«Er schreibt wie sonst niemand.» Ein Abend mit Michael Stavarič im Kunstmuseum der Kartause Ittingen

Mit Michael Stavarič öffnet sich ein Kosmos. Nicht nur weil man angesichts der Fülle seiner Werke lange in den Büchern dieses Autors lesen kann, sondern weil er einem mit jedem neuen Buch eine weitere Tür öffnet, weil sich Michael Stavarič mit jedem Buch neu zu definieren, zu erfinden scheint, weil es somit nicht den typischen Stavarič gibt und ich mit jedem Buch riskieren muss, dass nicht das drinsteckt, was ich erwarte.

«Einen Abend mit Gallus Frei-Tomic und Cornelia Mechler im Kunstmuseum Thurgau verbringen zu dürfen, stellt wahrlich ein Privileg dar. Die Kartause Ittingen ist einer der bezauberndsten Orte, den man sich nur vorstellen kann, und mit Gallus und Cornelia trifft man dort auf Literaturliebhaber*innen, die ihresgleichen suchen, denn: es kann gar keine besser vorbereiteten Gesprächspartner geben. Es war tatsächlich so angenehm für mich über Literatur und Werk zu plaudern, dass ich beinahe aufs Lesen vergass. Selten genug hat man die Gelegenheit, sich intensivst mit Gleichgesinnten über die Literatur austauschen zu dürfen. Danke, lieber Gallus, dass Du der Literatur (und ihren Autor*innen) diesen Stellenwert einzuräumen vermagst, und du immer und überall für die Literatur einstehst. Auf ein Wiedersehen, sehr herzlich, Michael Stavaric»

Michael Stavarič, Anfang dieses Jahr ein halbes Jahrhundert alt geworden, dessen Familie einst aus der Tschechoslowakei fliehen musste, ist ein Tausendsassa. Vielleicht gerade wegen einer nicht ganz klaren Verortung einer Heimat, einer Herkunft. Als Lyriker ganz jung begonnen, ist Michael Stavarič Romancier, Übersetzer, Kolumnist, Kritiker, Essayist, Kinderbuchautor und mit Sicherheit auch ein Kulturvermittler, ein Agent des Wortes und nicht zuletzt ein Fürsprecher für Autorinnen und Autoren, die noch nicht im Licht des Ruhms stehen.


„Romane, wie sie Michael Stavarič schreibt, schreibt gegenwärtig sonst niemand.“ Frankfurter Rundschau

Zusammen mit Cornelia Mechler, Mitorganisatorin im Kunstmuseum der Kartause Ittingen, versuchten wir an diesem Abend einen Einblick in das überaus vielfältige Schaffen eines Autors zu bieten, der durchaus das Zeug hat, der Beginn einer langen Beziehung zu werden, einer langen Lesereise mit einem Autor, dessen Bücher das Leben erhellen.

Begonnen hatte sein Schreiben mit Lyrik. Einem Schaffen, in das er noch immer abtaucht, gerne mit einer gehörigen Portion morbidem Charme und groteskem Humor. In seinem 2017 erschienen Gedichtband «in an schwoazzn kittl gwicklt» kreist der Dichter in der Welt eines Haderers. In einer Art «Wiener Dialekt», den er aber wie sein grosses Vorbild H. C. Artmann seiner eigenen Zunge anpasste, stromert er durch die Welt eines Zweifelnden, eines Zweiflers, stets gut verständlich «übersetzt» ins Hochdeutsche.

 

waun d wöd amoi unta get
mechat i genau wissen wo i laund

gustirn wor i nailich am zendralfridhof
hob gschaut wos no a guats platzl gibt
und in wöche ekn i liaba net mog
do gabats anige

(aus «in an schwoazzn kittl gwicklt», Czernin)

 


Weil seine Familie in seinen Kindertagen aus der kommunistischen Tschechoslowakei nach Österreich flüchtete, wuchsen zwei Muttersprachen, ein Umstand, der sich ganz direkt in sein Schreiben auswirkte. In «Der Autor als Sprachwanderer» schreibt Michael Stavarič von einem Umstand, ohne den er wohl nie zu schreiben begonnen hätte.

So wie das Licht, das Feuer, das Meer Elemente seines Schreiben sind, scheint ein Element dafür, wie Geschichten entstehen, Texte entstehen, das Schreiben ein Motor, eine Motivation wird, der Schmerz zu sein. Erst mit Hilfe des Schmerzes komme er zur Erinnerung. 

Mit jedem seiner Bücher begibt er sich auf eine Reise ins Ungewisse. Er proklamiert das Unterwegssein, das Nomadische als Notwendigkeit seines Schreibens. Ein anderer Eckpfeiler seines Schreibens ist das Bemühen, nicht einfach in einem Klappentext nacherzählbares Unterhaltungsfutter schreiben zu wollen. Man müsse es sich Schicht um Schicht erarbeiten. «Lesen ist nicht einfach nur Unterhaltung. Literatur wird  verändern, sie kann Heimat sein, sie vermag Erkenntnisse zu eröffnen, die auf keinem noch so paradiesischen Baum gefunden werden kann.»

Neben „Erwachsenenliteratur“ schreibt Michael Stavarič auch für Kinder und nennst diese Gattung die eigentliche Königsdisziplin, die „Königsklasse der Literatur“, auch wenn es dafür keinen Literatur-Nobelpreis geben wird, auch wenn man in gewissen Kreisen für diese Literatur nur ein müdes Lächeln übrig hat. Michael Stavarič schreibe für jenes Kind, das er einst selbst gewesen sei, für all die Kinder, die dereinst zu Leserinnen und Lesern werden – vielleicht auch zu Leserinnen und Lesern seiner Bücher.

aus «Die Menschenscheuche» Stella Dreis & Michael Stavarič, Kunstanstifter Verlag 2019


In seinem neuesten 2020 bei Luchterhand erschienen Roman «Fremdes Licht» erzählt Michael Stavarič von zwei Frauen, einer in der Vergangenheit, einer in ferner Zukunft. Die eine erwacht als Letzte auf einem kalten Exoplaneten, allein mit ihren Erinnerungen, die andere, eine Inuit vor 100 Jahren als Erste im kalten Licht einer aufbrechenden Welt. Michael Stavarič hat die Kälte verinnerlicht und erzählt davon, dass weder Hitze noch Feuer, nicht einmal Wärme und Kraft das Leben in eisiger Kälte ermöglichen. Nur Leidenschaft und Hingabe. Grosse Erzählkunst!

Michael Sztavarič «Gretchen» auf der Plattform Gegenzauber 

Rezension «Fremdes Licht» auf literaturblatt.ch

Michael Stavarič «Fremdes Licht», Luchterhand

Sie wacht auf aus dem Kälteschlaf auf einem fremden, erdähnlichen Planeten. Sie ist die einzige. Alle andern, die auf dem Flugschiff auf einen Neustart auf einem weit entfernten Planeten hofften, kamen bei der Bruchlandung im Eis ums Leben. Michael Stavarič begleitet zwei Frauen, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Eine Vergangenheit, in der die Zukunft beginnt, eine Zukunft, in die man sich zurückgeworfen fühlt.

Die Geschichte der Menschheit ist verwoben mit dem Entdeckergeist von (männlichen) Pionieren: Roald Amundsen, der als erster den Südpol erreichte, Magellan, dessen Schiff als erstes die Welt umsegelte oder Fridjof Nansen, der Grönland zu Fuss durchquerte, mit den Inuits lebte und gar den Friedensnobelpreis erhielt. 

Eliane Duval lebt im 24. Jahrhundert. Und nachdem man der Erde mit Lichtkriegen beinahe den Garaus gemacht hatte, besiegelte ein riesiger Komet das Schicksal des Planeten restlos, liess ihn zerbersten und alles auslöschen, was sich nicht auf das einzige Flug- und Fluchtschiff retten konnte. Mit dabei Eliane Duval, die, Wissenschaftlerin geworden, die Stammzellen vieler Tiere mit in den Orbit transportiert, um auf einem erdähnlichen Exoplaneten neu beginnen zu können. Es sollte eine zweite Chance werden, nachdem man die erste zunichte gemacht hatte. Kommandant des Schiffes ist Dallas, mit dem sie mehr als eine Freundschaft verbindet. Doch in dem Moment, in dem das Flugschiff seine lange Reise weit über die bisherigen Grenzen beginnt, die Reste der Erde verglühen, wird klar, dass die Mission des Rettungsschiffes unter keinem guten Stern steht. Es sind viel zu viele Menschen auf dem Schiff und viel zu wenige Kälteschlafboxen. Viele der Geretteten werden die lange Reise nicht überstehen. Das Floss der Medusa droht nach gegenseitiger Zerfleischung unterzugehen. Die lange Kette von Katastrophen nimmt kein Ende.

nunaulluq (ᓄᓇ ᐅᓪᓗᖅ), Land des Tages

Lange Zeit später wacht Eliane auf in den Trümmern des Flugschiffes. Im Eis eines fremden Planeten, dem sie den Namen Winterthur gibt, weil sie einst in den kalten Laboratorien eines Grosskonzerns im schweizerischen Winterthur arbeitete. Sie scheint die einzige Überlebende zu sein. Und weil sie als Kind viel bei ihrem Grossvater auf Grönland lebte und weiss, wie man in der Eiswüste überlebt, dass die Kälte nicht nur ein lebensbedrohender Feind sein muss, nimmt sie als Letzte den Kampf auf. 

Michael Stavarič «Fremdes Licht», Luchterhand, 2020, 512 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-630-87551-4

«Fremdes Licht» ist eine virtuose Mischung aus Dystopie, Science Fiction und Abenteuerroman, den Michael Stavarič nicht einfach linear erzählt, den Überlebenskampf einer starken Frau, sondern in Rückblenden von Geschichte(n), der Geschichte der Inuit, der Geschichte ihrer Familie, der Geschichte eines untergegangenen Planeten. Im zweiten Teil des Romans erzählt Michael Stavarič das Zusammentreffen einer jungen Inuit mit dem norwegischen Entdecker Fridtjof Nansen, der mit seinem Schiff Fram nicht bloss den geographischen Nordpol erkunden will, sondern die Lebensart eines ganzen Volkes, das in einer scheinbaren Wüste aus Eis und Schnee nicht nur zu überleben weiss, sondern eine eigene, friedfertige Kultur entwickelte. Uki, die Nansen an seine Frau Eliane erinnert, neugierig und vom Kapitän des mit lauter Sonderbarkeiten beladenen Schiffes fasziniert, geht mit Mannschaft und Schiff mit auf die Reise nach Süden. Zuerst in den Hafen New Yorks, später mit einem Begleiter an die Weltausstellung von 1893 in Chicago, bei der alle Errungenschaften der Elektrizität den Besuchern als Tor zu einer neuen Epoche präsentiert werden. Uki wird zur Entdeckerin, nur von einer andern Seite, aus anderer Perspektive. Beinahe geschluckt von einer Welt, die sich im Rausch des Fortschritts im Spiegel sonnt, die sich mit Lichtgeschwindigkeit von der Welt entfernt, in der die junge Uki aufgewachsen ist.

atsanik (ᐊᑦᓴᓂᒃ), Nordlicht

Beide Geschichten, jene der Wissenschaftlerin Eliane Duval im 24. Jahrhundert und jene von Uki im 19. Jahrhundert, die Nansen an seine Frau Eliane erinnert, verbinden sich am Ende des Romans. Eines Romans, der mich als Leser in einen rauschhaften Zustand zog. Eine Geschichte, die Fiktion und Reales so gekonnt vermischt, dass man Lust bekommt, nachzulesen, über das Buch hinaus zu „forschen“. Sei es, wenn Michael Stavarič von der Sprache der Inuit erzählt, dem Leben auf der Fram, dem Schiff, mit dem man durch natürliche Eisdrift den Nordpol erreichen wollte, der Weltausstellung in Chicago, an der sich Tesla und Edison in ihrer Potenz duellierten oder vom Plan der Menschen irdisches Leben auf einer Art Arche auf einen anderen Planeten zu transportieren.

Wer „Fremdes Licht“ liest, fröstelt manchmal, sei es in Grönland an der Küste oder auf dem Exoplaneten Winterthur. Michael Stavarič hat die Kälte verinnerlicht und erzählt davon, dass weder Hitze noch Feuer, nicht einmal Wärme und Kraft das Leben in eisiger Kälte ermöglichen. Nur Leidenschaft und Hingabe. Grosse Erzählkunst!

Interview mit Michael Stavarič:

Zwei Frauen, zwischen denen ein halbes Jahrtausend liegt, beide in Schnee und Eis aufgewachsen. Sie beschreiben diese Leben, die Kälte, das Überleben auf das Wichtigste reduziert, als wären sie von einer langen Reise durch Grönland zurückgekehrt. Sie erzählen, als wären sie dem Volk der Inuit ganz nahe gekommen. Wie nahe?
Die Auseinandersetzung mit alten Kulturen interessiert mich seit je her, ich verorte im archaischen Wissen und Leben diverser Naturvölker so etwas wie „Wahrhaftigkeit“. Meine Auseinandersetzung mit dem Inuktitut (der Sprache der Inuit) und folglich auch mit dem kulturellen und sprachlichen Selbstverständnis dieser Völker erfolgte allerdings erst im Zuge der Romanrecherchen. Am Anfang stand die Faszination für die für mich futuristisch anmutenden Schriftzeichen, die Art und Weise der Metaphorik (Stichwort: das Wasser, das sich im Meer wie ein Fluss bewegt) – und diverse alte Reiseberichte.

itqujaq (ᐃᑦᖁᔭᖅ), lose im Meer umher irrende Schneeflocken, Quallen

Während man 1893 an der Weltausstellung in Chicago mit der „Weissen Stadt“ den endgültigen Sieg der Technik über das natürliche Leben feierte, die Elektrizität das Tor zu unbegrenztem Fortschritt sein sollte, schrammt ein halbes Jahrtausend später das, was von der Zivilisation übrig geblieben ist über das Eis eines fremden Planeten und zerschellt. Ist das eine Ikarus-Geschichte?
Man könnte das durchaus so interpretieren – zunächst schliesst sich ganz banal ein Kreislauf, wobei augenscheinlich ein neuer Zyklus beginnt (das vorangestellte Songzitat von Hooverphonic nimmt es vorweg: the end is always the start of a new episode). Der Fortschritt und die Zukunft bilden dabei stets den Widerpart zum archaischen, naturbelassenen Leben und der Vergangenheit. Was sich da genau aus dem Eis (nicht Asche) erhebt, darüber liesse sich jetzt wunderbar spekulieren. Es hat vor allem auch mit meinem allerersten Roman „stillborn“ zu tun, wo es eine Protagonistin namens Elisa gibt, die sich dem Element Feuer verschrieb und am Ende des Buches in einem Schneesturm verschwindet; jetzt muss man nur noch 1+1 zusammenzählen!

Sinnaliuqpuq (ᓯᓐᓇᓕᐅᖅᐳᖅ), versuch zu schla­fen, ganz egal, was der Frost auch im Schilde führt

Elaine Duvals Kampf ist ein Kampf gegen die absolute Einsamkeit. Ein Zustand, dem man höchstens dem Schwerkriminellen in Einzelhaft zutraut. „Fremdes Licht“, zumindest der erste Teil des Romans, ist eine Robinsonade ohne Hoffnung. Wie weit können Sie sich der Einsamkeit aussetzen?
Das erinnert mich an ein altes Filmzitat, das da lautet: Hoffnung ist etwas Gutes, und das Gute stirbt nicht! Die Einsamkeit setzt uns Menschen eklatant zu, vor allem deshalb, weil wir uns selbst nur durch andere Individuen als menschliche Wesen betrachten können. Fehlt dieser Kontext, verlieren wir auch unsere Menschlichkeit, gewiss auch im philosophischeren Sinne.

kiinarlutuq (ᑮᓇᕐᓗᑐᖅ), eine Frau, die ihr Trauergesicht wie ein Mahn­mal vor sich herträgt

Uki, die junge Inuitfrau, begegnet dem Forscher Fridtjof Nansen. Er nennt sie im Geheimen Elaine, nach seiner Frau, sie ihn Vogelmann, weil er ihrem Volk einen aufziehbaren Vogel präsentiert und der jungen Frau ein dickes Buch über die Welt der Vögel schenkt. Es verbindet sie eine scheue Liebe. Nansen ist Geschichte, Uki Fiktion. Ist ihr Roman die Liebesgeschichte von Geschichte und Fiktion?
Tatsächlich habe ich mich dafür entschieden, der historischen Figur von Fridtjof Nansen eine meiner Kreationen (Uki) vor die Nase zu setzen. Wobei mir auch sehr daran lag, mich ganz bewusst von der echten Historie zu lösen, man darf also bei weitem nicht alles für bare Münze nehmen, was ich Nansen hier als Wesenheit andichte. Wenn einander Genres innerhalb eines Werkes begegnen, so mag dies vielleicht manche überfordern – mich beflügelt dies. Da bin ich ganz bei den alten Universalgelehrten: Alles ist in allem, omnia in omnibus. Daher wohl auch das Enzyklopädische – pars pro toto – in diesem Buch.

An­ guta (ᐊᖑᑕᖅ), die Totensammlerin

Sie beschreiben eindrücklich, wie Uki langsam, in die von Zeit getaktete Welt der „Zivilisierten“ vordringt, bis an die Weltausstellung in Chicago, dem Tempel des Fortschritts. Uki als Entdeckerin, als Erobererin, die fast mit dem Leben bezahlt. „Fremdes Licht“ ist ein Roman über die Zeit, über die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, über Perspektivenwechsel. Wäre es nicht die Aufgabe eines jeden, wenigstens den Versuch zu starten, die begrenzte Sicht von einem Innen ins Aussen aufzubrechen?
Für Uki ist die Weltausstellung mit ihren Errungenschaften ein fremder Planet, der zugleich, bei aller Faszination, das Leben ihres Volkes bedroht. Ihre Nachfahrin Elaine wird im Grunde ihres ganzen Fortschritts entledigt und knüpft dort an, wo Uki einst in Grönland stand. Beide Figuren sind zweifelsohne Entdeckerinnen, Bewahrerinnen, Reisende, Suchende und – ja doch – Lichtträgerinnen. Wenn wir zum Himmel schauen und die Sterne bewundern, blicken wir in die ferne Vergangenheit und betrachten Dinge, die vermutlich gar nicht mehr existieren. Das Licht ist, wenn man so will, die sichtbare Zeit! Ich behaupte jetzt mal, es ist unsere Pflicht, über Grenzen hinweg zu denken, den Blick über den Tellerrand zu wagen und uns auf eine Reise zu begeben. Wenn man diese Schritte wagt, steht einem vieles (auch im eigenen Kopf) offen, nicht zuletzt auch die Abkehr von diversen Ängsten. Ich hoffe, meine beiden Protagonistinnen beweisen dies …

© Yves Noir

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Lehraufträge zuletzt: Stefan Zweig Poetikdozentur an der Universität Salzburg, Literaturseminar an der Universität Bamberg.

Beitragsbild © Yves Noir

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Michael Stavarič «Gretchen», Plattform Gegenzauber

Gleichwohl mich mit dem Fräulein Gretchen neuerdings wieder gelegentliche und im sommerlichen, ja sommerlichst sich gebärdenden Gastgarten vor sich hinplätschernde Gesprächsfetzlein verbanden, konnte dieser Umstand nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich keinerlei wie auch immer beschaffenen Boden gegenüber anderen herausgeputzten, geschniegelten und -striegelten Stammgästen gewann, im folgenschwereren, ja substanzielleren Sinne schien ich keinesfalls dazu erkoren, mich in Fräulein Gretchens Gunst über ein Mindestmaß an kalkulierten, einstudierten Höflichkeiten und sachtem, wenn nicht gar sachtestem Schultergeklopfe hinauszubewegen, wie wohl ich eine jede sich bietende Gelegenheit, freilich ohne den damit verbundenen Aufdringlichkeiten und Schlüpfrigkeiten, denen man als Mann in solcherart Situation leicht anheim zu fallen drohen könnte, zu ergreifen wusste, welche mein ungezügeltes Bestreben, dem Fräulein Gretchen in empfindsamer und gewiss doch amikalerer Weise näher zu sein, zu befördern vermocht hätte, und welches zu befördern ich mich insgesamt äußerst entschlossen zeigte, etwa im wiederholten Erwerb gelegentlicher Lottoscheine, Rubbellose und ähnlichen Strohhalmen, gar der ordinären Teilnahme an allerlei zum gewichtigen Teil mehr denn peinlichen Preisausschreiben, welche mich in die Position versetzen sollten, meine angespannte, pekunäre Lage zu stabilisieren, um dem Fräulein Gretchen ein obligatorisches Mindestmaß an Prunk und Komfort bei etwaigen mir vorschwebenden Unternehmungen anzudienen,

sie etwa zu einem mehrgängingen und -stündigen Essen in ein deliziöses Haubenlokal auszuführen, sie zu einer Landpartie oder entsprechend gelagerten Aktivitäten einzuladen, insbesondere nach ihrer unglücklich, gewiss unglücklichst verlaufenen Bindung und Scheidung vom vermeintlichen Traummanne, ein Umstand, der meine demütigen und zarten Avancen ohnedies für geraume Weile im Keim erstickte, freilich meine ich damit nicht etwa die überstürzte Trennung der einstigen Turteltäubchen, die mich aus einer ohnedies von Hinder- und unliebsamen bis unliebsamsten Vorkommnissen gepflasterten Bahn warf, selbstredend beziehe ich mich auf das vorschnelle, Hals über Kopf um- und mir in der Gaststätte vorgesetzte Heiratsgeplänkel, welches seinerzeit meinen fragilen Geist, diesen in pechschwarze und pechschwärzteste Löcher einer plötzlich über mir einstürzenden Gegenwart versenkend und ihn in Höllenglut ertränkend und schwenkend, regelrecht überrollte,

und doch ging es selbst nach einem solchen Lebensab-, ja eigentlich denkbar unerquicklichsten –einschnitt weiter, das Fräulein Gretchen tauchte, nachdem sie gut zwei Jahre von der Bildfläche verschwunden blieb, eines heiteren Tages erneut in meinem mir durch die überhastete Vermählung fortan durchwegs vergrämten, ja geradezu vergällten Stammlokal auf, nunmehr vom ehelichen Hafen und den damit verbundenen Pflichterfüllungslosungen losgeeist, allmählich und sukzessive  gesündere, ihr zuträglichere Gesichtsfarbe gewinnend oder sich zulegend, und unsere gelegentlichen Unterredungen nahmen nochmalig Fahrt auf, das Bier mundete mir tatsächlich auch wieder besser, wie wohl ich nicht hätte behaupten können, in jener schmählichen Unzeit, in der sich das Fräulein Gretchen verschwunden zeigte, weniger Alkohol konsumiert zu haben, doch trat ich meinen ungebrochen geregelten Gang in die Gastwirtschaft nunmehr abermals zügiger und leichteren Schrittes an, eines im Wesentlichen nicht unverdienten Tages sogar mit einem gewonnenen Preisausschreiben in der Hand wedelnd, einen luxuriöseren, dreitägigen Aufenthalt in einer Suite für zwei Personen in Hallstatt am gleichnamigen See im Hotel Grüner Baum hätte ich eingeheimst, es stand dort schwarz auf weiss protokolliert,

woraufhin ich das Fräulein Gretchen bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit hierzu invitierte, freilich unentwegt beteuernd, ja nahezu beeidigend, dass sie im Falle einer Zusage als Reisebegleitung selbstredend ein ganzes Gemach für sich allein zur Verfügung gestellt bekäme, ich selbst würde in besagter Suite schon noch ein Sofa oder anschmiegsames Kanapee auffinden, im geräumigen Vor- oder, wie bei begüterten, ja betuchtesten Gästen in solchen Etablissements üblich, Empfangsraum zweifelsohne, zur Not gäbe es gewiss auch zwei, drei schaumstoffgepolsterte und wohlparfümierte Liegen am Balkon, ich schliefe überaus gerne an der frischen Luft und wüsste auch sonst niemanden, den ich zu einer solchen Ausflugsfahrt und Sommerfrische hätte mitnehmen können, ich versicherte dies glaubhaft und in aller Ausführlichkeit, und bevor ich zu weiteren, noch umfangreicheren Schilderungen, An- und Lobpreisungen der Vorzüge jener noblen, grünbäumlichen Residenz und des unleugbar weltmännischen Aufenthaltes in Hallstat ansetzte, erwiderte sie freudig schnurrend, dass sie schon immer einmal die dortige, historisch unersetzliche Altstadt samt Beinhaus hatte auf- und besuchen wollen, und sie sich recht problemlos ein paar Tage in der Gastwirtschaft freinehmen könne, sofern ich dies nicht überall herumposaune, darüberhinaus sei sie sich gewiss, dass ich durchaus ein zwar legerer, allerdings restlos Gentleman sei, meine hervorquellende Belesenheit und grundsätzliche Pfiffigkeit käme ja nicht von ungefähr … was ich alles nicht mehr so im Detail wahrnahm, wo ich doch bereits in einer sich selten genug einstellenden Glückseligkeit schwelgte, meinen oft genug von widrigen und widrigsten Lebensumständen gepeinigten Geist darin tauchte, ich und das Fräulein Gretchen als künftige Reisegesellschaft, es war nicht auszudenken und demnach den vermaledeiten Preisausschreibungsfirlefanz und Lottoschwachsinn wert gewesen,

gleichwohl ich dieses spielsüchtige Verhalten bereits wochenlang stark in Zweifel gezogen und auf den auschweifenderen Alkoholkonsum zurückgeführt hatte, ich meine, als ob ich je vom Glück verfolgt oder sonstwie bevorzugt gewesen wäre, nichts und niemand hatte mir zeitlebens je etwas geschenkt, noch hatte ich jemals etwas Nennenswerteres gewonnen (einmal einen Kanarienvogel bei einer drittklassigen Tombola), vielmehr war ich misstrauisch beäugt und aufs Widerlichstwidrigste angemotzt worden, beinahe schien es mir wie von Sara Baume in ihrem Büchlein Die kleinsten, stillsten Dinge beschrieben, denn wo immer ich auch ging und stand, dort war es für gewöhnlich so, als würde ich gar nicht recht existieren, als befände ich mich auf der Oberfläche eines nur von Staub- und Giftmikroben bevölkerten Trabanten irgendeines vollkommen in Vergessenheit geratenen Planeten,

nicht einmal einen Raum-, vielmehr einen sterilen, antiseptischen Asbestanzug trug ich vorneweg, der mich in hinterhältiger und hinterhältigster Art und Weise vom übrigen Kosmos absendierte, der perfide, ja perfidest verbarg und ausdrücklichst negierte, was für eine liebenswerte Existenz ich an der Seite der richtigen Frau, ja in irgendeiner mir gewogener Umgebung, hätte sein können, anstatt mein unnützes, desperates Dasein in einem hermetischen Asbestanzug fristen zu müssen, welchen ich, wenn ich stampfend, schwankend und mit den Armen rudernd meinen Weg voranging, selbst nicht mehr gewahrte und mich wunderte, dass selbst gestandene Männer mit dichten Bärten und noch dickeren Bäuchen lieber in den Rinnstein auswichen, ihr Schuhwerk freiwillig in das dort nach Regengüssen lang sich sammelnde und noch länger stehende Schmutzwasser tunkten, ich meine, alles war den Menschen augenscheinlich lieber, als von mir und meinem Asbestanzug gestreift zu werden, und wer wollte und sollte es ihnen jemals verdenken, ein Phantom blieb ich durch und durch,

selbst wenn ich mich im diskontesten aller Supermärkte in eine Kassenschlange reihte, drückte die Kassiererin, wie auf direktem Befehl aus einer mir nicht einsehbaren Schalt- und Waltzentrale, auf die neben sich plötzlich übellaunig aufblinkende Klingel und verschwand zur Toilette, und selbst wenn ich mich an einem mickrigen, ja mickrigsten Spielplatz vorbeischleppte, gab es fast immer eine entrüstet ihre porzellanigen Nasenlöcher aufblähende Mutter oder irgendein pickelgesichtiges, zeterndes Au-Pair-Mädchen, das sich meine Visage einzuprägen versuchte, und säße ich erst im Automobil, sie würde sich das Kennzeichen aufnotieren, um mich bei der nächstbesten Gelegenheit einer zuständigen Behörde zu melden, und selbst wenn ich irgendwo über das Wasser schreiten oder ein noch größeres, wahrlich verfickteres Wunder vollbrächte, etwas mit Blitzen und Graupel zum Beispiel, würde man sich nicht die Zeit nehmen, mich auch nur zum belanglosesten Bewerbungsgespräch, etwa bei den innerstädtischen Wasser- und Elektrizitätswerken, einzuladen, selbst wenn ich, mit solchen und ähnlichen Gaben gesegnet, wahre Wunder an der Menschheit hätte vollbringen können,

und nun also die herandräuende Sommerfrische, ein kleines, feines, keinesfalls unverdientes Glück allemal, jedenfalls, die vor uns liegende Reise nach Hallstatt dürfte durchaus eine Kehrtwende in meinem Leben darstellen, gewiss eine spektakuläre, wenn nicht gar spektakulärste Abwechslung seit langem, ein mir mithin fremd gewordenes, beschwingtes Amüsement, freilich in allem gebotenen und vorab ausführlich definierten Rahmen, als wäre der unabkömmlich scheinende Asbestanzug schlagartig von mir abgefallen, als lägen die Fechtmasken, die sei je her mein Gesicht verdeckten, nunmehr am Boden, als zeigten sich die Fliegengitter vor meinen Facettenaugen von einem lichten Hoffnungsschimmer aufgeschlitzt und alle Fliegen, welche dahinter ihr Dasein hatten fristen müssen, schwärmten aus, dahin, in die luftigen, sorglosen Weiten meiner sich entfaltenden Wahrnehmung,

gleichwohl wir zunächst in einem restlos überfüllten Großraumwagen der österreichischen Bundesbahnen vergeblich nach einer Sitznische Ausschau hielten, welche sich unserer verschwitzter Häupter hätte annehmen können, und selbiges procedere nach der Ankunft am unscheinbaren, ja unscheinbarsten Bahnhof Hallstatt, der freilich selbst in Anbetracht des unfassbaren Gedränges ausreichend Lücken zwischen den ausströmenden Menschenmassen zuließ, vornehmlich eine Klientel  asiatischer Herkunft wohlgemerkt, die sich beflissentlich einen recht schmalen Pflasterpfad abwärts zum Seeufer wälzte, zu einer dort von Mückenschwärmen eingekesselten und geduldig vor Anker liegenden Fähranbindung, sodass uns in jenem Moment kaum anderes verblieb, als mit diesem Strome mitzuschwimmen, um sogleich in einer gut hundert Meter langen Warteschlange anzustehen, deren oberstes Ziel es zu sein schien, denkbarst schnell auf das Deck des tatsächlich viel zu klein wirkenden Fährgefährts zu gelangen, dessen hehre Aufgabe es sein würde, uns Passagiere, mittlerweile von starker Sonneneinstrahlung in Mitleidenschaft gezogen, überzusetzen, also ins selige, ja seligst wirkende Hallstatt zu transportieren, wohlgemerkt nach einer kurzweiligen Seequerung, die sich bald im wahrsten Sinne des Wortes als schändliche, ja schändlichste Sardinenfahrt entpuppte,

es ergo auch niemanden sonderlich zu verwundern brauchte, dass zwei der gefühlt achthunderneununddreissig asiatischen Mitmenschen an Bord (jener auf Hallstatt getauften Nusschale), welche ich in keinster Weise einer bestimmten Nationalität hätte zuordnen können, in all dem frenetischen Geschiebe und fanatischen Pre-View-Hallstatt-Gewimmele plötzlich ins blaugrüne Wasser abplumpsten, markerschütternd und entrüstet kreischend, radebrechend sich erzürnend, und wohl auch in mir unbekannten Landessprachen fluchend, ich meine, ausdrücklichst fluchend, wie man uns später seitens des kundigen Bordpersonals zuraunte, uns, mir und dem Fräulein Gretchen, den einzigen augenscheinlich weißhäutigen Daseinsformen am Schiffe, denen das Wort aufpudeln ein Begriff sein könnte, welches nämlich zuvor noch der Hallstätter Kapitän (samt beider Leichtmatrosen) in den Mund genommen hatte, di solln si net so aufpudeln, is jo nix gscheng,

was im Übrigen als Zwischenfall tatsächlich kaum einen der anderen Reisegäste davon abhielt, diverse technische Gerätschaften zu zücken und diese auf die Silhouette von Hallstatt auszurichten, klickende Fotoapparate und surrende Filmwürfel vornehmlich, doch selbst Drohnenexemplare wurden aus diversen Markentäschchen und –köfferchen unverzagt von der Leine gelassen, welche fortan wie hummelbäuchige Flugknäuel vom Schiff aus auf Hallstatt zupreschten, um ihren jeweiligen Eigentümern die exklusivsten Luftbilder und Luftblickwinkel auf das altehrwürdige Stadtgemäuer zu gewähren, wohingegen die angenervte Mannschaft, die beiden Unglücksraben inzwischen aus den Fluten bergend, ihre Berufswahl spontan in Frage stellte, nichts desto trotz einen Mann mittleren Alters und eine jüngere Frau erretend, welche die überhandgenommene und munter drauf los grassierende Teilnahmslosigkeit der anderen Mitreisenden nicht fassen und darob nur die Köpfe schütteln konnten, man verfrachtete sie auch lieber unverzüglich unter Deck, flösste ihnen aus einer ausgebeulten, wenn nicht gar der ausgebeultesten Thermoskanne, die ich je gesehen hatte, etwas Flüssigkeit ein, und setzte die Fahrt alsdann fort, nicht ohne via blechernst knisternder Bordlautsprecher endlich darauf zu bestehen, dass das Aussetzen und die Inbetriebnahme von Drohnenluftvehikeln vor, in und über Hallstatt unter Strafe und behördlich verboten sei,

was freilich niemanden weiter zu bekümmern schien, mag auch sein, der im breiteren, salzkammergutschen Dialekt vorgetragene und in ein holpriges, ja holprigstes Englisch übertragene Appell blieb zum Leidwesen der sich echauffierenden, nautischen Verantwortlichen unverständlich, womit die gut fünfzehn gestarteten Quadrocopter erst nach dem Anlegemanöver und beim allmählichen Verlassen des Schiffes wieder zur Landung genötigt werden konnten, all dies freilich bereits unmittelbar vor der Hallstätter Promenade mit ihren altehrwürdigen Kirchtürmen, was das Fräulein Gretchen kurzum darüber mutmaßen ließ, ob wir nicht bei unserem Aufenthalt ein vermehrtes Augenmerk auf diverse Flugroboter richten sollten, nicht, dass uns eines dieser Ungetüme noch auf die Köpfe stürze, nicht, dass dieses auch den hübschen Postkartenhimmel mit sich reisse, fügte ich augenzwinkernd hinzu, allemal schien jedoch vieles darauf hinzudeuten, die Augen offen zu halten,

was wir auch nach dem Bezug unserer Zimmersuite im lieblichen, ja durchaus lieblichsten Hotel Grüner Baumbeherzigen sollten, wohlgemerkt nach einer äußerst harmonisch verlaufenen Zimmeraufteilung vor Ort, das Fräulein Gretchen logierte im lichtdurchfluteten Balkongemach in einem großflächigen Doppelbett, ich wiederum bettete mein Haupt gut situiert auf ein äußerst formidables und sich tatsächlich gut in die weiteren Räumlichkeiten einfügendes Kannapee im Foyer, einem entspannten Miteinander stand sogesehen nichts im Wege, und wir zogen unmittelbarst wieder los, um uns die holprigen Gassen und Gässchen des pittoresken, wenn nicht gar pittoreskesten Städchens des Salzkammergutes zu erschließen, das Fräulein Gretchen erstrahlte merklich über das ganze Gesicht und verfiel allmählich in eine mir bis dato bei ihr unbekannte, wildfremdeste Urlaubsstimmung, derer ich im üblichen Biotop des Gaststättengastgartens freilich nie gewahr geworden war, und dies auch schwerlich jemals werden würde,

frei nach den Schriften Michael Ondaatjes in seinem mir nur ansatzweise geläufigen Werk Kriegslicht, wonach ein Fisch, der sich im Schatten tarne, nicht mehr ein Fisch, vielmehr bloß ein Teil einer Landschaft sei, was allerdings auch linkisch-triste Gedankengänge in meinen Ganglien auf den Plan rief, welchen zufolge das Fräulein Gretchen in der mir wohlvertrauten Gaststätte gleichermaßen kein eigentliches Individuum darstelle (und auch nie dargestellt hatte), vielmehr handele es sich dort bei ihr um eine Art gegenständliches Interieur einer interaktiven Bewirtungsmaschinerie, deren Tarnung als Servierkraft eine zutiefst verfluchte Existenz kaschiere, welche ich bislang so nicht zu be- und greifen gewusst hatte, wo ich mich doch, wie die anderen in ihrer Wahrnehmung eingeschränkten und limitierten Schnapsbrüder, vornehmlich mit mir und meinen Eigenheiten auseinandersetzte, in vom unmäßigen Alkoholkonsum eingetrübten Landschaften wandelte und solche in einen unübersichtlich werdenden Makrokosmos zu verwandeln wusste, von Fischen und allem rührig Kreatürlichen längst keine Spur mehr darin,

vielleicht mit der Ausnahme von in mich regelmäßig nahezu willkürlich hineinlaufenden und sich zwischen und unter den Hosenbeinen verwickelnden Hunden, deren Zick-Zack-Laufwege ich niemals doch, selbst im enthaltsamsten Zustande, abzuschätzen wusste, und die sich einen diebischen Spaß daraus zu machen schienen, mich in gefährliche Schieflagen zu manövrieren, womit ich ein jedes Mal, die Umstände anprangernd und über diese ausgiebigst lästernd, an Wölfe in fernen Wäldern denke musste, die sich seit je her in geraden, ja geradesten Linien aufmachten, sie spurten und waren in ihren Fährten eben dadurch von einem jeden Hund unterscheidbar, der in seinem unsteten Stöckchenholdasein seine Degeneriertheit hinlänglich durch die Art der Fortbewegung dokumentierte,

doch blieb keine Zeit mehr, um mich weiter mit dieser fast schon philosophischen Misere auseinanderzusetzen, weil mich das Fräulein Gretchen kurzum wie eine nicht allzuschwere und bereits etwas vergilbte Einkaufstasche um ihren vom Serviergehoppse gestählten Unterarm ge- und eingehängt hatte, sie zog mich unversehens wie ein zielstrebiger Raubfisch vulgo Wolf auf direktestem Wege zur katholischen Pfarrkirche Maria am Berge und seinem hinlänglich bekannten Beinhaus, welches zu meinem Erstaunen, von keinerlei Menschenmassen bestürmt, förmlich auf uns zu warten schien, in trauter Zweisamkeit traten wir nach der Entrichtung eines unwesentlichen Obolus in das der sommerlichen Hitze trotzende Gemäuer, zwei durchwegs beherzt Lebende, fortan ein Weilchen vor den blanken Augenhöhlen der ruhenden Toten schaulaufend, auf und ab die bunt bemalten Schädelreihen musternd, dort das Eichenlaub als Zeichen des Ruhmes, hier der Lorbeer als Zeugnis des Sieges, ein wenig Efeu noch als Symbol des Lebens und natürlich die obligaten Rosenblüten, oppulent aufgemalte Pflanzengärten zur Veranschaulichung einer ewig währenden und über den Tod sich erhebenden und bestehenden Liebe, womit die auf leisen Pfoten sich anschleichende Vorstellung, den eigenen Kopf auf die eingelagerten, säuberlich in einer Formation dämmernden Schädel abzulegen, nahezu ein Gebot der Stunde darzustellen schien.

(Textstudie zu einem neuen Romanprojekt, das aus nur einem Satz bestehen soll)
 

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Lehraufträge zuletzt: Stefan Zweig Poetikdozentur an der Universität Salzburg, Literaturseminar an der Universität Bamberg.

Rezension zu «Fremdes Licht» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Yves Noir