Die Würfel sind gefallen! #SchweizerBuchpreis19/12

Ich gratuliere Sibylle Berg als Schweizer Buchpreisträgerin 2019. Ich gratuliere ihr zu ihrem Buch, ihrem Schreiben, weil sie es durch Sprache und Erzählen schafft, viel mehr als bloss Geschichten zu transportieren. Ich gratuliere ihr zu dieser Kraft, die aus dem Buch entströmt, dass sie sich mit jedem Buch neu erfindet, ihrem Bestreben, mit ihrem Schreiben nicht nur sich selbst und ihren LeserInnen schmeicheln zu wollen.

© Lea Frei

Nun ist der Preis aber auch schon wieder Geschichte. Andere Preise in der Literatur hallen noch immer nach, wenn auch nicht durch die prämierte Literatur, sondern in der Wirkung, die sie auslösen. Es ist zu bezweifeln, dass durch die Schlacht, die nach der Nobelpreisverleihung medial ausgetragen wurde, jemand beginnt, die Bücher von Peter Handke zu lesen.

Vergiften Wettbewerbe die Literatur? Oder den Literaturbetrieb? «Literatur bewegt!», meinen die einen. «Kunst ist nicht deren Wirkung!», mahnen die andern.
Wie sollen Bücher mit anderen gemessen werden? Wie soll aus der schieren Menge an Veröffentlichungen, nach welchen Kriterien auch immer, ein einziges auf ein Podest gehoben werden, um dieses als Sieger zu küren?

Sibylle Bergs Roman «GRM Brainfuck» steht auf diesem Podest. Ivna Žic, Tabea Steiner, Simone Lappert und Alain Claude Sulzer blieben bei der Preisverleihung in der ersten Reihe sitzen, mehr oder weniger gefasst. Gerechtfertigt? Ist «GRM Brainfuck» nun der beste Roman, der irgendwie mit der Schweiz in Verbindung gebracht werden kann? Es ist müssig darüber zu diskutieren. Die Jury hat entschieden, Sibylle Berg ihr Preisgeld und den Blumenstrauss, ihren Platz in der illustren Liste der PreisträgerInnen und die Gewissheit, dass dieses eine Buch sich dank der medialen Aufmerksamkeit besser verkaufen lässt. Besser verkaufen? I wo! Wer bei Verlagen nachfragt, staunt!

Lässt sich Kunst vergleichen? In einen Wettbewerb setzen? Niemand vergleicht den Maler Gerhard Richter mit Fischli / Weiss. Niemand Anne-Sophie Mutter mit Nora Jones, Brad Pitt mit Martina Gedeck. Wer glaubt schon wirklich, den besten Film des Jahres zu sehen, wenn man der Oscarjury folgt.
Wer mit Ambitionen wettkampfmässig schwimmt, will Bestzeiten, im Wettbewerb gewinnen. Aber Literatur wird nie in ein Raster passen, in dem «objektiv» verglichen werden kann. Literatur muss sich nicht in einem Wettbewerb beweisen, bloss durch Relevanz. Und diese wird nicht durch Wettbewerbe bewiesen, nicht einmal durch die Verkaufszahlen eines Buches. Literatur muss nichts, nur überzeugen, schon gar nicht «besser» sein. Literatur ist Sprache. Und alles, was in Sprache messbar sein könnte, verflüchtigt sich, wenn einem bewusst ist, dass SchriftstellerInnen, DichterInnen KomponistInnen sind: an Sprache, an Klang, Dramaturgie und Konstruktion, Raffinesse und Überraschung.

Sibylle Berg hat ihn verdient, ihr Roman hat mich überzeugt. So wie mich in diesem Jahr alle Bücher auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises in ihrer ganz speziellen Art überzeugten. Ein guter Jahrgang.
Aber niemand kann so sehr auf einen solchen Wettbewerb verzichten, wie die Literatur selbst.

Ist ein solcher Wettbewerb «Leseförderung für Erwachsene»? Verkaufsförderung für den Buchhandel? Publizität für gewissen Köpfe im Literaturbetrieb (meiner eingeschlossen)? Reicht es, die Webseite schweizerbuchpreis.ch zu starten, einer Jury die Bücher zuzuschanzen, die ShortlistautorInnen auf Lesereise zu schicken? Eine medial unterstützte Show im Foyer des Theaters in Basel mit Musik, Blumen, vollen Gläsern, Häppchen und wohl gewählten Worten zu organisieren? Wieviel ist uns eine «Schweizer Literatur» wert? Gibt es diese überhaupt?

© Benjamin Koechlin

Ich gratuliere Sibylle Berg zu ihrem Titel als Schweizer Buchpreisträgerin, für ihr Buch. Aber vielmehr für ihren Fleiss, ihre Akribie, ihre Frische, ihren Mut und den ganz eigenen Sound.
Aber noch mehr all den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Dichterinnen und Dichter, die mir mit jedem Buch, mit jeder Veröffentlichung beweisen, dass Welt nicht nur an Oberflächen passiert. Den Verlagen, vor allem den kleinen, die unerschrocken, tapfer, selbstlos und voller Enthusiasmus Buch um Buch auf die Verkaufstische zu bringen versuchen, jedes Mal davon überzeugt, eine Perle aus der Muschel gebrochen zu haben. Den unabhängigen Buchhandlungen, die weit mehr sind als Verkaufsstellen, die sich mit Herzblut und grossem Wissen um das Kulturgut Buch bemühen.

Kennen Sie die Kurzprosa von Christine Fischer im Orte Verlag? Die Prosa von Dragica Holzer Rajćić im Verlag Der gesunde Menschenversand? Die kunstvollen Betrachtungen des literarischen Schwergewichts Felix Philipp Ingold im Ritter Verlag? Oder die sagenhaften Geschichten von Tim Krohn im Kampa Verlag?
LESEN sie! Lesen macht Eindruck (und das meine ich mehrdeutig)! Lesen macht klug! Lesen bereichert! Lesen rettet die Welt!

Rezension von «GRM Brainfuck» auf literaturblatt.ch

Kirstin Höller «Schöner als überall», Suhrkamp

Im Suff bricht Noah den bronzenen Speer aus der Hand der Athene auf dem Münchner Königsplatz. Und weil Martin dabei ist, immer dabei ist, wenn Noah das Denken einstellt, sitzen die beiden in einem gemieteten Transporter, mit nichts als dem Speer auf der Ladefläche und fahren an den Ort ihrer Kindheit. Kristin Höller schrieb einen Roman voller Dramatik über die Einsicht, dass sich mit dem Erwachsenwerden gar nichts klärt.

Noah hatte Glück. Noah hat immer Glück. Durch Beziehungen kam er in ein Casting zu einem Kinostreifen, ergatterte eine der Hauptrollen, machte Kasse, prangte auf Plakaten, war Liebling auf Partys in der grossen Stadt, bis die Zeit begann, den Ruhm zu fressen und er sich die Leere danach mit einer „Auszeit“ schönredete. Martin ist mitgegangen, weg vom Dorf, weg vom Mief, weil er glaubte, sein Freund wäre das Tor zur Welt, der Schlüssel zu dem, was im Dorf ihrer Eltern verschlossen bleibt.
Und als der Alkohol sie raus aus der Party trieb, wieder eine auf Fischgrätparkett und mit Leuten, die Martin nicht kennt, ein ganzer Pulk durch München schwankt bis auf den Königsplatz, wo Noah ausgerechnet der Göttin der Weisheit, der Strategie und des Kampfes den Speer aus der Hand reisst. Nichts von Weisheit, Strategie und Kampf. Noah mietet einen Transporter, Martin muss mit, der Speer muss weg. „Ich brauch dich“, sagt Noah. Es ist mehr Befehl als Bitte.

Sie fahren in den Ort, den sie vor zwei Jahren verlassen hatten. Den Ort mit dem kleinen Bahnhof, den Reiheneinfamilienhäusern, den Carports, dem Glashaus von Noahs Eltern und dem Wohnsilo, wo Mugo wohnte. Dahin, wo sie ohne Speer nichts hingezogen hätte, das mit Speer aber die einzige Option für Noah schien. Sie versenken das bronzene Ding im Baggersee, unweit vom Ort und rufen nach scheinbar erfolgreicher Beseitigung jene zusammen, die im Dorf geblieben sind. Martin erfährt dabei, dass auch Mugo wieder hier ist, die eigentlich Maria heisst, aber ihren Namen nicht mag, dann viel lieber Mu(tter)go(ttes). So wird aus dem glamourösen Absetzen aus dem Mief der Enge und Biederkeit eine verzweifelte Bruchlandung zwischen Fassungslosigkeit und Ernüchterung.

Martin trifft Mugo im Tankstellenshop mit Käppi und passendem T-Shirt. Sie, die immer Wütende, die Kluge, die Schöne, die wie er wegwollte, von der er wegging, er nach München, sie nach Wien. Mugo, die einzige Frau, deren Küsse nach wirklichen Küssen schmeckten, die ihm die Welt erklärte, die ihm damals schon klarzumachen versuchte, dass er bloss Noahs Anhängsel war. Martin trifft seine Eltern, bei denen die Zeit stehen geblieben ist, wird eingeladen zu einer Party bei Noahs Eltern, bei der der Riss in den Kontinentalplatten aufbricht, aber nur er die Lava darunter sieht, den glutheissen Mief, der nicht nur ihm den Atem nimmt.

Kristin Höller giesst mit Vergnügen Öl ins Feuer, brennt mit sprachlichem Okular, bis es raucht. Ein Roman mit dem Esprit von Wolfgang Herrnsdorfs „Tschick“, wie ein Low-Budget-Film, der dafür umso mehr durch seine Art des Erzählers und die Schauspieler überzeugt. „Schöner als überall“, die Umkehrung von ‚Überall ist es schöner‘ erzählt von der ersten grossen Ernüchterung, den ersten wirklichen Niederlagen, dem Aufwachen, dem Erwachsenwerden. Auch Martins und Noahs Eltern sind Erwachsene, aber umgeben von Fassaden, die das Überleben in all den Kompromissen ermöglichen. „Schöner als überall“ ist das Ende einer Illusion, das Ende einer Freundschaft und der Beginn von tatsächlicher Abnabelung und dem Erkennen, dass man letztlich alleine bleibt.

Ein Buch, das durch einem hindurchzieht wie ein Sturm, maximal unterhaltsam, witzig und mit dem berauschenden Groove einer literarischen Unverbrauchtheit!

Ein kurzes Interview mit Kristin Höller:

Von München weg geht die Fahrt von Martin und Noah vorbei an Fenchelfeldern, von denen der Duft bis weit in die Landschaft hinein wirkt. Fenchel muss eine entkrampfende Wirkung haben, sonst hätte die Intuition Noah nicht automatisch zurück an den Ort seiner Kindheit gebracht. Wer versteckt schon eine „Leiche“ dort, wo man ihn kennt. Martin heilt aber nicht der Fenchel, sondern letztlich die Liebe, auch wenn sie bricht? Steckt da ein Funke Romantik?
Als Romantik würde ich das gar nicht bezeichnen – vielmehr ist es der Glaube daran, dass immer etwas Neues entsteht, wenn Dinge kaputtgehen. Ob es dadurch leichter wird, lässt sich vorher natürlich nicht sagen, aber schon die Veränderung an sich kann sehr befreiend sein. 

Ich staune über den Sog, den ihr Roman während des Lesens entwickelte, obwohl er in seiner Erzählstruktur ganz „einfach“ chronologisch aufgebaut ist. Meist sind Rückblenden in Dialoge eingebaut. Der Roman erscheint, wie in einem Guss geschrieben – war das so?
Es freut mich natürlich, dass sich diese Wirkung einstellt, tatsächlich jedoch ist das Schreiben für mich eine Arbeit wie jede andere auch – es hat sehr viel mit Regelmässigkeit zu tun und damit, es morgens vor neun aus dem Bett zu schaffen. Es gab also keinen Sturm und Drang-artigen Wahn, sondern ganz unspektakulär sehr viele Tage, an deren Ende ich jeweils zwei oder drei gute Seiten hatte.

Eine Schlüsselszene in Ihrem Roman ist die Grillparty in Noahs Elternhaus, einem grossen Glashaus zweier Architekten. Während der Hausherr vor versammelten Gästen den Toast an seine Gemahlin richtet, er durch Berührung den Kontakt zu seiner Frau sucht, bricht diese zusammen und ein Riss öffnet sich, vor dem sich die Partygesellschaft erfolgreich verschliesst. Genau das, was in der grossen Party auf unserem Planeten auch passiert. Ist Ignoranz das Übel?
Ich lasse mich ungern zu einfachen Erklärungen hinreissen. Aber ich denke schon, dass es Martins sehr genaue Beobachtungen waren, die ihn von den anderen Figuren unterscheiden und ihn daher als Erzähler überhaupt für mich interessant gemacht haben. 

Wo lag die Uridee des Romans? War es die Meldung in den Medien 2014 als man Teile des Speers und eine Bronzeschale aus den Händen der Statue am Münchner Königsplatz brach?
Vor Jahren habe ich über Freunde von den Vorkommnissen auf dem Königsplatz erfahren und einen Artikel dazu gefunden. In den Monaten darauf habe ich gemerkt: Das ist eine von diesen Meldungen, die so kurios ist, dass im Kopf direkt eine Geschichte dazu entsteht. Die Ideen haben mich einige Zeit begleitet, bis immer mehr dazu kamen und es irgendwann für einen Roman gereicht hat. 

Kirstin Höller ist Gast an der BuchBasel 2019!

© Heike Steinweg

Kristin Höller, geboren 1996, aufgewachsen in Bonn, studiert seit 2015 Sprach-, Literatur-und Kulturwissenschaften in Dresden. Freie Mitarbeit bei mehreren Zeitungen und Zeitschriften, Artist in Residence beim Prosanova-Festival 2017, Gewinnerin des Publikumspreises und des Preises des Buchhandels beim 10. Poet|bewegt sowie des Preises des Schweizer Literaturfestivals Literaare 2018. Seit Oktober 2017 ist sie Mitveranstalterin von OstKap, der Dresdner Lesereihe für junge Literatur. «Schöner als überall» ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag