Zwei Stunden Feinkost! Literaare lädt ein zu «Stimmen von Thun»

Daniel Mezger, Meral Kureyshi, Demian Lienhard, Giuliano Musio, Elio Pellin, Regula Portillo, Laura Vogt und Benjamin von Wyl. Wenn bei all den Namen etwas auffällt, dann ist es das Alter, die Zuversicht, die aus der jungen Generation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern wirkt und die ungebremste Lust aller Widrigkeiten zum Trotz an die Wirkung der Literatur nicht nur zu glauben, sondern sie erhobenen Hauptes hinauszutragen.

Ich mag Häppchen. Aber wenn mir der Teller weggenommen wird, während ich geniesse, wenn man mir gar befiehlt, den Raum zu wechseln für das nächste Häppchen, dann schwindet die Freude am Häppchen, am Genuss in Gesellschaft. «Stimmen von Thun» lädt im 20-Minuten-Takt zu Kurzlesungen ein; ein paar Erläuterungen, 10 Minuten Lesen, ein paar Fragen und dann peitscht einem ein Handyton zur nächsten Kurzlesung. 

Mathilda ist ein kleines Mädchen. Ihr alleinerziehender Vater stirbt. Und obwohl Mathilda vom schwulen Bruder ihres Vaters liebevoll aufgenommen wird, dort auch ihre Trauer ein Zuhause findet, veranlassen Ämter, dass Lucía, Mathildes Mutter in Mexiko, die bisher keine Rolle spielte, Mathilda zu sich nach Mexiko nimmt. Welten zerbrechen, nicht nur die von Mathilda, auch jene ihres Onkels Tobias. Regula Portillo las aus ihrem feinfühligen Roman «Andersland«.

Drei miteinander und ineinander verwobene Geschichten, die Flüchtlingskrise in Berlin. Alle Figuren in Daniel Mezgers Roman «Alles außer ich» sind in Fluchtbewegung, wenn auch nicht aus Kriegsgebieten, dann mit Sicherheit vor sich selbst. Von einem Mann, der aus seiner Bedeutungslosigkeit ausbrechen will, einem Durchschnittsmeier, der nicht nur Hans Meier heisst, sondern die Verkörperung dieses Namens ist.

Tintenfische in Wasserflaschen, Krabben in Folie, Libellen in einer Schachtel, Quallen plattgedrückt in einer Metalldose. Giuliano Musio tut mit Lust, was Schriftsteller dürfen und sollen; erfinden, lügen. So weit, dass Bern ein Buch lang auch mal am Meer liegen kann. Giuliano Musios Roman «Wirbellos» ist eine Mischung aus Realität und Surrealität, die zeigt wie lustvoll man in die Irre geführt werden kann. «Wirbellos» ist Literatur mit viel Rückgrat!

Dem Team; Tabea Steiner, Céline Tapis, Anna-Daria Kräuchi, Julia Schnider, Leonora Schulthess und Benjamin Schlüer Geburt mein grosser Dank! Lang lebe Literaare!

 Illustrationen © leafrei.com

Literaare – Ein mutiges Festival in Thun

Im Frühling hätte das Festival stattfinden sollen und musste wie so viele andere abgesagt werden. Aber als einziges Schweizer Literatur-Festival, das mir bekannt ist, wagt Literaare in Thun einen Restart. Nur schon deshalb sollte der Mut der VeranstalterInnen belohnt werden, garantieren doch die Vorgaben des BAG maximal möglichen Genuss.

Eröffnet wird das Festival am Freitag, den 25. September von der Grand Dame der Schweizer Literaturszene. Mit Ruth Schweikert, die 2016 sowohl den Schweizer Literaturpreis wie den Solothurner Literaturpreis gewann und schon mit ihrem ersten Roman «Erdnüsse. Totschlagen» mehr als nur auf sich aufmerksam machte, mischt sich eine wichtige Stimme ein – in die Kulturszene genauso wie in die Politik. 2020 veröffentlichte sie zusammen mit Eric Bergkraut einen Film, eine «etwas andere Homestory einer Künstlerfamilie» mit dem Titel «Wir Eltern». Ruth Schweikert bringt ihren Roman «Tage wie Hunde» mit ans Festival, einen Roman, in dem sie sich auf formal experimentellen Wegen sowohl erzählerisch wie essayistisch mit ihrer Krebserkrankung auseinandersetzt. Ein Buch, das weit mehr ist, als eine Nabelschau, viel mehr ein literarisch mutig, wilder Ritt durch die eigene Körperlichkeit.

Am darauffolgenden Samstag und Sonntag geben sich grosse und kleine Namen die Klinke. So liest Christoph Geiser, ein Urgestein in der CH-Literatur aus seinem bei Sezession erschienenen Erzählband «Verfehlte Orte». Christoph Geiser, der seit einem halben Jahrhundert schriftstellerisch wirkt und dafür 2020 endlich mit dem Schweizer Literaturpreis die gebührende Anerkennung erfuhr, ist Erzähl- und Fabulierkünstler. Ein Autor, der sich nur schwer fassen lässt, sich dauernd neu erfindet.

Andere grosse Namen gehören einer ganz jungen Generation. So lesen Simone Lappert aus ihrem Roman «Der Sprung», mit dem sie sich einen Platz in der Shortlist des Schweizer Buchpreises 2019 verschaffte, Laura Vogt aus ihrem Gesellschaftsroman «Was uns betrifft» oder die jungen deutschen Schriftstellerinnen Kirstin Höller (1996), Miku Sophie Kühmel (1992) und Svenja Gräfen (1990), drei junge Stimmen, die mit ihren Themen den Nerv der Gegenwart treffen. Neben noch vielen anderen Stimmen eine Wand aus kraftvollen Erzählerinnen!

Ganz besonders freue ich mich auf das Format «Skriptor», das im Rahmen der Solothurner Literaturtage von AutorInnen entwickelt wurde. Es stellt Fragen, die die schriftstellerische Tätigkeit bestimmen. Am öffentlichen Werkstattgespräch kann sich das Publikum miteinbringen. Ein Format, das zeigt, wie tief die Auseinandersetzungen mit Sprache, Text, Form und Inhalt reichen können. Dabei stellt sich der Schriftsteller Demian Lienhard, der mit seinem Debüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» für Furore sorgte, mit einem noch unveröffentlichten Textausschnitt. Es diskutieren 5 SchriftstellerInnen und Mutige aus der Runde der Lauschenden.

Bereits auf literaturblatt.ch besprochen und auf dem Programm des Thuner Literaturfestivals «Literaare»:
«Der Sprung» von Simone Lappert
«Was uns betrifft» von Laura Vogt
«Hier sind Löwen» von Katerina Poladjan
«Andersland» von Regula Portillo

Warum in diesen Zeiten ein Festival besuchen? Wer sich an die Regeln hält, geht kein Risiko ein. Und die Literatur braucht die Begegnung, all die Lesenden, die sich nicht bloss zur Unterhaltung mit Büchern versorgen. Ein solches Festival ist ein Zeichen; ein Zeichen für die Kunst, für all jene, denen seit dem Frühjahr das lebensnotwendige Publikum weggebrochen ist.
Seien Sie dabei!

Regula Portillo «Andersland», edition bücherlese

In Zeiten globaler Katastrophen, ob virus- oder klimabedingt, verliert sich der Fokus auf die kleinen Katastrophen, die für Betroffene ein ganzes Leben nicht nur beeinflussen, sondern dominieren. Regula Portillo schrieb mit „Andersland“ einen Roman über das Auseinanderbrechen von Familien und wie sehr eine andere Epidemie, die in den letzten drei Jahrzehnten über 30 Millionen Tote forderte, das Leben nicht nur der Direktbetroffenen zerreissen kann.

Pascal lernt in Mexiko Lucía kennen. Lucía wird schwanger, will das Kind in ihrer Not aber nicht zur Welt bringen. Pascal setzt sich durch, das Mädchen Matilda kommt zur Welt und Pascal nimmt es mit in die Schweiz. Keine einfache Aufgabe für einen alleinerziehenden Vater. Aber Tobias, sein Bruder und dessen Lebenspartner Michael unterstützen Tobias und Matilda wächst in den ersten sieben Jahren wohlbehütet in der Fürsorge der beiden Brüder auf.

Bis Pascal an seinem Arbeitsort zusammensackt und ein Herzinfarkt Matilda zur Halbwaisen macht. Pascals Bruder Tobias setzt alles daran, dass Matilda bei ihm und Michael aufwachsen, in ihrer kleinen Welt bleiben kann. Aber Lucía in Mexiko erfährt vom Tod ihres einstigen Geliebten. Verschüttete Muttergefühle werden wach und Lucía setzt alles daran, dass Matilda bei ihr in Mexiko ein neues Zuhause findet, eine Familie, einen kleinen Bruder, einen sicheren Hafen.

„Wenn du nicht sprichst, ist die Stille zu laut“, sagte Matilda heute beim Abendessen, als ich müde und deshalb nicht sehr gesprächig war. (24. 6. 1984)

Aber auch Tobias setzt alles daran, dass das kleine, vaterlose Mädchen, das er in den ersten sieben Jahren wie eine eigene Tochter lieben lernte, das untrennbar in sein Leben gehört, bei ihm und Michael bleiben kann. Aber weil in den 90ern die Angst vor AIDS grassiert und man dem schwulen Paar den amtlichen Segen verweigert, gemeinsam das Kind aufziehen zu dürfen, fliegt Matilda mit der fremden Mutter nach Mexiko, in eine fremde Familie, ein fremdes Land mit einer fremden Sprache. Zurück bleiben gebrochene Herzen. Jenes von Matilda, das den Schmerz wie einen Kloss mit sich durch ihr Leben trägt und jenen von Tobias, dem nicht nur eine liebgewordenene Nichte entrissen wurde, sondern dem man amtlich das Recht verweigerte, das Sorgerecht für die Tochter seines toten Bruders zu erkämpfen. 

Regula Portillo «Andersland», edition bücherlese, 2020, 272 Seiten, 30.90 CHF, ISBN 978-3-906907-30-7

Regula Portillo beschreibt in ihrem zweiten Roman die Auswirkungen dessen, was die Entwurzelung der kleinen Matilda in den Leben in Mexiko und der Schweiz auslöst. Lucía versucht alles, um dem Mädchen ein gutes Zuhause zu schenken. Ihr Mann Fabio behandelt das Mädchen ebenso herzlich wie die Grosseltern. Und doch fällt Matilda der Start im neuen Leben schwer. Der Knoten bleibt, entwirrt sich nie, zieht sich im Mädchen phasenweise nur noch heftiger zusammen, vor allem Jahre später, während der Pubertät und noch später, als die erwachsen gewordene Matilda selbst spürt, dass ihr in Beziehungen die Nähe schnell beengend wird.
Gleichzeitig schliesst sich die offene Wunde, die der Abschied von Matilda hinterliess, bei Tobias nie. Tobias stürzt sich in den Kampf, sein politisches Engagement für die Rechte Homosexueller, nicht zuletzt jenes, selbst Familie sein zu dürfen. In den 90ern, als in der Gesellschaft die kollektive Angst vor AIDS grassierte, galt jede Berührung mit Menschen dieser Risikogruppe als Bedrohung. Schwule standen unter Generalverdacht, Träger einer hochansteckenden Krankheit zu sein. So konnte auch ein siebenjähriges Mädchen unmöglich bei einem schwulen Paar aufwachsen.

Unter den wenigen Dingen, die Matilda in ihr neues Leben in Mexiko mitnimmt, ist ein rotes Büchlein, in das Pascal, ihr Vater, kleine Episoden wie in einem Tagebuch hineinschrieb. Ein Büchlein, das ihr verschlossen bleibt, weil sie in den Jahren nach ihrem Neubeginn auf der andern Seite des Ozeans die Sprache ihrer Kindheit vergisst. Nur ein paar wenige Fotos bleiben, auch wenn die damit verbundenen Erinnerungen immer blasser werden.

Regula Portillo erzählt ganz behutsam. Sie trennt nicht auf, ordnet nicht in Gut und Böse. Lucías Leben nimmt seine Richtung nicht, weil Lucía die Richtung wählt, sondern weil man sie stösst und drängt, zwingt und weitgehend alleine lässt. Genauso das Leben von Matilda, das Leben von Tobias, ihrem Onkel in der Schweiz. Bleibt die Frage, ob man es schafft, den Knoten zu lösen, den Kloss freizulegen. „Andersland“ ist ein Roman über das verlorene Glück.

Interview mit Regula Portillo:

Ganz am Schluss des Buches steht unten auf einer sonst leeren Seite: „Vielen Dank Veronica, dass ich mich von deiner Geschichte inspirieren lassen durfte.“ Können Sie etwas über die Entstehungsgeschichte Ihres Romans erzählen?

Veronica steht ganz am Anfang dieser Geschichte. Wir haben uns kennengelernt, als wir beide acht Jahre alt waren. Kurz davor war ihr alleinerziehender Vater gestorben. Sie wohnte deshalb vorübergehend bei einer Pflegefamilie im Dorf, wo ich aufgewachsen bin, und wartete darauf, von ihrer Mutter, die im Ausland lebte, abgeholt zu werden. Eigentlich wäre Veronica lieber in der Schweiz bei ihrem Onkel geblieben. Diese Ausgangslage hat mich nie ganz losgelassen – wobei ich nicht weiss, ob die Ausgangslage, so wie ich sie schildere, überhaupt der Realität entspricht. Ich war ja noch sehr klein damals. Veronica und ich haben uns daraufhin aus den Augen verloren; erst vor ein paar Jahren haben wir den Kontakt zueinander wieder aufnehmen können. Ich habe ihr von meinen Erinnerungen an sie erzählt und von Matilda, der Protagonistin in Andersland. Ihre beiden Lebenswege sind natürlich sehr unterschiedlich verlaufen und doch gibt es einige Überschneidungen. Der Verlust der deutschen Sprache zum Beispiel.

Matilda verliert ihren Vater mit sieben. Ihr Onkel tröstet sie: „Er wartet anderswo auf uns.“ Verständlich. Im jenseitigen „Andersland“. Aber Ihr Roman erzählt auch vom diesseitigen „Andersland“, einer neuen Heimat, einem neuen Zuhause, wo alles anders ist. Auch vom „Andersland“ der Erinnerungen, die sich wandeln, die verblassen, die verklären. Ein schöner Titel! Wie sind Sie auf ihn gestossen?

Ursprünglich wollte ich Tobias und Michael miteinander über den fragwürdigen Ausdruck «vom anderen Ufer sein» reden lassen. Doch unabhängig davon, dass die Szene so nicht im Buch erscheint, war mir Ufer vom Bild her zu schmal, es sollte grösser, weiter sein – ein Stück Land, das auch positiv besetzt, erobert und gestaltet werden kann. Daraus entstand «Andersland». Es gefällt mir, dass Matilda, die so sehr zwischen die Welten fällt und zeitenweise verloren ist, diesen Ort schon als Kind zu ihrem eigenen erklärt. Obwohl damit auch viel Schmerzhaftes verbunden ist. Es ist ein Ort, an dem ihre verschiedenen Welten, Erinnerungen und Lieblingsmenschen Platz finden und keinen Normen entsprechen müssen.

AIDS schien vor dreissig Jahren apokalyptische Ausmasse anzunehmen. Heute scheint man sich mit dieser Epidemie arrangiert zu haben, obwohl in Deutschland beispielsweise noch immer jährlich 600 Menschen an den Folgen der Immunsystemzerstörung sterben. Wollten Sie eine globale Katastrophe in Erinnerung rufen?

@ Ayse Yavas

Ja. Aids hat sehr viel Leid angerichtet und ist auf jeden Fall ein Thema, das nicht in Vergessenheit geraten darf. In der Generation meiner Eltern kennen die allermeisten jemanden, der daran gestorben ist. Problematisch war ja nicht nur die Krankheit an sich, sondern auch die Stigmatisierung, die damit verbunden war – bzw. bis heute ist. Lange Zeit war von «Sex-Seuche» oder «Schwulenkrankheit» die Rede. Positiv war, dass Schwulenverbände und die staatlichen Gesundheitsbehörden früh zusammenspannten, um die beispiellose Aufklärungs- und Präventionskampagne «STOP AIDS» zu lancieren. Ich glaube nicht, dass jemals eine andere Kampagne so viele Menschen erreicht und geprägt hat. Dadurch hat eine Annäherung stattgefunden, die gesellschaftlich sehr bedeutend ist. Es ist auch dieses Momentum, das ich festhalten wollte: Wie selbst die schlimmste Katastrophe eine Chance bietet.

Matilda wird im Moment ihrer „Umsiedlung“ nie nach ihrer Meinung gefragt, jedenfalls nicht von den Entscheidungsträgern. Sie wird wie ein Gegenstand nach Mexiko verfrachtet und in ein neues Leben hineingestellt, abgestellt. „Zum Wohle des Kindes“ wird zum Wohl ausgewählter Erwachsener, um dem Gesetz zu genügen. Ein ewiges Dilemma? Nehmen wir Kinder zu wenig ernst?

Ein Dilemma, ja. Nach dem Tod von Matildas Vater gibt es zwei Entscheidungen, bzw. Verfügungen, in die Matilda nicht miteinbezogen wird. Zuerst entscheidet das Jugendamt, dass Tobias aufgrund seiner sexuellen Orientierung nicht für Matilda sorgen darf. Für Matilda, aber insbesondere für Tobias ist das ungeheuerlich. Matildas Wunsch, bei Tobias leben zu dürfen, hätte unbedingt berücksichtigt werden müssen. Weniger eindeutig ist es danach, als Matilda von ihrer Mutter nach Mexiko geholt wird. In den meisten Fällen spricht vieles dafür, dass das Kind nach dem Tod eines Elternteils beim anderen Elternteil leben kann. Auch bei Matilda. Zumal sich Lucía ja auch sehr ernsthaft bemüht, Matilda eine liebevolle Mutter zu sein. Lucías Fehler ist, dass sie Matildas Vergangenheit keinen Platz einräumt.

Ob Kinder generell zu wenig ernst genommen werden, finde ich schwierig zu beantworten. Ich denke, dass sich auf dieser Ebene schon auch viel verändert hat und die Bedürfnisse und Wünsche von Kindern – auch in Extremsituationen – stärker gewichtet werden als früher. In der Regel haben Kinder innerhalb der Familien heute mehr Mitspracherecht als zu Zeiten, in denen meine Eltern und Grosseltern Kinder gewesen sind.

Lucía leidet ein Leben lang, Matilda genauso, Tobias ihr Onkel auch. Einziges Mittel gegen dieses Leiden ist die Versöhnung. Nicht zuletzt die Versöhnung mit sich selbst. Und Versöhnung funktioniert nur über die Sprache, über das Sprechen. Das tägliche Brot aller TherapeutInnen. Millionen leiden unter dem Zwang der Menschheit, alles in die zwei Schubladen „weiblich“ und „männlich“ zu spalten. Versöhnen wir uns tatsächlich oder öffnen sich mit jeder Versöhnung nur neue Türen zu dunklen Räumen?

Versöhnung hat auch mit Verständnis zu tun; dem Willen und der Möglichkeit, sich in die Schuhe des Anderen hineinzuversetzen. Es ist zum Beispiel leicht, die eigenen Eltern zu kritisieren – bis man selber Kinder hat und merkt, was es bedeutet, vollumfänglich für einen kleinen Menschen verantwortlich zu sein. Die eigenen Themen und Abgründe lösen sich durchs Elternsein ja nicht einfach auf.

Ich denke, Versöhnung und Akzeptanz liegen nah beieinander. Habe ich eine Situation akzeptiert, werde dann aber aufs Neue mit ihr konfrontiert, können da durchaus wieder Türen zu dunklen Räumen aufgehen. Habe ich mich aber wirklich mit mir, der Situation, einem anderen Menschen oder dem, was passiert ist, versöhnt, bin ich davon befreit – so hoffe ich es zumindest.

Vieles wäre einfacher, wenn wir uns von unseren starren Geschlechter-, Rollen- und Familienbildern verabschieden könnten. Warum sollte beispielsweise Tobias nicht für ein Kind sorgen dürfen? Dass er es kann, hat er ja längst bewiesen. Oder warum ist die Wahrnehmung eine ganz andere, wenn sich eine Frau gegen ein Kind ausspricht als wenn ein Mann dasselbe tut? Sich von den gesellschaftlichen Erwartungen bezüglich unserer Rollen, die wir selber ja auch verinnerlicht haben, zu befreien, ist keine einfache Sache. 

Regula Portillo, geboren 1979, wuchs im Kanton Solothurn auf, studierte Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Fribourg und Buch- und Medienpraxis an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie lebte und arbeitete mehrere Jahre in Nicaragua, Mexiko und Deutschland. Für ihr Schaffen hat sie Förder­preise und Werkbeiträge von Stadt und Kanton Bern und dem Kuratorium für Kultur­förderung des Kantons Solothurn erhalten. 2017 ist ihr ­erster Roman «Schwirrflug»­ erschienen. Seit 2018 lebt sie mit ihrer Familie in Bern und ­arbeitet als Texterin in einer Kommunikationsagentur.

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Beitragsfoto © Ayse Yavas