Juan Gómez Bárcena «Auch die Toten», Secession

„Auch die Toten“ von Juan Gómez Bárcena ist keine leichte Kost. Aber wer sich an das Monument traut, taucht ein in einen Spiegelsaal der Geschichte. Ein Söldner macht sich auf eine Reise durch Raum und Zeit. „Auch die Toten“ ist ein Tripp durch die Menschheitsgeschichte der letzten 500 Jahre, eine Zeit, die nicht viel Gutes verspricht.

Manchmal werde ich gefragt, was es denn ausmache, dass mir ein Buch mehr als bloss gefällt. Keine leichte Frage, denn es sind bei weitem keine objektiven Parameter, die entscheiden, wie heftig mein literarisches Schwingungsmessgerät nach rechts ausschlägt. Aber ein Kriterium ist mit Sicherheit das der Überraschung. Und „Auch die Toten“ von Juan Gómez Bárcena hat mich so sehr überrascht, dass ich nach der Lektüre eine ganze Weile brauchte, um meine Eindrücke sammeln zu können, um das Buch nicht nur materiell zur Seite legen zu können. „Auch die Toten“ hat etwas Einmaliges, Singuläres. Da schrieb sich einer in einen Rausch, der auf mich übergeht. Ein Fest der Sinne, der Überraschungen, ein Buch, das man eigentlich sofort ein zweites Mal lesen sollte, um all die kleinen und grossen Geschichten, die es birgt, in ihrer Mächtigkeit mit- und nacherleben zu können.

Juan hat eigentlich ausgedient und führt mit seiner Frau eine kleine, ärmliche Schenke irgendwo in Mexiko. Juan war Söldner in den Diensten des spanischen Königs, kämpfte gegen die Azteken, brachte die „Neue Welt“ auf den Kontinent der Wilden, vor einem halben Jahrtausend. Er hat Blut an seinen Händen und will eigentlich nur seine wohl verdiente Ruhe haben.
Eines Tages erscheinen zwei Gesandte in seiner Schenke und fordern Juan auf, gegen fürstliche Bezahlung einen Indio zu suchen und an die Besatzer auszuliefern, einen Mann, den man verantwortlich macht für Auflehnung und Gegenwehr. Einen Mann, den man wie ihn Juan nennt. Man würde ihm bei seiner Rückkehr noch weiteres Gold aushändigen, wenn er diesen Juan und das Buch, das es stets mit sich trägt, ausliefere. Juan erliegt den Verlockungen des Goldes und macht sich auf die Suche nach Juan. Eine Reise, die ein paar wenige Wochen hätte dauern sollen, eine Suche, die den Jäger Juan wie den Gejagten Juan zu einem ewig Jagenden und ewig Gejagten machen. Eine Reise nicht nur quer durch einen Kontinent, der mit der Eroberung durch fremde Mächte zu einem Sumpf aus Krankheit, Gier, Gewalt und Entfremdung wird. Eine Reise durch die Zeit, vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Durch Wüsten aus Sand, Tod, Verlorenheit, durch Wüsten aus Leere, Verblendung und Abweisung.

Juan Gómez Bárcena «Auch die Toten», Secession, aus dem Spanischen von Matthias Strobel, 2022, 450 Seiten, CHF 49.90, ISBN 978-3-96639-058-3

„Auch die Toten“ ist die Geschichte einer nicht enden wollenden Reise durch die Zeit. Das, was als Menschenjagd beginnt, ist die endlose Suche nach einem sich wandelnden Geist, einem unfassbaren Phantom, das sich hinter Masken zu verbergen weiss, die sich dauernd wandeln, denen man aufsitzt und verfällt, denen man zujubelt oder die man hasst. Es ist die Jagd nach dem Bösen, das aber nur aus der jeweiligen Perspektive böse erscheint. Es ist die Ernüchterung darüber, dass es weder das rein Gute wie das rein Böse gibt. Dass sich beides mehrdeutig wandeln kann, dass beides unfassbar bleibt.

Je länger die Reise des Jägers dauert, je mehr er über den Gejagten erfährt, desto grösser wird die Distanz, desto undeutlicher die Kontur eines Mannes, der in Wirklichkeit unfassbar ist und bleibt. Juan der Jäger macht sich auf einen langen Weg durch die Jahrhunderte, durch Krankheiten, Pest, Sklaverei, Kriege – auch die Hölle. Juan, der Gejagte, wandelt sich, ist nie der, der er scheint, blendet und täuscht, spaltet und zerreisst, gibt und nimmt.

„Auch die Toten“ ist ein Höllentripp eines Verlorenen entlang der Spuren, die eine halbes Jahrhundert der Kolonialisierung des „Westens“ jenen ewig fernen Kontinent blutrot einfärbt, bis in die Gegenwart hinein. Was an dem Roman beeindruckt, ist neben seiner Sprachgewalt (Wie sehr der Begriff hier passt.) die Vielfalt an Figuren und deren Geschichten. Ich reise an der Seite dieses ewig Suchenden durch die Zeit und lerne Menschen und Schicksale kennen, die sich wie eine lange Kette aneinanderhängen, Binnengeschichten, die zeigen, wie sehr sich der Mensch in seiner jeweiligen Zeit verstrickt, wie sehr er sich blenden lässt, wie der stete Kampf ums Überleben das Mass an Schrecken nie schwinden lässt. „Auch die Toten“ ist ein literarisches Monument, ein gigantisches Sittenbild menschlicher Unvollkommenheit, ein düsteres Fresko über ein verlorenes Paradies.

Juan Gómez Bárcena, in Santander, Spanien geboren, studierte Geschichte und Literaturwissenschaften in Madrid. Sein Band mit Erzählungen «Los que duermen» (Die, die schlafen) wurde 2012 von der spanischen Zeitschrift «El Cultural» als eines der besten Debüts des Jahres ausgezeichnet. Er ist Herausgeber einer Anthologie mit Texten spanischer Autoren unter dreissig. Er lebt als Schriftsteller und Dozent für Kreatives Schreiben in Madrid.

Matthias Strobel, geboren 1967, übersetzt aus dem Spanischen und Englischen, u.a. Alfredo Bryce Echenique, Federico Axat und Daniel Griffin. 2014 wurde er mit dem Europäischen Übersetzerpreis Offenburg ausgezeichnet (Förderpreis), 2017 gehörte er mit einer Übersetzung von Alberto Barrera Tyszka zu den Finalisten des Internationalen Literaturpreises. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Beitragsbild © Isabel Wagemann

Steven Uhly «Die Summe des Ganzen», Secession

Kann man sich einer Schuld entledigen? Gibt es Busse? Wie schafft es der Mensch, all die Schrecken menschlichen Tuns hinter Fassaden so gut inszeniert zu verbergen? Steven Uhlys Roman „Die Summe des Ganzen“ schlägt ein wie Blitz und Donner zugleich. Möge es danach brennen!

Ein schwarzes Buch mit einem schwarzen Schaf auf dem Cover. Auf der Stirn dieses jungen, schwarzen Schafs prangt ein goldenes Kreuz. Das junge Schaf ist gezeichnet. Das golden schimmernde Kreuz prangt mitten auf der Stirn, unübersehbar, leuchtend in der Schwärze. Das Buch nahm mich schon, bevor ich es zu lesen begann, in seinen Bann. Kaum aus seiner durchsichtigen Hülle gepult, musste ich zu lesen beginnen. Mit Sicherheit, weil es ein Buch von Steven Uhly ist – aber auch weil all meine Assoziationen, die das Buch schon mit seinem Auftritt auslösen, wissen wollten, ob sie im Roman ihre Bestätigung finden.

Padre Roque de Guzmán, 50 Jahre, betreut eine kleine Gemeinde in einem Aussenbezirk Madrids. Noch nicht lange, aber so lange, dass sich seine Tage in immer gleichem Rhythmus abspulen. Dazu gehören die Zeiten im Beichtstuhl der Kirche, stets von 17 bis 18.30 Uhr. Die Menschen, die in dieser Zeit im Dunkel des kleinen Gevierts Erleichterung suchen, ihre grossen und kleinen Sünden offenbaren und auf Erlösung hoffen, sind immer die gleichen. Zum Beispiel José Maía Espín, der seine Frau chronisch betrügt. Oder Señora Barros, die immer und immer wieder über ihren verstorbenen Mann schimpft, ihrem Mann selbst nach seinem Tod immer und immer wieder den Tod wünscht.
Bis jemand Fremder seinen Beichtstuhl betritt, ein junger Mann, der Padre Roque de Guzmán nur zaghaft verrät, welche Sünde, welch finstere Absichten er mit sich herumträgt, weil er den Beichtstuhl meist fluchtartig verlässt, dann wenn „die Summe des Ganzen“ unerträglich wird.

Steven Uhly «Die Summe des Ganzen», Secession, 2022, 160 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-96639-048-4

Wer katholisch erzogen ist, wird unweigerlich mit jenem eigenartigen dreiteiligen Ding konfrontiert, das an den Seiten einer Kirche hinter Vorhängen und Sichtschutz die Gläubigen einladen soll, Busse zu tun, sich jenen zu öffnen, die als Vertreter Christi ihre Absolution erteilen können, uns weissen uns schwarzen Schafen. Scheinbar kostenlos, nicht wie der Gang zu PsychologInnen. Aber eben doch nicht kostenlos, sowohl die Preisgabe wie das Empfangen, denn was sich Padre Roque de Guzmán anhören muss, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Der junge Mann scheint im Begriff zu sein, sich an seinem Nachhilfeschüler zu vergehen. Der junge Mann erzählt, er wäre verheiratet, habe eine kleine Tochter. Aber selbst die Familie, die Liebe und die Sorge um sie, schütze ihn nicht davor, sehenden Auges ins Verderben zu schreiten. Im Beichtstuhl dieser Kirche spiegeln sich Dramen. Jenes des jungen Mannes, der sich in einem fatalen Sog befindet, dessen schwarzes Loch in seinem Bauch alles schluckt. Aber auch jenes des Beichtvaters. Zum einen weil er weder bei dem jungen Mann noch bei ihm selbst verhindern kann, was als Katastrophe unaufhaltsam rollt, zum andern weil es aufreisst, was sich in die Tiefen des Verdrängens geschoben hat.

Steven Uhlys Roman ist viel mehr als ein Buch über die Abgründe der Pädophilie, auch nicht die Bestätigung dessen, was uns Medien gerne mit Wonne auftischen, wenn sich Kirchenmänner wieder und wieder, selbst nach medial inszenierten Entschuldigungen, die Besserung und Aufklärung versprechen, an Kindern vergehen. Letztlich sind es die Schicksale jener, die in diesem Buch im Hintergrund bleiben, auch wenn Steven Uhly in seinen Schilderungen Schmerzgrenzen berührt. Es gibt Wunden, die sich nie schliessen. Auch dann nicht, wenn man für sie büsst, auch dann nicht, wenn über sie gesprochen wird, auch dann nicht, wenn man sich dafür rächt.

„Die Summe des Ganzen“ ist ein Kammerspiel zweier Männer im Dunkel eines Beichtstuhls. Und ein Lehrstück für mich selbst, denn Steven Uhly straft mich während der Lektüre für mein voreiliges Urteil, zeigt mir, wie sehr ich mich verleiten lasse. «Die Summe des Ganzen“ geht unsäglich tief, zeigt, wie sehr sich der Mensch durch seine egomanischen Triebe offenen Auges in den Abgrund schickt.
Mag sein, dass Steven Uhly Klischees bedient. Aber die katholische Kirche bestätigt fleissig jedes Klischee, immer und immer wieder.

Interview

Sie wohnen in München. Weder in Deutschland noch in der Schweiz sind Kleriker an den Abgründen der Pädophilie vorbeigekommen, ganz und gar nicht. Und trotzdem siedeln sie das Geschehen in der spanischen Hauptstadt an mit zwei Protagonisten, die südamerikanischer Herkunft sind, zwei Verlorene. Warum in spanischem Kleid?

Es gibt nur einen Südamerikaner, Lucas Hernández. Der Padre stammt aus der Gegend von Sevilla, ist also Spanier, und Akachukwu ist Nigerianer. Die Konstellation hat verschiedene Gründe. Erstens stammt ein Freund von mir aus jenem Viertel in Madrid. Er wurde als Kind von einem Padre belästigt. Zweitens aber fand die größte und gewalttätigste christliche Missionierung eben dort, in Südamerika, statt. Ihre Opfer sind zahllos. Eines Tages werde ich vielleicht ein Buch über Bartolomé de las Casas schreiben, der das bereits damals erkannte und schier daran verzweifelte – für mich eine der Lichtgestalten der Menschheit. Mein Buch ist insofern eine versteckte Metapher dessen, was Europa in seinen Kolonien tat – erinnern Sie sich daran, dass Akachukwu mehrmals die Engländer erwähnt, die sein Volk zu Christen gemacht hätten. Ich habe diese Metapher nicht weiter ausgearbeitet, weil ich wegen der Stringenz des Handlungsverlaufs Prioritäten setzen musste. Aber wer aufmerksam liest, der findet es.

Abgründe tragen wir alle mit uns herum. Niemand ist vor ihnen geschützt. Warum gelingt es Menschen nicht, rechtzeitig das Ruder herumzureissen? Warum verletzen wir andere im Wissen darum, dass unser Tun unentschuldbar ist? Und warum ausgerechnet jene, die uns den Weg zum Frieden weisen wollen, Kinder? Warum die Kirche, die die sich die Nächstenliebe übergross auf ihr Banner geschrieben hat?

Das sind sehr tiefgründige Fragen, ich werde versuchen, sie im Rahmen meiner eher bescheidenen Fähigkeiten zu beantworten: Ich glaube an das Gute im Menschen, doch ich glaube auch, dass uns das nichts bringt, wenn wir es nicht in uns selbst entdecken. Erinnern Sie sich an den schmutzigen Teller, den der Padre erwähnt? Ich glaube der Teller ist wie das Gute im Menschen: Er verliert seine glatte saubere Oberfläche nie, doch wenn sie vom Schmutz unserer schlechten Gewohnheiten, unserer Ängste und Wünsche, unseres Zorns oder Grolls, unserer Gier und unserer fehlenden Disziplin überdeckt wird, verschwindet sie, sprich: sind wir uns ihrer nicht bewusst. Und je länger wir unseren schlechten Gewohnheiten nachgeben, desto stärker werden sie, wie Essensreste, die zu lange auf dem Teller getrocknet sind, und desto schwerer wird es, ihn zu spülen.

Was die Kirche betrifft, so glaube ich, dass sie einem Missverständnis aufsitzt: Gott ist ein geistiges Wesen, sein Reich ist das spirituelle Universum des Menschen. Die Kirche hat daraus jedoch ein materielles Reich gemacht mit Besitztümern, Begehrlichkeiten und der Notwendigkeit, ihre Pfründe zu verteidigen. Eine solche Konstellation zieht immer auch Machtmenschen und Heuchler an, wie überall sonst auch. Und der Zölibat fügt dem einen weiteren Aspekt hinzu: materielle, sprich: körperliche Macht, erotische Macht. Es gibt meines Wissens keine wirkliche Prüfung jener Menschen, die den Zölibat akzeptieren. Warum will jemand auf seine Geschlechtlichkeit verzichten? Sex ist meiner Erfahrung nach die intimste Form der Kommunikation zwischen zwei Menschen, vielleicht sogar die Essenz der Kommunikation überhaupt. Beim Sex wird man immer mit der Wahrheit konfrontiert – der eigenen und der des anderen. Warum will jemand freiwillig darauf verzichten? Aus Angst? Warum kann jemand Liebe nur im Rahmen eines Machtgefälles empfinden? Vielleicht weil er eine traumatische Ohnmachtserfahrung gemacht hat, die er zu verdrängen versucht?

Bestimmt gibt es Menschen, die jenseits des Geschlechtlichen sind, es wirklich nicht mehr brauchen, doch viele werden es nicht sein. Die Kirche aber will im Prinzip endlos wachsen – darin unterscheidet sie sich weder von Imperien noch von multinationalen Unternehmen. Sie braucht also sehr viele Priester, und vielleicht liegt da ein ganz einfacher Konflikt zwischen den Statuten und dem Wachstumspotenzial vor: So viele zölibatäre Priester kann es gar nicht geben. Und die übrigen?

Priester betreiben Seelsorge, sie sollten, wie Therapeuten auch, zunächst einmal sich selbst therapieren lassen, und zwar durch weltliche Therapeuten. Erinnern Sie sich an die Stelle, an der der Padre dem Sünder empfiehlt, eine Therapie zu machen? Wenn Sie bedenken, dass das Buch wie ein Spiegelkabinett angelegt ist – der Sünder spiegelt die Gedanken- und Gefühlswelt des Priesters -, dann sagt er das eigentlich zu sich selbst.

Die Kirche hat aufgrund ihres Missverständnisses ein fast schon dogmatisches Problem mit der Psychotherapie, denn auch die Psychotherapie verspricht Befreiung vom Leid, allerdings ohne Gott. Doch die Psychotherapie ist weltlich, sie steht gar nicht in Konkurrenz zu Gott, weil Gottes Reich nicht von dieser Welt ist. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum die Kirche nicht längst eine Therapie für alle angehenden Priester verpflichtend gemacht hat.

Verletzungen gibt es. Sie vernarben. Manche vergisst man. Und manche eitern ein Leben lang. Pädophilie provoziert selbst als Thema enorme Aggressionen. Kein Verbrechen entblösst so sehr die menschliche Fratze, sei es bei Tätern oder bei AnklägerInnen. Schon klar, wenn man ins Gesicht eines Kindes schaut und sich dessen Verletzbarkeit bewusst wird. Sie stechen mit Ihrem Roman mitten ins Herz, gleich vielfach. Da hätte doch einiges schiefgehen können!

Ich glaube wie gesagt nicht an die menschliche Fratze. Ich glaube, das Böse entsteht immer dort, wo wir uns selbst nicht erkennen. Ignoranz ist meiner Meinung nach die wahre Wurzel des Bösen: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Vielleicht ist es deshalb nicht schiefgegangen. Der Padre hat letztlich keine Ahnung, was er wirklich braucht. Er hat sich dem Glauben verschrieben, aber vielleicht war das die falsche Entscheidung, zumindest zu dem Zeitpunkt, als er sie traf. Das Problem, was er seitdem hat, besteht darin, dass er keine Handhabe für sein Begehren entwickelt. Solche unnatürlichen Neigungen verdecken meiner Meinung nach stets das eigentliche Problem, das oftmals ganz anders geartet ist. Ich denke, der Padre hat nicht erkannt, dass Lieben wichtiger ist, als geliebt zu werden. Um das zu erkennen, muss man als Kind geliebt worden sein. Und es gibt so viele Menschen, die ohne diese Gewissheit aufwachsen. Der Glaube allein kann ihnen nicht helfen, weil sie stets Gefahr laufen, auch ihn zu benutzen, um ihr eigentliches Problem zu kompensieren. Erinnern Sie sich daran, dass er immer wieder versucht, Selbstlosigkeit zu üben. Aber wenn das Selbst nicht gesund ist, muss man sich zuerst darum kümmern, es zu heilen, bevor man sich selbst zugunsten anderer vergessen kann. Dem Padre ist all dies nicht bewusst, und die Bibel liefert auch keine Methode, denn sie richtet sich an Menschen, die schon so weit sind, dass sie das Wort Gottes ungefiltert in sich aufnehmen können.

Was Lucas betrifft: Seine Gefühlswelt ist mir im Laufe einer fast dreißigjährigen intensiven  Freundschaft mit einem Opfer und seinen Angehörigen immer näher gekommen. Ich wusste also, wovon ich sprach.

Nicht die Rache bringt Erlösung, nicht die Entlarvung, nicht die Überführung. Etwas von dieser Erlösung bringt ein Mann mit dem Namen Akachukwu. Wie kam es zu diesem Namen?

Akachukwus Charakter ist einem nigerianischen Freund nachempfunden. Sein Name ist das Ergebnis einer Recherche. Ich wollte, dass er bedeutsam wäre, vor allem für Lucas.

Es geht in Ihrem Roman um weit mehr als Pädophilie. Das eigentliche Thema ist „Schuld“. Ein Thema, ein Wort, mit dem die Kirche während Jahrhunderten Angst und Schrecken verbreitete, womit man Menschen zu Schafen werden lassen konnte, weil niemand jenes schwarze Schaf sein wollte, auf das der Zorn Gottes und seiner Kirche mit Sicherheit zielen würde. Ist die Emanzipation aus den Krallen der ewigen Schuldzuweisungen vergeblich?

José Saramago schrieb in seinem Meisterwerk „Das Evangelium nach Jesus Christus“, die Schuld sei wie ein Wolf, der sich durch die Generationen frisst. Ich glaube, Schuld ist ein universales Phänomen, eine Funktion oder ein Reflex unseres Gewissens, unseres Wissens um die Wahrheit über das Richtige und das Falsche, Gut und Böse, Mitgefühl und Egoismus. Wir Menschen werden immer in Furcht davor leben, uns schuldig zu machen, wir werden immer darum kämpfen, unschuldig zu sein, ob mit Kirche oder ohne. Und gleichzeitig werden wir doch immer wieder Schuld auf uns laden, weil wir Menschen sind. Die Beichte ist eigentlich etwas sehr Sinnvolles. Wenn die Kirchenoberhäupter nur nicht aus der Genesis die Erbsünde gebastelt hätten. Ich glaube, die Kinder sind der Beweis dafür, dass wir nicht sündig zur Welt kommen. Und das wiederum ist der Beweis dafür, dass die Sexualität nichts Sündiges ist. Die Erkenntnis von Gut und Böse bringt zwar unweigerlich ein Bewusstsein von Schuld und Unschuld mit sich. Doch ich glaube nicht, dass es jemals einen paradiesischen Zustand gegeben hat, der frei davon war. Ich glaube nicht an den Sündenfall, er ist meiner Meinung nach ein Grund dafür, dass der alttestamentarische Gott in seiner Essenz anders ist als der christliche Gott. Dies und seine Eifersucht, seine Rachsucht. Ich glaube, der christliche Glaube sollte ausschließlich auf dem Neuen Testament basieren. Das wäre auch eine Voraussetzung dafür, dass der christliche Glaube sich weiter entwickeln kann.

Die katholische Kirche befindet sich hier natürlich in einem Dilemma: Sie kann nicht auf das Alte Testament verzichten, und deshalb kann sie die Beichte nicht zu einer echten Reinigung von aller Schuld entwickeln. Das wäre aber etwas sehr Gutes. Ich glaube, die Aufgabe des Priesters besteht nicht darin, die Sünden seiner Schutzbefohlenen zu kennen, sondern ihnen ein Ritual zu geben, mit dessen Hilfe sie sich von ihren Schuldgefühlen befreien können – mehr wie ein Schamane und weniger wie ein Therapeut ohne Ausbildung und ohne Handhabe, was sie bis heute leider geblieben sind.

Steven Uhly, 1964 in Köln geboren, ist deutsch-bengalischer Abstammung. Er studierte Literatur, leitete ein Institut in Brasilien, übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen. Sein Debütroman »Mein Leben in Aspik« ist 2010 und »Adams Fuge«, ausgezeichnet mit dem Tukan-Preis, ist 2011 bei uns erschienen. »Glückskind« (2012) wurde zum Bestseller und von Michael Verhoeven für die ARD verfilmt.

Beitragsbild © Matthias Bothor

Urs Mannhart mit Rapacitanium und einer Kuh im Literaturhaus Thurgau

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in eine Erzählgegenwart, in der mit Extremen dramatisiert werden muss, um mit den Extremen der Gegenwart die Gegenwärtigen zu rütteln. Urs Mannhart zu Gast im Literaturhaus Thurgau!

Als ich Urs Mannhart am Bahnhof Tägerwilen/Gottlieben abholte, erklärte er, er fühle sich gar nicht richtig „ausgestiegen“, irgendwie „durch den Wind“, denn eben habe er das zweiseitige Interview mit ihm in der NZZ gelesen. Er habe wohl damit gerechtet, habe man ihm doch den Text zum Gegenlesen zugesandt. Aber es sei doch irgendwie unwirklich, für ein Buch an dem er ein paar Monate mit aller verfügbaren Intensität geschrieben habe, nun derart viel und prominente Aufmerksamkeit zu erfahren. An seinem Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ habe er mehrere Jahre geschrieben, ein mehrfaches an Energie investiert und die Resonanz lasse sich nicht vergleichen.

So waren beide Bücher des Autors auf dem Tisch, auch wenn er nur das eine mitgenommen hatte; sein Roman über einen Mann, der sich an den Fronten seines alltäglichen Kampfes verliert, dem die Erde buchstäblich unter den Füssen wegbricht und das Essay über Lentille, eine Kuh im Stall jenes jurassischen Kleinbauern, bei dem er zwei Tage in der Woche zweimal 10 Stunden arbeitet. So unterschiedlich die beiden Bücher in ihrer Erzählweise und Schauplätzen sind, das eine in der Welt eines teslafahrenden Kravattenträgers, das andere in einer, die nach Stall und Tieren riecht, so zeugen beide von der unbändigen Lust eines Schriftstellers, sich ganz in eine Welt hinein zu begeben. „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in die Schublade von Ökoromanen, ist aber ebenso Gesellschaftskritik wie das Essay „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“. Beides sind Bücher, die mich zur Selbstreflexion zwingen ohne jemals einen moralischen Zeigefinger zu schütteln. Beides sind Bücher, die sanft darauf hinweisen, dass wir uns in einer Zeitenwende befinden, dass es naiv ist, weiterhin mit der Überzeugung zu leben, alles sei möglich.

Pascal Gschwind, der Protagonist aus dem Roman, ein Mann der eigentlich alles hat, eine neue Stelle in einem erfolgreichen Rohstoffkonzern, ein sattes Salär, eine Villa am Thunersee, das teuerste Teslamodell in der Garage und bald auch ein neues Boot, ein bisschen grösser als jenes seines Nachbarn, eine attraktive Frau, die sich mit Yoga verwirklicht und einen Sohn, der bislang stets tat, was man von ihm erhoffte, muss feststellen, dass sich die Erde nicht in jene Richtung dreht, die stets der Sonne zugewandt ist. Alles wankt. Das Beben erschüttert nicht nur ihn, sondern alles, was ihn ausmacht. 

Urs Mannhart, der an gleich zwei Veranstaltungen im Literaturhaus Thurgau mit seinem Schreiben im Zentrum stand, verstand es, in seiner ehrlichen und unmittelbaren Art, die BesucherInnen in seinen Bann zu ziehen. Zuerst im Format „Literatur am Tisch“, in einer kleinen Runde, die alle seinen Roman bereits gelesen hatten, die sich in einer Auseinandersetzung mit dem Buch bis in die Feinheiten seines Schreibens vorwagten. Und danach in einer klassischen Lesung im Scheinwerferlicht, vor einem Publikum, das dem Autor in äusserster Konzentration hinein in seine Geschichte folgte.

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“
„Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“

Beitragsbilder © Philipp Frei

Das Literaturfestival Leukerbad stellt sich den schweren Zeiten.

Man muss sich warm anziehen am 26. Literaturfestival in Leukerbad. Nicht nur wegen der zum Teil garstigen Temperaturen und des Wetters, das sich effektvoll über dem Tal inszeniert, sondern wegen der Themen, die sich unüberhörbar einmischen!

Nichts, aber auch gar nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass sich auch das Literaturfestival in schwierigen Zeiten befindet. Da kann der Himmel noch so blau sein, die Kulisse noch so imposant, die Namen im Festivalprogramm noch so prominent und das Programm selbst den Zeiten angepasst.
 Sinnbildlich dafür war ein Gespräch im grossen Festivalzelt zwischen der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk («Blauwal der Erinnerung», Kiepenheuer & Witsch 2019) und dem deutschen Historiker und Russlandkenner Karl Schlögel («Der Duft der Imperien», Hanser 2020). Während sich die beiden in einem Gespräch versuchten, das immer mehr zu einem verzweifelten Aufruf gegen das Vergessen und die gegenwärtige Gewöhnung eines nicht fassbaren Ausnahmezustands wurde, braute sich über dem Zelt ein infernalisches Gewitter zusammen. Während Tanja Maljartschuk von ihrer kollektiven und ganz persönlichen Verzweiflung berichtete und Karl Schlögel klarzumachen versuchte, dass die Katastrophe nicht erst am 24. Februar dieses Jahres begonnen hatte und das Land, dass im Bombenhagel eines Diktators und Geschichtsverdrehers in eine Trümmerwüste mit Millionen Vertriebener verwandelt wird, seit bald einem Jahrhundert zwischen den Fronten zerrieben wird, entlud sich das Gewitter, prasselte der Regen auf das Stoffdach, krachte der Donner. Man musste sich im Zelt warm anziehen, so wie sich ein ganzer Kontinent in den kommenden Monaten und Jahren warm anziehen muss, weil nichts mehr so sein wird, wie es einmal war – auch weit weg vom Krieg in der Ukraine.

Marie NDiaye

Schwierige Zeiten für die Literatur und ein Literaturfestival, wenn man sich nur noch mit Vorbehalt, einer gewissen Hemmung und latent ungutem Gewissen dem reinen Sprachgenuss hingeben kann. Taugt Literatur noch zum ungehemmten Genuss? Vielleicht ist deshalb Leukerbad genau der richtige Ort für ein solches Festival, denn der Ort Leukerbad selbst kann nicht leugnen, dass wir uns auf einem „absteigenden Ast“ befinden, dass punktuelle Korrekturen nicht mehr reichen, um das in Schieflage geratene Schiff auf Kurs zu halten. Schriftstellerinnen wie Hiromi Ito („Dornauszieher“, Matthes & Seitz 2021), die in Japan zu den wichtigsten literarischen Stimmen gehört oder die aus Frankreich angereiste Emmanuelle Bayamack-Tam („Sommerjungs“, Secession 2022) oder Marie NDiaye („Die Rache ist mein“, Suhrkamp 2021), eine Grande Dame der französischen Gegenwartsliteratur erzählen vom Schlachtfeld Familie, von den grossen und kleinen Katastrophen, die sich unter den Oberflächen abspielen und hervorbrechen. Schwierige Zeiten, weil neben dem Selbstverständnis Familie auch das Selbstverständnis Geschlecht zu wanken beginnt, weil Ordnungen permanent in Frage gestellt werden, Krusten durchbrochen, Ketten gesprengt und gewissen Fragen endlich zugelassen werden.

Alois Hotschnig

Vieles am diesjährigen Literaturfestival in Leukerbad setzte sich mit scheinbaren Wahrheiten, scheinbaren Ordnungen auseinander. Während man sich beim Bachmannwettlesen in Klagenfurt wundert, dass das blosse Erzählen nicht mehr reichen will, wird klar, dass die Literatur wie keine Kunstrichtung sonst in die Pflicht genommen wird, sich mit den aktuellen Fragestellungen der Gegenwart zu stellen. Kein Wunder, dass es die leiseren Stimmen sowohl am Festival wie auch auf den medialen Bühnen der Literatur überall schwerer haben, sich an ihrem Platz zu behaupten. So waren die Lesungen des Österreichers Alois Hotschnig („Der Silberfuchs meiner Mutter“, Kiepenheuer & Witsch 2021) oder des in Rom lebenden Schweizers Pascal Janovjak („Der Zoo in Rom“, Lenos 2021) Stimmen, die sich mit der Vergangenheit und Innenwelten beschäftigen. Sie beschäftigen sich mit den Spuren eines Lebens, mit Geschichten in der Geschichte, mit filigranen Erzählstrukturen, Fragestellungen, die mir als Leser aber gleichwohl gestellt werden, existenziellen Auseinandersetzungen, die mich mitnehmen, wenn ich bereit bin, mich ihnen zu stellen. Erzählt in einer Sprache, sie sich nicht am Effekt orientiert.

Das Literaturfestival Leukerbad stellt sich den schweren Zeiten.

Beitragsbilder © Internationales Literaturfestival Leukerbad

«Eines nachts in Leukerbad» Urs Mannhart

 

In einer von lauen Winden erwärmten Nacht im Juli – schlaflos stehst Du am Fenster, ein kraftloser Halbmond gießt sein Licht über Deinen mitternachtsblauen Schlafanzug – in einer von lauen Winden erwärmten Nacht im Juli, zwei oder drei Uhr muss es sein, blickst Du, unklare Traumbilder noch im Kopf, über die Dächer Leukerbads, blickst hinauf und hinüber zu den groben, den abschreckend anziehenden Felskaskaden, hältst ein Glas Wasser in der Hand und horchst, schaust horchend in diese einladend milde Nacht hinaus, und beim vierten, fünften Schluck aus dem Wasserglas bemerkst Du es: Es hat sich in Deinen Ohren etwas Entscheidendes verwandelt, etwas Bedeutendes ist in Dir herangereift, Du hörst die Dala rauschen, als sprudle ihr Wasser quellenklar vor Deinen nackten Füssen, und das leicht schmatzende Geräusch, das Du jetzt vernimmst, muss tatsächlich von dem staubgrauen Nachtfalter herrühren, der eben vorhin auf dem Fenstersims gelandet ist und dort nun seine vordersten Beine zum Mund führt und sie reinigt und abermals reinigt mit einer rührenden Geduld.

Es dauert eine Weile, bis Du Dich vom Anblick dieses Falters lösen kannst, und als Du wieder hoch in den Himmel schaust, andächtig auf das konzentriert, was Du zu hören vermagst, so ist Dir gar, als könntest Du nicht nur sehen, sondern auch hören, wie der sanfte Nachtwind zwei filigrane, auf den Horizont zulaufende Kondensstreifen allmählich zusammenschiebt zu einer Sache, welche Wolke genannt zu werden verdient.

Du verstehst nicht zu sagen, ob es sich nicht doch um eine nächtliche Täuschung Deines Wahrnehmens handelt, um einen Traum gar, aber dieser neue, dieser erstaunlich klare Gehörsinn zieht Dich unvermittelt nach draußen, zieht Dich hinaus in die Landschaft, in die Natur hinein, in eine Natur, die jetzt nichts anderes mehr ist als eine mächtige, eine unwiderstehliche Einladung der gesteigerten Akustik.

Ohne auch nur das Geringste mitzunehmen, gehst Du aus der Tür, lässt Deine Wohnung hinter Dir, lächerlich fern ist jetzt alles, was bisher wichtig schien; mit unheimlich wachen Sinnen verlässt Du barfuß das schlafende Dorf.

Talabwärts marschierst Du, der mächtig rauschenden Dala entlang, an Inden vorbei, der Rhone entgegen, und noch ehe Du überlegen kannst, biegst Du kurz vor Leuk ab und gehst den Weg hoch, der hinführt zur Bodensatellitenstation Brentjong.

Bald hast Du sie direkt vor Dir, diese sanften, weißen Riesenmuscheln, diese überdimensionierten Halbkugeln, die hier die sonst unbemerkt verhallenden Signale des Universums einfangen. Sieben, acht, neun Stück müssen es sein, je mehr Du Dich umschaust, desto zahlreicher werden diese weißen Monumente des Horchens.

Es versteht sich, dass die Anlage von einem stacheldrahtgeschmückten Maschendrahtzaun umgeben ist. Aber mit Maschendrahtzäunen verhält es sich nicht anders als mit Damenstrümpfen; früher oder später reißt eine Masche, und lange bleibt es unbemerkt.

Tatsächlich findest Du rasch eine defekte Stelle, wo Du hindurchkriechen kannst. Viel Raum bleibt nicht, Du musst gut aufpassen, dass Dein mitternachtsblauer Schlafanzug sich nicht an einem Drahtende verfängt, und vorsichtig ahnend, dass Dich große akustische Glücksmomente erwarten, betrittst Du den Satellitenstationsboden.

Wie locker im Wald verteilte Pilze stehen diese mächtigen, allesamt in einem unbestechlichen Weiß gehaltenen Konstruktionen auf dem Areal verstreut. Manchmal stehen zwei ganz ähnliche dicht beieinander und horchen in die exakt selbe Richtung, als hätten sie sich verbrüdert und würden sich eine schwierige Aufgabe teilen. Andere behaupten eine spezielle Himmelsrichtung ganz für sich allein, scheinen stolz darauf und wollen mit den anderen, die scheinbar nur zufällig auch noch da sind, möglichst nichts zu schaffen haben. Ein ganz großer Empfänger hat seine Schüssel nicht nach Ost und nicht nach West, hat seine Schüssel in überhaupt keine Himmelsrichtung gereckt; senkrecht hoch gehen seine Fühler, und es sieht überhaupt nicht stolz aus, eher so, als sei er dazu verknurrt worden, das hier spärlich fallende Regenwasser aufzufangen.

Schließlich wählst Du unter jenen, die ihre metallenen Körper nach Südosten ausgerichtet haben, den größten aus. Die Kanten der metallenen Treppe schneiden unsanft in Deine nackten Füße, aber das kümmert Dich nicht, Du steigst empor an nachtkühlem Metall, Hände und Fußballen fühlen ein Summen, eine sanfte, metallene Vibration, es ist die Verbindung von Dir und diesem metallenen Leib, die Dich euphorisiert, und als die Treppe schließlich endet, auf einer engen Metallplattform, befindet sich über Deinem Kopf eine runde Luke, gesichert von einem massiven Griff.

Nichts scheint deutlicher als der Umstand, dass Du zu diesem Griff hinlangen, dass Du die Luke öffnen musst. Die Einsicht, dass Du nun direkt unter dem Trommelfell dieser Anlage stehst, erfüllt Dich mit einer wunderbaren Aufregung, und Du versuchst, Dich zu sammeln, um alle Details dieses Moments zu würdigen.

Unvermittelt streift Dich etwas.

Streift Dich, ehe es Dich trifft: Der Lichtkegel einer Taschenlampe ist es, und gleich darauf trifft Dich auch die grobe Stimme jenes Mannes, der eine Uniform der Firma Securitas trägt, trifft Dich die Stimme jenes Mannes, der viele Meter unter Dir steht und furchtbar schlecht gelaunt scheint und Dir erklärt, es sei der Aufenthalt auf dem Gelände strengstens verboten.

Du weißt nichts zu erwidern, blickst ruhig hinab zu diesem uniformierten Mann, der nun den Kegel seiner Taschenlampe wegnimmt aus Deinem Gesicht, vielleicht sogar aus Höflichkeit, er weiß ja sicher, wie arg das blendet.

Du erwiderst noch immer nichts; auch er scheint nichts mehr sagen zu wollen. Vielleicht hat dieser Mann in seinem Leben schon zu viele Male zu ähnliche Worte wiederholen müssen, vielleicht hat er die Kraft verloren, auch nur einen einzigen schon gesagten Satz nochmals zu sagen, jedenfalls schweigt er, wie auch Du schweigst, und jedenfalls fühlst Du, es verbindet Dich jetzt mit diesem Mann eine wunderbare Stille, ein wunderbar stilles Einverständnis, und als Du sicher bist, dass Dich diese Stille innig verbunden hat mit dem stumm in seiner Uniform verweilenden Mann, räusperst Du Dich leise, um ihn nicht zu erschrecken, dann fragst Du: «Möchten Sie nicht hochsteigen, zusammen mit mir die Luke öffnen und es sich anhören, das liebkosende Flüstern des Universums?»

Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Landwirt in der Schweiz. Er hat Zivildienst geleistet bei Raubwildbiologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik abgebrochen, ist lange Jahre für die Genossenschaft Velokurier Bern gefahren, war engagiert als Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die Ausbildung zum Bio-Landwirt. Für sein literarisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen, darunter 2017 den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis. Im selben Jahr war er zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen; sein Text stand auf der Shortlist. Sein neuster Roman «Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen» erschien 2021 bei Secession. Im Herbst 2022 erscheint bei Matthes & Seitz «Lentille. Aus dem Leben einer Kuh»: «Ein Bericht über die komplexen Beziehungsgeflechte zwischen Menschen und more-than-humans, der zeigt, wie bereichernd es ist, Zeit in der Nähe einer wiederkäuenden Kuh zu verbringen.»

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Jakub Małecki «Saturnin», Secession

Was Jakub Małecki mit seinem ersten auf Deutsch erschienenen Roman „Rost“ als grosses Versprechen in den literarischen Himmel schrieb, ist wahr geworden. Sein neuer Roman „Saturnin“ überzeugt nicht nur als sprachliches Kunstwerk – es ist passgenau in eine Zeit geschrieben, in der Ordnung implodiert und mit unkontrollierbarer Kraft explodiert.

Saturnin Markiewicz hat sich in seinem Leben eingerichtet. Er wohnt in einer kleinen Wohnung in Warschau, leidet mehr oder weniger an seiner Unsichtbarkeit trotz seines Übergewichts, arbeitet als Handelsvertreter, hat nichts dagegen, allein zu sein, sich damit abgefunden, dass das Leben nicht so stattfindet, wie er sich das als junger Mann vorgestellt hatte. So bringe ich wie ein Hamster im Laufrad immer weitere eintönige Tage hinter mich, die aus Arbeit, Fahrt zur Arbeit, Rückkehr von der Arbeit, einkaufen, essen, Computer schauen und Abendspaziergang bestehen. Er wartet ständig, bis etwas passiert. Bis das Telefon klingelt und ihn seine Mutter bittet, zu ihr zu fahren. Grossvater sei verschwunden. Saturnins Grossvater ist sechsundneunzig! Er steigt in sein Auto und fährt in das Kaff, in dem er aufgewachsen war, in dem sein Grossvater seit dem Krieg ununterbrochen lebte. Was will ein Sechsundneuzigjähriger? Warum fährt er mit seinem grünen Opel Astra weg, ohne einen einzigen Hinweis zu hinterlassen? Und dann noch ein Anruf. Als Saturnin bei seiner Mutter ist, meldet sich eine Daria Tomczyk. Weder Saturnin noch seine Mutter kennen eine Frau mit diesem Namen. Aber Daria Tomczyk erklärt, sie wisse wo Saturnins Grossvater zu finden wäre. Also fahren die beiden zu der Frau, die ihnen eine Karte gibt, einen Ort und den Satz: „Ihr Vater hat behauptet, er wäre dort gestorben.“

Jakub Małecki «Saturnin», aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Secession, 2022, 272 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-907336-13-7

Es beginnt eine Odyssee. Nicht nur eine Suche nach dem verschwundenen Grossvater, sondern auch eine Odyssee zu den Geheimnissen einer Familie. Solchen wie dem Geheimnis seines Namens. Wer heisst schon Saturnin! Niemand ausser er. Zuerst beginnt seine Mutter zu erzählen, denn damals als sie mit ihm schwanger war, bat sie ihr Vater, ihren Sohn nach seiner Geburt doch bitte Saturnin zu taufen. Und obwohl die Mutter nicht erfahren sollte, welches Geheimnis sich hinter dem Namen verbarg, tat sie es. Vielleicht auch aus Trotz, denn der Mann, der Vater werden sollte, entpuppte sich als gar nicht der, was sie sich versprochen hatte. Nach nicht einmal einem Jahr war die Ehe geschieden, der Mann aus ihrem Leben verschwunden. Saturnin blieb, wurde grösser und kräftiger. Sehr kräftig, denn der Grossvater schenkte ihm schon bald selbstgebaute Hanteln, mit denen Saturnin zu trainieren begann. Ein Training, das immer intensiver wird, bis Saturnin eine unschlagbare Grösse im Kraftdreikampf wird, bis Knochen brechen und nichts mehr zusammenpasst im durcheinandergeratenen Leben des jungen Saturnin. 

„Er versucht in dieser Geschichte Ursache und Wirkung herauszufinden, aber nichts passt zusammen, die Welt ist aus den Fugen geraten, und vom einen Ufer kann man das andere nicht sehen.»

Saturnin und seine Mutter finden den Grossvater tatsächlich. Mitten im einem Wald, auf dem Bauch liegend, das Gesicht im Dreck, als wäre er tot. Sie schleppen ihn ins Leben zurück, einen Mann, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist, der seine Tochter und seinen Enkel halb wahnsinnig macht, weil er kein Wort sagt, mit keinem ganzen Satz verraten will, warum er weggefahren war, warum sie ihn im Wald liegend finden mussten, warum er nicht endlich zu erzählen beginnt. Und dann passiert es doch. Mit einem Mal bricht der Damm und der Grossvater beginnt zu erzählen; die Geschichte von einem Saturnin. Die Geschichte einer Freundschaft. Die Geschichte eines Versprechens. Eine Geschichte aus den Tagen des letzten Weltkriegs, als Saturnins Grossvater unfreiwillig zum Partisanen, zum Mörder wurde, als man ihm seine Schwester Irka nahm und er noch Jahre später auf dessen Rückkehr hoffte. Von einer Wunde, die nie heilte.

2022 und es herrscht Krieg in der Ukraine. Für die einen unwirklich scheinend, für die anderen tödlicher Ernst. Im Herbst 1939 überfiel das nationalsozialistische Deutschland seinen Nachbarn Polen. Ein von langer Hand geplanter Angriffskrieg mit allerlei fadenscheinigen Rechtfertigungen. 2022 überfällt ein russischer Diktator mit seinen Militärspielzeugen sein Nachbarland die Ukraine, zerbombt ganze Städte, feuert Raketen gegen zivile Ziele und verwüstet ein demokratisches Land, dem im Budapester Memorandum 1994 von russischer Seite her Souveränität und Enthaltung von Gewalt mit Siegel und Unterschrift zugesichert wurde.
In Jakub Małeckis Roman „Saturnin“ gibt es Szenen, die einem eben jetzt ganz besonders schaudern lassen. Seien es Momentaufnahmen, Szenenbeschreibungen in feinster Wahrnehmung oder Kriegsszenen, Momente bitterster seelischer Not, die mir in die Knochen fahren. Jakub Małeckis Sprache ist schnörkellos, seine Geschichte kunstvoll verwoben. Das Personal seines Romans widerspiegelt die Archetypen der Gesellschaft. Und sein Roman warnt vor den unabsehbaren Folgen jener Gewalt, die sich mit jedem Krieg immer und immer wieder offenbart. Es werden Wunden geschlagen, die sich nie schliessen werden!

Jakub Małecki, geboren 1982 in Koło, Polen, studierte an der Wirtschaftsuniversität in Posen. Er hat bislang zehn Romane veröffentlicht, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Zudem übersetzt er aus dem Englischen ins Polnische. Er lebt als freier Schriftsteller in Warschau. «Rost» war sein erster Roman in deutscher Übersetzung.

Renate Schmidgall, geboren am 26. März 1955 in Heilbronn, ist deutsche Übersetzerin polnischer Literatur und lebt in Darmstadt. Sie studierte Slawistik und Germanistik in Heidelberg und war anschliessend als Bibliothekarin am Deutschen Polen-Institut beschäftigt. Von 1990 bis 1996 arbeitete sie dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Seither ist sie als freie Übersetzerin tätig.

Beitragsbild © Krzysztof Nowicki