit etwa drei Stunden Zeitunterschied. Die Töne verbreiten eine finale Stimmung, mit der niemand wirklich etwas anzufangen vermag, denn noch weiss keiner, wer ging und was kommt.

Mit dem Tod des Generalsekretärs wird Gorbatschow das Amt ergreifen und den Zerfall der Sowjetunion einläuten – aber noch gilt weiter, jedes Tun der Bürger und Bürgerinnen ist dem grossen Plan gewidmet. In dem steht auch: jeder Bürger der Sowjetunion hat Anspruch auf neun Quadratmeter. Maria teilt sich mit Mutter, Tochter und Enkelin ein Zimmer. Ihr heimlicher Verehrer, Matwej, wohnt gegenüber und gleich nebenan der alte Professor, der später durch die Zimmerdecke flieht. Die Bewohner:innen der Zimmer am Ende des Ganges spielen auf der häuslichen Bühne kaum eine Rolle, abgesehen von ihrem guten Essen auf dem Herd, von dem sich immer mal wieder jemand heimlich ein Schälchen füllt. 

Auf dem engen Raum der Wohnung bekommt man voneinander einiges mit – vieles auch nicht. Die eigenen Träume werden bewacht und Erinnerungen in kleine Kästchen verstaut, wo sie niemand findet, ausser man selbst. Poladjan erzählt von der Angst bestimmte Dinge laut auszusprechen, von vergangenen und neu beginnenden Leidenschaften und der Sehnsucht nach Schokolade, einer neuen Gitarre oder einfach nur Freiheit. Sie erinnert an Zeiten, in denen die Politik den Menschen nicht gehört – so wie sonst eigentlich auch nichts – und skizziert angesichts der systemischen Enge den Spielraum des Alltäglichen und den Platz in den eigenen Gedanken.

Katerina Poladjan «Zukunftsmusik», S. Fischer, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397102-6

Maria gesteht Matwej, ein ganzes Lexikon der Angst könnte ich schreiben. Und doch bewahrt sie, trotz ihrer Sorgen, einen sanften Humor und eine Leichtigkeit, die sie träumen lässt von Tango unter Palmen und Ferien in Abchasien. Ihre Mutter ist erstaunt über die Naivität ihrer Tochter und stellt fest: Es gab keine Freiheit, dass das immer noch niemand begriffen hatte. Maria aber kann sie schmecken, die Freiheit. Nach langem Anstehen am Lebensmittelgeschäft, ohne erst zu wissen wofür, ergattert sie Krakauer Würste und auf dem Museumsboden entdeckt sie eine Paillette, ein Überbleibsel einer anderen Welt: Maria legte sich die Paillette auf die Zunge und hatte Gold im Mund. Ob die neue gelbe Bluse, Importware, ihr stehe, will sie wissen – jedenfalls hatte sie so eine noch nie.

Poladjan zeigt, wie unterschiedlich Menschen in ihrem alltäglichen Leben auf ein starres politisches System reagieren, das ihnen nichts schenkt und alles von ihnen verlangt. So ist Matwej stets bemüht, ein «guter Kommunist» zu sein. Und während Maria befürchtet, ihr Leben zu vergeuden und das Glück nie zu finden, schenkt Matwej ihr weiter Cognac ein, mit den Worten: Dass die Menschen immer noch nicht verstanden haben, dass persönliches Glück ohne Allgemeinwohl nicht möglich ist.

Was Poladjans Roman zugrunde liegt, ist die einfühlsame Beschreibung eines historischen Tages auf der Bühne der «kleinen Leute». Sie lässt die Leser:innen die Präsenz einer Politik spüren, die so weit weg scheint und doch eine Enge schafft, in der sich die eigenen Wünsche und Pläne nur schwer entfalten. Zwischen fein skizzierten Figuren finden sich starke Worte. Die zwanzigjährige Tochter, Janka, möchte keinen Mann, sie betet zu Gott noch viele Münder küssen zu dürfen und dafür, dass ihre Lieder gehört werden: Ich erinnere mich an ein Leben, das ich nie gelebt habe und von dem ich hoffe, dass es noch vor mir liegt.

Gegen Ende des Romans lässt Poladjan surreale Nuancen entstehen, die sich ganz ungezwungen einschleichen, was erstmal überrascht, da die Erzählung sonst so solide in der Geschichte verankert zu sein scheint. Allerdings inszeniert Poladjan damit genau diese unsichere Aufbruchsstimmung voller Möglichkeiten, die jener Frühlingstag bei den Bewohner:innen der Kommunalka auslöst.

Poladjan lässt die Leser:innen eintauchen in eine Welt, die zwar vergangen ist, sich aber auf 187 Seiten erneut für sie öffnet. Man ist umgeben von russischer Musik, einer Eiseskälte, liebevoll-witzigen und ernsthaften Dialogen, dem Duft von Schaschlik über dem Feuer. Und zwischen den Zeilen leuchtet die grosse russische Literatur hervor. «Zukunftsmusik» erinnert an die Vielschichtigkeit einer Gesellschaft, die, fernab ihrer Regierung, beim Lesen aufrichtiges Interesse weckt. 

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt «In einer Nacht, woanders» folgte «Vielleicht Marseille» und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht «Hinter Sibirien». Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für «Hier sind Löwen» erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2021 wurde sie mit dem Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet. «Zukunftsmusik» stand auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Andreas Labes

«Was bleibt? Die Geschichten, der Wahnsinn.» Es floss an der Literaare!

Christoph Geiser, Träger des Schweizer Literaturpreises 2020, über den es auf der Webseite des Bundesamtes für Kultur heisst: Ein scharfzüngiger, sprachmächtiger Erzähler zeigt sich als Chronist, Museumsbesucher, Leser, Beobachter, Tourist, Gourmet und verhinderter Gerichtsreporter, bot mit der jungen «Literaturaktivistin» Svenja Gräfen aus Leipzig und der in Moskau geborenen Katerina Poladjan ein vielseitiges Kontrastprogramm.

Katerina Poladjan «Hier sind Löwen», S. Fischer, 2019, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397381-5

Katerina Poladjan schreibt von «unbekannten Gebieten», nicht Kartographiertem, jenem Unerschlossenen, Unentdeckten in uns. In ihrem aktuellen Roman «Hier sind Löwen» erzählt Katerina Poladjan von Helen, die wie die Autorin selbst einen armenischen Familiennamen trägt. Helen ist auf der Suche nach Spuren, verwickelt sich in neuen Zugehörigkeiten, in einer Geschichte, die weit in die tragische Geschichte des armenischen Volkes zurückgreift. Helen ist Buchrestauratorin, flickt aber nicht einfach alte Folianten. Sie macht Geschichte und Geschichten sichtbar. Die Geschichte Armeniens, ihrer Familie, ihre eigene Geschichte. Katerina Poladjan nennt ihren Roman ein Erinnerungsfenster, ihr Fenster in die Erinnerung eines Landes. «Hier sind Löwen» löste in Armenien selbst ganz gemischte Reaktionen aus, war es doch den einen zu zahm, zu wenig dramatisch. Die Autorin selbst zeigt sich aber überrascht, dass ihr Roman sowohl ins Türkische wie ins Armenische übersetzt wurde, dass es das Buch schaffte, auf «beiden Seiten» gelesen zu werden. Etwas, das nur gelingen konnte, weil die Autorin es schafft über den Genozid zu schreiben ohne in das übliche Täter-Opfer-Muster zu verfallen.

Christoph Geiser «Verfehlte Orte», Secession, 2019, 176 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-906910-51-2

Christoph Geiser ist mit vielen seiner Romane als Familienchroniker, als Seismograph und Kritiker der «heiligen» Familie in die Literaturgeschichte eingegangen, genauso wie als Stimme der Verbannten und Verstossenen. Christoph Geiser ist ein «Entfesselungskünstler», sprachlich, formal und inhaltlich.
Sein preisgekrönter Erzählband «Verfehlte Orte» ist der Schnittpunkt seiner Motive, ein Band, in dem Christoph Geiser sämtliche Register seines Könnens zeigt, seine Radikalität, seine Lust zu fabulieren genauso wie jene zu provozieren.
Selbst in seinem neuen Romanprojekt, seinem «letzten Manuskript» ist der Ursprung des Schreibens eine Art Provokation. Der Protagonist, Christoph Geiser sitzt auf seiner Grabkiste und räsoniert. Aber der Schriftsteller Christoph Geiser ist zurückgebunden, denn sein neuer Roman über seine jüdische Grossmutter la grandmama russe verlangt nach Recherche in Minsk, Moskau, Gorki und Nazareth. Aber wer fährt jetzt dorthin. 

Christoph Geiser ist auf der Suche nach den «Hasen», einer Familie, deren Name sich verloren hat in Geschichte, Verfolgung, Verbannung und Genozid. Die Geschichte einer verrückten Grossmutter, wieder eine Familiengeschichte, die sich nach der jüdischen Apokalypse verlor. Über eine Frau, die in der Engelgasse in Basel die letzten beiden Jahre ihres Lebens verbrachte, nachdem sie aus dem Irrenhaus entlassen wurde.
Christoph Geiser ist ein lustvoll Massloser, dessen Virtuosität und sprachliche Leidenschaft in krassem Gegensatz steht zu seinem Gehstock, der hinter ihm am Türknauf zum Nebenraum hängt. «Was bleibt? Die Geschichte. Der Wahnsinn.» In seinem kommenden Roman «Die Spur der Hasen» wird Christoph Geiser von der Tragödie des Ostjudentums erzählen, die Opfergeschichte eines Kollektivs, sich einmal mehr mit dem Vergessen auseinandersetzen.

Svenja Gräfen «Freiraum», Ullstein, 2019, 304 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-96101-037-0

Ein wunderbar angenehmer Kontrast zu Christoph Geiser bot Svenja Gräfen mit ihrem 2019 erschienen Roman «Freiraum». Er, der sich an seiner Geschichte, seinem Leiden abarbeitet, sie, die sich locker und flockig mit dem Personal einer ganz besonderen Bühne beschäftigt; einer Hausgemeinschaft, einem Versuch alternativen Wohnens am Stadtrand, von den Träumen einer noch offenen, vielversprechenden Zukunft und den Ernüchterungen in den aufkommenden Zwängen. Svenja Gräfen macht ein Haus zu einem eigentlichen Experimentierfeld, witzig mit starken Dialogen – eine eigentliche Soziostudie über Lebens- und Wohnentwürfe.

Und am Sonntag? Elsie Schmit liest aus ihren Erzählungen «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen», Miku Sophie Kühmel aus «Kintsugi», einem flimmernden Roman über die Liebe in all ihren Facetten, Kirstin Köhler aus ihrem Roman «Schöner als überall», der bei Suhrkamp erschien und Simone Lappert aus ihrem Bestseller «Der Sprung»! Unbedingt hingehen! (Festivalprogramm)

Webseite Katerina Poladjan

Webseite Christoph Geiser

Webseite Svenja Gräfen

 Illustrationen © leafrei.com

Katerina Poladjan «Hier sind Löwen», Gast am Literaare in Thun!

Das 15. Thuner Literaturfestival versucht es noch einmal! Und mit den Organisatorinnen hoffen all die Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf eine Durchführung, auf BesucherInnen, Menschen, die sich trotz allem von der Literatur verführen lassen – nicht zum Leichtsinn, aber zum literarischen Hochgenuss!

Am Samstag, den 26. September, um 13.30 Uhr im Rathaus Thun: «Hier sind Löwen» von Katerina Poladjan:

Helene Mazavian kommt in Jerewan, der armenischen Hauptstadt an. Sie soll dort als Buchrestauratorin im Zentralarchiv für armenische Handschriften eine ganz spezielle Bindetechnik erlernen. Was Helene Mazavian aber wirklich lernt, ist sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Tor zu dieser ist ein Heilevangilar aus dem frühen 18. Jahrhundert. Aber Gewehr und Buch können ganz nah beieinander sein!

Helene Mazavian ist im Stillen entsetzt, als sie durch die Regale mit den Schätzen des Zentralarchivs geführt wird. Ganz anders wie in Deutschland, wo sie sich ausbilden liess, liegen hier die Bücher nicht in Archivboxen geschützt, sondern offen auf den Regalen. Ihre Chefin, die sie dorthin führt, meint: „Wären die Bücher alle umhüllt oder lägen sie in Schachteln, könnten sie nicht miteinander sprechen, nicht atmen. Eine Schachtel ist wie ein Grab, das Buch vereinsamt und stirbt.“

Katarina Poladjan «Hier sind Löwen», S. Fischer, 2019, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397381-5

So manches ist anders, auch wenn Helene armenische Wurzeln hat, eine Vergangenheit, die mit dem blutigen Genozid zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Die Menschen sprechen eine Sprache, die die ihre sein könnte, die sie aber nicht versteht, das Buch, das sie als erstes restaurieren soll, beginnt mit ihr zu kommunizieren, der Mann, der sie vom Flughafen abholte, bringt sie ins Wanken, sie, die sonst alles unter Kontrolle hat.

Schon Helenes Mutter, eine Künstlerin, die sich im Keller ihres Reihenhauses mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigte und dabei auch nicht davor zurückschreckte die Puppen und Kuscheltiere ihrer Tochter in das nachempfundene Gemetzel jenes Schreckens einzubauen, liess, was damals geschah, nicht wirklich an sich heran. „Hier sind Löwen“ beschreibt, wie Geschichte, die Konfrontation mit ihr oder die Verweigerung einer solchen sich bis in die kommenden Generationen hineinfressen kann.

Die Buchrestauratorin und Schriftstellerin bei der Arbeit, © Katerina Poladjan

Die Familienbibel, an der sich die Buchrestauratorin versuchen soll, ist und war viel mehr als ein Buch. Ein Schatz, der in einer armenischen Familie von Generation zu Generation mitgetragen wurde. Ein Buch mit Wirkung und Geschichte. Ein Buch voller Zeichen, an die Seitenränder gekritzelt. Ein Buch, das zuerst gesäubert werden musste und zu dem ein Plastikbeutel aus dem Archiv gehört mit Haaren, toten Insekten, einer Theaterkarte, einer Zugfahrkarte von Wladiwostok nach Moskau, zwei Miniaturen, die einmal Seiten im Buch waren, einem Foto, einer Schiffsfahrkarte.

Während Helene sich immer tiefer in Land und Menschen begibt, fesselt sie dieses Buch, das ihr eine Geschichte erzählt. Die Geschichte von den Geschwistern Anahid und Hrant, die vor mehr als hundert Jahren auf der Flucht vor den Gräueln an ihrem Volk in die Berge flüchteten, ihr Zuhause, ihre Familie zurücklassen mussten, mit nichts als den Kleidern, die sie auf dem Leib trugen und diesem einen Buch, das sie beschützen sollte. „Hrant will nicht aufwachen“ steht mit ungelenken Buchstaben auf den Rand einer Seite gekritzelt. 

Und als Helenes Mutter Sara sie auffordert, jetzt wo sie doch dort sei, wo die Familie herkomme, jenes Foto, das sie ihr mitgab, als ersten Hinweis zur Suche nach ihrer Herkunft zu nutzen, begibt sich Helene auf eine Reise, die sie in mehrfacher Hinsicht an und über die Grenzen ihres bisherigen Lebens führt.

Mag sein, dass das Buch etwas kühl erzählt ist. Aber genau das macht den Roman zu dem, was ihn auszeichnet. Er spielt nicht mit den Gefühlen der Leserin, des Lesers. Es öffnet sich Seite um Seite einer Geschichte, eines Lebens, eines Dramas. Katerina Poladjan konstruiert gekonnt, verwebt Geschichten, Stimmen. Und so wie eine Buchrestauratorin mit Vorsicht und Umsicht an die Verletzungen eines Buchschatzes geht, so geht Katerina Poladjan an ihren Stoff.

Von 1915 bis 1917 starben unter der Verantwortung der jungtürkischen, vom Komitee für Einheit und Fortschritt gebildeten Regierung des Osmanischen Reichs mehr als eine Million Armenier, ein Völkermord, ein Genozid, den die türkische Regierung bis heute als «kriegsbedingte Sicherheitsmassnahme» bezeichnet und Regierungen und Persönlichkeiten rügt, die Tatsachen beim Namen nennen oder gar Konsequenzen fordern. Katerina Poladjan klagt nicht an, führt nicht vor. Aber «Hier sind Löwen» rückt ein Verbrechen zurück ins Bewusstsein, dem man angesichts der spannungsgeladenen Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen zu gerne aus dem Weg geht.

Ein Interview mit Katerina Poladjan

Sie öffnen mir als Leser die Tür zu einem Kapitel düsterer Geschichte des 20. Jahrhunderts mit aller Behutsamkeit. Und doch fühlte ich mich während der Lektüre gezwungen, mich mehr mit dem Genozid an den Armeniern zu beschäftigen. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihren Roman mit unerträglicher Dramatik aufzublasen. Ist das auch ein bisschen ihr Kampf gegen den Zeitgeist?

© Katerina Poladjan

Kampf gegen den Zeitgeist klingt mir zu heroisch, vielleicht ist es eine Don-Quixoterie. Es war wirklich mein Anliegen, von einem der großen Menschheitsverbrechen zu erzählen, ohne dem allgemeinen Drang zur Polarisierung zu erliegen, ohne den Schreckensbildern zu erliegen, die mir oft genug bei der Recherche den Atem nahmen. Die Stille des Gedenkens war mir wichtiger, als laute Schreie der Anklage, Trauer und Wut. Und wenn es mir damit gelungen ist, ein kleines Fenster der Erinnerung zu öffnen, freut mich das sehr.

Das Unglück eines ganzen Volkes, das Unglück einer Liebe, die Helene in der Hauptstadt Armeniens loslassen muss, das Unglück einer Familie – das Glück einer Buchrestauratorin, die Auseinandergefallenes, Verwundetes, Zerrissenes, Verlorenes zurückgewinnen kann. Wie sind sie auf die Idee gekommen?

Einen Roman schreibe ich nicht von Anfang bis Ende. Am Anfang meines Schreibens steht ein Gefühl, eine Idee, ein Thema, ein Klang, hier ein Ort, dort die vagen Umrisse einer Figur. Ich skizziere, recherchiere, experimentiere, verwerfe. Mit diesem Material beginnt irgendwann ein Puzzlespiel, das sich beim Zusammensetzen ständig verändert und erweitert. Eines führt zum nächsten, anderes passt vielleicht nicht mehr ins Bild, Lücken entstehen und müssen gefüllt werden. Als ich in der Werkstatt des Handschriftenarchivs in Jerewan den Buchrestauratorinnen bei ihrer Arbeit zusehen durfte, war ich tief beeindruckt und fühlte ich mich ein wenig an meine eigene Anstrengung erinnert, erzählbare Geschichten aus der Unendlichkeit von Geschichte herauszuarbeiten. So ist Helene Buchrestauratorin geworden.

Liegt in ihrem Roman die Sehnsucht nach Spuren in die Vergangenheit? Eine Bibel, die die Zeichen über Generationen in und an sich trägt? Die Sehnsucht, dass sich mit dem Tod nicht alles dem Vergessen und Verschwinden auftut?

Ich würde nicht von Sehnsucht sprechen. Das Wesen menschlichen Denkens und Fühlens fusst doch auf der Fähigkeit zur Erinnerung. Wir können ja gar nicht nicht-erinnern, wir können nur leugnen oder vergessen. Erinnerung kann negativ wirken, traumatisch gar, und zum Durst nach Rache und Vergeltung führen. Viel mehr noch ist die Erinnerung eine Säule der Humanität und des Mitgefühls. Und letzteres ist doch Grund genug für die Spurensicherung.

© Katerina Poladjan

Anahid und Hrant sind jung, sehr jung und auf der Flucht. Hrant, der jüngere der beiden wird krank, fiebert und Anahid ist irgendwann gezwungen, ihren Bruder alleine zurückzulassen, eine Situation, die sich im Laufe der Geschichte noch einmal wiederholt. Darin steckt die Urangst eines jeden, verlassen zu werden. Aber braucht es dieses Verlassen-werden nicht, um autonom zu werden?

Um autonom zu werden, muss man selbst verlassen, ein aktiver Vorgang. Wenn einem das Autonom-werden aus der Zwangssituation des Verlassen-werdens gelingt, ist es ein Glück.

Wie viel will und soll man vom „Geheimnis Familie“ aufreissen, wenn man ahnt, dass es eine Wunde sein könnte, die sich niemals schliesst?

Das vermag ich nicht zu sagen. Nietzsche hat einmal den Satz geschrieben: „‚Wille zur Wahrheit‘ – das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein.“

In Ihrem Roman fragt Helene: „Was gibt es Schöneres und Wichtigeres als Bücher?“ Ich stelle die Frage an Sie!

Seit wann gibt es auf rhetorische Fragen eine Antwort? Ach richtig – im Roman lautet sie: „Ein blankgeputztes Gewehr.“

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt «In einer Nacht, woanders» folgte «Vielleicht Marseille» und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht «Hinter Sibirien». Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für «Hier sind Löwen» erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul.

Festivalprogramm 15. Thuner Literaturfestival 2020

Webseite der Autorin

Illustration © Lea Frei / leafrei.com

Literaare – Ein mutiges Festival in Thun

Im Frühling hätte das Festival stattfinden sollen und musste wie so viele andere abgesagt werden. Aber als einziges Schweizer Literatur-Festival, das mir bekannt ist, wagt Literaare in Thun einen Restart. Nur schon deshalb sollte der Mut der VeranstalterInnen belohnt werden, garantieren doch die Vorgaben des BAG maximal möglichen Genuss.

Eröffnet wird das Festival am Freitag, den 25. September von der Grand Dame der Schweizer Literaturszene. Mit Ruth Schweikert, die 2016 sowohl den Schweizer Literaturpreis wie den Solothurner Literaturpreis gewann und schon mit ihrem ersten Roman «Erdnüsse. Totschlagen» mehr als nur auf sich aufmerksam machte, mischt sich eine wichtige Stimme ein – in die Kulturszene genauso wie in die Politik. 2020 veröffentlichte sie zusammen mit Eric Bergkraut einen Film, eine «etwas andere Homestory einer Künstlerfamilie» mit dem Titel «Wir Eltern». Ruth Schweikert bringt ihren Roman «Tage wie Hunde» mit ans Festival, einen Roman, in dem sie sich auf formal experimentellen Wegen sowohl erzählerisch wie essayistisch mit ihrer Krebserkrankung auseinandersetzt. Ein Buch, das weit mehr ist, als eine Nabelschau, viel mehr ein literarisch mutig, wilder Ritt durch die eigene Körperlichkeit.

Am darauffolgenden Samstag und Sonntag geben sich grosse und kleine Namen die Klinke. So liest Christoph Geiser, ein Urgestein in der CH-Literatur aus seinem bei Sezession erschienenen Erzählband «Verfehlte Orte». Christoph Geiser, der seit einem halben Jahrhundert schriftstellerisch wirkt und dafür 2020 endlich mit dem Schweizer Literaturpreis die gebührende Anerkennung erfuhr, ist Erzähl- und Fabulierkünstler. Ein Autor, der sich nur schwer fassen lässt, sich dauernd neu erfindet.

Andere grosse Namen gehören einer ganz jungen Generation. So lesen Simone Lappert aus ihrem Roman «Der Sprung», mit dem sie sich einen Platz in der Shortlist des Schweizer Buchpreises 2019 verschaffte, Laura Vogt aus ihrem Gesellschaftsroman «Was uns betrifft» oder die jungen deutschen Schriftstellerinnen Kirstin Höller (1996), Miku Sophie Kühmel (1992) und Svenja Gräfen (1990), drei junge Stimmen, die mit ihren Themen den Nerv der Gegenwart treffen. Neben noch vielen anderen Stimmen eine Wand aus kraftvollen Erzählerinnen!

Ganz besonders freue ich mich auf das Format «Skriptor», das im Rahmen der Solothurner Literaturtage von AutorInnen entwickelt wurde. Es stellt Fragen, die die schriftstellerische Tätigkeit bestimmen. Am öffentlichen Werkstattgespräch kann sich das Publikum miteinbringen. Ein Format, das zeigt, wie tief die Auseinandersetzungen mit Sprache, Text, Form und Inhalt reichen können. Dabei stellt sich der Schriftsteller Demian Lienhard, der mit seinem Debüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» für Furore sorgte, mit einem noch unveröffentlichten Textausschnitt. Es diskutieren 5 SchriftstellerInnen und Mutige aus der Runde der Lauschenden.

Bereits auf literaturblatt.ch besprochen und auf dem Programm des Thuner Literaturfestivals «Literaare»:
«Der Sprung» von Simone Lappert
«Was uns betrifft» von Laura Vogt
«Hier sind Löwen» von Katerina Poladjan
«Andersland» von Regula Portillo

Warum in diesen Zeiten ein Festival besuchen? Wer sich an die Regeln hält, geht kein Risiko ein. Und die Literatur braucht die Begegnung, all die Lesenden, die sich nicht bloss zur Unterhaltung mit Büchern versorgen. Ein solches Festival ist ein Zeichen; ein Zeichen für die Kunst, für all jene, denen seit dem Frühjahr das lebensnotwendige Publikum weggebrochen ist.
Seien Sie dabei!